Koolhaas nimmt in der Reihe Theorie

verknüpft er ihn mit dem Wort „maelstrom“, für das er eine auffallende Vorliebe hat und
als Synonym für die wirbelartigen Kräfte von Globalisierung und Modernisierung
verwendet. Statt Chaos oder einfach nur Unübersichtlichkeit zu sagen, benutzt er ein
Wort, das biblisch anmutet, aber ein konkretes Phänomen, einen starken Gezeitenstrom
zwischen den norwegischen Lofotinseln bezeichnet, der weniger mit Vergnügen als
vielmehr mit Todesangst identifiziert wird. Es existiert jedoch eine Erzählung, welche die
leibhaftige Erfahrung mit dem Maelström für einen Augenblick mit Vergnügen oder sogar
Lust verbindet, und zwar in dem Moment, da im menschlichen Gehirn Irrationales und
Rationales eine widerspruchsfreie Beziehung eingehen (und in diesem Fall sogar vor
dem sicheren Tod retten). In der Kurzgeschichte „The Descent into the Maelström“ von
Edgar Allan Poe berichtet ein norwegischer Fischer von seinem Erlebnis, im
trichterförmigen Strudel des Maelströms gefangen gewesen zu sein, und nur aufgrund
einer fast fiebrigen Klarheit – angesichts seiner aussichtslosen Lage im schwarzen
Schlund der Wassermassen – eine richtige Entscheidung getroffen und damit überlebt
zu haben. Den fast absurden Höhepunkt seiner dramatischen Schilderung bildet
folgende Passage: „I must have been delirious, for I even sought amusement in
speculating upon the relative velocities of their several descents toward the foam
below.“ 10
Pointiert gedeutet hat diese Stelle Marshall McLuhan, der sich gleich zwei Mal darauf
bezieht. Nachdem er bereits 1951 im Vorwort zu seiner Aufsatzsammlung The
Mechanical Bride den Passus zitiert hatte, übernimmt er ihn explizit in The Medium is
the Massage, einem 1967 zusammen mit Quentin Fiore herausgegebenen Kompendium
aus Beobachtungen, Thesen und Illustrationen zum elektronischen „Whirlpool“ unserer
Zeit. Das kleine Buch hat keine Seitenzahlen, sondern besteht aus einer wie zufällig
erscheinenden Reihung von Bild-Text-Montagen, die wie Werbeanzeigen aufgebaut
sind. Relativ weit hinten findet sich besagtes Poe-Zitat mit folgender Interpretation:
„Indem er Vergnügen aus der rationalen Distanz zu seiner eigenen Lage zieht, sieht sich
Poes Seemann in „The Descent into the Maelström“ in der Lage, der Katastrophe zu
entgehen, weil er die Kräfte des Strudels versteht. Seine Einsicht zeigt einen
strategischen Weg auf, unser [heutiges] Dilemma, unseren durch die Kräfte der
Elektrizität geformten Strudel zu verstehen.“ 11 Es ist kaum ein Schritt von dieser
Aussage zu derjenigen, welche Koolhaas Ende der achtziger Jahre in einem Interview
mit der französischen Zeitschrift Techniques et Architecture gemacht hat, und die
anschließend häufig zitiert wurde (und natürlich auch in S,M,L,XL aufgenommen wurde):
„Wir sind [beim Entwerfen] wie ein Surfer – er hat keine Kontrolle über die Wellen, aber
er erkennt sie und weiß wie er sie nutzen oder auch bekämpfen kann.“ 12 Hält man sich
zugleich vor Augen, dass die Aussage McLuhans mit einer zweiseitigen Bildcollage
unterlegt ist, auf der man einen Geschäftsmann in Anzug, Hut und Büromappe auf
einem Surfbrett über die Meereswellen reiten sieht, möchte man annehmen, Koolhaas
10
Edgar Allan Poe, „A Descent into the Maelström“, in: ders., Selected Tales, London 1994 („Ich muss
entschieden im Fieberwahn gewesen sein, denn ich fand sogar Freude daran, die relative
Geschwindigkeit, mit welcher die einzelnen Dinge dem Nebelstaub drunten zujagten, zu berechnen.“, in:
Edgar Allan Poe, „Hinab in den Maelström“, in: ders., Meistererzählungen, Zürich 1989, S. 128)
11
Marshall McLuhan / Quentin Fiore, The Medium is the Massage. An Inventory of Effects, New
York/London/Toronto 1967
12
Rem Koolhaas, Interview, in: Techniques et Architecture, Oktober 1988; zitiert nach: S,M,L,XL, S. 1286