Koolhaas nimmt in der Reihe Theorie

Seiten platziert ist, auf denen ausgerechnet der Entwurf für den Parc de la Villette
vorgestellt wird).
[Bild 14: La Villette]
Dokumentiert wird ebenfalls, wenn surrealistische Techniken wie die écriture
automatique in ein Entwurfskonzept übersetzt werden. Der Entwurf für den Parc de la
Villette in Paris, der beim Wettbewerb 1982 nur knapp hinter dem von Bernard Tschumi
platziert wurde, galt damals als bahnbrechend. Die Idee, völlig mechanisch die
einzelnen Bestandteile des Parks – Wege, Grün, Gebäude, Wasser, öffentliche
Einrichtungen usw. – jeweils einzeln und unabhängig von den anderen zu lösen und sie
zum Schluss als Entwurfsschichten – wie bei der „Erlesenen Leiche“ – übereinander zu
legen, egal, ob es „passt“ oder nicht, hat in den achtziger Jahren erneut eine Debatte
über das Unvorhersehbare ausgelöst. Die Unzufriedenheit mit dem sich abzeichnenden
Konservativismus des postmodernen Stadtvokabulars fand ihre intellektuelle Alternative
in Entwürfen wie dem für den Parc de la Villette, der der Widersprüchlichkeit und
Wechselhaftigkeit der modernen Metropole nicht einfach ästhetisch Ausdruck verlieh,
sondern sie selber mit Hilfe neuartiger Entwurfsstrategien herstellen wollte. Genauer: die
Strategien waren nicht neu, denn sie entstammten den vielfältigen Techniken der
Surrealisten, jedoch wurden sie zum ersten Mal für die Architektur und die Stadtplanung
explizit nutzbar gemacht. Leider blieb eine offene Frage, ob der Entwurf für diesen „Park
des 21. Jahrhunderts“ tatsächlich eine „Kettenreaktion von neuen, unvorhersagbaren
Ereignissen“ ausgelöst hätte, ob er, wie Koolhaas in Anspielung auf Constant meinte,
ein „sozialer Kondensator“ geworden wäre. 7
[Bild 15: Marshall Mc Luhan]
Maelström
Mit einiger Berechtigung kann man Koolhaas unterstellen, dass Ungewißheit und
Unvorhersehbarkeit seine „Religion“ sind. Oder, wie man auf Seite 1269 nachlesen
kann: „Ich glaube an die Unsicherheit“. Und die ist kein masochistisches oder
intellektuelles Spiel. Unsicherheit und Ungewissheit, so versucht Koolhaas fast schon
auf komische Weise seinen Lesern immer wieder beizubringen, indem er ständig neue
Metaphern für die „prisoners of architecture“ erfindet, sind nicht einfach nur
bedauernswerte Realität, sie bereiten vielmehr Vergnügen. Und zwar ein ganz
spezielles Vergnügen, welches sich aus der Spannung (suspense) einer nach mehreren
Seiten offenen Situation ergibt, deren verschiedenen Auswege alle zusammen in einem
Augenblick erfasst und durchdacht werden müssen. Von diesem Augenblick, den man
sich als so köstlich vorstellen muss, dass man wünschte, er hielte ewig, 8 berichtet
Koolhaas bereits in Delirious New York. Dort heißt er „Interpretationsdelirium“. 9 Später
7 S,M,L,XL, S. 921. Der gesamte Entwurf wird auf den Seiten 895-939 vorgestellt.
8 Im Glossar von S,M,L,XL findet sich zum Stichwort „Suspense“ auf Seite 1190 ein Zitat aus Oscar
Wildes The Importance of Being Earnest (1895): „This suspense is terrible. I hope it will last.“ („Diese
Ungewissheit ist entsetzlich. Hoffentlich hält sie an.“, aus: Oscar Wilde, „Ernst sein ist wichtig“ in: ders.,
Sämtliche Theaterstücke, München 1971, S. 507)
9 Rem Koolhaas, Delirious New York, Aachen 1999, S. 256 (engl. Delirious New York, New York 1994)