Koolhaas nimmt in der Reihe Theorie

Koolhaas nimmt in der Reihe Theorie Koolhaas nimmt in der Reihe Theorie

18.01.2013 Aufrufe

oder Collage, welche nicht nur dem Buch, sondern so gut wie allen Projekten von Koolhaas bis heute als Grundlage dient. [Bild 12: Nederlands Dans Theater Man Ray] Erlesene Leiche „So lange zwei Gebäude denselben Raum teilen oder unmittelbar benachbart sind, werden sie eine Beziehung haben, ganz gleich, ob vom Architekten gewünscht oder nicht, ganz gleich, ob es irgendjemanden kümmert. Es ist eine gewaltige Farce zu glauben, dass man eine Beziehung nur dann herstellen könne, wenn ein Ding dem anderen ähnlich sei oder ein Ding dem anderen angepasst werden müsse. Wie jeder, der die Welt mit anderen teilt, weiß ich, dass schon bloße Nähe – das einfache Nebeneinanderstellen von Dingen – eine Beziehung erzeugt, deren Präsenz so gut wie unabhängig vom Willen der Leute ist, die diese Objekte geschaffen haben.“ 3 Diese Passage findet sich auf Seite 1086 unter dem Stichwort „Proximity“ im sogenannten Glossar, das einem privaten Zettelkasten gleicht und in unregelmäßigen Abständen das ganze Buch auf der linken Seite in der Marginalspalte begleitet. Es besteht aus offenbar subjektiv ausgewählten Stichworten, denen Zitate von unterschiedlichen Personen und aus unterschiedlichen Quellen zugeordnet sind. Da einige Zitate – wie dieses – vom Autor selber stammen, sind sie als selbstbezügliche Aussage leichter mit dem Buchkonzept in Verbindung zu bringen. Was hier beschrieben wird, ist mehr als nur die Charakterisierung eines modus operandi, der einfachste Fall einer Montage- oder Collagetechnik. Koolhaas artikuliert seine „Ideologie“. Zum einen grenzt er sich klar gegen jede Autonomiebestrebung der Disziplinen ab. Das „einfache Nebeneinanderstellen“ von unterschiedlichen Dingen – das zur Hybridisierung führen kann, aber nicht muss –, ist ein so allgemeingültiges Verfahren, dass es zwischen allen kulturellen Feldern und künstlerischen Disziplinen angewendet werden kann. Ob es sich um Gegenstände oder Personen, ob es sich um Architektur- oder Buchprojekte handelt, spielt keine Rolle. Deshalb ist zu vermuten, dass sich auch in S,M,L,XL eine Vielzahl von Dingen finden lässt, die durch „einfaches Nebeneinanderstellen“ eine assoziationsreiche Beziehung eingehen, „deren Präsenz so gut wie unabhängig vom Willen der Leute ist, die diese Objekte geschaffen haben.“ Zum anderen zeigt er sich als Architekt, der es theoretisch und praktisch nicht auf eine neue geistige Ordnung, sondern auf den Bereich der unkontrollierbaren Affekte abgesehen hat, ein Bereich, der in der Kunst des 20. Jahrhunderts bedeutsam ist, aber in der Architektur ignoriert wird. Insofern erweist er sich als recht treuer Nachfahre des Surrealismus, der auf die heimlichen (und unheimlichen) Beziehungen zwischen den Dingen vertraut. Dem Surrealismus viel mehr als irgendwelchen „postmodernen“ Verfahren verdankt S,M,L,XL folglich seine Struktur; Verweise finden sich dort zuhauf. Natürlich fehlt nicht der Ur-Satz der Surrealisten, die „unvermutete Begegnung einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf einem Operationstisch“, den Comte du Lautréamont in Les Chants de Maldoror zur Charakterisierung der Schönheit eines jungen Mannes 3 Rem Koolhaas, Vortrag zum Rathaus-Projekt in Den Haag an der TU Delft, 1987; zitiert nach: S,M,L,XL, S. 1086

gebrauchte, und der für Max Ernst bereits ein „fast klassisch gewordenes Beispiel für das von den Surrealisten entdeckte Phänomen [ist], dass die Annäherung von zwei (oder mehr) scheinbar wesensfremden Elementen auf einem ihnen wesensfremden Plan die stärksten poetischen Zündungen provoziert.“ 4 Eingebettet ist der Satz in einen „Journalism“ betitelten Text von 1987 über die Stadt Atlanta, wo Koolhaas dasselbe Phänomen zweier „bloß“ benachbarter Gebäude beschreibt, diesmal als Replik auf den so genannten Kontextualismus der Postmoderne: „Zwei Wolkenkratzer, vis à vis gebaut, das eine hypermodern (d.h. in verspiegeltem Glas), das andere beinahe stalinistisch (mit vorgefertigtem Beton verkleidet). Sie wurden von derselben Firma für verschiedene Unternehmen errichtet, jedes nach eigenständiger Identität strebend. [...] Eine neue Ästhetik macht sich in Atlanta breit: die zufällige Gegenüberstellung von Einheiten die nichts außer ihre bloße Koexistenz gemeinsam haben.“ 5 Das Ergebnis einer „Annäherung von wesensfremden Elementen“ nannten die Surrealisten „Erlesene Leiche“, wenn es nach dem Verfahren der écriture automatique (automatisches Schreiben) zum Aufdecken zuvor unbewusster Bilder entstanden ist, welches an das bekannte Kinderspiel erinnert und mit Worten oder Bildern ausgeführt werden kann: „Die Technik der Aneinanderreihung war schnell gefunden. Man faltete das Papier nach der ersten Zeichnung, wobei man noch drei oder vier Linien stehen ließ. Der Folgende mußte sie fortsetzen, ihnen Form geben, ohne den Anfang gesehen zu haben. Also, es war ein Rausch. Den ganzen Abend über lieferten wir uns die Freude, über jeden Verdacht erhabene Kreaturen erscheinen zu sehen, die doch von uns geschaffen worden waren.“ 6 Es versteht sich von selbst, daß die „Erlesene Leiche“ auch in S,M,L,XL zu finden ist. „Cadavre exquis“ ist der Titel, den die Präsentation von Entwurf, Ausführung und Fertigstellung des ersten großen Projekts von OMA im Jahr 1987, das Nederlands Dans Theater in Den Haag, erhalten hat – als unmittelbare Kennzeichnung des collagenhaften Bauensembles und vor allem als Anspielung auf die ständige Einmischung von Auftraggebern, Baufirmen, Politikern, Geldgebern und „Kollegen“ auf den Bauprozeß, so dass – so muss gemutmaßt werden – durch diese „kollektive Schöpfung“ ebenfalls eine „über jeden Verdacht erhabene Kreatur“ entstanden ist. [Bild 13: erlesene Leiche Ulay] Natürlich gibt es noch andere Beispiele, Le Corbusiers brutale Bildcollage im Plan Voisin auf Seite 1103, das Stichwort „Surrealism“ im Glossar auf Seite 1190, in dem sich Koolhaas speziell zu den „paranoiden“ Methoden des Surrealismus bekennt, die er für „eine der echten Erfindungen“ des 20. Jahrhunderts hält und die seine Projekte seit etwa Anfang der neunziger Jahre stärker beeinflusst haben, sowie einzelne Bilder von Man Ray, Luis Buñuel, Salvador Dalí, und zuletzt noch auf Seite 920 die Photographie der Performance Imponderable von Marina Abramovic und Ulay aus dem Jahr 1977, die wahrscheinlich am deutlichsten zeigt, was sich Koolhaas unter den „unberechenbaren“ Wirkungen des „bloßen Nebeneinander“ vorstellt (und selber „zufällig“ zwischen die 4 Max Ernst, „Was ist Surrealismus?“ (1934), in: Karlheinz Barck (Hrsg.), Surrealismus in Paris 1919 – 1939. Ein Lesebuch, Leipzig 1986, S. 611 5 S,M,L,XL, S. 844 6 Simone Breton-Collinet, „Die Erfindung der ‚Erlesenen Leiche’, in: Karlheinz Barck, ebd., S. 206

gebrauchte, und <strong>der</strong> für Max Ernst bereits e<strong>in</strong> „fast klassisch gewordenes Beispiel für<br />

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zu haben. Also, es war e<strong>in</strong> Rausch. Den ganzen Abend über lieferten wir uns die<br />

Freude, über jeden Verdacht erhabene Kreaturen ersche<strong>in</strong>en zu sehen, die doch von<br />

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auch <strong>in</strong> S,M,L,XL zu f<strong>in</strong>den ist. „Cadavre exquis“ ist <strong>der</strong> Titel, den die Präsentation von<br />

Entwurf, Ausführung und Fertigstellung des ersten großen Projekts von OMA im Jahr<br />

1987, das Ne<strong>der</strong>lands Dans Theater <strong>in</strong> Den Haag, erhalten hat – als unmittelbare<br />

Kennzeichnung des collagenhaften Bauensembles und vor allem als Anspielung auf die<br />

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„Kollegen“ auf den Bauprozeß, so dass – so muss gemutmaßt werden – durch diese<br />

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entstanden ist.<br />

[Bild 13: erlesene Leiche Ulay]<br />

Natürlich gibt es noch an<strong>der</strong>e Beispiele, Le Corbusiers brutale Bildcollage im Plan Vois<strong>in</strong><br />

auf Seite 1103, das Stichwort „Surrealism“ im Glossar auf Seite 1190, <strong>in</strong> dem sich<br />

<strong>Koolhaas</strong> speziell zu den „paranoiden“ Methoden des Surrealismus bekennt, die er für<br />

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Ray, Luis Buñuel, Salvador Dalí, und zuletzt noch auf Seite 920 die Photographie <strong>der</strong><br />

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Wirkungen des „bloßen Nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong>“ vorstellt (und selber „zufällig“ zwischen die<br />

4<br />

Max Ernst, „Was ist Surrealismus?“ (1934), <strong>in</strong>: Karlhe<strong>in</strong>z Barck (Hrsg.), Surrealismus <strong>in</strong> Paris 1919 –<br />

1939. E<strong>in</strong> Lesebuch, Leipzig 1986, S. 611<br />

5<br />

S,M,L,XL, S. 844<br />

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Simone Breton-Coll<strong>in</strong>et, „Die Erf<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> ‚Erlesenen Leiche’, <strong>in</strong>: Karlhe<strong>in</strong>z Barck, ebd., S. 206

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