Odo Marquard - Hans-Hermann Hoppe
Odo Marquard - Hans-Hermann Hoppe
Odo Marquard - Hans-Hermann Hoppe
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181 Euro 8,20 / sfr 13,- Frühling 2004 G 52246 ISSN 0011 – 1597<br />
riticón<br />
Das Magazin für Mittelstand, Marktwirtschaft und Freiheit. www.criticon.de<br />
Flip-Flop-Kerry<br />
und die Irrwege des Neo-Protektionismus – Guido Hülsmann<br />
Die Feinde der offenen Gesellschaft und ihre Bildungslücke<br />
criticón-Gespräch mit Johan Norberg, schwedischer Historiker<br />
Auf der Suche nach dem ‚Schumpeter’schen Politiker’ – Matthias Schmitz<br />
Nach dem Verkauf ist vor dem Verkauf – Ralf Sürtenich<br />
Libertäre Strategien gegen die Allmacht des Staates – Gunnar Sohn<br />
<strong>Odo</strong> <strong>Marquard</strong><br />
Konservativer Skeptiker zwischen Herkunft und Zukunft<br />
Porträt von Felix Dirsch
criticón 181 – Frühling 2004 Inhalt 3<br />
S. 4 Editorial<br />
S. 5 Krise und Kritik<br />
Wer nicht handelt, der nicht gewinnt, Gunnar Sohn<br />
„Nationalistische Schützengräben“ und „vaterlandslose Gesellen“, Matthias Schmitz<br />
Dosenpfand treibt Grünen Punkt in die Enge, Silke Landwehr<br />
Beiheft zum Beiheft oder Wenn das Feuilleton zum Luxus wird, Peter Schäfer<br />
Zeit der Jugenddomänen ist vorbei, Peter Schäfer<br />
S. 12 Auf der Suche nach dem „Schumpeter’schen Politiker“, Matthias Schmitz<br />
S. 14 Libertäre Strategien gegen die Allmacht des Staates, Gunnar Sohn<br />
S. 16 Über Konservatismus und Libertarismus, <strong>Hans</strong>-<strong>Hermann</strong> <strong>Hoppe</strong><br />
S. 21 Anarcho-kapitalistische Theorie, Michael Kastner<br />
S. 23 Demokratie – eine Methode der Kollektiventscheidung wird zur Ideologie, Gerard Radnitzky<br />
S. 26 US-Wahlkampf. Flip-Flop-Kerry und die<br />
Irrwege des Neo-Protektionismus, Guido Hülsmann<br />
S. 28 Die Feinde der offenen Gesellschaft und ihre Bildungslücke, criticón-Gespräch<br />
mit Johan Norberg<br />
S. 31 Ecce! Blick auf die Zeit, <strong>Hans</strong>-Peter Raddatz<br />
S. 32 Was kostet uns der Öko-Dogmatismus?, Edgar Gärtner<br />
S. 36 Emails vom Tage, Friedrich Conan<br />
S. 38 Nach dem Verkauf ist vor dem Verkauf, Ralf Sürtenich<br />
S. 40 Mittelstandsmeldungen<br />
DIW-Studie warnt vor Strukturproblemen der deutschen Wirtschaft<br />
Breitere Kompetenz statt technische Abarbeitung von Bestehendem<br />
Virtueller Größenwahn – Accenture und die „Wertschöpfungsrevolution“<br />
S. 42 Bordeaux – Wein und Mythos, Peter Dostmann<br />
S. 43 Konservativer Skeptiker zwischen Herkunft und Zukunft.<br />
Autorenporträt <strong>Odo</strong> <strong>Marquard</strong>, Felix Dirsch<br />
S. 49 Jahresregister 2003<br />
S. 13 Impressum<br />
S. 59 Das Blaue Brett<br />
Neues aus der Bücherwelt<br />
<strong>Hans</strong>-Peter Raddatz: Allahs Schleier – Die Frau im Kampf der Kulturen (Caroline David) S. 51; Anthony de Jasay: Justice and its Surroundings<br />
(Gerard Radnitzky) S. 52; <strong>Hans</strong>-Christof Kraus (Hg.): Konservative Zeitschriften zwischen Kaiserreich und Diktatur. Fünf Fallstudien;<br />
Michel Grunewald/<strong>Hans</strong> Manfred Bock (Hrsg.): Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (1945-1955); Marko Martin: „Eine Zeitschrift<br />
gegen das Vergessen“. Bundesrepublikanische Traditionen und Umbrüche im Spiegel der Kulturzeitschrift Der Monat (Ansgar Lange) S.<br />
54; Stahl, Heinz K. und <strong>Hans</strong> H. Hinterhuber (Hrsg.): Erfolgreich im Schatten der Großen (Peter Schäfer) S. 56; Ernst Jünger – Gerhard<br />
Nebel „Briefe 1938-1974“. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Ulrich Fröschle und Michael Neumann<br />
(Volker Strebel) S. 57; Hartmuth Becker/Felix Dirsch/Stefan Winckler (Hrsg.): Die 68er und ihre Gegner. Der Widerstand gegen die Kulturrevolution<br />
(Ansgar Lange) S. 58
4 Editorial criticón 181 – Frühling 2004<br />
Editorial<br />
Blockiertes Denken<br />
und die Macht<br />
des Staates<br />
„Die verneinte Realität. Überlegungen<br />
zum Romantizismus heute“: So überschrieb<br />
der Publizist Joachim Fest einen Spiegel-Essay,<br />
den er 1970 über die damalige studentische<br />
Protestgeneration vorlegte. Traf der Vorwurf<br />
der Realitätsblindheit und –flucht damals<br />
also eher eine gewisse „elitäre“ Minderheit,<br />
so scheint er heute breitere Kreise zu<br />
treffen. Das Deutschland des Jahres 2004 befindet<br />
sich im Würgegriff dieser Wirklichkeitsverweigerung.<br />
Denken und Gehirn sind<br />
blockiert. Das Kürzel DGB sollte man in diesem<br />
Zusammenhang am Besten mit „Deutsche<br />
Gehirn-Blockade“ übersetzen, wozu die Gewerkschaftsproteste<br />
gegen die so genannte<br />
„Reformpolitik“ der Regierung Schröder wieder<br />
bestes Anschauungsmaterial geliefert haben.<br />
Den vermeintlichen „Terror des Ökonomischen“<br />
beklagen mittlerweile etliche<br />
Gruppierungen innerhalb unserer Gesellschaft.<br />
In dieser „unheiligen Allianz“ der Modernitätsverweigerung<br />
haben sich die militanten<br />
Fantasten von attac, die Betonköpfe<br />
der Gewerkschaften, die Herz-Jesu-Marxisten<br />
sämtlicher Parteien, die ökonomisch blauäugigen<br />
Gutmenschen beider Großkirchen und<br />
seltsamer Weise auch einige versprengte Konservative<br />
wie der Journalist Alexander Gau-<br />
land zusammengefunden, der am Liebsten<br />
mit dem Fahrstuhl in die gute alte Zeit der<br />
Vormoderne zurückfahren würde. Selbstverständlich<br />
bietet dieser heterogene Haufen<br />
keine eigenen Rezepte an. Man will in diesen<br />
Kreisen eigentlich nur eines: Die Wirklichkeit<br />
soll sich dem eigenen Denken anpassen. „Oft<br />
ist die Feindschaft gegenüber dem Ökonomischen<br />
daher einfach eine besondere Methode,<br />
unangenehme Tatsachen aus dem Weg zu gehen.“<br />
Mit diesen Worten hat der SZ-Redakteur<br />
Nikolaus Piper diese Beobachtung treffend<br />
umschrieben.<br />
<strong>Hans</strong>-<strong>Hermann</strong> <strong>Hoppe</strong> weist dem Staat<br />
zwei Kernaufgaben zu, die er zu erfüllen habe:<br />
Er müsse Eigentum und Leben seiner Bürger<br />
schützen. Doch gerade hier versagt er. Einerseits<br />
dreht die Regierung immer weiter an<br />
der Steuerschraube und entdeckt die Vorzüge<br />
von Erbschafts- und Vermögenssteuer, andererseits<br />
macht sie die Bundeswehr durch<br />
stumpfsinnige Sparpolitik zu einem kastrierten<br />
Kater. Die rasante wirtschaftliche Talfahrt<br />
Deutschlands, die der Spiegel-Journalist Gabor<br />
Steingart in seinem jüngsten Buch<br />
‚Deutschland – Der Abstieg eines Superstars’<br />
beklagt, bekämpft man am Liebsten mit Umverteilung.<br />
Dem vitalen und brutalen Aufstand<br />
radikaler Islamisten begegnet man mit<br />
einem Kopftuchverbot, dem Beiseitestehen im<br />
Irak-Krieg und einem zweifelhaften „Dialog<br />
der Kulturen“.<br />
Deutschland benötigt einen Mentalitätswandel.<br />
<strong>Hoppe</strong> setzt nicht mehr auf den<br />
Staat. Seine antietatistische Gesinnung verlangt<br />
nach dem Anarchentum und geht an<br />
der politischen Realität etwas vorbei. Vielleicht<br />
könnte ein Gespann Merkel-Köhler ein<br />
wenig staatliche Besserung verschaffen. Frau<br />
Merkel muss einem nicht sympathisch sein.<br />
Aber sie bringt unter Umständen die nötige<br />
Panzerung mit, um sich über Widerstände der<br />
Interessengruppen (Vetospieler) hinwegzusetzen.<br />
Vielleicht reicht ihre bei der Behandlung<br />
Wolfgang Schäubles gezeigte Kaltschnäuzigkeit,<br />
die menschlich abstoßend wirken mag,<br />
auch nur zur persönlichen Machtsicherung<br />
und nicht zum Durchpeitschen von Reformen.<br />
Das bleibt abzuwarten. Ein Bundespräsident<br />
Horst Köhler könnte nach dem unsäglichen<br />
Wahlspruch von Bruder Johannes („Versöhnen<br />
statt spalten“) seinen Landsleuten einen guten<br />
Rat geben: „Handeln statt träumen“.<br />
Ansgar Lange
criticón 181 – Frühling 2004 Krise und Kritik 5<br />
Krise und Kritik<br />
Wer nicht handelt, der nicht gewinnt –<br />
Weltbank-Analyst Carlos Braga<br />
über Globalisierung, Offshoring und Protektionismus<br />
Die Informationstechnik-Branche<br />
wächst. Jedoch nicht in den westlichen Industriestaaten,<br />
sondern in Indien, China, Russland,<br />
Bulgarien, im Baltikum oder in Rumänien.<br />
Dr. Carlos Braga, Senior Adviser für<br />
globalen Handel bei der Weltbank lobt Indiens<br />
„breite Verfügbarkeit von gut ausgebildetem,<br />
englischsprachigem Personal.“<br />
Deutschland habe im Gegensatz zu Indien<br />
und anderen Entwicklungs- beziehungsweise<br />
Schwellenländern eine alternde Gesellschaft:<br />
„Betrachtet man die Ressourcen des<br />
Landes, etwa das demographische Profil mit<br />
seinem hohen Anteil an jungen Menschen<br />
und dazu die steigenden Investitionen in das<br />
Bildungssystem, ist ein weiteres Wachstumspotenzial<br />
in diesen Dienstleistungsbereichen<br />
sehr zu erwarten“, führt Braga in einem Interview<br />
mit dem Fachdienst Competence Report<br />
des Krefelder Customer Contact Centers<br />
Sitel aus.<br />
Offensichtlich spielt beim so genannten<br />
Offshoring neben den niedrigeren Lohnkosten<br />
auch die Qualifikation eine große Rolle.<br />
Der Faktor „niedrige Lohnkosten“ von ausländischen<br />
Spezialisten wird generell überschätzt:<br />
„Es stimmt, dass an einen Call<br />
Center-Agent in Indien sieben mal weniger<br />
ausgezahlt werden muss als an einen vergleichbaren<br />
Mitarbeiter in den Industrieländern,<br />
und dass die Produktionskosten durch<br />
Offshoring oft um zwei Drittel reduziert wer-<br />
Glossen,<br />
Glamour,<br />
Gleichnisse<br />
den können. Um jedoch hierbei erfolgreich zu<br />
sein, muss ein Unternehmen alle Transaktionskosten<br />
berücksichtigen, die mit dem Outsourcing-Vertrag<br />
verbunden sind“, so Braga.<br />
Somit sei Offshoring für westliche Unternehmen<br />
keine risikofreie Maßnahme mit hundertprozentiger<br />
Erfolgsgarantie.<br />
„Die Globalisierung hat viele Facetten.<br />
Der internationale Handel bringt sowohl Verlierer<br />
als auch Gewinner hervor“, betont der<br />
Weltbank-Analyst. Das bedeutet nicht, dass<br />
Industrieländer als Gewinner und Entwicklungsländer<br />
als Verlierer dastehen. In jedem<br />
Land gebe es Gewinner und Verlierer. Entwicklungsländer<br />
profitierten vom freien Handel,<br />
indem sie ein Aufblühen des Arbeitsmarktes<br />
mit gut ausgebildeten Arbeitskräften<br />
erlebten. Allerdings mache dieser Fortschritt<br />
nur einen Bruchteil des Arbeitsmarktes eines<br />
Landes aus und könne insofern die Gesamtsituation<br />
in Entwicklungsländern nur teilweise<br />
bessern. Für Industrieländer sei der freie<br />
Handel ein Spiel mit positivem Endergebnis,<br />
da seinetwegen niedrige Preise von Konsumgütern<br />
ermöglicht würden. Globalisierungsgegner<br />
halten den inländischen Arbeitsmarkt<br />
von Industrieländern für den Verlierer, weil<br />
die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland<br />
einen Stellenabbau im Inland bewirke.<br />
Diese Meinung wird von amerikanischen Handelsprotektionisten<br />
und mittlerweile auch<br />
von einigen Politikern in Europa vertreten.<br />
So bezeichnete Bundeskanzler Gerhard Schrö-<br />
Braga: Globaler Handel für alle von Vorteil<br />
der den Vorschlag des DIHK-Präsidenten,<br />
mehr Internationalisierung zu wagen, als<br />
„unpatriotischen Akt“. Für die neue Welle des<br />
Protektionismus hat Braga wenig Verständnis.<br />
Er hält den Einfluss des freien internationalen<br />
Handels auf die Arbeitsplätze für viel geringer<br />
als den Einfluss der inländischen Wirtschaft.<br />
Insgesamt führe der globale Handel<br />
für alle Beteiligten mehr Vorteile als Nachteile<br />
mit sich und man könne Nachteile durch<br />
bestimmte Mechanismen kompensieren. So<br />
sei es möglich, die Auslagerung von Arbeitsplätzen<br />
durch Weiterbildung auszugleichen.<br />
Gunnar Sohn<br />
Zur Person: Der gebürtige Brasilianer<br />
Dr. Carlos Alberto Primo Braga ist Senior Adviser<br />
für internationalen Handel bei der Weltbank.<br />
Er ist in Genf verantwortlich für Entwicklungsaufgaben<br />
von Ländern mit Schnittstellen<br />
zu europäischen Organisationen, wie<br />
die OECD, die Europäische Kommission, UNC-<br />
TAD und die World Trade Organisation. Bevor<br />
er 1991 zur World Bank kam, lehrte er unter<br />
anderem an der Paul Nitze School for Advanced<br />
International Studies (SAIS) und an der<br />
Universität von Sao Paulo. Braga promovierte<br />
an der Universität von Illinois in Wirtschaftswissenschaften.
6 Krise und Kritik criticón 181 – Frühling 2004<br />
„Nationalistische<br />
Schützengräben“<br />
und „vaterlandslose Gesellen“:<br />
Offshore-Trend<br />
bei Hightech-Positionen<br />
nicht mehr aufzuhalten<br />
Die Verlagerung von Arbeitsplätzen<br />
ins Ausland, in Nearshore-Standorte in Osteuropa<br />
oder in Offshore-Standorte wie Indien<br />
und China, ist längst ökonomisch bedingte<br />
Realität. „Ob Mittelstandsunternehmen mit<br />
nationalem Fokus oder international operierende<br />
Konzerne, der weltweite Wettbewerb<br />
erlaubt niemandem, unter Inkaufnahme von<br />
Standortnachteilen geschäftlich tätig zu sein.<br />
Besonders auch das Internet und E-Commerce<br />
tragen dazu bei, dass Angebote in kürzester<br />
Zeit verglichen werden können und unter<br />
Berücksichtigung von Kommunikations- und<br />
Transportkosten das attraktivste Angebot<br />
ausgewählt werden kann“, sagt Ralf Sürtenich<br />
von der Düsseldorfer Unternehmensberatung<br />
insieme business.<br />
Während noch große Teile der Öffentlichkeit<br />
dies als ein „Billigland-Phänomen“<br />
betrachten, zeigen die aktuellen Meldungen<br />
über die Verlagerung von rund 10.000 Siemens-Arbeitsplätzen<br />
ins Ausland, dass es hier<br />
auch um hochqualifizierte Hightech-Positionen<br />
geht. Nachdem bereits schon bekannt<br />
war, dass davon die GSM- und DECT-Geräteproduktion<br />
betroffen ist, werden nach neuesten<br />
Meldungen auch ICN (Netzwerke), TS<br />
(Verkehrstechnik), Automatisierung und weitere<br />
Bereiche von Siemens Arbeitsplätze international<br />
auslagern. Angesichts der Gesamtverteilung<br />
im Konzern, der fast 80 Prozent<br />
seiner Umsätze im Ausland erwirtschaftet<br />
und dort auch schon 60 Prozent seiner<br />
Arbeitnehmer beschäftigt, verwundern diese<br />
Meldungen eigentlich nicht wirklich.<br />
Experten sehen die Aktivitäten von<br />
Siemens im Einklang mit der Erkenntnis, dass<br />
Deutschland nicht mehr zwingend ein Top-<br />
Standort für Hochtechnologie ist. „Das müssen<br />
auch deutsche Politfunktionäre zur<br />
Kenntnis nehmen. Wer sich in nationalistische<br />
Schützengräben verkriecht und Wirtschaftsvertreter<br />
als vaterlandslose Gesellen<br />
diffamiert, dokumentiert nur seine ökonomische<br />
Inkompetenz“, führt Sürtenich aus.<br />
Auch der Verweis auf zu hohe Lohnnebenkosten<br />
würde nicht weiterhelfen, wenn aufgrund<br />
völlig anderer Lebenshaltungskosten<br />
für die gleiche Leistung in Rumänien oder in<br />
Indien nur ein Viertel oder weniger gezahlt<br />
werden müsse. „Dank konsequenter Investitionen<br />
in Bildung und Qualifikation sowie in<br />
Kommunikationstechnik befinden sich viele<br />
asiatische Länder heute auf der Überholspur.<br />
Südkorea etwa hat bereits eine DSL-Penetration,<br />
von der man in Deutschland noch nicht<br />
einmal zu träumen wagt. Während andere<br />
Länder in Europa längst das Selbstverständnis<br />
als Technologiestandort abgelegt haben und<br />
sich als internationale Finanz- und Dienstleistungsstandorte<br />
definieren, orientiert sich<br />
Deutschland immer noch an industriellen Produkten“,<br />
kritisiert Sürtenich. Dazu trage<br />
auch die deutsche Automobilindustrie bei, die<br />
unter den sehr spezifischen Bedingungen des<br />
deutschen Marktes – einer hohen Penetration<br />
mit Firmenwagen und geschäftlich genutzten<br />
Leasing-Fahrzeugen – ein wesentlich schlechteres<br />
Abschneiden der deutschen Industrie<br />
verhindere.<br />
„Wenn ich an einem Standort weder<br />
günstiger produzieren kann, egal ob es sich<br />
um Produkte oder Dienstleistungen handelt,<br />
noch komparative Vorteile bei Transport und<br />
Verteilung in die Zielmärkte habe, ist die Produktion<br />
im internationalen Vergleich nicht<br />
haltbar. Sind die Unterschiede so gravierend<br />
wie zwischen Deutschland und den osteuropäischen<br />
und asiatischen Ländern, dann<br />
werden daran auch keine Reformen der Sozial-<br />
und Arbeitsmarktpolitik oder selbst protektionistische<br />
Maßnahmen etwas ändern“,<br />
so Sürtenich. Er sieht vielmehr die Notwendigkeit,<br />
den Schritt in die Dienstleistungsgesellschaft<br />
zu forcieren für innovative Marketing-<br />
und Vertriebsideen, international verteilte<br />
Service-Modelle, Finanzdienstleistungen,<br />
Serviceentwicklung,<br />
Anwendungsszenarien und Konzeptualisierung.<br />
Gerade das ständig wiederholte Zitat<br />
der „Servicewüste Deutschland“ schreie danach,<br />
mit Dienstleistungen aktiv zu werden.<br />
„Bei PC-Peripherie wie Druckern wäre es völ-
criticón 181 – Frühling 2004 Krise und Kritik 7<br />
lig abwegig, so etwas in Deutschland zu produzieren.<br />
Auch die Technologie-Entwicklung<br />
für diese Technik ist kein Thema mit einem<br />
Vorteil für unseren Standort. Aber die Konzeption<br />
des Produktlebenszyklus, des Marketings<br />
für den deutschen Markt, ganz besonders<br />
der Aufbau und die Umsetzung des Service,<br />
das sind Leistungen, die lassen sich<br />
kaum sinnvoll und erfolgreich durch Auslagerung<br />
in Offshore-Länder durchführen“, so<br />
Michael Müller, Geschäftsführer der a & o aftersales<br />
& onsite services GmbH in Neuss.<br />
Müller sieht einen erheblichen Spielraum<br />
mit guten Erfolgschancen im Service-<br />
Geschäft für Technologie-Produkte: „Nehmen<br />
wir den Bereich Netzwerke und Telekommunikation.<br />
Zum Leidwesen einiger Hersteller<br />
drängen jetzt chinesische Firmen wie Huawei<br />
Eine Ausweitung des Einwegpfands für<br />
Getränkeverpackungen wird von der Vorstandsetage<br />
des Müllsammlers Duales System<br />
Deutschland (DSD) äußerst kritisch betrachtet<br />
und führt zu empfindlichen Einbußen bei<br />
den Lizenzeinnahmen für den "Grünen<br />
Punkt". Wie der DSD-Vorstandsvorsitzende<br />
<strong>Hans</strong>-Peter Repnik mitteilte, hat die erste<br />
Stufe der Pfandregelung die Lizenzeinnahmen<br />
pro Jahr schon um rund 300 Millionen Euro<br />
gemindert. Das sind rund 20 Prozent der Einnahmen.<br />
Eine Ausdehnung des Pflichtpfands<br />
würde einen weiteren Ausfall von 200 bis 210<br />
Millionen Euro zur Folge haben.<br />
Der Bundesverband mittelständische<br />
Wirtschaft (BVMW) hatte schon zum Start des<br />
Dosenpfandes vor gut einem Jahr verkündet,<br />
auch auf die europäischen Märkte. Das wird<br />
unweigerlich zu einem Preisverfall führen.<br />
Das Entscheidende aber für den Markterfolg<br />
wird der Service sein. Ein flexibler, anwenderfreundlicher<br />
und dabei preiswerter Service,<br />
gepaart mit innovativen Produktkonzepten<br />
hinsichtlich Aufrüstbarkeit, Migrationsfähigkeit<br />
und Zukunftssicherheit. Diese Faktoren<br />
werden über Erfolg oder Misserfolg entscheiden.<br />
Die Produkte und die Vertriebskonzepte<br />
müssen auf unsere Märkte zugeschnitten<br />
sein. Das erfordert spezifisches Know-how –<br />
Think global, act local – und der Service<br />
muss hier erbracht werden.“ Standortvorteile<br />
werden sich nach Ansicht von Müller immer<br />
wieder neu herausbilden und auch schnell<br />
verlagern: „Heute mag Indien ein Top-Standort<br />
für IT-Entwicklung sein. In fünf bis zehn<br />
dass das Müllmonopol des Grünen Punktes<br />
überflüssig sei: „Die Lobby des DSD, die Spitzenverbände<br />
des Handels und der Industrie<br />
stehen vor dem Trümmerhaufen ihrer Strategie<br />
für die Entsorgung des Verpackungsabfalls.<br />
Mit dem Dosenpfand hat der Grüne<br />
Punkt Verpackungen verloren, die noch halbwegs<br />
kostengünstig zu recyceln waren: Metalldosen,<br />
PET-Flaschen und Einwegglas. Was<br />
in der Gelben Tonne übrig bleibt, ist Restmüll<br />
und ein Mischmasch aus Milchdöschen, verschmutzten<br />
Folien oder kleinen Joghurtbechern<br />
und anderen Mini-Portions-Verpackungen",<br />
kritisiert BVMW-Präsident Mario Ohoven.<br />
Weniger Grüne Punkt-Verpackungen<br />
bei relativ gleichbleibenden Entsorgungsko-<br />
Jahren kann sich das aber schon wieder verlagert<br />
haben, dann ist es vielleicht China.<br />
Der Versuch, Standortvorteile künstlich durch<br />
staatliche Regelungen zu erhalten oder zu erzeugen,<br />
ist ziemlich illusorisch. Man kann<br />
generelle Grundlagen schaffen, etwa durch<br />
Qualifizierung und Infrastruktur, auch durch<br />
Anreize für Unternehmensgründungen, man<br />
kann dafür sorgen, dass die Wirtschaft einen<br />
soliden Nachwuchs an jungen, innovativen<br />
Unternehmen hervorbringt, aber man kann<br />
nicht die Dynamik der Märkte aufhalten.<br />
Wenn die Entwicklung im internationalen<br />
Rahmen an Tempo zulegt, dann muss ich<br />
ebenfalls mehr Fahrt aufnehmen“, so Müller,<br />
der als Wirtschaftssenator beim Bundesverband<br />
mittelständische Wirtschaft (BVMW) aktiv<br />
ist.<br />
Matthias Schmitz<br />
Dosenpfand<br />
treibt Grünen Punkt<br />
in die Enge<br />
Unionsblockade im Bundesrat gegen<br />
Pfandregelung chancenlos<br />
sten müssten notgedrungen zu höheren Lizenzgebühren<br />
führen. „Diese Logik ist in der<br />
aktuellen Wirtschaftslage den Verbrauchern<br />
und der Industrie aber nicht mehr zuzumuten.<br />
Es ist daher längst an der Zeit, den überregulierten<br />
und von Machtkartellen beherrschten<br />
Entsorgungsmarkt aufzubrechen“,<br />
fordert Ohoven.<br />
In den Neuverhandlungen der Entsorgungsverträge<br />
versucht das DSD-Management<br />
von den hohen Preisen für die Sammlung,<br />
Sortierung und Verwertung runterzukommen.<br />
Nach Einschätzung von Abfallexperten wird<br />
das den Kostendruck beim Grünen Punkt<br />
nicht entschärfen. Um so größer sind die<br />
Hoffnungen der DSD-Lobbyisten in Richtung<br />
der hessischen Gesetzesinitiative im Bundes-
8 Krise und Kritik criticón 181 – Frühling 2004<br />
rat, die das Dosenpfand beseitigen will. Sie<br />
sieht eine so genannte Kombinationsquote<br />
aus Mehrweg- und Verwertungsquote vor, bei<br />
deren Unterschreiten eine Einwegabgabe oder<br />
ein Einwegzuschlag erhoben werden soll. Die<br />
Deutsche Umwelthilfe lehnt es kategorisch<br />
ab, das bewährte Instrument Pflichtpfand<br />
wieder abzuschaffen und durch die Kombiquote<br />
zu ersetzen, die beispielsweise in<br />
Österreich zum beschleunigten Zusammenbruch<br />
des Mehrwegsystems führte. Von der<br />
Kombiquote profitiere nur die Einweglobby<br />
und das DSD, dessen Vorstandschef Repnik<br />
gleichzeitig Mitglied der CDU/CSU-Bundestagsfraktion<br />
sei und von dort aus die Interessen<br />
seines Unternehmens durchsetzen wolle.<br />
Auch im Lager der Union regt sich Widerstand.<br />
So warnt der baden-württembergische<br />
Umweltminister Ulrich Müller (CDU) seine<br />
Parteikollegen vor den Folgen der Kombiquote:<br />
Auch bei diesem Modell gäbe es Quotenregelungen,<br />
„deren Erhebung einen nicht unerheblichen<br />
bürokratischen und finanziellen<br />
Aufwand erfordert. Die jährlichen Erhebungen<br />
können von den betroffenen Wirtschaftskreisen<br />
angefochten werden. Wie dies die Vergangenheit<br />
gezeigt hat, wird davon auch Gebrauch<br />
gemacht“, so Müller. Ob es zudem<br />
Zugegeben:<br />
Einen so<br />
vielseitig begabten<br />
Menschen<br />
wie Marcus Tullius<br />
Cicero zum<br />
Namenspatron<br />
für ein Magazin<br />
zu wählen, ist<br />
sehr geschickt,<br />
um sich die<br />
Vielseitigkeit<br />
des römischen<br />
Philosophen,<br />
Rhetorikers und<br />
Politikers zuzuschreiben. Weil der Mythos Cicero<br />
zweitausend Jahre alt ist, fällt es uns<br />
schwer, diesem Magazin aus dem Weg zu gehen<br />
– ebenso wie es unmöglich ist, im schulischen<br />
Lateinunterricht der Ikone Cicero aus<br />
dem Weg zu gehen.<br />
Wer die sieben Euro für das Monatsmagazin<br />
„für politische Kultur“ gezahlt hat,<br />
hat entweder den Titel des Magazins richtig<br />
ausgesprochen, oder Glück gehabt, dass der<br />
rechtlich zulässig sei, dass die Ausgleichsabgabe<br />
eigener Art vom DSD erhoben werden<br />
könne, „erscheint mir wegen des Kontrahierungszwanges<br />
bedenklich“, führt Müller aus.<br />
Er sieht den Bundesumweltminister Jürgen<br />
Trittin keineswegs in einer defensiven Situation.<br />
„Es würde ihm höchstwahrscheinlich<br />
auch hier gelingen, die CDU/CSU-geführten<br />
Bundesländer und die Opposition als ‚Blockierer’,<br />
die ständig mit neuen Vorschlägen an<br />
die Öffentlichkeit herantreten, an den Pranger<br />
zu stellen“, schreibt Müller.<br />
Auch das von der EU-Kommission eingeleitete<br />
Vertragsverletzungsverfahren gegen<br />
Deutschland, auf das die Dosenpfandgegner<br />
in den großen Handelskonzernen bei der Verhinderung<br />
eines einheitlichen Rücknahmesystems<br />
für Einweg-Getränkeverpackungen gerne<br />
verweisen, werde nach Müllers Einschätzung<br />
nicht kurzfristig entschieden. „Die Bundesregierung<br />
hat ja bereits in diesem<br />
Zusammenhang angekündigt, dass sie dieses<br />
Vertragsverletzungsverfahren bis zum EuGH<br />
bringen wolle. Die EU-Kommission wendet<br />
sich in ihrer Stellungnahme vor dem EuGH<br />
auch nicht gegen die Pfandpflicht als solche.<br />
Sie charakterisiert nur in sehr allgemeiner<br />
Form die Bedingungen eines mit dem Ge-<br />
Verkäufer am Kiosk wusste, was mit „Kikero“<br />
oder „Tschitschero“ gemeint war.<br />
Cicero fährt ganze Bataillone an Prominenten<br />
auf: Es schreiben Arthur Miller,<br />
Umberto Eco, Hellmuth Karasek, Fritz J. Raddatz,<br />
Maxim Biller, Christoph Stölzl, Wladimir<br />
Kaminer und viele andere. Nach einigem Herumblättern<br />
hat man herausgefunden, für wen<br />
das Magazin schlägt. Schlagzeilen wie der<br />
‚Der einsame Kanzler’, ‚Berlin – ein schöner,<br />
großer, tiefer Schmerz’ oder ‚Sind die Deutschen<br />
faul?’ zeigen, dass die 146 Seiten eine<br />
feuilletonistische XXL-Packung sein sollen.<br />
Feuilleton bedeutet „Beiblättchen“. Im<br />
ursprünglichen Sinne fügt es jeder Zeitung<br />
einen kulturellen Zusatz, ein Bonbon seelischer<br />
Nahrung zu. Cicero zuckert über das ursprüngliche<br />
Maß hinaus. Der Chefredakteur<br />
Wolfram Weimer hat eine Torte geschaffen.<br />
An sich spricht nichts dagegen, feuilletonistischen<br />
Luxus anzubieten oder zu genießen.<br />
Der Berlin-Beitrag von Maxim Biller<br />
dürfte jeden stadtsentimentalen Flaneur begeistern.<br />
Die musilsche Periphrasierung Gerhard<br />
Schröders als ‚Mann ohne Eigenschaften’<br />
mag entzückend wirken, denn sie gibt einen<br />
meinschaftsrecht konformen Pfandrücknahmesystems.<br />
Konkrete Kritik äußert die Kommission<br />
nur gegenüber den so genannten Insellösungen“,<br />
so Müller. Selbst dieses Problem<br />
dürfte sich nach Informationen aus Branchenkreisen<br />
kurzfristig lösen, da die Systemanbieter<br />
für Insellösungen über eine Fusion<br />
verhandeln und eine bundesweit einheitliche<br />
Rücknahmelogistik etablieren wollen. Der baden-württembergische<br />
Umweltminister rät<br />
seinen Unionskollegen, im Bundesrat eine<br />
konstruktive Lösung anzustreben. „Es ist Minister<br />
Trittin ja bereits gelungen, die Verantwortlichkeit<br />
der B-Länder öffentlich zu machen.<br />
Wir sind dadurch in einer gewissen<br />
Zwangslage, da das geltende Recht immerhin<br />
eine Verordnung einer ehemaligen CDU/FDP-<br />
Regierung ist. Trittins Vorschlag für eine Änderung<br />
des Dosenpfandes sei die Basis für einen<br />
Kompromiss: „Sie macht die Pfandpflicht<br />
einfach und klar. Nur die ökologisch nachteiligen<br />
Verpackungen der Massengetränke Bier,<br />
Mineralwasser und kohlensäurehaltigen Getränke<br />
unterliegen einer Pfandpflicht“.<br />
Fruchtsäfte, Wein und Milch sollten von der<br />
Pfandpflicht ausgenommen werden.<br />
Silke Landwehr<br />
Beiheft zum Beiheft oder Wenn das Feuilleton zum Luxus wird<br />
– Warum das Magazin Cicero den römischen Sandalen abschwören muss<br />
weit verbreiteten Eindruck des Medienkanzlers<br />
wieder, von dem man mehr Fotos und<br />
Seifenoper-Auftritte als politische Inhalte<br />
kennt.<br />
Jedoch: Wer verputzt schon monatlich<br />
eine Torte? Selbst regelmäßiger Kaffee und<br />
Kuchen ist etwas für „Radikale“. Wer braucht<br />
Cicero, wenn er das Zeitungsfeuilleton schon<br />
hat? Wer braucht ein Beiheft zum Beiheft?<br />
Chefredakteur Weimer hat es auf<br />
50.000 Leser abgesehen. Dabei missachtet er,<br />
wie Spiegel-Redakteur Reinhard Mohr<br />
schreibt, „schon zu Beginn eine Grundregel<br />
des ,gehobenen' Journalismus: nicht die Masse<br />
macht’s, und sei sie noch so klangvoll,<br />
sondern einzig die Qualität.“<br />
Cicero muss nicht verstummen, aber<br />
den römischen Sandalen abschwören und sich<br />
etwas wärmer anziehen. Viele und regelmäßige<br />
Leser zu finden, ist für ein Kultur-Magazin<br />
schwierig und kann nur mit herausragender<br />
Qualität erreicht werden. Wer monatlichen<br />
Luxus anbietet, muss damit rechnen, dass es<br />
mehr Menschen gibt, die eher kurzweilig genießen.<br />
Peter Schäfer
criticón 181 – Frühling 2004 Krise und Kritik 9<br />
„Wir ziehen mit dem falschen Weltbild<br />
in die Zukunft. All unsere Parameter über Alter<br />
und Jugend stammen aus Zeiten, in denen<br />
das Altern die Ausnahme war“, schreibt<br />
Frank Schirrmacher in seinem neu erschienenen<br />
Buch ‚Das Methusalem-Komplott’. Wir –<br />
damit sind nicht nur Deutschland, sondern<br />
alle westlichen Industrienationen gemeint.<br />
Das Altern wird bald nicht mehr das sein,<br />
was es mal war. Neueste Studien zwingen<br />
uns, unsere Einstellung zum Altern zu überdenken,<br />
oder gar – wie Schirrmacher schreibt<br />
– „neu zu erfinden“.<br />
Altern wird bald ein Massenphänomen<br />
sein. Sinkende Geburtenraten und eine steigende<br />
Lebenserwartung eröffnen die Vision<br />
einer Gesellschaft, in der es erstmalig mehr<br />
alte als junge Menschen geben wird. Spätestens<br />
im Jahr 2050 wird die Hälfte der Bevölkerung<br />
über 48 Jahre alt sein. Es wird eine<br />
Welt geben, die „fast nichts mehr mit der<br />
heutigen zu tun haben wird“, so Schirrmacher.<br />
Die bisherige Gesellschaftsideologie<br />
könnte auf die Formel „alt gleich schlecht“<br />
reduziert werden. Diese Peter Pan-Mentalität<br />
erscheint vor dem Hintergrund der sich bereits<br />
heute abzeichnenden Entwicklungen,<br />
wie Schul-Schließungen und Arbeitszeit-Verlängerungen,<br />
als vollkommen untragbar.<br />
Wertvolle Ressource<br />
„Die extremistischste Unterstellung,<br />
die den älter werdenden Menschen in unserer<br />
Gesellschaft trifft, sind die Zweifel an seinem<br />
Gehirn. Sie können sportlich sein und gute<br />
Zeit der<br />
Jugenddomänen<br />
ist vorbei<br />
Die Renaissance der Computerveteranen<br />
Blutwerte haben, Berge besteigen und Weltmeere<br />
durchkreuzen: Der Zweifel an ihrem<br />
Gehirn sitzt wie Gift an ihrem Körper“, betont<br />
der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen<br />
Zeitung. Die gesellschaftliche Meinung<br />
über den Leistungsverfall älterer Menschen<br />
ist eine „Konstruktion, die mit der<br />
Wirklichkeit so viel zu tun hat, wie die Teletubbies<br />
mit der sozialen Beziehung zwischen<br />
Menschen“, so Schirrmacher.<br />
Seine Thesen stoßen auf Zustimmung.<br />
„Ältere Mitarbeiter bringen besondere Qualifikationen<br />
mit, weil sie durch ihren Erfahrungsreichtum<br />
im Besitz eines problembewussten<br />
Fachwissens sind. Sie vermitteln Seriosität<br />
und Zuverlässigkeit. Oft sorgen ihre Geschäftsverbindungen,<br />
die sie sich in vielen<br />
Jahren angeeignet haben, bei Problemen für<br />
Abhilfe. Die Erfahrungen von älteren Mitarbeitern<br />
sind eine der wertvollsten Ressourcen<br />
unseres Unternehmens“, weiß Peter Juraschek,<br />
IT-Spezialist von Harvey Nash, ein Beratungsunternehmen<br />
für Personal-, IT- und<br />
Engineering Services.<br />
Altersscheu<br />
Leider denken viele Unternehmen anders.<br />
„Viele Betriebe haben keine Erfahrung<br />
im Umgang mit älteren Mitarbeitern. Zurzeit<br />
gibt es in mehr als der Hälfte der deutschen<br />
Unternehmen keine über 50-jährigen mehr.<br />
Viele meinen, es lohne sich nicht, in einen<br />
50-jährigen zu investieren“, sagt Meinhard<br />
Miegel, Leiter des Instituts für Wirtschaft<br />
und Gesellschaft (IWG) in Bonn, in einem In-<br />
terview mit dem Magazin McK. Juraschek hat<br />
für die Altersscheu vieler Arbeitgeber kein<br />
Verständnis und meint, dass sogar im IT-Service,<br />
der sonst als Jugenddomäne gilt, ältere<br />
Mitarbeiter den jungen weit voraus sind:<br />
„Wenn wir als Personaldienstleister eine IT-<br />
Stelle von einem Unternehmen besetzen müssen,<br />
haben wir oft keine andere Wahl, als einen<br />
älteren Kandidaten einzusetzen. Ein junger<br />
Mitarbeiter kommt überhaupt nicht in<br />
Frage, wenn es gilt, einen Großrechner zu<br />
programmieren, denn sie kennen keine auch<br />
weiterhin gefragten Programmiersprachen wie<br />
Assembler und Cobol. Die Kenntnisse solcher<br />
Programmiersprachen werden an deutschen<br />
Universitäten einfach nicht vermittelt. So<br />
kommt es vor, dass ein junger Programmierer<br />
trotz seiner Internet- und Java-Kenntnisse<br />
passen muss. Zwar hatten wir kürzlich mit einem<br />
Automobilkonzern den Fall, dass wir einen<br />
Großrechner auf eine neue Programmiersprache<br />
umstellen konnten, jedoch brauchten<br />
wir auch da jemanden, der sich an die alte<br />
Sprache erinnerte.“ Die schnelle Entwicklung<br />
der IT-Welt ohne Gedächtnis ist ebenso ein<br />
Anzeichen für einen blinden Fortschritt, wie<br />
die Unterstellung einer jungen Generation,<br />
die ältere sei nicht leistungsstark genug. „Besonders<br />
vor dem Hintergrund des anstehenden<br />
demografischen Wandels muss ein gesellschaftliches<br />
Umdenken erfolgen,“ so die Forderung<br />
von Juraschek.<br />
Peter Schäfer
12 Auf der Suche criticón 181 – Frühling 2004<br />
Auf der Suche nach dem<br />
“Schumpeter’schen<br />
Politiker”<br />
Vetospieler und der<br />
Reformstau in Deutschland<br />
Yvonne Heiniger; Thomas Straubhaar;<br />
<strong>Hans</strong> Rentsch; Stefan Flückiger; Thomas Held:<br />
Ökonomik der Reform – Wege zu mehr Wachstum in Deutschland.<br />
Zürich, Orell Füssli Verlag 2004<br />
160 Seiten<br />
24,- Euro (CHF 39,80)<br />
ISBN 3-280-05045-6<br />
von Matthias Schmitz<br />
Warum ist es so schwer, Deutschland<br />
zu reformieren? Ein Jahr Agenda 2010 und<br />
schon verlässt die Deutschen der Mut.<br />
Dabei haben andere Länder längst vorgemacht,<br />
wie erfolgreiche Reformen gehen<br />
können. Die Slowakei brilliert mit einem Steuersatz<br />
von 19 Prozent für alle und ist das Investorenparadies<br />
in Osteuropa. Und Finnland<br />
hat sich zum Musterknaben in der EU gemausert.<br />
Zwei Denkfabriken – Avenir Suisse aus<br />
der Schweiz und das Hamburgische Weltwirtschaftsarchiv<br />
HWWA – haben nach den Ursachen<br />
geforscht, warum Deutschland besonders<br />
schwer zu reformieren ist. Das Ergebnis: In<br />
kaum einem anderen Land gibt es so viele Vetospieler<br />
wie hierzulande. Vetospieler sind Individuen<br />
oder Gruppen, deren Zustimmung für<br />
eine Änderung des Status quo notwendig ist.<br />
Jede Gesellschaft entwickelt sich über die<br />
Zeit in eine so genannte «rent-seeking society»:<br />
Interessengruppen versuchen, Wett-<br />
bewerb und Marktmechanismen zu ihren<br />
Gunsten außer Kraft zu setzen.<br />
Dafür wenden sie sich an die Politik.<br />
Regierungen, Legislative und die staatliche<br />
Bürokratie lassen sich für wirtschaftliche<br />
Sonderinteressen einspannen, wenn dies<br />
dem eigenen Fortkommen dient.<br />
Problematisch an den Marktverzerrungen<br />
durch «rent seeking» sind große versteckte<br />
Effizienzverluste. Die Belastung für<br />
die gesamte Volkswirtschaft ist größer als<br />
der wirtschaftliche Nutzen für die «rent seekers».<br />
Faktoren für eine erfolgreiche<br />
Reform<br />
Die Autoren der Studie ‚Ökonomik der<br />
Reform’ haben in den sechs Ländern Dänemark,<br />
Finnland, Großbritannien, Neuseeland,<br />
die Niederlande und Schweden, die in jüngerer<br />
Vergangenheit tief greifende Reformen<br />
durchgeführt haben, nach Bedingungen gesucht,<br />
unter denen eine Modernisierung der<br />
Strukturen möglich war. Dabei ließen sich<br />
sechs «Reformfaktoren» ableiten, die für den<br />
Anstoß, die Umsetzung und die Aufrechterhaltung<br />
von Veränderung ausschlaggebend<br />
waren. Dieses «Reformparadigma» war in fast<br />
allen Veränderungsprozessen enthalten:<br />
• Problembewusstsein wecken: Die<br />
Einsicht in die Notwendigkeit der Veränderung<br />
steht am Anfang der Reform. Nicht<br />
überraschend bilden schockartige Krisen oft<br />
den Anstoß für Veränderungen.<br />
• Leadership fördern: Erfolgreiche Reformen<br />
sind geprägt von Führungspersönlichkeiten<br />
oder Teams, die bereit sind, Verantwortung<br />
zu übernehmen. Veränderungsprozesse<br />
erfordern einen politischen Unternehmer,<br />
den «Schumpeter’schen Politiker».
criticón 181 – Frühling 2004 von Matthias Schmitz 13<br />
Radikale Reformen werden von starken und<br />
glaubwürdigen Persönlichkeiten durchgesetzt.<br />
• Glaubwürdigkeit herstellen: Je<br />
schneller es der politischen Führung gelingt,<br />
eine aufrichtige, kohärente Politik glaubhaft<br />
zu kommunizieren, desto höher sind die<br />
Chancen auf Erfolg. Förderlich dafür sind<br />
früh etablierte feste Regeln, unideologisches<br />
Vorgehen, zielgerichtete, langfristige Programme<br />
ohne Schielen auf Partikularinteressen.<br />
• Verbündete gewinnen: Koalitionen<br />
und Allianzen, auch außerhalb der gewohnten<br />
Strukturen oder im Rahmen von ad-hoc-<br />
Übereinkünften, mündeten oft in zielführende<br />
Reformen.<br />
• Vetokräfte schwächen: Reformer waren<br />
dann erfolgreich, wenn es gelang, etablierte<br />
Interessengruppen zwar anzuhören,<br />
aber aus dem unmittelbaren Entscheidungsprozess<br />
heraus zu halten. Zeitlich beschränkte<br />
Kompensationen für «Verlierer» können<br />
die Akzeptanz von Reformen erhöhen.<br />
• Abgestuftes Vorgehen: In entwickelten<br />
Demokratien gibt es kaum erfolgreiche<br />
Muster eines Big Bang. In der Regel sind Reformprogramme<br />
stufenweise eingeführt worden.<br />
Je länger der Reformprozess dauert, desto<br />
größer sind jedoch die Gefahren der Behinderung,<br />
vor allem bei zahlreichen<br />
einflussreichen Vetospielern.<br />
criticón sprach mit dem Co-Autor der Studie,<br />
Stefan Flückiger von Avenir Suisse in<br />
Zürich:<br />
criticón: Für den Erfolg von politischen<br />
Reformen kommt es nach den Erkenntnissen<br />
Ihrer Studie vor allem auf Personen<br />
und nicht so sehr auf Institutionen an.<br />
Impressum<br />
Herausgeber:<br />
Gunnar Sohn<br />
Redaktion:<br />
Kurfürstenstr. 40<br />
53115 Bonn<br />
Telefon: 0228/62 04 474<br />
Fax: 0228/62 04 475<br />
Abo- und Leserservice:<br />
Mühlenstr. 93<br />
53347 Alfter<br />
Tel.: 0228/74 87 840<br />
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Redakteur:<br />
Gunnar Sohn<br />
Politischer Korrespondent:<br />
Wolfram A. Zabel<br />
Ressortleiter Politik &<br />
Wirtschaft:<br />
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Ressortleiterin Kultur:<br />
Silke Landwehr<br />
Ressortleiterin Buch &<br />
Medien:<br />
Bärbel Goddon<br />
Die Redaktion ist immer<br />
montags bis donnerstags von<br />
9:00 – 12:00 Uhr erreichbar.<br />
e-mail:<br />
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www.criticon.de<br />
Gründer der Zeitschrift:<br />
Caspar Frhr. von Schrenck-<br />
Notzing<br />
GES Verlag<br />
Kurfürstenstr. 40<br />
53115 Bonn<br />
Wie kommen Sie zu dieser Schlussfolgerung?<br />
Stefan Flückiger: Unsere Studie<br />
kommt zu dem Schluss, dass in Deutschland<br />
das institutionelle Gefüge, die "Spielregeln"<br />
allgemein, ein Haupthindernis für Reformen<br />
darstellen: der fein austarierte Föderalismus,<br />
die "runden Tische". Aber um diese Institutionen<br />
zu ändern, sind immer Personen<br />
nötig. Wir haben einfach beobachtet, dass in<br />
Ländern mit erfolgreichen Reformen immer<br />
ein überzeugendes Reformteam mit einer Persönlichkeit,<br />
die sich glaubwürdig mit den<br />
Veränderungen identifiziert, am Werk war.<br />
Jetzt kann man sagen das sei banal, nur<br />
muss man sich dann auch fragen, wieso<br />
macht man es denn nicht so in Deutschland.<br />
Was muss ein Politiker mitbringen, um<br />
politische Reformen durchzusetzen?<br />
Glaubwürdigkeit, Überzeugungskraft,<br />
Beharrlichkeit, Unabhängigkeit, und den Willen,<br />
das Risiko einzugehen, unter Umständen<br />
in der nächsten Wahlperiode nicht mehr gewählt<br />
zu werden, weil Reformen immer sehr<br />
vielen potenziellen Wählern und Wählerinnen<br />
wehtun, siehe aktuelles Beispiel Frankreich.<br />
Sie verweisen in Ihrer Abhandlung auf<br />
Persönlichkeiten wie Margaret Thatcher<br />
oder Mikula Dzurinda, die radikale Reformer<br />
waren. Wie beurteilen Sie den amtierenden<br />
deutschen Kanzler Gerhard Schröder<br />
im Vergleich zu den von Ihnen untersuchten<br />
politischen Führungspersönlichkeiten?<br />
Wir machen keine Persönlichkeitsbeurteilungen,<br />
schon gar nicht als Schweizer<br />
über deutsche Politiker. Aber man muss sich<br />
schon fragen, ob die deutsche Regierung heu-<br />
Anzeigen<br />
Jutta Sohn<br />
Mozartstraße 14<br />
77654 Offenburg<br />
Telefon/Fax: 0781/43234<br />
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53340 Meckenheim<br />
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(Schüler / Studenten mit<br />
Nachweis Euro 21,50)<br />
Auslandsabonnements zuzgl.<br />
Porto.<br />
Das Abonnement verlängert<br />
sich nur dann um einen weiteren<br />
Jahrgang, wenn es<br />
nicht bis zum 1.11. des laufenden<br />
Jahres schriftlich<br />
gekündigt wird.<br />
te nicht besser dastünde, hätte sie nicht<br />
1998 nach gewonnenen Wahlen mutig und<br />
entschlossen genau die Reformen angepackt,<br />
die sie heute unter viel schwierigeren Umständen<br />
ja ohnehin durchführen muss. Die<br />
Fakten lagen ja bereits damals auf dem Tisch.<br />
Sie hat klar ein "window of opportunity" verpasst.<br />
In öffentlichen Debatten wird die deutsche<br />
Harmoniesucht in der Reformdiskussion<br />
kritisiert. Man quält sich mit Scheindebatten,<br />
Spiegelgefechten und Rhetorik<br />
durch einen der härtesten Veränderungsprozesse<br />
der jüngeren Geschichte. Leidet<br />
Deutschland an der Sehnsucht zum Konsens?<br />
Ja. Das ist eine Eigenschaft, die<br />
Deutschland mit der Schweiz teilt, wenn auch<br />
historisch aus unterschiedlichen Gründen.<br />
Das hat auch in "guten Zeiten" sehr lange<br />
funktioniert, solange es immer genug zu verteilen<br />
gab. Schlägt das Wetter um – und das<br />
tut es mit der Globalisierung und der demographischen<br />
Alterung definitiv, längerfristig<br />
und tiefgreifend – dann werden die Schwierigkeiten<br />
sichtbar.<br />
Der Radikalreformer David Lange, Ex-Premierminister<br />
von Neuseeland, hält Mut<br />
und Schnelligkeit für die entscheidenden<br />
Erfolgsfaktoren, um Reformen durchzusetzen.<br />
Politische Führer müssten dafür auch<br />
bereit sein, sich politisch das Genick zu<br />
brechen. Wie beurteilen Sie das?<br />
Ich bin ein überzeugter Anhänger dieser<br />
Ansicht. Aber diese Spezies ist rar. Politiker<br />
wollen gewählt und geliebt werden. Reformer<br />
werden in der Regel erst in der nächsten<br />
und übernächsten Generation honoriert.<br />
Zahlungen im<br />
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(bitte Formular anfordern)<br />
oder durch Überweisung an<br />
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S. 19 projectphotos<br />
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Titel, S. 26, S. 27 Kerry Pressematerial<br />
Titel, S. 28, 29 Ann Ek/Johan Norberg<br />
Titel, S. 43 privat (<strong>Marquard</strong>)
14 Das demokratische Zwangsmonopol criticón 181 – Frühling 2004<br />
Das demokratische<br />
Zwangsmonopol<br />
und die Vorzüge der<br />
Privatrechtsgesellschaft<br />
Libertäre Strategien gegen die Allmacht des Staates<br />
von Gunnar Sohn<br />
In den USA sorgt der libertäre Wirtschaftswissenschaftler<br />
<strong>Hans</strong>-<strong>Hermann</strong><br />
<strong>Hoppe</strong> mit seinem provokanten Buch ‚Democracy<br />
– The God That Failed’ bereits in<br />
der fünften Auflage für erhitzte Debatten.<br />
Nun liegt das Werk in deutscher Übersetzung<br />
vor: Der Titel ‚Demokratie – Der Gott,<br />
der keiner ist’ deutet schon an, dass der<br />
Autor eine intellektuelle Zeitbombe zünden<br />
will. <strong>Hoppe</strong> ist Lehrstuhlnachfolger<br />
des legendären Murray N. Rothbard an der<br />
Universität in Las Vegas, dem Begründer<br />
der konsequentesten Freiheitslehre unserer<br />
Tage – Libertarianism genannt. Wie<br />
Rothbard steht auch <strong>Hoppe</strong> in der Tradition<br />
der Österreichischen Schule der Nationalökonomie,<br />
die von Ludwig von Mises in<br />
die USA exportiert wurde. Während seine<br />
geistigen Vorbilder Mises und Rothbard<br />
die Demokratie trotz scharfer Kritik an<br />
deren Schwächen für einen Fortschritt gegenüber<br />
dem Feudalismus hielten, sieht<br />
<strong>Hoppe</strong> sie als „zivilisatorischen Abstieg“.<br />
Entscheidend sei dabei das unterschiedliche<br />
Eigentums-Bewusstsein des Monarchen<br />
im Vergleich mit den politischen Eliten<br />
der Massendemokratie. So führt der<br />
Autor aus:<br />
„Als Erbmonopolist betrachtet der Fürst das<br />
Territorium und das Volk unter seiner Gerichtsbarkeit<br />
als sein persönliches Eigentum<br />
und betreibt eine monopolistische Ausbeutung<br />
seines Eigentums. Unter der Demokratie<br />
verschwindet die Ausbeutung nicht. Auch<br />
wenn es jedermann erlaubt ist der Regierung<br />
beizutreten, wird der Unterschied zwischen<br />
Herrschern und Beherrschten nicht eliminiert.<br />
Regierung und Regierte sind nicht ein<br />
und dieselben Personen. Anstatt eines Fürsten,<br />
der das Land als sein Privateigentum<br />
betrachtet, wird ein vorübergehender austauschbarer<br />
Verwalter in monopolistischer<br />
Leitungsposition eingestellt. Sowohl Erbfürsten<br />
wie auch demokratische Verwalter können<br />
ihre laufenden Ausgaben durch höhere<br />
Steuern steigern. Doch ein Fürst tendiert dazu,<br />
Steuererhöhungen dann zu vermeiden,<br />
wenn diese zum Kapitalverzehr führen – zu<br />
einem Sinken des diskontierten Gegenwartswerts<br />
des Kapitalstocks, dessen Eigentümer er<br />
ist. Im Gegensatz dazu zeigt ein Verwalter<br />
keine solche Zurückhaltung. Während er das<br />
gegenwärtige Steuereinkommen besitzt, ist er<br />
doch nicht der Besitzer des Kapitals, mittels<br />
dessen sein Einkommen erzielt wird – andere<br />
besitzen dieses Kapital. Entsprechend geht<br />
das Maß der Besteuerung unter demokratischen<br />
Bedingungen weit über das unter fürstlicher<br />
Herrschaft erreichte Niveau hinaus“.<br />
Schröpfen der Ressourcen<br />
Programmiert sei somit auch die Entwicklung<br />
zum umverteilenden Wohlfahrtsstaat. In feudalen<br />
Zeiten hingegen wurden Staatsausgaben<br />
als die persönlichen Ausgaben des Monarchen<br />
betrachtet, die er aufgrund seiner Position<br />
auf sich nimmt. Er war mit Eigentumsrechten<br />
ausgestattet, die ihm ein Einkommen<br />
sicherten. Es ist ungefähr so, als würde von<br />
einer Regierung unserer Zeit erwartet, dass<br />
sie ihre normalen Ausgaben aus den Einnahmen<br />
der im Staatsbesitz befindlichen Industrien<br />
deckt. Das Gegenteil ist der Fall. Anstatt<br />
den Wert des Regierungsbesitzes zu erhalten<br />
oder gar zu steigern, wie es ein Privateigentümer<br />
täte, wird ein vorübergehender<br />
Verwalter einer demokratischen Regierung so<br />
schnell wie möglich so viele Ressourcen wie<br />
nur möglich aufbrauchen, denn was er nicht<br />
jetzt konsumiert, wird er nach seiner Abwahl<br />
möglicherweise niemals konsumieren können.<br />
Als Beispiel führt <strong>Hoppe</strong> die Entwicklung der<br />
Staatsausgaben, Steuerlast, Geldmenge,
criticón 181 – Frühling 2004 von Gunnar Sohn 15<br />
Staatsbediensteten und Gesetzesflut an.<br />
Selbst zur Zeit des Ersten Weltkrieges lag der<br />
Anteil der Regierungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt<br />
in Deutschland selten über 10<br />
Prozent. Im deutlichen Gegensatz dazu wuchsen<br />
mit Beginn des demokratisch-republikanischen<br />
Zeitalters die Gesamtausgaben im<br />
Verlauf der 1920er Jahre auf 20 bis 30 Prozent<br />
an und ab Mitte der 1970er Jahre erreichten<br />
sie generell etwa 50 Prozent. Bis<br />
zum Ende des 19. Jahrhunderts lag der Anteil<br />
der Regierungsbeschäftigten nur bei drei Pro-<br />
Sorgt für erhitzte Debatten: <strong>Hans</strong>-<strong>Hermann</strong> <strong>Hoppe</strong><br />
zent. In den 1970er Jahren waren es 15 Prozent.<br />
Dazu <strong>Hoppe</strong>:<br />
„Nach mehr als einem Jahrhundert Zwangsdemokratie<br />
sind die vorhersehbaren Resultate<br />
offensichtlich. Die Eigentümern und Produzenten<br />
auferlegte Steuerlast lässt die ökonomische<br />
Last von Sklaven und Leibeigenen<br />
vergleichsweise moderat erscheinen. Regierungsschulden<br />
sind auf atemberaubende<br />
Höhen gestiegen. Gold ist durch Regierungspapiergeld<br />
ersetzt worden, dessen Wert kontinuierlich<br />
gesunken ist. Jede Einzelheit des<br />
Privatlebens, Eigentums, Handels und von<br />
Verträgen wird durch ständig wachsende Ber-<br />
ge von Papierrecht (Gesetzgebung) reguliert.<br />
Im Namen sozialer, öffentlicher oder nationaler<br />
Sicherheit ‚beschützen’ unsere Verwalter<br />
uns vor globaler Erwärmung und Abkühlung,<br />
dem Aussterben von Tieren und Pflanzen, vor<br />
Ehemännern und -frauen, vor Eltern und Arbeitgebern,<br />
zahllosen öffentlichen Feinden<br />
und Gefahren. Die einzige Aufgabe jedoch,<br />
die eine Regierung jemals annehmen sollte –<br />
unser Leben und Eigentum zu schützen –,<br />
wird von unseren Verwaltern nicht erfüllt. Je<br />
höher die Ausgaben für soziale, öffentliche<br />
und nationale Sicherheit gestiegen<br />
sind, umso mehr sind unsere<br />
Privateigentumsrechte erodiert<br />
worden, umso mehr ist unser Eigentum<br />
enteignet, beschlagnahmt,<br />
zerstört und entwertet<br />
worden und umso mehr wird uns<br />
die Grundlage jeden Schutzes<br />
entzogen: persönliche Unabhängigkeit,<br />
wirtschaftliche Stärke<br />
und privates Vermögen. Je mehr<br />
Papierrechte produziert wurden,<br />
umso mehr Rechtsunsicherheit<br />
und moralisches Risiko ist erzeugt<br />
worden.“<br />
Interessenkartell<br />
<strong>Hoppe</strong> ist mitnichten ein Monarchist.<br />
Er hält beide – Monarchie<br />
und Demokratie – für „defekte<br />
Sozialordnungen“ und streitet<br />
mit zwingender Logik für eine<br />
„natürliche Ordnung“, eine Privatrechtsgesellschaft,<br />
die Freiheit<br />
und Eigentum der Person sowie<br />
ihr Streben nach Glück schützt.<br />
Sein Plädoyer für den bedingungslosen<br />
Schutz der Privatrechte<br />
ist kein Angriff auf die<br />
Demokratie. Im Fokus seiner Kritik<br />
stehen die allmächtigen Apparatschicks,<br />
die mit demokratischer<br />
Legitimation kräftig in die<br />
Kasse greifen auf Kosten der Allgemeinheit.<br />
<strong>Hoppe</strong> steht dabei mit seiner<br />
fundamentalen Abrechnung nicht alleine.<br />
„Die Parteien haben unseren Staat fest im<br />
Griff und bedienen sich nach Belieben", skizziert<br />
beispielsweise der ehemalige BDI-Chef<br />
Olaf Henkel die Lage. Es ist ein uneinnehmbares<br />
Interessenkartell, wenn es um die Verteidigung<br />
von gemeinsamen Pfründen geht.<br />
Die Parteifunktionäre, oder nach dem Duktus<br />
von <strong>Hoppe</strong>, die Verwalter, zersetzen die Fundamente<br />
des Staates. Das hat der Wirtschaftsnobelpreisträger<br />
Friedrich August von Hayek<br />
schon vor über zwei Jahrzehnten gesehen:<br />
Die heute praktizierte Form der Demokratie<br />
ist für ihn ein Synonym für den Prozess des<br />
Stimmenkaufs, für das Schmieren und Belohnen<br />
von unlauteren Sonderinteressen. Ein<br />
Auktionssystem, in dem alle paar Jahre die<br />
Macht der Gesetzgebung denen anvertraut<br />
wird, die ihren Gefolgsleuten die größten<br />
Sondervorteile versprechen. Es werden Kumpaneien<br />
gepflegt, die der gegenseitigen Absicherung<br />
bei Fehlverhalten dienen – wer klüngelt,<br />
verteilt! Landtage und Bundestag haben<br />
sich zu Basaren und Umverteilungsagenturen<br />
gewandelt – eine Börse von Gruppeninteressen<br />
auf Gegenseitigkeit. Für <strong>Hoppe</strong> sind die<br />
Systemdefizite der Demokratie allerdings kein<br />
Grund, auf einen ökonomischen Zusammenbruch<br />
zu hoffen. Die Zustände könnten dann<br />
schlimmer statt besser werden. Was zusätzlich<br />
zu einer Krise notwendig ist, sind Ideen<br />
– richtige Ideen – und Menschen, die in der<br />
Lage sind, sie zu verstehen und zu verwirklichen,<br />
wenn die Gelegenheit dazu kommt.<br />
<strong>Hoppe</strong> verweist auf die Geistesgrößen Etienne<br />
de la Boétie, David Hume und Ludwig von Mises.<br />
Sie erkannten, dass die Macht der Regierung,<br />
ob eines Fürsten oder eines Verwalters,<br />
letzten Ende auf Meinung statt auf bloßer<br />
physischer Macht beruht. Die Regierungsagenten<br />
stellen immer nur einen kleinen Anteil<br />
der sich unter ihrer Kontrolle stehenden<br />
Bevölkerung dar, ob unter fürstlicher oder<br />
demokratischer Herrschaft. Wenn die Macht<br />
einer Regierung jedoch nur auf Meinung und<br />
zustimmender Kooperation ruht, dann kann<br />
jede Regierung auch durch eine schlichte<br />
Meinungsänderung und die Ausübung bloßer<br />
Willenskraft gestürzt werden. Für <strong>Hoppe</strong><br />
genügt der massenhafte Entzug der Zustimmung:<br />
„Liebesentzug“<br />
„Das heißt, um der Regierung ihre Macht zu<br />
entreißen und sie auf den Status einer freiwilligen<br />
Mitgliederorganisation zurückzustutzen,<br />
ist es nicht notwendig, die Herrschaft zu<br />
übernehmen, gewalttätige Schlachten gegen<br />
sie zu führen oder gar Hand an die eigenen<br />
Herrscher zu legen. Die zu tun würde das<br />
Prinzip des Zwangs und der aggressiven Gewaltanwendung,<br />
dem das gegenwärtige System<br />
unterliegt, nur bestätigen und unweigerlich<br />
zum bloßen Austausch einer Regierung<br />
oder eines Tyrannen führen“, so <strong>Hoppe</strong>.<br />
Er plädiert stattdessen für einen Akt der persönlichen<br />
Sezession. Im modernen Jargon<br />
könnte man auch von Liebesentzug sprechen.<br />
„Die Entscheidung zu sezedieren bedeutet,<br />
dass man die Zentralregierung als illegitim<br />
erachtet und sie und ihre Agenten entspre-
16 Über Konservatismus und Libertarismus criticón 181 – Frühling 2004<br />
chend als rechtlose Agentur und ‚fremde’ Besatzungsmacht<br />
behandelt. Das heißt, wenn<br />
von ihr gezwungen, gibt man nach, aus Klugheit<br />
und aus keinem anderen Grund als dem<br />
der Selbsterhaltung, aber man tut nichts, um<br />
ihre Handlungen zu unterstützen oder zu erleichtern.<br />
Man versucht soviel Eigentum wie<br />
möglich zu behalten und zahlt sowenig Steuern<br />
wie möglich. Man betrachtet das Staatsrecht,<br />
alle Gesetzgebung und Regulation als<br />
null und nichtig und ignoriert es wo immer<br />
möglich. Man arbeitet nicht für die Regierung<br />
und stellt sich ihr nicht freiwillig zur<br />
Verfügung, weder ihrer Exekutive, Legislative<br />
oder Judikative, und man verkehrt mit keinem,<br />
der dies tut. Man beteiligt sich nicht an<br />
der Politik der Zentralregierung und trägt<br />
nichts zum Betrieb der politischen Maschinerie<br />
bei. Man unterstützt keine politische Partei<br />
oder politische Kampagne, noch hilft man<br />
Organisationen, Agenturen, Stiftungen oder<br />
Denkfabriken, die mit dem Leviathan kooperieren<br />
oder von ihm finanziert werden“, führt<br />
der Autor in seinem Buch aus.<br />
Der antietatistische Stratege <strong>Hoppe</strong> gleicht<br />
dem Anarchen aus Ernst Jüngers Roman Eumeswil<br />
oder auch Bartleby, der rätselhaften<br />
Figur von Herman Melville: „I would prefer<br />
not to.“ Ich möchte mich nicht definitiv auf<br />
etwas festlegen, ich möchte mir die Freiheit<br />
erhalten, einen Rückzieher zu machen, wenn<br />
mir etwas nicht passt. Betrachtet man die tagesaktuellen<br />
Eskapaden der Politiker, so erscheint<br />
<strong>Hoppe</strong>s Empfehlung der staatlichen<br />
Enthaltsamkeit überhaupt nicht abwegig: Im<br />
vergangenen Jahr überraschte SPD-Fraktionschef<br />
Franz Müntefering die Öffentlichkeit mit<br />
der Forderung: „Weniger für den privaten<br />
Konsum – und dem Staat Geld geben, damit<br />
Bund, Länder und Gemeinden ihre Aufgaben<br />
erfüllen können". Der Staat soll noch mehr<br />
Finanzen von den Bürgern absaugen, um seine<br />
Funktionen weiter auszudehnen. Müntefering<br />
kommt einem dabei vor, wie die französische<br />
Königin Marie Antoinette, die dem<br />
nach Brot hungernden Volk empfahl, „doch<br />
Kuchen zu essen“. Man weiß, wie derlei<br />
Hochmut endet. Nun muss die politische<br />
Über Konservatismus<br />
und Libertarismus<br />
von <strong>Hans</strong>-<strong>Hermann</strong> <strong>Hoppe</strong><br />
Der moderne Konservatismus in den Vereinigten<br />
Staaten und in Europa ist verwirrt und<br />
verzerrt. Unter dem Einfluss der repräsentativen<br />
Demokratie und mit der seit dem Ersten<br />
Weltkrieg stattgefundenen Verwandlung der<br />
USA und Europas in Massendemokratien, wurde<br />
der Konservatismus von einer anti-egalitären,<br />
aristokratischen, anti-staatlichen<br />
ideologischen Kraft in eine Bewegung kulturell<br />
konservativer Etatisten verwandelt: in<br />
den rechten, bürgerlichen Flügel der Sozialisten<br />
und Sozialdemokraten. Die meisten<br />
selbsternannten Konservativen sind besorgt,<br />
und das mit Recht, über den Zerfall der Familie,<br />
die Scheidung, die unehelichen Kinder,<br />
den Verlust der Autorität, den Multikultura-<br />
lismus, die alternativen Lebensstile, die soziale<br />
Auflösung, den Sex und die Kriminalität.<br />
Alle diese Phänomene repräsentieren<br />
Anomalien und skandalöse Abweichungen<br />
von der natürlichen Ordnung. Ein Konservativer<br />
muss sich in der Tat gegen all diese Entwicklungen<br />
stellen und versuchen, Normalität<br />
wiederherzustellen. Die meisten zeitgenössischen<br />
Konservativen jedoch (zumindest die<br />
meisten Sprecher des konservativen Establishments)<br />
erkennen entweder nicht, dass<br />
ihr Ziel der Wiederherstellung der Normalität<br />
die drastischsten, sogar revolutionären, antistaatlichen<br />
sozialen Veränderungen notwendig<br />
macht, oder (wenn sie es wissen) sie sind<br />
als Mitglieder der „fünften Kolonne“ damit<br />
Klasse unserer Tage nicht mehr die Guillotine<br />
befürchten. Aber was passiert, wenn die braven<br />
Steuerbürger in einer konzertierten Aktion<br />
der Forderung des sozialdemokratischen<br />
Vordenkers folgen und den Konsum verweigern?<br />
Das Ancien Régime würde aus den Latschen<br />
kippen. Kein Konsum, keine Steuern.<br />
Die Öffentlichkeit erkennt dann sehr schnell<br />
die Nacktheit des Kaisers mit den neuen Kleidern.<br />
Ein Sturm auf die Bastille ist überhaupt<br />
nicht erforderlich.<br />
<strong>Hans</strong>-<strong>Hermann</strong> <strong>Hoppe</strong>:<br />
Demokratie – Der Gott, der keiner ist.<br />
Waltrop und Leipzig: Verlag Manuskriptum<br />
2003, 547 Seiten, 24,80 Euro.<br />
In dieser Ausgabe veröffentlichen wir aus<br />
dem <strong>Hoppe</strong>-Buch die gekürzte Fassung des<br />
Kapitels ‚Über Konservatismus und Libertarismus’.<br />
beschäftigt, den Konservatismus von innen<br />
zu zerstören und müssen daher als bösartig<br />
betrachtet werden.<br />
Dass dies für die so genannten Neokonservativen<br />
zutrifft bedarf hier keiner weiteren Erläuterung.<br />
Was deren Führungskräfte betrifft,<br />
kann man in der Tat den Verdacht hegen,<br />
dass die meisten von ihnen der letzteren<br />
(bösartigen) Sorte angehören. Sie machen<br />
sich nicht wirklich über kulturelle Angelegenheiten<br />
Sorgen, sondern sie spielen die<br />
Karte des kulturellen Konservatismus, um<br />
nicht die Macht zu verlieren und ihr gänzlich<br />
anderes Ziel der globalen Sozialdemokratie zu<br />
fördern. Dies trifft jedoch ebenfalls auf viele<br />
Konservative zu, die sich wirkliche Sorgen
criticón 181 – Frühling 2004 von <strong>Hans</strong>-<strong>Hermann</strong> <strong>Hoppe</strong> 17<br />
über zerfallene und dysfunktionale Familien<br />
und kulturelle Verrottung machen. Ich denke<br />
hier insbesondere an den Konservatismus, wie<br />
er von Patrick Buchanan und seiner Bewegung<br />
repräsentiert wird. Buchanans Konservatismus<br />
ist keineswegs so verschieden von<br />
dem des konservativen Establishments der<br />
Republikanischen Partei, wie er und seine Gefolgschaft<br />
sich einbilden. In einem entscheidenden<br />
Punkt ihrer Marke des Konservatismus<br />
befinden sie sich in vollständiger Übereinstimmung<br />
mit dem konservativen Establishment:<br />
beide sind Etatisten. Sie streiten<br />
sich darüber, was genau zu tun ist, um Normalität<br />
in den USA wiederherzustellen, aber<br />
sie stimmen darin überein, dass dies durch<br />
den Staat zu geschehen hat. In keinem von<br />
beiden gibt es eine Spur von prinzipieller Antistaatlichkeit.<br />
„Amerika Zuerst“-Bewegung<br />
Lassen Sie mich das darstellen, indem ich Samuel<br />
Francis zitiere, einem der führenden<br />
Theoretiker und Strategen der Buchanan-Bewegung.<br />
Nachdem er „anti-weiße“ und „antiwestliche“<br />
Propaganda beklagt, „militanten<br />
Sekularismus, raffgierigen Egoismus, ökonomischen<br />
und politischen Globalismus, demographische<br />
Überschwemmung und unkontrollierten<br />
Staatszentralismus“ erläutert er den<br />
neuen Geist der „Amerika Zuerst“-Bewegung,<br />
der „nicht nur bedeutet, die nationalen Interessen<br />
über die anderer Nationen und Abstraktionen<br />
wie ‚Weltführerschaft‘, ‚globale<br />
Harmonie‘ und die ‚neue Weltordnung‘ zu setzen,<br />
sondern auch der Nation vor der Befriedigung<br />
individueller und subnationaler Interessen<br />
Priorität zu geben“. Aber was schlägt er<br />
vor, um das Problem des kulturellen Verfalls<br />
zu lösen? Jene Teile des föderalen Leviathans,<br />
die für die Vermehrung der moralischen und<br />
kulturellen Verschmutzung verantwortlich<br />
sind, wie das Bildungsministerium, die Nationale<br />
Kunststiftung, die Kommission für Beschäftigungs-<br />
und Chancengleichheit und die<br />
zentralstaatliche Gerichtsbarkeit sollten gestrichen<br />
oder gestutzt werden. Aber es gibt<br />
keine Opposition gegen die staatliche Einmischung<br />
in Bildungsangelegenheiten. Es gibt<br />
keine Erkenntnis, dass natürliche Ordnung<br />
auf dem Gebiet der Bildung bedeutet, dass<br />
der Staat nichts damit zu tun hat. Bildung<br />
ist eine reine Familienangelegenheit.<br />
Ferner gibt es keine Erkenntnis, dass moralische<br />
Degeneration und kultureller Verfall tiefere<br />
Ursachen haben und nicht einfach durch<br />
staatlich verordnete Veränderungen im Bildungsplan<br />
oder durch Ermahnungen oder Tiraden<br />
geheilt werden können. Im Gegenteil,<br />
Francis schlägt vor, dass die kulturelle Wende<br />
– die Wiederherstellung der Normalität – ohne<br />
fundamentale Veränderung in der Struktur<br />
des modernen Wohlfahrtsstaates erzielt werden<br />
kann. Tatsächlich verteidigen Buchanan<br />
und seine Ideologen ausdrücklich die drei<br />
zentralen Institutionen des Wohlfahrtsstaates:<br />
die Sozialversicherung, die staatliche Gesundheitsfürsorge<br />
und die Subventionen für<br />
Arbeitslosigkeit. Sie wollen die „soziale“ Verantwortung<br />
des Staates sogar ausweiten, indem<br />
sie dem Staat die Aufgabe zuschreiben,<br />
mittels nationaler Einfuhr- und Ausfuhrbeschränkungen<br />
amerikanische Arbeitsplätze zu<br />
„schützen“, insbesondere in Branchen von<br />
nationalem Belang, und „die Löhne der USamerikanischen<br />
Arbeiter vor ausländischen<br />
Arbeitern, die für einen Dollar pro Stunde<br />
oder weniger arbeiten müssen, abzuschotten.“<br />
Die Buchananisten geben freizügig zu, dass<br />
sie Etatisten sind. Sie verachten und verhöhnen<br />
den Kapitalismus, laissez-faire, freie<br />
Märkte und Handel, Wohlstand, Eliten und<br />
Adel; und sie werben für einen neuen populistischen<br />
– tatsächlich proletarischen – Konservatismus,<br />
der sozialen und kulturellen<br />
Konservatismus mit einer sozialen oder sozialistischen<br />
Ökonomie verknüpft. Somit, fährt<br />
Francis fort,<br />
Neue Identität<br />
Während die Linke die Mittel-Amerikaner<br />
durch ihre ökonomischen Maßnahmen für<br />
sich gewinnen konnte, verlor sie sie durch<br />
ihren sozialen und kulturellen Radikalismus,<br />
und während die Rechte die Mittel-Amerikaner<br />
durch ihren Appell an Recht und Ordnung<br />
und die Verteidigung sexueller Normalität,<br />
konventioneller Moral und Religion, traditionelle<br />
soziale Institutionen und Beschwörungen<br />
des Nationalismus und<br />
Patriotismus anlocken konnte, verlor sie die<br />
Mittel-Amerikaner, wenn sie ihre alten bürgerlichen<br />
ökonomischen Formeln aufsagten.<br />
Daher sei es notwendig, die Wirtschaftspolitik<br />
der Linken und den Nationalismus und<br />
kulturellen Konservatismus der Rechten zu<br />
kombinieren, um „eine neue Identität“ zu erzeugen,<br />
„die die wirtschaftlichen Interessen<br />
und die kulturell-nationalen Loyalitäten der<br />
proletarisierten mittleren Klasse synthetisiert<br />
und zu einer separaten und vereinigten politischen<br />
Bewegung zusammenführt.“ Aus offensichtlichen<br />
Gründen wird diese Doktrin<br />
nicht so benannt, aber es gibt einen Begriff<br />
für diese Art von Konservatismus: Er nennt<br />
sich sozialer Nationalismus oder National-Sozialismus.<br />
Buchanan und seine Theoretiker glauben, Politik<br />
sei eine reine Angelegenheit des Willens<br />
und der Macht. Sie glauben nicht an so etwas<br />
wie ökonomische Gesetze. Wenn Menschen<br />
nur etwas wollen und ihnen die Macht gegeben<br />
wird, ihren Willen durchzusetzen, kann<br />
alles erreicht werden. Der „tote österreichische<br />
Ökonom“ Ludwig von Mises, auf den<br />
sich Buchanan während seiner Kampagne verächtlich<br />
bezog, charakterisierte diesen Glauben<br />
als „Historizismus“, die intellektuelle<br />
Einstellung der deutschen Kathedersozialisten,<br />
die eine jede etatistische Maßnahme<br />
rechtfertigten.<br />
Umverteilung<br />
Aber historizistische Verachtung und Ignoranz<br />
der Ökonomie ändert nichts an der<br />
Tatsache, dass es unumstößliche ökonomische<br />
Gesetze gibt. Man kann seinen Kuchen nicht<br />
essen und gleichzeitig behalten. Oder was<br />
man heute konsumiert kann nicht nochmals<br />
in der Zukunft konsumiert werden. Oder<br />
mehr von einem Gut zu produzieren erfordert,<br />
dass weniger von einem anderen Gut<br />
produziert wird. Kein Wunschdenken kann<br />
solche Gesetze verschwinden lassen. Etwas<br />
anderes zu glauben kann nur in praktischem<br />
Versagen enden. „In der Tat“, schreibt Mises,<br />
„ist Wirtschaftsgeschichte ein langes Register<br />
von politischen Maßnahmen der Regierungen,<br />
die genau deshalb versagt haben, weil sie mit<br />
kühner Missachtung der Gesetze der Ökonomie<br />
entworfen wurden.“ Im Lichte elementarer<br />
und unabänderlicher ökonomischer Gesetze<br />
ist das Buchanan-Programm des sozialen<br />
Nationalismus lediglich ein weiterer kühner,<br />
aber unmöglicher Traum. Kein Wunschdenken<br />
kann die Tatsache abändern, dass das Aufrechterhalten<br />
der zentralen Institutionen des<br />
gegenwärtigen Sozialsystems und der<br />
Wunsch, zurück zu traditionellen Familien,<br />
Normen, Verhaltensweisen und Kultur zu<br />
kehren unvereinbare Ziele sind. Man kann<br />
das eine – Sozialismus (Wohlfahrt) – oder das<br />
andere – traditionelle Moral – haben, aber<br />
man kann nicht beides zugleich haben, denn<br />
eine sozial-nationalistische Wirtschaftspolitik,<br />
die Säule des gegenwärtigen Wohlfahrtsstaatssystems,<br />
die Buchanan unverändert beibehalten<br />
möchte, ist gerade die Ursache der<br />
kulturellen und sozialen Anomalitäten.<br />
Um dies zu verstehen, ist es lediglich nötig,<br />
sich eines der fundamentalsten Gesetze der<br />
Ökonomie wieder zu vergegenwärtigen, das<br />
besagt, dass jede Zwangsumverteilung von<br />
Vermögen oder Einkommen, unabhängig auf<br />
welche Kriterien sie gegründet ist, bedeutet,<br />
von einigen – den Habenden von etwas – etwas<br />
wegzunehmen und es anderen – den<br />
Nicht-Habenden von etwas – zu geben. Ent-
18 Über Konservatismus und Libertarismus criticón 181 – Frühling 2004<br />
sprechend ist der Anreiz, ein Habender zu<br />
sein, reduziert, und der Anreiz, ein Nicht-Habender<br />
zu sein, vergrößert. Ein Habender hat<br />
etwas, was normalerweise als „gut“ betrachtet<br />
wird, und was der Nicht-Habende nicht hat,<br />
ist „schlecht“ oder ein Mangel. Dies ist der<br />
Gedanke, der jeder Umverteilung unterliegt:<br />
einige haben zuviel des Guten und andere zu<br />
wenig. Das Resultat jeder Umverteilung ist,<br />
dass zukünftig weniger Güter produzieren<br />
werden und zunehmend mehr Ungüter, weniger<br />
Perfektion und mehr Mangel. Indem mit<br />
Steuergeldern (mit Geldern, die anderen entwendet<br />
wurden) arme Menschen („schlecht“)<br />
subventioniert werden, wird mehr Armut erzeugt.<br />
Indem Menschen subventioniert werden,<br />
weil sie arbeitslos sind („schlecht“) sind,<br />
wird mehr Arbeitslosigkeit erzeugt. Indem<br />
unverheiratete Mütter („schlecht“) subventioniert<br />
werden, wird es mehr unverheiratete<br />
Mütter und mehr uneheliche Geburten geben,<br />
usw.<br />
Zwangssysteme<br />
Offensichtlich ist diese grundlegende Einsicht<br />
auf das gesamte so genannte Sozialversicherungssystem<br />
anwendbar, das in ganz Westeuropa<br />
(seit den 1880er Jahren) und den USA<br />
(seit den 1930er Jahren) implementiert worden<br />
ist: die Regierungs-Zwangs„versicherung“<br />
gegen Altersarmut, Krankheit, Verletzungen<br />
am Arbeitsplatz, Arbeitslosigkeit, Armut usw.<br />
In Verbindung mit dem noch älteren Zwangssystem<br />
der öffentlichen Bildung summieren<br />
sich diese Institutionen und Praktiken zu einem<br />
massiven Angriff auf die Institution der<br />
Familie und der persönlichen Verantwortung.<br />
Indem Individuen von der Pflicht befreit werden,<br />
für ihr eigenes Einkommen, ihre Gesundheit,<br />
Sicherheit, ihre Rente und die Ausbildung<br />
ihrer Kinder zu sorgen, sinkt die<br />
Reichweite und der Zeithorizont der privaten<br />
Vorsorge und der Wert der Ehe, Familie, Kinder<br />
und verwandtschaftlicher Beziehungen<br />
wird vermindert. Unverantwortlichkeit, Kurzsichtigkeit,<br />
Nachlässigkeit, Krankheit und sogar<br />
Zerstörungswut (Ungüter) werden gefördert<br />
und Verantwortung, Weitblick, Fleiß, Gesundheit<br />
und Konservatismus (Güter) werden<br />
bestraft. Insbesondere die Zwangsrentenversicherung,<br />
bei dem die Rentner (die Alten) mit<br />
Steuern subventioniert werden, die gegenwärtigen<br />
Einkommensverdienern auferlegt<br />
werden (den Jungen), hat den natürlichen<br />
Intergenerationenverbund zwischen Eltern,<br />
Großeltern und Kindern systematisch geschwächt.<br />
Die Alten brauchen sich nicht<br />
mehr auf die Unterstützung durch ihre Kinder<br />
zu verlassen, wenn sie für ihr eigenes hohes<br />
Alter nicht vorgesorgt haben; und die<br />
Jungen (normalerweise mit weniger akkumuliertem<br />
Vermögen) müssen die Alten (mit<br />
normalerweise mehr akkumuliertem Vermögen)<br />
unterstützen, statt andersherum, wie<br />
innerhalb von Familien normalerweise der<br />
Fall. Infolgedessen wollen Menschen nicht<br />
nur weniger Kinder haben – und Geburtenraten<br />
sind seit Einsetzung der modernen Sozialversicherungs-<br />
(Wohlfahrts-)politik halbiert<br />
worden – auch der Respekt, den die Jungen<br />
traditionell Älteren gegenüber zollten, hat<br />
sich vermindert, und alle Indikatoren von Familienzerfall,<br />
wie Scheidungsquoten, uneheliche<br />
Kinder, Kindesmissbrauch und Abtreibung<br />
haben sich erhöht.<br />
Sozialversicherung<br />
Darüber hinaus ist mit der Sozialisierung des<br />
Gesundheitsversorgungssystems und der Regulierung<br />
der Versicherungsindustrie eine<br />
monströse Maschinerie der Vermögens- und<br />
Einkommensumverteilung zugunsten verantwortungsloser<br />
Akteure und Hochrisikogruppen<br />
und auf Kosten verantwortungsbewusster<br />
Individuen und Gruppen mit niedrigem Risiko<br />
in Gang gesetzt worden. Man kann nichts<br />
besseres machen als den „toten österreichischen<br />
Ökonom“ Ludwig von Mises nochmals<br />
zu zitieren:<br />
Kranksein ist kein vom bewussten Willen unabhängiges<br />
Phänomen. ... Die Effizienz eines<br />
Menschen ist nicht lediglich das Ergebnis seiner<br />
physischen Kondition; sie hängt weitgehend<br />
von seinem Geist und seinem Willen ab<br />
... Der zerstörerische Aspekt der Unfall- und<br />
Krankenversicherung liegt vor allem in der<br />
Tatsache, dass solche Institutionen Unfälle<br />
und Krankheiten fördern, die Erholung behindern<br />
und sehr oft die funktionalen<br />
Störungen, die einer Krankheit oder einem<br />
Unfall folgen, intensivieren und in die Länge<br />
ziehen ... Sich gesund zu fühlen ist etwas<br />
gänzlich anderes als gesund im medizinischen<br />
Sinne zu sein. ... Indem der Wille, gesund<br />
und arbeitsfähig zu bleiben geschwächt oder<br />
gänzlich zerstört wird, erzeugt Sozialversicherung<br />
Krankheit und Arbeitsunfähigkeit;<br />
sie produziert die Angewohnheit, sich zu beschweren<br />
– welches selbst eine Neurose ist –<br />
und Neurosen anderer Art. ... Als eine soziale<br />
Institution macht sie ein Volk körperlich und<br />
geistig krank oder führt zumindest dazu,<br />
dass sich Krankheiten vermehren, in die Länge<br />
ziehen und intensivieren. ... Die Sozialversicherung<br />
hat somit die Neurosen der Versicherten<br />
in eine gefährliche öffentliche Seuche<br />
verwandelt. Im Falle der Erweiterung und<br />
Entwicklung der Institution wird sich die<br />
Seuche weiter ausbreiten. Keine Reform wird<br />
irgendwelche Abhilfe schaffen. Wir können<br />
nicht den Willen zur Gesundheit schwächen<br />
oder zerstören ohne Krankheiten zu erzeugen.<br />
Ökonomischer Destruktivismus<br />
Ebenso unsinnig sind die noch weiter gehenden<br />
Ideen einer Schutzzoll Politik von Buchanan<br />
und seinen Theoretikern. Wenn sie<br />
recht hätten, würde ihr Argument zugunsten<br />
ökonomischer Protektion zu einer Verurteilung<br />
jeglichen Handels führen und zur Verteidigung<br />
der These, dass jeder (jede Familie)<br />
besser dran wäre, wenn er (sie) niemals mit<br />
irgendjemand anderem Handel treiben würde.<br />
Sicherlich würde in einem solchen Fall niemand<br />
seine Arbeit verlieren, und Arbeitslosigkeit<br />
aufgrund „ungerechten“ Wettbewerbs<br />
wäre auf Null reduziert. Eine solche Vollbeschäftigungsgesellschaft<br />
wäre jedoch nicht<br />
wohlhabend und stark; sie wäre aus Menschen<br />
zusammengesetzt, die, obwohl sie von<br />
morgens bis abends arbeiteten, zur Armut<br />
und zum Verhungern verdammt wären. Buchananas<br />
internationaler Protektionismus würde<br />
im Ergebnis genau dieselbe Wirkung haben.<br />
Das ist nicht Konservatismus – das ist<br />
ökonomischer Destruktivismus.<br />
Der kulturelle Verfall und die Entzivilisierung<br />
sind die zwangsläufigen und unvermeidbaren<br />
Ergebnisse des Wohlfahrtsstaates und seiner<br />
zentralen Institutionen. Klassische Konservative<br />
der alten Schule wussten dies und<br />
bekämpften die öffentliche Bildung und die<br />
Sozialversicherung mit aller Kraft. Ihnen war<br />
klar, dass Staaten überall darauf abzielen, Familien<br />
und Institutionen, Schichten und<br />
Hierarchien sozialer Autorität zu zerstören,<br />
um ihre eigene Macht zu vergrößern und zu<br />
stärken.<br />
Wohlfahrts-Etatismus<br />
Im Gegensatz dazu zeugt der auch in<br />
Deutschland weit verbreitete populistischproletarische<br />
Konservatismus mit seinem sozialen<br />
Nationalismus von vollständiger Ignoranz<br />
hinsichtlich alldem. Kulturellen Konservatismus<br />
mit Wohlfahrts-Etatismus zu<br />
kombinieren ist unmöglich und daher ökonomischer<br />
Unsinn. Wohlfahrts-Etatismus – soziale<br />
Sicherheit in jeder Art, Gestalt oder<br />
Form – fördert den moralischen und kulturellen<br />
Verfall. Eine Rückkehr zur Normalität erfordert<br />
nichts geringeres als die vollständige<br />
Eliminierung des gegenwärtigen sozialen Sicherheitssystems:<br />
der Arbeitslosenversicherung,<br />
der Sozialhilfe, der Krankenversicherung,<br />
der öffentlichen Bildung usw. – und damit<br />
die fast vollständige Auflösung und De-
criticón 181 – Frühling 2004 von <strong>Hans</strong>-<strong>Hermann</strong> <strong>Hoppe</strong> 19<br />
konstruktion des gegenwärtigen Staatsapparates<br />
und der Regierungsmacht. Wenn man<br />
jemals Normalität wiederherstellen möchte,<br />
müssen die Finanzmittel und die Macht der<br />
Regierung auf oder sogar unter das Niveau<br />
des 19. Jahrhunderts fallen. Echte Konservative<br />
müssen von daher libertäre Hardliner<br />
(Anti-Etatisten) sein. Der soziale Nationalismus<br />
der populistisch-proletarischen Konservativen<br />
ist verfehlt: er möchte zur traditionellen<br />
Moral zurückkehren, fordert aber gleichzeitig,<br />
dass gerade die Institutionen erhalten<br />
bleiben, die für die Pervertierung und Zerstörung<br />
traditioneller Moral verantwortlich<br />
ist.<br />
Rothbardismus<br />
Die meisten zeitgenössischen Konservativen,<br />
sind daher keine Konservativen, sondern Sozialisten<br />
– entweder der internationalistischen<br />
Art oder der nationalistischen Sorte.<br />
Echte Konservative müssen sich beiden widersetzen.<br />
Um soziale und kulturelle Normalität<br />
wiederherzustellen, müssen echte Konservative<br />
radikale Libertäre sein und den Abriss der<br />
gesamten Struktur der Sozialversicherung –<br />
als einer moralischen und ökonomischen Perversion<br />
– fordern. Wenn Konservative Libertäre<br />
sein müssen, weshalb müssen Libertäre<br />
Konservative sein? Wenn Konservative von Libertären<br />
lernen müssen, müssen Libertäre<br />
auch von Konservativen lernen?<br />
Zunächst sind einige terminologische Klarstellungen<br />
nötig. Kulminierend im Werk Murray<br />
N. Rothbards, dem Schöpfer der modernen<br />
libertären Bewegung, und insbesondere<br />
in seiner Ethics of Liberty, ist Libertarismus<br />
ein rationales System der Ethik (des Rechts).<br />
Rothbard arbeitet innerhalb der Tradition der<br />
klassischen politischen Philosophie – von<br />
Hobbes, Grotius, Pufendorf, Locke und Spencer<br />
– und er verwendet im wesentlichen dieselben<br />
analytischen Werkzeuge und logischen<br />
Verfahren wie die Klassiker. Libertarismus ist<br />
ein systematischer Rechtskodex, der mittels<br />
logischer Deduktion von einem einzigen Prinzip<br />
abgeleitet wird, dessen Gültigkeit nicht<br />
bestritten werden kann ohne sich dabei in einen<br />
logisch-praktischen (praxeologischen)<br />
oder performativen Widerspruch zu verwickeln.<br />
Dieses Axiom ist das uralte Prinzip<br />
der ursprünglichen Aneignung: Eigentum an<br />
knappen Ressourcen – das Recht an der ausschließlichen<br />
Kontrolle über knappe Ressourcen<br />
(Privateigentum) – wird durch die Handlung<br />
ursprünglicher Aneignung erworben<br />
(wodurch Ressourcen aus einem natürlichen<br />
Zustand in einen zivilisatorischen Zustand<br />
übertragen werden). Wenn dem nicht so wäre,<br />
könnte niemand jemals anfangen zu han-<br />
Wird der Intergenerationenverbund zwischen Eltern, Großeltern und Kindern systematisch geschwächt?<br />
deln (irgendetwas vorschlagen oder tun); daher<br />
ist jedes andere Prinzip praxeologisch unmöglich<br />
(und argumentativ nicht zu verteidigen).<br />
Vom Prinzip ursprünglicher Aneignung<br />
– dem Prinzip „erster Benutzer-erster-Besitzer“<br />
– werden Regeln bezüglich der Verwandlung<br />
und des Transfers (des Austauschs) ursprünglich<br />
angeeigneter Ressourcen abgeleitet,<br />
und die gesamte Ethik (das Recht),<br />
einschließlich der Prinzipien der Bestrafung,<br />
wird dann in eigentumstheoretischen Begriffen<br />
rekonstruiert: alle Menschenrechte sind<br />
Eigentumsrechte und alle Menschenrechtsverletzungen<br />
sind Eigentumsrechtsverletzungen.<br />
Das Ergebnis dieser libertären Theorie des<br />
Rechts ist in diesen Kreisen wohlbekannt: der<br />
einflussreichsten Strömung der libertären<br />
Theorie zufolge, dem Rothbardismus, ist der<br />
Staat eine außergesetzliche Gangster-Organisation<br />
und die einzige gerechte Sozialordnung<br />
ist das System einer Privateigentumsanarchie.<br />
Inhaltliche Affinität zweier<br />
Doktrinen<br />
Einige oberflächliche Kommentatoren, meist<br />
von der konservativen Seite, haben Libertarismus<br />
und Konservatismus als unvereinbare,<br />
gegnerische oder sogar antagonistische Ideologien<br />
bezeichnet. Tatsächlich ist diese Ansicht<br />
ein kompletter Irrtum. Die Beziehung<br />
zwischen Libertarismus und Konservatismus<br />
ist eine der praxeologischen Vereinbarkeit,<br />
soziologischer Ergänzung und wechselseitiger<br />
Verstärkung.<br />
Um dies zu erklären, muss ich darauf hinweisen,<br />
dass die meisten führenden libertären<br />
Denker faktisch sozial-kulturelle Konservative<br />
waren: Verteidiger der traditionellen, bürgerlichen<br />
Moral und Verhaltensweisen. Am bezeichnendsten<br />
war Murray Rothbard ein ausgesprochener<br />
kultureller Konservativer. Ebenso<br />
war es auch Rothbards wichtigster Lehrer,<br />
Ludwig von Mises. Während dies nicht viel<br />
beweist, deutet es auf eine inhaltliche Affinität<br />
zwischen den zwei Doktrinen hin. Es ist<br />
nicht schwer zu erkennen, dass die konservative<br />
und libertäre Sicht der Gesellschaft perfekt<br />
vereinbar sind. Konservative sind überzeugt,<br />
dass das „natürliche“ und „normale“<br />
alt und weitverbreitet ist und somit immer<br />
und überall erkannt werden kann. Ähnlich<br />
sind Libertäre überzeugt, dass die Prinzipien<br />
der Gerechtigkeit ewig und universell gültig<br />
sind und somit der Menschheit von ihrem<br />
Anbeginn an im wesentlichen bekannt gewesen<br />
sein müssen. Die libertäre Ethik ist nicht<br />
neu und revolutionär, sondern alt und konservativ.<br />
Selbst Kinder sind in der Lage, die<br />
Gültigkeit des Prinzips ursprünglicher Aneignung<br />
zu begreifen und die meisten Menschen<br />
erkennen es normalerweise als unumstößliche<br />
Tatsache an.<br />
In ihrem Versuch, eine freie natürliche Sozialordnung<br />
zu etablieren, müssen Libertäre<br />
danach streben, das im Privateigentum inhärente<br />
Recht des Ausschlusses vom Staat<br />
zurückzugewinnen. Doch bevor sie dieses Ziel<br />
erreichen und um sein Erreichen überhaupt<br />
möglich zu machen, können Libertäre nicht<br />
früh genug damit beginnen, sofern die Umstände<br />
ihnen dies noch erlauben, ihr Ausschlussrecht<br />
im Alltagsleben wieder zu beanspruchen<br />
und auszuüben. Wie echte Konservative,<br />
die sich vom falschen sozial(istischen)<br />
Konservatismus trennen müssen.
20 criticón 181 – Frühling 2004<br />
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criticón 181 – Frühling 2004 von Michael Kastner 21<br />
von Michael Kastner<br />
Die Hauptkritik, die dem Anarchokapitalismus<br />
von Anhängern des Staates und<br />
selbst von staatsskeptischen Liberalen entgegengehalten<br />
wird, lässt sich in einem Wort<br />
zusammenfassen: Utopie!<br />
Diesem Vorwurf möchte ich im folgenden<br />
entgegentreten – ausgerechnet mit Hilfe<br />
eines theoretischen Ansatzes, den einer der<br />
liberalen Hauptverfechter des Verfassungsstaates,<br />
Friedrich August von Hayek, in verschiedenen<br />
Schriften, insbesondere in seiner<br />
Aufsatzsammlung ‚Die Anmaßung von Wissen’<br />
herausgearbeitet hat.<br />
Entwicklungstheorie und die<br />
Theorie komplexer Phänomene<br />
Die Entwicklungstheorie beschreibt einen<br />
Auswahl- und Replikationsprozess, bei<br />
dem nach Hayek jene Elemente ausgewählt<br />
werden, „die fähig sind, komplexere Strukturen<br />
zu bilden; und die Vermehrung ihrer Mitglieder<br />
wird zur Bildung noch komplexerer<br />
Strukturen führen“. Eine evolutorische Entwicklung,<br />
d.h. die Auslese von Verfahren mit<br />
Hilfe von Versuch und Irrtum wird überhaupt<br />
erst notwendig, weil es sich bei menschlichen<br />
Gesellschaften um solch komplexe Phänomene<br />
handelt. Ein komplexes Phänomen existiert,<br />
vereinfacht ausgedrückt, wenn die Anzahl<br />
der Elemente eines Systems und deren<br />
Handlungsmöglichkeiten so groß ist, dass eine<br />
Voraussage über das einzelne Element unmöglich<br />
ist. Bestenfalls ist gemäß Hayek eine<br />
Vorhersage über bestimmte Muster möglich.<br />
Anarcho-<br />
kapitalistische<br />
Theorie<br />
Der Staat ist die eigentliche Utopie<br />
Spontane Ordnung und Tradition<br />
Gesellschaften können als solche<br />
komplexe Phänomene verstanden werden. Die<br />
Handlungsmöglichkeiten und Wünsche der<br />
Individuen in den Gesellschaften sind nahezu<br />
unbegrenzt und verändern sich permanent.<br />
Gleichzeitig verändert sich aber auch die Umwelt<br />
der Gesellschaften und es entstehen<br />
wiederum neue Aktions- und Reaktionsmöglichkeiten,<br />
die die Komplexität des Systems<br />
weiter erhöhen. In diesem Chaos bilden sich<br />
spontan, basierend auf den Handlungsalternativen<br />
des Individuums, Ordnungen, Verhaltensweisen<br />
und Regeln. Können sich diese<br />
über einen längeren Zeitraum durchsetzen, so<br />
werden sie zu Traditionen. Aufgrund des geringen<br />
Wissens, welches einzelne Individuen<br />
über die einzelne Gesellschaft und über die<br />
erweiterten Ordnungen außerhalb der Gesellschaften<br />
haben, bildet die Tradition den<br />
größten und brauchbarsten Teil des Wissens<br />
im Umgang mit einer komplexen sozialen<br />
Umwelt.<br />
Individuum, Gesellschaft und<br />
erweiterte Ordnung<br />
Nur dort, wo sich Individuen freiwillig<br />
zusammenschließen, kann überhaupt von Gesellschaft<br />
gesprochen werden. Nur in solchen<br />
Gesellschaften können Anpassungsprozesse<br />
an den Wandel durchgeführt werden. Die Arten<br />
der gesellschaftlichen Organisation und<br />
die Regeln des Zusammenlebens können in<br />
den gesellschaftlichen Gebilden sehr unterschiedlich<br />
sein. Für die Anpassungsfähigkeit<br />
einer Gesellschaft ist lediglich die Freiwilligkeit<br />
der Teilnahme ausschlaggebend.<br />
Über die Gesellschaften hinaus interagiert<br />
der Einzelne auch mit Individuen, die<br />
sich außerhalb seines bekannten Erkenntnishorizonts<br />
befinden. Er nutzt Güter und Leistungen<br />
von Menschen, deren Gesellschaften<br />
er nicht angehört. Hayek nennt dies die "erweiterte<br />
Ordnung".<br />
In dem Maße, in dem Bevölkerungen<br />
wachsen, wächst auch die Anzahl der Gesellschaften<br />
und es wächst die Anzahl anonymer<br />
Transaktionen. Umgekehrt wird die einstmals<br />
für das Individuum vermeintlich oder<br />
tatsächlich überschaubare Welt immer kleiner<br />
im Verhältnis zu einer wachsenden erweiterten<br />
Ordnung. Gleichzeitig führt das Wachstum<br />
der Tauschprozesse zu einer immer besseren<br />
Allokation von Ressourcen. Dies führt<br />
wiederum zu einem stärkeren Wachstum der<br />
Bevölkerungen.<br />
Erweiterte Ordnung und Kleingruppenorganisation<br />
Der Prozess der Bildung erweiterter<br />
Ordnungen hat sich in Europa seit dem Mittelalter<br />
stark beschleunigt. Überkommene<br />
Herrschafts- und Organisationsstrukturen, die<br />
noch während der Zeit der Völkerwanderung<br />
und noch bis einige Jahrhunderte danach<br />
durchsetzbar waren, gerieten zunehmend unter<br />
Druck. Der Herausbildung erster bürgerli-
22 Anarcho-kapitalistische Theorie criticón 181 – Frühling 2004<br />
cher Neuordnung in Form freier Reichsstädte,<br />
der <strong>Hans</strong>e oder der oberitalienischen Städte<br />
hatten Fürsten, Feudalherren und Kaiser<br />
außer an militärischer Macht wenig entgegenzusetzen,<br />
zumal auch ihre militärische<br />
Macht zunehmend von den Früchten der erweiterten<br />
Ordnung abhing.<br />
Der Prozess der Ausweitung einer von<br />
zentralen Entscheidungsträgern unkontrollierbaren<br />
anonymen Ordnung machte den einzelnen<br />
Menschen Angst. Die Welt begann sich<br />
immer schneller zu verändern. Die Menschen<br />
in England oder Deutschland waren mit dem<br />
Beginn der industriellen Revolution Veränderungen<br />
ausgesetzt, deren Ursachen sie nicht<br />
kannten und deren Folgen sie fürchteten.<br />
Verhaltensmuster und Traditionen, die in<br />
agrarischen Kleingruppen bzw. dörflichen Gemeinschaften<br />
eventuell noch für ein Überleben<br />
ausreichten, wurden teilweise nutzlos<br />
oder gar hinderlich.<br />
Aufstieg der Marktanarchie<br />
Es waren städtische Strukturen, die<br />
den Informationsfluss, den Warenaustausch<br />
und auch die Experimentierfreudigkeit des<br />
Einzelnen förderten. Die Städte erweiterten<br />
die Anzahl der Handlungsalternativen auf<br />
kleinem Raum. Es war in den Städten leichter,<br />
Gleichgesinnte für eine Sache zu finden<br />
als auf dem Lande, wo die Dorfgemeinschaften<br />
klein, die Entfernungen groß und die<br />
Traditionen starr waren. Gleichzeitig gab es<br />
erstmals auch verstärkt Möglichkeiten, in der<br />
Anonymität einer Menschenmasse abzutauchen.<br />
In den Städten entstand eine Ordnung,<br />
die zunehmend von obrigkeitlicher<br />
Entscheidung unabhängig war. Es entstand<br />
eine neue Ordnung, die nicht mehr kontrollierbar<br />
war und die sich außerhalb des Einflussbereichs<br />
fürstlicher Herrschaft befand.<br />
Städtische Entwicklung, Bevölkerungswachstum<br />
und Zunahme der Handlungsspielräume<br />
des Einzelnen begünstigten sich gegenseitig.<br />
Und dies nicht nur innerhalb der Stadtmauern,<br />
sondern in der Folge auch im Umland.<br />
Der Aufstieg des Staates als<br />
Reaktion gegen den Wandel<br />
Die neue Ordnung war nicht gewollt<br />
oder gar geplant. Sie war kein Komplott anarchistischer<br />
Umstürzler. Sie war oftmals<br />
selbst von jenen Stadtbürgern nicht gebilligt<br />
und nicht gewollt, die unbewusst halfen, sie<br />
mit herbeizuführen. Hayek formuliert es so:<br />
„Die Schritte in einem Prozess der Entwicklung<br />
auf etwas zu, das vorher unbekannt war,<br />
können den Menschen nicht gerecht erscheinen,<br />
weil die Erfolge größtenteils unbeabsichtigt<br />
und unvorhergesehen waren.“ Was<br />
den Erfolg der Marktordnung ausmachte, war<br />
die schlichte ökonomische und soziale Notwendigkeit.<br />
Nicht die Einsicht. Wer sich der<br />
Notwendigkeit nicht anschloss, war von den<br />
Möglichkeiten des ökonomischen Erfolges und<br />
des sozialen Aufstiegs ausgeschlossen.<br />
Es ist kein Zufall, dass mit dem Überflüssigwerden<br />
überkommener Ordnungen und<br />
dem Entstehen neuer Ordnungen und Gesellschaften<br />
die Idee der Nation und des Staates<br />
an Zulauf gewann. Hayek erklärt: „Die Abneigung<br />
gegen solche Zufallsergebnisse, die mit<br />
dem Vorgang des Experimentierens untrennbar<br />
verbunden sind, lassen die Menschen<br />
wünschen, die Entwicklung selbst in die<br />
Hand zu nehmen und mit ihren Wünschen in<br />
Einklang zu bringen.“<br />
In dieser Situation konnte die Idee<br />
des Staates gedeihen. Einerseits versprach die<br />
Idee der Nation bei Arbeitern, Bauern und<br />
dem Bürgertum den Ersatz für Familie, verlorengegangene<br />
kollektive Idylle und die Wiederherstellung<br />
der Verankerung in einer Gemeinschaft.<br />
Andererseits betrachtete das Bürgertum,<br />
das seit dem Ende des 18. Jahrhunderts<br />
im Erfolgstaumel des technisch<br />
Machbaren lebte, den Staat als technokratisches<br />
Mittel, um die Veränderungen zu kanalisieren<br />
und planbar zu machen. Das Bürgertum<br />
und auch die Sozialisten glaubten, man<br />
könne Ordnung per Verfassung konstruieren.<br />
Das staatliche Chaos<br />
Die Gründer von National- und Sozialstaat<br />
waren davon überzeugt, es genüge, die<br />
Ergebnisse sozialer Prozesse zu kopieren. Und<br />
schon würde man das gleiche Ergebnis erzielen<br />
wie der Markt.<br />
Frühzeitig wurden so die Ergebnisse<br />
von Marktprozessen, etwa die Sicherheitsproduktion,<br />
das Geldwesen und die Gerichtsbarkeit<br />
verstaatlicht. Es folgten Mitte des 19.<br />
Jahrhunderts das Bildungswesen, die Infrastruktur<br />
und Teile des Versicherungswesens.<br />
Dies führte dazu, dass viele Entdeckungsverfahren,<br />
die sich in der Marktanarchie abspielten,<br />
plötzlich unterbunden wurden. Auch<br />
Verfahren, die nach den bestmöglichen Ergebnissen<br />
suchen sollten, wurden verhindert. Wo<br />
der Markt zuvor eine Vielfalt von Lösungen<br />
anbieten konnte, aus denen sich im Rahmen<br />
des Wettbewerbs die beste herausbildete, gab<br />
nun der Staat eine einzige Lösung vor.<br />
Reaktions- und Suchverfahren, die die<br />
Ordnung überhaupt erst ermöglichten, die<br />
der Staat nun zu beherrschen versuchte, wurden<br />
außer Kraft gesetzt. Je größer die Kom-<br />
plexität der erweiterten Ordnung wurde, d.h.<br />
je höher die Anzahl der teilnehmenden Menschen,<br />
ihre Interaktionen pro Zeiteinheit und<br />
je größer die Anzahl der bestehenden Wahlmöglichkeiten,<br />
desto katastrophaler gestalteten<br />
und gestalten sich die Folgen dieses Eingriffs.<br />
Ordnung aus dem Chaos<br />
Der staatliche Zentralismus war dem<br />
Marktanarchismus bereits zum Zeitpunkt der<br />
ersten Staatsgründungen unterlegen. Die Eingriffe<br />
der Nationalstaaten waren zu deren<br />
Gründerzeit jedoch recht gering und die Vielfalt<br />
der Transaktionsmöglichkeiten noch<br />
nicht in dem Maße gegeben wie es gegenwärtig<br />
der Fall ist.<br />
Mit wachsender Bevölkerung versuchten<br />
die Staaten immer stärker vom Markt<br />
vorgegebene Funktionen zu übernehmen, um<br />
die ihnen dennoch entgleitende Kontrolle<br />
nicht zu verlieren.<br />
Für Staaten ist das Szenario einer auf<br />
stetigen Wandel reagierenden, stetigen Wandel<br />
auslösenden und zunehmend anwachsenden<br />
Bevölkerung eine Bedrohung. Die Erhöhung<br />
der Systemkomplexität stellt eine<br />
permanente Schwächung der staatlichen<br />
Macht dar. Auch wenn die staatliche Welt ein<br />
Chaos erzeugt, so bilden sich in diesem Chaos<br />
verstärkt und immer schneller an vielen Stellen<br />
erfolgreiche spontane und erweiterte Ordnungen.<br />
Sie bilden sich ohne von außen vorgegebenen<br />
Masterplan, vielmehr aus dem<br />
Wettbewerb mit anderen Ordnungen.<br />
Trotz des Chaos, das Staaten mit<br />
ihrem Interventionismus im ökonomischen<br />
und sozialen Bereich anrichten, bilden sich<br />
nicht kontrollierbare Ausgleichsmechanismen<br />
in Form von Schmuggel, Schwarzmärkten und<br />
anderen illegalen Selbsthilfestrukturen. Die<br />
Anzahl und der Anteil dieser Strukturen<br />
wachsen ständig.<br />
Staaten waren seit ihrer Gründung<br />
niemals fähig, Ordnungen zu schaffen. Sie<br />
bedienten und bedienen sich lediglich der<br />
menschlichen Sehnsucht nach Kleingruppensicherheit<br />
in einer sich immer schneller wandelnden<br />
Welt. Sie erreichen dies, indem sie<br />
die technokratische Vorstellung der Verwaltbarkeit<br />
gesellschaftlicher Komplexität als<br />
Pragmatismus deklarieren.<br />
Der Staat - das ist die Utopie, nicht<br />
der Anarchokapitalismus.<br />
Erstveröffentlicht in: eigentümlich frei Nr.<br />
39/2004.
criticón 181 – Frühling 2004 von Gerard Radnitzky 23<br />
Demokratie –<br />
eine Methode<br />
der Kollektiventscheidung<br />
wird zur Ideologie<br />
von Gerard Radnitzky<br />
Das paradigmatische Beispiel einer artifiziellen,<br />
prozeduralen Methode ist die demokratische<br />
Methode der Kollektiventscheidung<br />
(Majoritätsprinzip, definiertes Stimmrecht<br />
usf.). Sie ist eine Unterklasse der prozeduralen<br />
Methode. Sie kann funktionieren<br />
für eine gewisse Art von Problemen, wenn sie<br />
auf eine „kleine“ Einheit von Handelnden (eine<br />
Gemeinde, allenfalls bis zur Größe eines<br />
schweizerischen Kantons) bezogen wird. Ihre<br />
große Popularität besteht im Glauben, sie sei<br />
die beste Methode, um den „Willen“ der Allgemeinheit<br />
(„Volonté Générale“) zu ermitteln.<br />
Allgemeine demokratische Wahlen seien<br />
die beste Methode, um herauszufinden, welches<br />
Mandat der Auftraggeber (the principal),<br />
nämlich „das Volk“ oder „die Gesellschaft“<br />
dem Staat zur Zeit gibt. Der Staat, oder die<br />
Regierung fungiert dabei als Auftragnehmer<br />
eines Auftraggebers, des „Volkes“ (the principal-agent<br />
problem). Da die demokratische<br />
Methode nur eine der vielen prozeduralen<br />
Methoden ist und die gesamte Gruppe dieser<br />
Verfahren daran scheitert, dass ein mechanisches<br />
Verfahren keine substantiven Probleme<br />
lösen kann, bietet sie keine Lösung des Problems<br />
der Kollektiventscheidung. Man sollte<br />
offen eingestehen, dass dieses Problem bisher<br />
ungelöst ist. Vielleicht ist es unlösbar. Mit<br />
dieser Feststellung ist die logische Analyse<br />
der demokratischen Methode abgeschlossen.<br />
Aber da sich diese Methode so großer<br />
Beliebtheit erfreut, mag es sich lohnen, sich<br />
näher anzusehen, wie diese Methode im Alltag<br />
angewandt wird und welche Tricks dabei<br />
verwendet werden, um ihr Plausibilität zu<br />
verleihen.<br />
Das einfachste Modell der demokratischen<br />
Politik ist ein Drei-Personen-Spiel.<br />
Wir können eine Gesellschaft beschreiben<br />
als ein Aggregat von drei Gruppen,<br />
geordnet nach Einkommen: Unter-, Mittelund<br />
Oberschicht Die Mittelgruppe ist der „Medianwähler“,<br />
das Zünglein an der Waage (in<br />
der BRD die FDP). Der potenzielle Gewinn aus<br />
der demokratischen Spielregel wird dann maximiert,<br />
wenn Unter- und Mittelgruppe sich<br />
zusammen tun, um einen Teil des Einkommens<br />
der Obergruppe zu sich umzuverteilen.<br />
Im Modell können wir die Gruppen idealisieren<br />
als jeweils 50 Prozent der Gesamtsumme<br />
minus 1 (den Medianwähler) und 50 Prozent<br />
plus 1, also z.B. bei einer Gesamtzahl von<br />
1001, 500 plus l (den Medianwähler) und<br />
500. In der Wirklichkeit kann man sich die<br />
Gruppierungen mit etwa jeweils 40-45 zur<br />
Mittelgruppe („Medienwähler“) von l0-20<br />
Prozent vorstellen.<br />
Hat man die demokratische Methode<br />
gewählt, dann ergeben sich einige Folgeprobleme<br />
wie: Für welche Art von Problemen<br />
kann diese Methode rational verwendet werden?<br />
In welchen Arten von Aktivitäten kann<br />
sie nützlich sein? Einige Bereiche scheiden<br />
hier a priori aus wie zum Beispiel die wissenschaftliche<br />
Forschung und der militärische<br />
Betrieb. In welchen sozialen Einheiten kann<br />
diese Methode funktionieren, d. h. mehr Nutzen<br />
als Schaden machen? (Vermutlich in kleineren,<br />
einigermaßen überschaubaren Einheiten,<br />
wie Gemeinden, evt. Kantone o.ä.) 1 Und<br />
wie wählt man politische Einheiten? (Etwa Irland<br />
oder Nordirland?) Verwendet man die<br />
proportionale- oder die Mehrheitsmethode?<br />
Welche Selektionskriterien sollen für das aktive<br />
Wahlrecht gelten? Je nach dem, was man<br />
bei den einzelnen Alternativen gewählt hat,<br />
wird man ganz verschiedene Resultate bekommen.<br />
Sogar die Agenda einer Abstimmung<br />
beeinflusst die Resultate.<br />
Zu unserem Wissen, das wir als gesichert<br />
betrachten können, gehört Folgendes.<br />
Handeln im vollen Sinne des Wortes können<br />
nur Individuen, Kollektive können nur Quasi-<br />
Handlungen mittels Individuen ausführen.<br />
1 Die griechische Polis, die als<br />
klassisches Modell angeführt wird,<br />
ähnelte mehr einer Stammesgemeinschaft<br />
als einer modernen Demokratie;<br />
nur etwa ein Fünftel der Bevölkerung<br />
hatte aktives Wahlrecht. Auch in Amerika<br />
hatten im Anfang nur etwa ein Fünftel<br />
Wahlrecht.
24 Demokratie criticón 181 – Frühling 2004<br />
Alle echten (nicht-instrumentellen) Werturteile<br />
sind subjektiv. Das Aggregieren von Nutzen<br />
verschiedener Personen ist genau so unsinnig<br />
wie der Versuch, fünf Äpfel aus einer<br />
Menge von acht Orangen herauszunehmen.<br />
Diese Einsichten müssen wir also berücksichtigen.<br />
Die Gretchenfrage ist, welche Kriterien<br />
für das aktive Wahlrecht gelten sollen. In<br />
unserer Epoche hat man sich für ein unqualifiziertes<br />
Wahlrecht entschieden. Man abstrahiert<br />
von allen Eigenschaften, die als Kandidaten<br />
für Kriterien in Frage kämen, wie Intensität<br />
der Präferenz oder Risikobeteiligung,<br />
relevantes Wissen und Information usf. Das<br />
heißt Wähler und Stimmen werden behandelt<br />
als ob sie homogen wären. Das Homogenisieren<br />
ist notwendig, denn man will Stimmen<br />
addieren können.<br />
Deshalb muss man versuchen, die bekannte<br />
Unmöglichkeit interpersoneller<br />
Nutzenaggregation zu umgehen. Wenn Peter<br />
die Ziege und Paul das Grünzeug vorzieht,<br />
wie sieht dann die gemeinsame Präferenzordnung<br />
von Peter & Paul aus? Wie sollte man<br />
Peters Freude mit Pauls Schmerz verrechnen?<br />
Von den vielen möglichen Gleichheitsaxiomen<br />
wählt man die Zugehörigkeit zur biologischen<br />
Spezies Mensch aus. Mit dem biologischen<br />
Kriterium will man den Anschein erwecken,<br />
nun sei es möglich, die inkommensurablen<br />
Entitäten kommensurabel zu machen. Denn,<br />
wenn man an sich verschiedene Entitäten addieren<br />
will, dann muss man sie mittels einer<br />
höheren Kategorie eines klassifikatorischen<br />
Systems beschreiben. Fünf Äpfel und drei<br />
Pflaumen zu „addieren“ – interpretiert als<br />
physisches Zusammenlegen – ist keine sinnvolle<br />
Operation; aber wenn wir sie als Früchte<br />
beschreiben, dann sind einige arithmetische<br />
Operationen auf diese Domäne sinnvoll anwendbar.<br />
Ob die arithmetische Operation des<br />
Addierens sinnvoll angewandt werden kann,<br />
hängt von der Domäne ab: Nüsse können<br />
sinnvoll addiert werden, Quecksilbertropfen<br />
nicht. Die auf diese Weise konstruierte Kommensurabilität<br />
der Stimmen ist jedoch für das<br />
Problem der (nicht-einstimmigen) Kollektiventscheidung<br />
– des Ermittelns einer „kollektiven<br />
Präferenz“ – irrelevant. Anderes zu behaupten<br />
ist Betrug oder Selbsttäuschung.<br />
Nehmen wir dieses Vorgehen einmal unter die<br />
logische Lupe.<br />
(1) Die Methode kann nur eine ordinale<br />
Rangordnung von Präferenzen ausdrücken;<br />
sie unterdrückt kardinale Präferenzen.<br />
Wenn man diese Methode verwendet,<br />
dann muss man entweder annehmen, dass die<br />
Intensität der Präferenzen so gleichmaßig ist,<br />
dass man sie ignorieren kann oder dass einfach<br />
die Präferenzen erraten werden können.<br />
Beides ist offensichtlich erkenntnistheoretisch<br />
und moralisch Unfug. (2) Die arithmetische<br />
Operation der Stimmen-Aggregation ist<br />
sinnlos und zwar in derselben Weise wie interpersonelle<br />
Nutzenaggregation. (Es ist wie<br />
wenn man Hausnummern addierte.) Als Methode,<br />
um herauszufinden, was der fiktive<br />
holistische Akteur „die Gesellschaft“ will, ist<br />
sie ebenso sinnlos. Sie ist nur sinnvoll als<br />
Methode des Zusammenzählens von Stimmen<br />
(oder „head counting“). Aus der erhaltenen<br />
Summe lassen sich keine holistischen Werte<br />
ableiten. Das Stimmenzusammenzählen verführt<br />
aber geradezu zum Missbrauch: indem<br />
man vorgibt, das erhaltene Resultat sei lediglich<br />
die „Summe der Teile“, wird eine holistische<br />
Entität eingeschmuggelt: „die Wahl, welche<br />
‘die Gesellschaft’ (als Abstraktum) getroffen<br />
habe“. So etwas kann es jedoch auf Grund<br />
der konflingierenden Interessen reeller Individuen<br />
nicht geben. Entitäten wie die „Wahl<br />
der Gesellschaft“ oder der „Wille der Gesellschaft“<br />
usf. haben nicht nur keinen ontologischen<br />
Status in unserer Welt (sind nichtexistent),<br />
sondern sie sind nicht einmal Begriffe,<br />
weil sie einer selbstwidersprüchlichen<br />
Konstruktion entspringen. Wenn man von<br />
den reellen Individuen abstrahiert, dann<br />
bleibt die fiktive Entität, der „Wille der Gesellschaft“<br />
zurück wie das Lächeln der Cheshire<br />
Katze in Alice in Wonderland, das<br />
zurück blieb als die Katze längst verschwunden<br />
war.<br />
Anstatt dieses Problem zuzugestehen,<br />
greift man wiederum zum Moralisieren. Wie<br />
bereits oben erwähnt, wird anbefohlen, das<br />
Ergebnis einer korrekten Anwendung des demokratischen<br />
Verfahrens solle als „gut“ bewertet<br />
werden – so wird hier ein bestimmtes<br />
Gleichheitsaxiom gegen Kritik immunisiert,<br />
zur Heiligen Kuh erhoben. Eine Kritik wird<br />
dann eo ipso „undemokratisch“, also böse.<br />
Allerdings ist die Demokratie oft nur Façade<br />
und de facto herrscht eine kleine politische<br />
Klasse. Die BRD und die EU bieten Beispiele<br />
dafür. In kleinen Einheiten kann Demokratie<br />
funktionieren; man denke an die Plebiszite<br />
in der Schweiz. In der BRD würde die classe<br />
politique dem Bürger niemals so viel Mündigkeit<br />
einräumen. 2<br />
Wenn die Methode, einfach die Stimmen<br />
zu addieren, akzeptiert wird, dann ist<br />
nur die Majoritätsregel möglich. Wegen der<br />
Dynamik des demokratischen Verfahrens ist<br />
jede Regel die qualifizierte Majoritäten vorschreibt,<br />
der Erosion ausgesetzt. Indem sie<br />
die Verlierergruppe maximiert kann die Gewinnermajorität<br />
ihren Gewinn aus der Umverteilung<br />
maximieren. „One-man, one-vote“<br />
ist das entscheidende Gambit für das Demokratiespiel.<br />
Aus ihm folgt alles weitere. Zu-<br />
erst, dass die entscheidende Teilmenge – und<br />
es kann nur eine geben – größer sein muss<br />
als 50 Prozent: 50 Prozent + 1 Stimme. Es<br />
geht gar nicht mehr um die „tyranny of the<br />
majority“, sondern um die „tyranny of minorities“.<br />
Und Mehrheiten werden gewonnen,<br />
indem die Parteien versprechen, Forderungen<br />
vieler Minderheiten zu erfüllen. Der neue König<br />
ist die dominante Koalition.<br />
Rationale Spieler, die im Anreizsystem<br />
einer demokratischen Verfassung operieren,<br />
werden ihren Gewinn auf zwei Weisen maximieren.<br />
(1) Direkte „payoffs“ sind erreichbar,<br />
indem die Regeln (legislation) im politischen<br />
Prozess (also innerhalb der gegeben Meta-Regeln)<br />
beeinflusst wird. (2) Indirekte „payoffs“<br />
sind erreichbar, indem die Meta-Regeln geändert<br />
werden. Sie werden lernen, die Meta-Regeln<br />
so zu ändern, dass der Bereich für die<br />
umverteilende Legislatur maximiert wird. Die<br />
der demokratischen Methode inhärente Dynamik<br />
(unqualifiziertes Wahlrecht und rationale<br />
2 Der bekannteste Kritiker der<br />
strukturellen Schwächen der bundesdeutschen<br />
Demokratie, der Juraprofessor<br />
<strong>Hans</strong> Herbert v. Arnim, hat das deutsche<br />
Parteienwesen als ein Kartellparteiensystem<br />
bezeichnet. Dieses zeichnet sich<br />
durch ein kollusives Zusammenwirken<br />
der politischen Kräfte aus, die nach der<br />
von Joseph Schumpeter entwickelten<br />
Konzeption, wonach Demokratie als<br />
Wettbewerb um die vorübergehende<br />
Mehrheit eines Volkes zu verwirklichen<br />
sei, eigentlich um die beste Verwirklichung<br />
der Wähleranliegen im harten<br />
Wettbewerb stehen müssten. Das Zusammenwirken<br />
der gegnerischen Kräfte erklärt,<br />
warum in der Bundesrepublik in<br />
wesentlichen politischen Bereichen – zu<br />
nennen sind etwa die Abschaffung der<br />
europäischen Währungswettbewerbs, der<br />
Umsturz im Staatsangehörigkeitsrecht<br />
und die geduldete Masseneinwanderung<br />
– gegen die Mehrheit der Deutschen regiert<br />
werden kann. Ein Kennzeichen für<br />
den „deutschen Sonderweg Bundesrepublik“<br />
ist eine staatliche Einrichtung, die<br />
unter dem Vorwand die Verfassung zu<br />
schützen, de facto die Ideologie des Kartellparteiensystems<br />
schützt. (Das dokumentiert<br />
der im Jahr 2000 erschiene,<br />
von H.-H. Knütter und St. Winckler<br />
2000 herausgegebene Sammelband ‚Der<br />
Verfassungsschutz‘.). Wie <strong>Hans</strong>-Herbert<br />
von Arnim feststellt: Das Dilemma der<br />
deutschen Demokratie besteht darin,<br />
dass sie keine ist. Etwas was für die<br />
Brüsseler Eurokratie a fortiori gilt.
criticón 181 – Frühling 2004 von Gerard Radnitzky 25<br />
Spieler vorausgesetzt) führen zu unbegrenzter<br />
Zuständigkeit (unrestricted domain) und<br />
reiner Majoritätsregel (bare majority rule).<br />
Das heißt, sie führen notwendigerweise zur<br />
uneingeschränkten Demokratie (unlimited<br />
democracy). 3 Und in einer totalitären Demokratie<br />
kann es keine Individualrechte geben.<br />
Eine demokratische Verfassung bietet<br />
keinen Schutz gegen Totalitarismus. Das ist<br />
keine Kritik speziell der Demokratie. Keine<br />
Verfassung kann einen solchen Schutz bieten.<br />
In der sozio-politischen Evolution<br />
schließt sich der Kreis. Holistische Werte, also<br />
Werte, die einem holistischen Akteur, wie<br />
dem „Volke“ zugeschrieben werden, oder „Soziale<br />
Gerechtigkeit“, oder „Gleichheit der Lebensbedingungen“<br />
usf. werden beschworen,<br />
um Eigentum, die Schlüsselkonvention (den<br />
Schlüsselwert), dessen Schutz die Hauptaufgabe<br />
jeder Sozialordnung ist, zu unterminieren<br />
und zu zerstören. Der Kreis hat sich geschlossen:<br />
vom Privatrechtsstaat (protective<br />
state) zum umverteilenden und produktiven<br />
Staat (redistributive-productive state), zur<br />
Wohlfahrts-Umverteilungsdemokratie.<br />
Zusammenfassung:<br />
(1) Die Kollektiventscheidung (nichteinstimmig)<br />
ist moralisch befleckt oder verdorben,<br />
weil sie einer Gruppe, die weniger<br />
mächtig ist als die dominierende Gruppe, etwas<br />
aufoktroyiert, also zumindest implizit<br />
Zwang ausübt.<br />
(2) Bei welchen Kollektiventscheidungen,<br />
wenn überhaupt für irgendeine,<br />
kann der Zwang gegenüber der weniger<br />
mächtigen Gruppe legitimiert werden? Diese<br />
theoretische Frage lenkt die Aufmerksamkeit<br />
auf die Frage, welche Alternativen es zum<br />
Staat gibt, ob er unentbehrlich ist, oder ob<br />
„geordnete Anarchie“ eine realistische Alternative<br />
bietet.<br />
(3) Das praktische Problem ist: wie<br />
erschwert man den Rekurs zur Kollektiventscheidung,<br />
wie verhindert man die Tendenz,<br />
dass wirtschaftliche oder rechtliche Probleme<br />
in politische Probleme verwandelt werden. 4<br />
(4) Wenn die demokratische Methode<br />
als Problemlösung für das Problem der Kollektiventscheidung<br />
angeboten wird, so wird da-<br />
3 Die rein repräsentative Demokratie<br />
erlaubt es den Parteien, die Res<br />
Publica zu durchtränken, zu verunreinigen,<br />
wie ein undichter Öltank das unter<br />
ihm liegende Erdreich. Österreich und<br />
die BRD sind Vorzeigebeispiele, wie der<br />
Staat zur Beute der Parteien werden<br />
kann, vom Parteienstaat. Politik wird<br />
institutionalisierter Kuhhandel.<br />
mit das Problem verschleiert – denn für ein<br />
substantives Problem kann es keine prozedurale<br />
Lösung geben.<br />
(5) Es gibt keine neutralen Meta-Regeln<br />
(Verfassungsregeln). Jede Regel, gleichgültig<br />
auf welcher Ebene, favorisiert identifizierbare<br />
Interessen.<br />
(6) Die Majoritätsregel einer demokratischen<br />
Verfassung führt zu dem oben im Modell<br />
dargestellten Drei-Personen-Umverteilungsspiel.<br />
(Der Endzustand ist dann dem des<br />
fundamentalistischen Sozialismus analog:<br />
Bankrott – wie es Ludwig von Mises bereits<br />
1920 prognostiziert hat.)<br />
(7) Das o.g. „Drei-Personen-Umverteilungsspiel“<br />
ist instabil (zirkulärer Wechsel in<br />
der Rolle der Enteigneten). Im Zeitalter der<br />
modernen Massendemokratie erweist sich der<br />
Staat als ein Zwangsinstrument, mit dem die<br />
Gewinnerkoalition die Verliererkoalition (den<br />
Rest der Bürger) ohne Gewaltanwendung ausbeuten<br />
kann. Doktrinen, die behaupten, der<br />
Staat sei notwendig (für bindende Verträge<br />
usf.) oder er sei nützlich, erhöhen die Effizienz<br />
dieses Prozesses (Jasay 1997, p. 2).<br />
Es gibt zwei Wege, den Prozess zu dezelerieren:<br />
von oben und von unten.<br />
Von oben: die „Goldene Henne“ Version.<br />
Die Henne, welche die goldenen Eier legt,<br />
soll man nicht beschädigen oder vertreiben.<br />
Der schwedische, sozialdemokratische Finanzminister<br />
Gunnar Sträng nannte das Modell<br />
so. Er ermahnte seine Genossen, die Umverteilungspolitik<br />
nicht so weit zu treiben, dass<br />
die Großindustrien das Land verlassen. Auch<br />
bei dieser Fassung bleibt die Grundidee intakt:<br />
ein Teil der Gesellschaft nutzt die prozedurale<br />
Kollektiventscheidungsmethode dazu,<br />
Einkommen und Vermögen auf Kosten eines<br />
anderen Teils zu erzielen (rent seeking).<br />
Ein Teil der Gesellschaft (vom Bürokraten bis<br />
zum Sozialhilfeempfänger) parasitiert am<br />
produktiven Teil der Gesellschaft. Eine PR-Etikette<br />
für dieses System ist „Soziale Marktwirtschaft“:<br />
die Wirtschaft soll das Nationaleinkommen<br />
erwirtschaften, der Staat umverteilt<br />
es dann im Sinne einer von ihm erkann-<br />
4 Man denke an die hochpolitischen<br />
Urteile des Bundesverfassungsgerichts<br />
in der rechtlichen Frage der Rückgabe<br />
von Eigentum an die so genannten<br />
Alteigentümer (z.B. Bericht der Neuen<br />
Zürcher Zeitung vom 23.11.2000) Allerdings<br />
wird hier von einem offen politisierten<br />
Gericht versucht, den Schein zu<br />
bewahren, so zu tun als ob es ein rechtlicher<br />
Vorgang wäre.<br />
ten „höheren Moral“. Das bringt bestenfalls<br />
eine Verzögerung des Niedergangs. 5<br />
Dezelerieren von unten. Wenn der<br />
Bürger sich ausgebeutet fühlt greift er zu Verteidigungsmaßnahmen:<br />
Er transferiert seine<br />
Firma in mehr hospitable Länder, transferiert<br />
sein Kapital, oder schließlich auch sein Humankapital<br />
– er emigriert. Wenn er im Lande<br />
bleibt, hat er zwei Optionen: er reduziert seinen<br />
Arbeitseinsatz oder er wandert ab in die<br />
„Parallelökonomie“, in die so genannte Schattenwirtschaft.<br />
Diese Vorgänge zeigen, dass<br />
Entscheidungen, die zwar prozedural korrekt<br />
zustande gekommen sind, aber den reellen<br />
Machtverhältnissen nicht entsprechen, sehr<br />
wohl in den Ring gerufen, herausgefordert<br />
werden können. Die Methode, die Jasay<br />
„natürliche“ Methode genannt hat, taucht<br />
dann aus der Versenkung auf. Die tatsächlichen<br />
Machtverhältnisse machen sich geltend,<br />
wenngleich offiziell die majoritäre Demokratie<br />
eine Alleinherrschaft ausübt. Das zeigt gleichzeitig<br />
auch die Grenzen der „Volkswillen-Souveränität“<br />
(popular sovereignty).<br />
Will man die demokratische Methode<br />
der Kollektiventscheidung behalten und verbessern,<br />
dann müsste zuerst die Heilige Kuh<br />
des unqualifizierten Wahlrechts geschlachtet<br />
werden. Wenn man meint, der Staat sei unentbehrlich,<br />
dann müsste man versuchen<br />
herauszufinden, für welche Art von Fragestellungen<br />
welche Art von Gleichheitsaxiomen<br />
adäquat sind. Nur bei reinen Bewertungen –<br />
eigentlich der Wahl eines Lebensstils – könnte<br />
man ein „breites“ Wahlrecht einräumen.<br />
Allerdings würde m. E. dann anstelle des arbiträr<br />
festgesetzten Mindestalters eine gewisse<br />
Lebenserfahrung zu fordern sein. Die Besteuerung<br />
an der Quelle dient vor allem der<br />
Camouflage. An ihrer Stelle sollte der Steuerzahler<br />
selbst seine Zahlung an den Staat entrichten.<br />
Und als Mindest-Lebenserfahrung sei<br />
zu fordern, ein paar Jahre Steuer gezahlt zu<br />
haben und zwar von einem Einkommen, das<br />
nicht aus politischer Tätigkeit verdient wurde.<br />
Abschließend möchte ich es nicht unterlassen,<br />
auf die kürzlich erschienene deutsche<br />
Übersetzung von <strong>Hans</strong>-<strong>Hermann</strong> <strong>Hoppe</strong>s<br />
ausgezeichnetem Demokratiebuch – H.-H.<br />
<strong>Hoppe</strong>, ed.: Demokratie. Der Gott, der keiner<br />
ist. Leipzig: Manuscriptum 2003 – und auf<br />
die Aufklärungsbücher von Roland Baader im<br />
Resch-Verlag (zuletzt Totgedacht. Warum Intellektuelle<br />
unsere Welt zerstören.) hinzuweisen.<br />
5 Ludwig von Mises nannte sie<br />
die jüngste Version des Interventionismus:<br />
3. erw. Aufl. von ‚Human Action‘,<br />
p. 723.
26 US-Wahlkampf criticón 181 – Frühling 2004<br />
US-Wahlkampf<br />
von Guido Hülsmann<br />
Die Große Depression der frühen<br />
30er Jahre wird vornehmlich mit dem<br />
„Schwarzen Freitag“ des Oktober 1929 in<br />
Verbindung gebracht, an dem die New Yorker<br />
Börse seinerzeit ihren ersten großen<br />
Einbruch erlitt. Aber dieser Einbruch hätte<br />
nicht eine langjährige Krise der Weltwirtschaft<br />
hervorrufen können. Der eigentliche<br />
Auslöser der Depression war die Handelspolitik<br />
der Vereinigten Staaten. Im Juni 1930<br />
wurde der Hawley-Smoot Tariff Act verabschiedet,<br />
mit dem die höchsten Einfuhrzölle<br />
in der Geschichte der USA in Kraft traten.<br />
Die anderen Staaten erhöhten daraufhin<br />
ebenfalls die Zölle und brachen damit dem<br />
Welthandel endgültig das Genick. Der Westen<br />
stürzte in einen langen ökonomischen<br />
und politischen Winter. Überall wuchs der<br />
Staat auf Kosten der Gesellschaft – in<br />
Deutschland wurde er sogar totalitär.<br />
Krise der Weltwirtschaft<br />
Heute besteht die Gefahr, dass der<br />
gleiche Fehler wiederholt wird – mit ähnlichen<br />
oder vielleicht sogar schlimmeren Folgen.<br />
Wie in den späten 20er Jahren befindet<br />
sich die heutige Weltwirtschaft in einer Kri-<br />
Flip-Flop-Kerry<br />
und die Irrwege des<br />
Neo-Protektionismus<br />
se, die durch eine inflationäre Währungspolitik<br />
hervorgerufen wurde. Und heute genau<br />
wie damals will kein Politiker an die<br />
Währungspolitik rühren. Die expansive Geldpolitik<br />
soll munter weiter gehen, da der<br />
Staat ja zu den wichtigsten Nutznießern<br />
dieser Expansion gehört. Stattdessen machen<br />
heute einflussreiche Kreise – genau<br />
wie in den frühen 30er Jahren – den freien<br />
Welthandel zum Sündenbock. Aber diese<br />
Diagnose ist falsch, und die aus ihr abgeleiteten<br />
politischen Empfehlungen würden katastrophale<br />
Folgen zeitigen.<br />
Expansive Geldpolitik<br />
Seit dem Zusammenbruch der Börsenkurse<br />
im Frühjahr 2001 hat die amerikanische<br />
Zentralbank versucht, mit expansiver<br />
Geldpolitik einen neuen Aufschwung in<br />
Gang zu setzen. Allen nüchternen Beobachtern<br />
ist heute klar, dass dabei im Ergebnis<br />
nur eine künstliche „Blase“ der Börsenkurse<br />
herauskam. Mit anderen Worten: Es wurde<br />
viel Geld in den Sand gesetzt, aber der viel<br />
beschworene Wirtschaftsaufschwung will<br />
einfach nicht kommen. Anfang März 2004<br />
kamen neue Hiobsbotschaften vom Arbeits-<br />
markt: nur 21.000 neue Stellen, statt der<br />
erhofften 200.000. Für viele Beobachter liegen<br />
nun die Ursachen dieser Lage in der<br />
Handelspolitik. Sie weisen darauf hin, dass<br />
die amerikanischen Konsumenten seit Jahren<br />
schon immer mehr ausländische (vor allem<br />
chinesische) Produkte kaufen und dass<br />
die chinesischen Unternehmen jetzt auch<br />
auf den Märkten für Produktionsgüter nachziehen.<br />
Immer mehr amerikanische Firmen<br />
verlegen mehr oder minder große Teile ihrer<br />
Produktion ins Ausland („Offshore-Outsourcing“).<br />
Die Folge sei vermehrte Arbeitslosigkeit<br />
und Verarmung unter den Amerikanern.<br />
Ruf nach Schutzmaßnahmen<br />
Als besonders skandalös wird der Bezug<br />
ausländischer Dienstleistungen empfunden.<br />
Dramatische Kostensenkungen in der<br />
Telekommunikation machen es zum Beispiel<br />
möglich, dass amerikanische Unternehmen<br />
indische Telefonisten beschäftigen – natürlich<br />
zu einem Bruchteil des Lohnes, den sie<br />
in den USA zu bezahlen hätten. Banken,<br />
Versicherungen und viele andere Anbieter<br />
machen davon zunehmend Gebrauch. Der<br />
Freihandel scheint also nicht nur die einfa
criticón 181 – Frühling 2004 von Guido Hülsmann 27<br />
chen Leute im Blaumann zu bedrohen, sondern<br />
auch die feinen Leute, die mit Telefon<br />
und Computer arbeiten. Seit Monaten mehren<br />
sich daher die Stimmen, die nach politischen<br />
Schutzmaßnahmen rufen. Präsident<br />
Bush machte sich im vergangenen Jahr daran,<br />
die Stahlzölle zu erhöhen, ließ aber<br />
schließlich davon ab. Doch im Wahljahr<br />
2004 könnte sich das Blatt wenden. Sein<br />
Konkurrent Kerry hat bereits öffentlich das<br />
Outsourcing als „unpatriotische Praxis“ gegeißelt;<br />
im Falle seiner Wahl will er alle<br />
Handelsverträge im Lichte amerikanischer<br />
Umwelt- und Arbeitsnormen revidieren.<br />
Mehr Schein als Sein? Kerry im Wahlkampf<br />
Patriotismus-Debatte<br />
Während die Patriotismus-Debatte in<br />
Deutschland gerade startet, ist sie in den<br />
USA bereits in vollem Gange – mit Konsequenzen.<br />
„Der US-Senat hat bereits ein Gesetz<br />
verabschiedet, das die Vergabe von IT-<br />
Aufträgen ins Ausland erschwert. Mehr als<br />
ein Dutzend US-Bundesstaaten erwägen<br />
ähnliche Initiativen. Und Kerry hat Ende<br />
2003 ein Offshore-Gesetz eingebracht“, berichtet<br />
die Financial Times Deutschland. Vor<br />
allem die von Mitgliederschwund bedrohten<br />
amerikanischen Gewerkschaften witterten<br />
eine Chance, sich über das Thema zu profilieren.<br />
„Diverse Arbeitnehmervertretungen<br />
initiierten im vergangenen Jahr Postkartenund<br />
E-Mail-Kampagnen, die sich an die US-<br />
Kongressabgeordneten richteten. Anders als<br />
bei der Verlagerung von Produktionsarbeitsplätzen<br />
ins Ausland rechneten sie sich mehr<br />
Resonanz bei den Volksvertretern aus. Denn<br />
die Bedrohung erstreckt sich nun auf Mittelschicht-Jobs;<br />
sie trifft jene Bevölkerungsgruppe,<br />
aus der die meisten Abgeordneten<br />
stammen. Die Proteste zeigen mittlerweile<br />
Wirkung. Im November kündigte der Gouverneur<br />
des Bundesstaats Indiana einen 15,2<br />
Milliarden Dollar schweren Vertrag mit einer<br />
indischen Firma. Den Zuschlag bekam ein<br />
einheimischer Anbieter“, schreibt die FTD.<br />
Aktuelle Gesetzesinitiativen sehen vor, dass<br />
die öffentliche Hand nur eingeschränkt Aufträge<br />
an Firmen in Niedriglohnländern vergeben<br />
dürfen. Nach Kerrys Vorstellungen<br />
sollen sogar Call Center-Agenten bei jedem<br />
Kundenkontakt via Telefon oder E-Mail erklären<br />
müssen, in welchem Land sie stationiert<br />
sind. Damit werde, so glaubt er, „ein<br />
großer Schritt getan, amerikanische Jobs zu<br />
erhalten“. Für den Wirtschaftswissenschaftler<br />
Robert Barro von der Harvard Universität<br />
gehen Kerrys Vorstellungen in die völlig<br />
falsche Richtung. „Die Verlagerung von Arbeitsplätzen<br />
ist eine Form internationalen<br />
Handels, diesmal in Form von Diensten. Der<br />
Angriff auf das Outsourcing ist nichts anderes<br />
als Protektionismus in neuem Gewand“,<br />
kritisiert Barro. Auch die Aufnahme von<br />
amerikanischen Arbeits- und Umweltnormen<br />
in Handelsabkommen wäre eine Form des<br />
Protektionismus. „Es ist doch ganz offensichtlich,<br />
dass sich einer der größten Vorteile<br />
aus dem Handel vor allem mit ärmeren<br />
Ländern aus den niedrigeren Lohnkosten<br />
dort ergibt“, so Barro.<br />
Protektionismus<br />
Den Befürwortern des Freihandels ist<br />
es zu verdanken, dass Präsident Bush im<br />
letzten Jahr von der Erhöhung der Stahlzölle<br />
abließ. Sie weisen darauf hin, dass die<br />
freie internationale Zusammenarbeit – auch<br />
im Bereich der Dienstleistungen – für alle<br />
beteiligten Nationen große Vorteile bringt.<br />
Und sie haben Kerry bereits als Heuchler<br />
entlarvt, der seine Wahlkampagne mit Hilfe<br />
kanadischer Telefonisten und ausländischer<br />
Praktikanten betreibt. Die Polit-Strategen<br />
im Lager der Republikaner sprechen schon<br />
vom Flip-Flop-Kandidaten, bei dem Schein<br />
und Sein weit auseinander klaffen.<br />
Zyniker werden hier eine Konstante<br />
der amerikanischen Politik sehen. Während<br />
des gesamten zwanzigsten Jahrhunderts haben<br />
amerikanische Politiker den freien<br />
Markt gepredigt, aber dann doch immer wieder<br />
dem Protektionismus gefrönt, wenn dies<br />
im Interesse der tonangebenden Gruppen zu<br />
sein schien. Aber der grundsätzliche Einwand<br />
reicht sehr viel weiter und tiefer. Der<br />
Protektionismus ist nicht allein deshalb verwerflich,<br />
weil er die traditionelle Heuchlerei<br />
amerikanischer Handelspolitiker entlarvt; er<br />
ist verwerflich, weil er den Interessen der<br />
großen Bevölkerungsmehrheit entgegensteht.<br />
Heuchelei<br />
Das ist ganz offensichtlich der Fall,<br />
wenn man das Problem vom globalen Standpunkt<br />
der Weltbevölkerung betrachtet. Protektionismus<br />
in einem Land bedeutet immer<br />
auch Einkommensverluste in anderen Ländern.<br />
Der Protektionismus der westlichen<br />
Länder, vor allem im Bereich landwirtschaftlicher<br />
Produkte ist sicherlich das größte<br />
Hemmnis für die Entwicklung der Dritten<br />
Welt. Wir in Europa sehen uns ja gerne als<br />
die humanen Förderer der armen Länder. In<br />
Wirklichkeit jedoch steht die europäische<br />
Heuchelei der amerikanischen nicht nach.<br />
Wir verteilen ein paar milde Gaben an ausländische<br />
Regierungen („Entwicklungshilfe“),<br />
aber die Arbeitsfrüchte ausländischer<br />
Bauern haben bei uns Hausverbot, weil ja<br />
sonst unsere Bauern vom Land in die Städte<br />
ziehen müssten und dort die Löhne der gewerkschaftlich<br />
organisierten Industriearbeiter<br />
drücken würden. Die Folge: statt afrikanischer<br />
und asiatischer Waren strömen uns<br />
nun afrikanische und asiatische Menschen<br />
zu. Das vorläufige Zwischenergebnis unserer<br />
Handelspolitik ist die gewaltigste Wanderungsbewegung<br />
der letzten 1500 Jahre; und<br />
es steht zu befürchten, dass am Ende der<br />
Bürgerkrieg steht.<br />
Neue Börsenblase<br />
Auch vom engen Standpunkt der eigenen<br />
nationalen Interessen ist und bleibt<br />
der Protektionismus ein Irrweg. Er kann allenfalls<br />
sehr kurzfristige Vorteile für einige<br />
tonangebende Gruppen wie z.B. Gewerkschaften<br />
und Politiker bringen. Den Kapitalabfluss<br />
und die damit einhergehende Ausgleichung<br />
der Lebensverhältnisse auf der<br />
ganzen Welt kann er letztlich doch nicht<br />
verhindern.<br />
Niemand wird behaupten wollen,<br />
dass mit der gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung<br />
alles zum Besten bestellt ist. Aber<br />
ihre strukturellen Mängel liegen eben nicht<br />
im Handel – der freie Handel operiert immer<br />
und überall zum Vorteil der breiten Masse.<br />
Jene Mängel liegen vielmehr im Bereich der<br />
Währungspolitik. Hier gilt es, das Übel an<br />
der Wurzel zu packen. Die neuerlich heraufziehende<br />
Börsenblase zeigt überdeutlich,<br />
dass eine gesunde Wirtschaft ein gesundes<br />
Geld verlangt, d.h. ein Geld, das nicht von<br />
Politikern manipuliert werden kann. Das ist<br />
insbesondere bei Silber und Gold der Fall,<br />
deren monetärer Gebrauch bei uns seit vielen<br />
Jahren schon vom Gesetzgeber behindert<br />
wird.
28 criticón-Gespräch mit Johan Norberg criticón 181 – Frühling 2004<br />
criticón: Herr Norberg, welche Reaktionen<br />
haben Sie hier in Schweden, nach der Veröffentlichung<br />
Ihres Buches ‚Das Kapitalistische<br />
Manifest’ erfahren? Schweden galt<br />
ja lange als das „sozialdemokratischste“<br />
Land der Welt.<br />
Johan Norberg: Es gab schon heftige<br />
Kritik vom linken Flügel der hiesigen Sozialdemokraten.<br />
Allerdings möchte ich betonen,<br />
dass Schweden historisch betrachtet ein sehr<br />
internationales Land ist, ein kleiner Markt,<br />
der vom Import und Export abhängig ist.<br />
Deswegen gab es auch viele positive Besprechungen<br />
und Reaktionen nach der Veröffentlichung<br />
des Buches, sogar aus dem linken<br />
Spektrum. Mein Buch erschien ja zu einem<br />
Zeitpunkt, als die Anti-Globalisierungsbewegung<br />
diese Thematik dominierte und möglicherweise<br />
wurde mein Buch als eine Art Balance,<br />
als ein Ausgleich in dieser Debatte betrachtet.<br />
Wurde im Ausland grundlegend anders auf<br />
Ihr Buch reagiert als beispielsweise in<br />
Schweden?<br />
Nein eigentlich nicht, grundsätzlich<br />
gab es die gleiche Art von Kritik und Zustimmung.<br />
Die Feinde<br />
der offenen Gesellschaft<br />
und ihre<br />
Bildungslücke<br />
Der schwedische Wissenschaftler<br />
Johan Norberg kritisiert im Gespräch<br />
mit criticón die Anti-Globalisten<br />
Als Gymnasiast waren Sie überzeugter<br />
Anarchist. Welche Gemeinsamkeiten und<br />
Schnittpunkte gibt es zwischen dem Anarchismus<br />
und dem Liberalismus? Existieren<br />
gemeinsame Grundsätze zwischen beiden<br />
politischen Theorien?<br />
Ja sicher, es existieren eine Menge<br />
Gemeinsamkeiten zwischen beiden politischen<br />
Theorien. Der Kampf für individuelle<br />
Freiheit und auch der Kampf gegen die Zentralisierung<br />
von politischer Macht sind in beiden<br />
Weltanschauungen zu finden. Für mich<br />
persönlich hat sich diesbezüglich nichts an<br />
meiner politischen Überzeugung verändert.<br />
Nur meine Einstellung zur Frage, wie man<br />
diese Ziele erreichen und erhalten kann. Zum<br />
Beispiel halte ich die Globalisierung und internationale<br />
Konkurrenz für absolut notwendig,<br />
um Machtkonzentrationen und Monopolbildungen,<br />
egal in welchem Bereich, zu begrenzen.<br />
Meine Einstellung zur Regierung hat<br />
sich ebenfalls verändert. Ich denke heute<br />
nicht mehr, dass wir Freiheit durch die Beseitigung<br />
des Staates erreichen werden, sondern<br />
eher durch Transparenz der Verwaltung und<br />
indem wir die Regierung einer permanenten<br />
Kontrolle unterwerfen. Alles in allem habe<br />
ich immer noch die gleiche Vision einer freien<br />
Welt ohne Grenzen, wie zu meinen anarchistischen<br />
Zeiten. Wir benötigen allerdings<br />
andere Institutionen, um diese Ziele zu erreichen.<br />
Welche Institutionen?<br />
Kleine Regierungen und ein funktionstüchtiges<br />
Rechtsystem sind Grundvoraussetzungen,<br />
um die persönliche Freiheit zu erhalten.<br />
Daran kranken viele Entwicklungsländer<br />
und machen es dort fast unmöglich, menschenwürdige<br />
Lebensbedingungen zu<br />
schaffen.<br />
Wie würden Sie sich heute politisch definieren.<br />
Als ein Liberaler im klassischen<br />
Sinne, als libertär oder möglicherweise als<br />
anarcho-libertär?<br />
Ich denke als liberal im klassischen,<br />
europäischen Sinne. Als ein Adam Smith-Liberaler,<br />
dieses dürfte wohl am ehesten zutreffen.<br />
Wer hat Ihr politisches Denken stärker beeinflusst?<br />
Der österreichische Philosoph<br />
Karl Popper oder der ebenfalls aus Österreich<br />
stammende Wirtschaftswissenschaftler<br />
Friedrich August von Hayek?<br />
Beide waren für mich sehr wichtig<br />
und beide haben mir ein großes Wissen vermittelt,<br />
allerdings auf verschiedenen Gebieten.<br />
Popper mehr im Politischen und Hayek
criticón 181 – Frühling 2004 criticón-Gespräch mit Johan Norberg 29<br />
im Wirtschaftlichen. Ich denke, beide haben<br />
im Endeffekt dieselbe Analyse, die mich sehr<br />
beeindruckt und mein politisches Denken geprägt<br />
hat. Man sollte nicht davon ausgehen,<br />
dass Menschen von Natur aus vernünftige<br />
und großzügige Individuen sind.<br />
Momentan ist weltweit der Aufstieg der<br />
Anti-Globalisierungsbewegung zu beobachten,<br />
eine Bewegung, die höchst unterschiedliche<br />
Akteure vereint und möglicherweise<br />
immer stärker wird. Sind Sie<br />
persönlich über diese Entwicklung beunruhigt?<br />
Man sollte diese Entwicklung gut im<br />
Auge behalten. Ja ich bin besorgt. Sicherlich<br />
könnte man einwenden, es gäbe wichtigere<br />
Erscheinungen, die politisches Handeln beeinflussen<br />
als diese Anti-Globalisierungsbewegung.<br />
Politische Ideen sind sehr wichtig, das<br />
sollten wir als Lektion aus der Geschichte gelernt<br />
haben. Würde man nicht dauerhaft beobachten,<br />
was weltweit passiert, könnte man<br />
plötzlich mit der Tatsache konfrontiert werden,<br />
dass eine ganze Generation politische<br />
Ideen vertritt, welche im krassen Gegensatz<br />
zu dem stehen, was ich als wünschenswert<br />
für die Welt betrachte. So war es ja auch bei<br />
der Studentenrevolte der 68er Bewegung. Ein<br />
Ereignis, welches das politische Denken unserer<br />
Politiker bis zum heutigen Tage stark geprägt<br />
hat, nachdem sie Ihren langen Marsch<br />
durch die Institutionen angetreten haben.<br />
Ähnliches kann sich natürlich wiederholen.<br />
Haben Sie eine Erklärung dafür, warum es<br />
so schwierig erscheint Ihre politischen<br />
Ideen, also die Ideale von individueller<br />
Freiheit im Verbund mit freien Märkten,<br />
populär zu machen?<br />
Dafür gibt es mehrere Erklärungen. Einer<br />
der Gründe, warum ich persönlich früher<br />
der Globalisierung und dem Big Business<br />
skeptisch gegenüberstand, basierte auf einer<br />
Bildungslücke über historische Prozesse –<br />
speziell über langfristige historische Entwicklungen.<br />
Die Menschheit ist im Allgemeinen<br />
eher schwach darin aus der Geschichte zu lernen<br />
und die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden.<br />
Deshalb wissen wir es ja auch nicht<br />
zu schätzen, wo wir stehen, was wir an Positivem<br />
erreicht haben und vor allem, durch<br />
welche Entwicklungen wir dahin gekommen<br />
sind. Noch vor 100 Jahren waren fast alle<br />
Länder der Welt das, was wir heute Entwicklungsländer<br />
nennen würden. In Schweden<br />
gehörten Armut, Analphabetismus und Unwissenheit<br />
zum Alltag der breiten Bevölkerung.<br />
In einem Prozess der kreativen Zerstörung<br />
lernten wir unser Leben effizienter<br />
zu gestalten. Menschen verließen das Land<br />
und hinterfragten die alten Lebensstile. Kurzfristig<br />
kam es dadurch zu Arbeitslosigkeit,<br />
aber langfristig verbesserte sich das Leben<br />
und die Gesellschaft wurde zu der, in der wir<br />
heute leben. Rückblickend sind wir also in<br />
der Lage, diese Prozesse zu verstehen und zu<br />
analysieren. Oberflächlich betrachtet allerdings<br />
nicht. Heute haben wir es uns zur Angewohnheit<br />
gemacht, die Schattenseiten der<br />
Globalisierung wahrzunehmen, ohne den Gesamtzusammenhang<br />
zu erkennen. Man<br />
kommt zu dem Entschluss, die Welt krankt<br />
an zuviel Globalisierung. Allerdings ist das<br />
Gegenteil richtig. Insbesondere in unseren<br />
ausgeprägten Mediengesellschaften werden<br />
die Menschen mit Bildern und individuellen<br />
Geschichten überflutet, die keine langfristige<br />
Perspektive vermitteln und somit ein falsches<br />
Bewusstsein erzeugen. Deshalb ist es auch so<br />
schwierig den Kapitalismus zu unterstützen<br />
und ihn als liebenswert zu betrachten.<br />
Betrachten Sie die Antiglobalisierungsbewegung<br />
als einen Feind der „offenen Gesellschaft"<br />
im Sinne von Karl Popper?<br />
Man sollte diese Bewegung nicht als<br />
eine homogene Einheit betrachten. Es gibt<br />
Menschen in dieser Bewegung, mit denen ich<br />
durchaus sympathisiere. Aber die Grundsätze,<br />
die Gesamtausrichtung der Anti-Globalisten,<br />
halte ich für gefährlich. Auf zwei verschiedene<br />
Arten handelt es sich bei Ihnen um "Feinde<br />
der offenen Gesellschaft". Zu aller erst<br />
herrscht bei diesen Menschen nicht das Bewusstsein<br />
vor, dass ihre politischen Visionen<br />
gefährlich sind und dass kollektive Mächte<br />
einen Nachteil für die Menschheit darstellen.<br />
Stattdessen dominieren extrem utopische<br />
Vorstellungen, nach dem Motto, wenn wir<br />
erst die Macht in den Händen halten, wird<br />
sich alles zum Guten wenden. Andererseits<br />
haben diese Leute auch kein Verständnis für<br />
die Vorzüge offener Gesellschaften und die<br />
Vorteile von freien Märkten. Sie lehnen Gesellschaften<br />
ab, in denen es eine Konkurrenz<br />
von Ideen gibt, die von außerhalb kommen.<br />
Die Argumentation dieser Bewegung ist monokausal<br />
und es dominieren simple schwarzweiße<br />
Bilder, wenn auch intellektuell verpackt.<br />
Was denken Sie eigentlich über die schwedische<br />
Gesellschaft. Sind Sie mehr oder<br />
weniger zufrieden mit der sozialdemokratischen<br />
Regierung oder neigen Sie eher zu<br />
Frustration und haben schon mal an Emigration<br />
gedacht?<br />
Sicherlich bin ich manchmal frustriert.<br />
Aber das Schweden von heute ist ja<br />
auch eine widersprüchliche Gesellschaft. In<br />
den vergangenen 15 Jahren hat es schon be-<br />
merkenswerte Fortschritte gegeben. Nur wenige<br />
westliche Länder haben Ihre Wirtschaftspolitik<br />
im gleichen Maße liberalisiert wie die<br />
schwedischen Sozialdemokraten und die<br />
schwedische Politik. Das ist ein großer Unterschied<br />
zu Deutschland. Deshalb geht es uns<br />
momentan im Vergleich zu anderen europäischen<br />
Gesellschaften recht gut. Allerdings<br />
halte ich diesen ökonomischen Glanz für<br />
nicht sehr stabil. Es wurde versäumt etwas<br />
gegen den ausufernden öffentlichen Sektor<br />
und gegen die hohe Besteuerung zu unternehmen.<br />
Die Steuergelder werden vom öffentlichen<br />
Sektor verschlungen, anstatt damit die<br />
notwendigen Reformen durchzuführen. Das<br />
Wohlfahrtssystem, der Sozialstaat, hat den<br />
Menschen jahrzehntelang eingetrichtert,<br />
nicht auf eigenen Beinen stehen zu können.<br />
Deshalb sind die Schweden im Speziellen und<br />
die Europäer im Allgemeinen auf eine Art abhängig<br />
geworden von eben diesem Wohlfahrtsstaat.<br />
Daher bin ich auch etwas pessimistisch<br />
über das öffentliche Bewusstsein<br />
hier in Europa. Wenn wir etwas verändern<br />
wollen, schauen wir zuerst auf den Staat, die<br />
einzige Institution von der wir etwas erwarten.<br />
Das betrachte ich nicht als Grundlage für<br />
eine gesunde Gesellschaft. Ans Auswandern<br />
habe ich aber noch nicht gedacht.<br />
Johan Norberg<br />
Der 1973 geborene Historiker ist Mitarbeiter<br />
von Timbro, einer liberalen Denkfabrik<br />
in Stockholm. Durch sein Buch ‚In Defence<br />
of global Capitalism/Das kapitalistische<br />
Manifest’ wurde Norberg international bekannt.<br />
Im vergangenen Jahr wurde er mit der<br />
Hayek-Medaille ausgezeichnet.<br />
Das Gespräch führte Ramon Schack
criticón 181 – Frühling 2004 EccE! Blick auf die Zeit 31<br />
EccE!<br />
Blick<br />
auf die Zeit<br />
In den vergangenen Monaten mischte<br />
sich in die Dauerdebatte über die so genannten<br />
„Reformen“ in Sachen Renten, Steuern<br />
und Gesundheit ein thematischer Doppeldecker,<br />
in dem die türkischen Mitbürger oder<br />
solche, die es werden sollen, eine zentrale Rolle<br />
spielen. Es ging und geht um die zwei Fragen,<br />
ob nach der Osterweiterung im Mai dieses<br />
Jahres die Europäische Union sich mit der Türkei<br />
auch nach Asien ausdehnen soll, und wie<br />
im Zuge dessen die weibliche Kleiderordnung –<br />
etwa 75 Prozent der deutschen Muslime sind<br />
Türken – zu verstehen ist.<br />
Um der üblichen Verdächtigung als<br />
„Christenclub“ zu entgehen, setzten sich die<br />
Atheisten der Bundesregierung so vehement<br />
für ein EU-Mitglied Türkei ein, dass sich die<br />
CDU/CSU mit einer konträren Position einmal<br />
wieder als Opposition profilieren wollte. Vertreten<br />
durch die Frau Angela Merkel, handelte<br />
man sich allerdings mit dem Angebot einer<br />
„privilegierten Partnerschaft“ bei den regierenden<br />
Männern in Ankara eine prompte Abfuhr<br />
ein. Mit Rückenwind aus den USA wollen sie<br />
die Mitgliedschaft mit Potenzial zur Führerschaft,<br />
weil innerhalb eines vergreisenden Europa<br />
die Türken zum vorgesehenen Termin um<br />
2013 den mit Abstand stärksten demographischen<br />
und militärischen Faktor bilden werden.<br />
Noch tiefere Gräben wurden bei der geschlechterspezifischen<br />
Uniformierung – Stichwort<br />
Kopftuch – sichtbar, bei der es sich offenbar<br />
um eine überpolitische Angelegenheit<br />
handelt. Hier scheinen sich völlig neue Allianzen<br />
zu bilden, die allmählich auch die MultikulturalistInnen<br />
an der Rot/Grün-Front zu erfassen<br />
beginnen. Auslöser war eine islamische<br />
Lehrerin, die auf Zulassung zum öffentlichen<br />
Dienst mit Kopftuch klagte und das Bundesverfassungsgericht<br />
in Verlegenheit brachte:<br />
Man wies die Länder an, die Sache auf Gesetzesbasis<br />
zu klären.<br />
Wie der Sprecher des Mehrheitsvotums<br />
dieser „Entscheidung“, BVG-Vizepräsident Hassemer,<br />
Anfang Februar in einem Vortrag vor<br />
hessischen Juristen in Wiesbaden erläuterte,<br />
soll sich eine breite Öffentlichkeit an der Diskussion<br />
des Kopftuchthemas zwar beteiligen,<br />
dabei allerdings, diffamiert durch die Gewalt<br />
der Kreuzzügler, ihre Toleranz hinsichtlich des<br />
Islam nicht relativieren dürfen. Der Verfassungsjurist<br />
nahm also weder die Säkularisierung<br />
Europas, noch die dominante Rolle des<br />
islamischen Rechtswesens (Scharia) zur Kenntnis,<br />
das sich religiös legitimiert und einen klar<br />
antidemokratischen Geltungsanspruch erhebt.<br />
Wer indessen nicht nur Regierung und<br />
Rechtsprechung, sondern auch EU-Spitzen<br />
beim Wort nahm, konnte sich beruhigt<br />
zurücklehnen, da in ihrer Wahrnehmung die<br />
Türkei schon immer zu Europa gehörte, die Osmanen<br />
toleranter als die Europäer waren und<br />
ihre Nachfahren Europa vor dem Ansturm des<br />
arabischen Terrorismus schützen werden. Auch<br />
der Europa-Abgeordnete Özdemir, der bis vor<br />
kurzem nicht wusste, dass es in Deutschland<br />
eine Steuerpflicht gibt, gab sich als Historiker<br />
und plädierte für den Beitritt, weil die Seldjuken,<br />
die türkische Kalifensoldateska des 11.<br />
und 12. Jahrhunderts, „Vorläufer der Säkularisierung“<br />
gewesen seien.<br />
Aus derlei Perspektiven massierter Inkompetenz<br />
muss die Verhüllung der islamischen<br />
Frau als „Zeichen der Religionsfreiheit“<br />
erscheinen. Hier kann weder eine Rolle spielen,<br />
dass der Islam selbst keine Religionsfreiheit<br />
kennt, noch dass die Verhüllung primäre<br />
Voraussetzung für die zweitklassige, vom<br />
Mann kontrollierte weibliche Existenz ist. Erst<br />
verhüllt, im Westen mit der Mindestversion<br />
des Kopftuchs bedeckt, darf sie in den öffentlichen<br />
Bereich vordringen. Im bekenntnisfreien<br />
Staat bestätigt dieses „Stück Stoff“ nicht<br />
nur das religiöse Bekenntnis und die politi-<br />
sche Abwertung der Frau; es etabliert vor allem<br />
auch ihre islamrechtlich verankerte, sexuelle<br />
Verfügbarkeit als Besitz des Mannes und<br />
damit die Ungleichheit der Geschlechter in der<br />
„demokratischen Praxis“.<br />
Über Jahre sind die deutschen „Verantwortlichen“<br />
den Forderungen der Muslime so<br />
einseitig nachgekommen, dass deren Vertreter<br />
inzwischen aus demokratiefeindlichen Islamisten<br />
bestehen. Mit dem Diktat ungeprüfter<br />
„Toleranz“ pressen beide dem Rechtsstaat immer<br />
weiter reichende Zugeständnisse ab, wobei<br />
sie mit Moscheebau, Muezzinruf, Islamunterricht<br />
etc. die Freiheitsrechte der Mehrheitsgesellschaft<br />
zunehmend einschränken.<br />
Was bedeutet es, wenn man in den<br />
Schulen Rücksicht auf „islamische Pflichten“<br />
wie Absenz der Mädchen von „islamwidrigem<br />
Unterricht“ nimmt, während die türkischen Eltern<br />
fordern, die geltende Schulpflicht durchzusetzen?<br />
Wie kommt es, dass deutsche Richter<br />
muslimischen Straftätern „kulturbedingte“,<br />
d.h. mildernde Umstände einräumen und einer<br />
ihrer Kollegen einen Kurden trotz Lebensgefahr<br />
abschob, weil er die Folter zum „Kulturgut<br />
der Türkei“ zählte?<br />
Kann es sein, dass der islamistische<br />
Druck die schweigende Mehrheit der Türken zu<br />
besseren Demokraten macht, als es den deutschen<br />
„Eliten“ genehm ist? Zur Rettung einer<br />
Restdemokratie, nicht zur Wiederwahl ihrer<br />
Politiker, sollen daher manche Beobachter bereits<br />
resigniert genug sein, den Türkeibeitritt<br />
– verhüllt oder unverhüllt – zu fordern. Sie<br />
haben noch nicht die Zweischneidigkeit des –<br />
noch verbalen – Schwertes erkannt, das Allahs<br />
Gesetz sowohl den „gemäßigten Islamisten“ in<br />
Ankara, als auch ihren Helfern in Europa in<br />
die Hand legt.<br />
<strong>Hans</strong>-Peter Raddatz
32 Was kostet uns der Öko-Dogmatismus criticón 181 – Frühling 2004<br />
Eine Nachricht, die leicht im deutschen<br />
Reformstrudel untergeht, aber dennoch<br />
Symbolwert haben dürfte: Im Rheingau hat<br />
gerade mit dem Weingut Graf von Kanitz das<br />
letzte von einer Reihe bedeutender Weingüter,<br />
die sich dem ökologischen Weinbau verschrieben<br />
hatten, aufgegeben. Wegen des hohen<br />
Arbeitsaufwandes bei der Bekämpfung<br />
hartnäckiger Schädlinge wie Mehltau und der<br />
ungünstigen Entwicklung der Absatzmärkte<br />
für vergleichsweise teure Öko-Produkte hatte<br />
sich die Öko-Methode nicht gerechnet. Denn<br />
in Zeiten knapper Kassen scheuen auch Weinkenner<br />
nicht den Gang zu ALDI, zumal selbst<br />
das Öko-Test-Magazin einige der dort angebotenen<br />
Tropfen mit Bestnoten bewertete.<br />
Schon Jahre zuvor waren die Hessischen<br />
Staatsdomänen, die einst vom damaligen Umweltminister<br />
Joschka Fischer in die Rolle von<br />
Vorreitern des ökologischen Weinbaus gedrängt<br />
worden waren, aus Kostengründen<br />
wieder zu herkömmlichen Methoden zurückgekehrt.<br />
Zur ernüchternden Kostenbilanz<br />
kommt noch ein weiteres Problem: Der im<br />
Öko-Weinbau für die Mehltaubekämpfung einzig<br />
zugelassene Einsatz von Kupferverbindungen<br />
führt zur nachhaltigen Vergiftung des<br />
Bodens, da Kupfer im Unterschied zu moder-<br />
Was kostet<br />
uns der<br />
Öko-Dogmatismus?<br />
Wer die Ökologie mit einer Ersatzreligion verwechselt,<br />
gefährdet Wirtschaftswachstum und Wohlstand.<br />
von Edgar Gärtner<br />
nen synthetischen Präparaten nicht biologisch<br />
abbaubar ist. In den kupferbelasteten<br />
Böden machen sich zuerst die für die Fruchtbarkeit<br />
wichtigen Regenwürmer rar. Nach und<br />
nach verschwindet alles höhere Leben aus der<br />
Krume und am Ende muss der Boden komplett<br />
ausgetauscht werden, um überhaupt<br />
noch etwas darauf anbauen zu können. Der<br />
österreichische Landbauexperte Professor<br />
Heinrich Wohlmeyer, bis 2002 Präsident der<br />
Österreichischen Vereinigung für agrarwissenschaftliche<br />
Forschung (ÖVAF) und heute an<br />
der Universität für Bodenkultur in Wien<br />
tätig, mahnt die Öko-Winzer: „Entscheiden<br />
sie sich nicht bald für eine umweltschonende<br />
Alternative zum Kupfereinsatz gegen Mehltau,<br />
wobei auch die Gentechnik kein Tabu<br />
bleiben sollte, wird die gute Idee des ökologischen<br />
Weinbaus unwiderruflich Schaden nehmen.“<br />
Doch obwohl es inzwischen in Versuchen<br />
bereits gelungen ist, Weinstöcke mithilfe<br />
der Gentechnik gegen Mehltau resistent zu<br />
machen, halten die Ökologischen Weinbauverbände<br />
an ihrer strikten Ablehnung der<br />
Gentechnik fest.<br />
Hier zeigt sich, wie Dogmatismus dem<br />
begründeten Anliegen der Ökologie schaden<br />
kann. Würden ökologische Begriffe wie<br />
„Gleichgewicht“ oder „Kreislauf“ allzu wört-<br />
lich genommen, warnt der Buch-Autor Josef<br />
H. Reichholf, Abteilungsleiter in der Zoologischen<br />
Staatssammlung und Professor für Naturschutz<br />
an der Technischen Universität<br />
München, dann komme es zum Overkill, weil<br />
man sich dann vom offenen Weltbild der Wissenschaft<br />
verabschiede und in der geschlossenen<br />
Welt einer Ideologie lande. Reichholf<br />
wörtlich: „Leider wird heute in der politischen<br />
Debatte nicht mehr zwischen Ökologie<br />
als Wissenschaft und dem Ökologismus als Ersatzreligion<br />
unterschieden. Das viel zitierte<br />
'ökologische Gleichgewicht' ist wissenschaftlich<br />
nicht definierbar. Wer jede Veränderung<br />
der Natur durch die Menschen zur Störung einer<br />
paradiesischen Harmonie erklärt und darauf<br />
besteht, diese Sünde in Form eines<br />
Ablasshandels, eines Totalumbaus der Wirtschaft<br />
oder eines Verzichts auf neue Techniken<br />
zu sühnen, kann sich nicht auf die Naturwissenschaft<br />
berufen.“<br />
Regenerative Energien und<br />
Arbeitsplatzverluste<br />
Noch deutlicher als im Weinbau zeigen<br />
sich die schädlichen Konsequenzen des<br />
Öko-Dogmatismus in der Energiepolitik. Be-
criticón 181 – Frühling 2004 von Edgar Gärtner 33<br />
sonders augenfällig ist das Missverhältnis<br />
zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei der<br />
Windenergienutzung (siehe DMEURO 9/2003).<br />
Seit kurzem machen sich die Zweifel am Segen<br />
der so genannten regenerativen Energien<br />
nicht mehr nur an der Unzuverlässigkeit der<br />
dem Naturschutz hohnsprechenden Windräder<br />
fest. Davon gibt es in Deutschland inzwischen<br />
schon über 15.000. Sie drehen sich allerdings<br />
im Schnitt nur zwei Stunden am Tag.<br />
Auch das von Bundesumweltminister Jürgen<br />
Trittin dafür ins Feld geführte Arbeitsplatzargument<br />
wackelt, seit das Bremer Energieinstitut<br />
aus einer Firmenbefragung geschlossen<br />
hat, dass der Bau von Wind- und Sonnenenergieanlagen<br />
tendenziell mehr Arbeitsplätze<br />
vernichtet als neu schafft. Zwar entstünden<br />
in der Windbranche rund 28.000 neue Arbeitsplätze,<br />
die mithilfe gesetzlich festgelegter<br />
hoher Einspeisevergütungen für Windstrom<br />
jährlich mit je 150.000 Euro (das heißt<br />
dreimal so hoch wie die Arbeitsplätze im<br />
Steinkohlebergbau) subventioniert werden.<br />
Doch bewirkt die Umlage dieser Subventionen<br />
auf alle Energieverbraucher eine zusätzliche<br />
Belastung von durchschnittlich 1,5 Cent je<br />
Euro Umsatz, was vor allem in energieintensiven<br />
Wirtschaftszweigen zu massiven Arbeitsplatzverlusten<br />
führen müsse. Während ihres<br />
angenommenen 20-jährigen Betriebs vernichte<br />
eine einzige Windkraftanlage in Deutschland<br />
per saldo acht Arbeitsplätze. „Nimmt<br />
man das Investitionsvolumen des Jahres<br />
2002, so führt dies über 20 Jahre zu einer<br />
Beschäftigungseinbuße von insgesamt 19.000<br />
Personenjahren“, heißt es in der Ende 2003<br />
von Wolfgang Pfaffenberger, Khanh Nguyen<br />
und Jürgen Gabriel vorgelegten Studie<br />
(www.bei.uni-bremen.de).<br />
Stromerzeugungs-Mix<br />
Die Gesamtkosten des beschlossenen<br />
Ausstiegs aus der Kernenergie-Nutzung und<br />
der Ausweitung des Einsatzes erneuerbarer<br />
Energien lassen sich recht gut beziffern. Der<br />
Ingenieur Helmut Alt, in Düren zuständig für<br />
die Geschäftskunden der RWE Rhein-Ruhr AG<br />
und Professor an der Fachhochschule Aachen,<br />
rechnet vor: Beim derzeitigen deutschen<br />
Stromerzeugungs-Mix belaufen sich die Produktionskosten<br />
für Strom in Deutschland auf<br />
insgesamt etwa 15 Milliarden Euro. Bei dem<br />
im Atomausstiegs-Kompromiss und in der nationalen<br />
Nachhaltigkeitsstrategie programmierten<br />
zukünftigen Mix ergäben sich bei<br />
konstanten Preisen Produktionskosten von 45<br />
Mrd. Euro, das heißt glatt das Dreifache. Auf<br />
Seiten der Privathaushalte, die derzeit bei einem<br />
durchschnittlichen Jahresverbrauch von<br />
etwa 4.000 Kilowattstunden (kWh) 17 c/kWh<br />
bezahlen, dürfte der Preissprung ähnlich ausfallen.<br />
Privathaushalte werden also in Zukunft<br />
höchstwahrscheinlich über 50 Eurocent<br />
je Kilowattstunde zahlen müssen.<br />
Mögliche technische Fortschritte bei<br />
der Gewinnung von Wind- und Solarstrom<br />
dürften daran nicht viel ändern, zumal die<br />
Stromerzeugung durch die schon projektierten<br />
30 Offshore-Windparks voraussichtlich<br />
deutlich teurer werden wird als die zur Zeit<br />
durch das Gesetz über den Vorrang Erneuerbarer<br />
Energien (EEG) garantierte Einspeisevergütung<br />
von 9,1 Eurocent je Kilowattstunde.<br />
Auch Strom aus Gaskraftwerken dürfte deutlich<br />
teurer werden, weil es in Deutschland<br />
kaum Erdgas gibt, während die ausländischen<br />
Gasvorkommen sich in der Hand weniger Anbieter<br />
(vor allem Russlands) befinden und<br />
weil aufgrund weltweit steigender<br />
Nachfrage (sowie höchstwahrscheinlich<br />
auch politischer Einflüsse)<br />
mit einem starken Anstieg des<br />
Gaspreises gerechnet werden muss.<br />
Explodierende Stromund<br />
Gaspreise<br />
Dennoch drängte Jürgen<br />
Trittin im Gerangel um die Ausgestaltung<br />
des Nationalen Allokationsplanes<br />
(NAP) für den europäischen<br />
Handel mit Treibhausgasemissionslizenzen<br />
auf eine Bevorzugung<br />
von Gaskraftwerken, indem er zurück<br />
die Zuteilung der Zertifikate an<br />
Kraftwerke vom Kohlenstoffgehalt ihres<br />
Brennstoffs abhängig machen wollte<br />
(www.bmu.de). Damit wollte er die Übertragung<br />
von Zertifikaten von Kohle- auf Gaskraftwerke<br />
anregen. Energiekonzerne, die<br />
stillgelegte Kohlekraftwerke durch Gaskraftwerke<br />
ersetzen, sollten die einmal zugeteilten<br />
Emissionsrechte versteigern können, um<br />
damit die neuen Kraftwerke zu finanzieren.<br />
Dadurch würde die Braunkohle, Deutschlands<br />
preisgünstigster und langfristig verlässlichster<br />
heimischer Brennstoff, mittelfristig ganz<br />
vom Markt verdrängt. Und die Stromrechnungen<br />
für Unternehmen und Privathaushalte<br />
dürften noch höher als von Professor Alt geschätzt<br />
ausfallen. Alt warnt: „Wenn Herr Trittin<br />
mit seinen Plänen durchkommt, werden<br />
in Deutschland keine neuen Kohlekraftwerke<br />
mehr gebaut. Stromintensive Industrien werden<br />
ins Ausland gehen und die deutschen<br />
Privathaushalte werden sich auf explodierende<br />
Strom- und Gaspreise einstellen müssen."<br />
Begründet wird die von Trittin und<br />
seinen Verbündeten in der Berliner Regierung<br />
bewusst herbeigeführte Verteuerung der Le-<br />
benshaltung mit der Notwendigkeit des Klimaschutzes.<br />
Dazu Jürgen Trittin: „Wir müssen<br />
den Ausstoß von Treibhausgasen deutlich<br />
vermindern. Deutschland ist hier ein Vorreiter.<br />
Ein Kernelement ist der massive Ausbau<br />
erneuerbarer Energien.“ Unter dem parteilosen<br />
Werner Müller hatte das Bundeswirtschaftsministerium<br />
(BMWi) die Kosten der<br />
Ende 1997 in Kioto von der deutschen Bundesregierung<br />
übernommenen Verpflichtung<br />
zur Reduktion der „Treibhausgase“ Kohlendioxid,<br />
Methan, Lachgas usw. bis zum Jahre<br />
2020 auf insgesamt nicht weniger als 250<br />
Milliarden Euro geschätzt. Inzwischen hat die<br />
zweite rot-grüne Bundesregierung verkündet,<br />
sie werde an der Kioto-Zusage auch dann<br />
festhalten, wenn das Kioto-Protokoll, wie<br />
nun absehbar, gar nicht in Kraft treten sollte.<br />
Aus Kostengründen kehren Öko-Winzer zu herkömmlichen Methoden<br />
Klimawandel<br />
Der vom Bundesministerium für Bildung<br />
und Forschung (BMBF) eingesetzte<br />
Sachverständigenkreis „Globale Umweltaspekte“,<br />
dem nicht nur bekannte Klimaforscher<br />
wie Guy Brasseur (Hamburg), Martin Claussen<br />
(Potsdam) und Jörn Thiede (Bremerhaven),<br />
sondern mit dem Volkswirtschaftler Gunter<br />
Stephan (Bern) und dem Soziologen Peter<br />
Weingart (Bielefeld) auch Sozialwissenschaftler<br />
angehörten, beklagt demgegenüber in seiner<br />
Ende 2003 vorgelegten Studie „Herausforderung<br />
Klimawandel“ (www.bmbf.de ), Politik<br />
und Medien hätten sich in den letzten Jahren<br />
darauf versteift, im Klimawandel etwas<br />
Böses zu sehen, das es zu verhindern gelte –<br />
koste es, was es wolle. Doch es sei unmöglich,<br />
den Klimawandel aufzuhalten. Erst ab<br />
2070 könnten die in Kioto vereinbarten Maßnahmen<br />
überhaupt die Durchschnittstemperatur<br />
beeinflussen. „Die bisherige pauschale<br />
Annahme, dass Klimaänderungen ‚negativ’ zu<br />
sehen seien, sollte durch eine vorurteilsfreie
34 Was kostet uns der Öko-Dogmatismus criticón 181 – Frühling 2004<br />
Sicht ersetzt werden, da es nicht um ‚gut’<br />
und ‚schlecht’ geht, sondern darum, wie mit<br />
dem, was da kommt, rational umgegangen<br />
wird“, betonen die Wissenschaftler. Sie kritisieren<br />
damit in verklausulierter Form das<br />
Festhalten der Bundesregierung am Kioto-<br />
Prozess, denn es liegt auf der Hand, dass es<br />
für 250 Milliarden Euro nützlichere Verwendungsmöglichkeiten<br />
gäbe.<br />
Die Kosten eines vermeintlich klimaschützenden<br />
Totalumbaus unserer Stromversorgung<br />
sind allerdings nur die sichtbare<br />
Spitze des Eisberges. Hinzu kommen versteckte<br />
„opportunity costs“ (entgangene Gewinn-<br />
und Wachstumschancen) in kaum bezifferbarer<br />
Größenordnung infolge der Hemmung,<br />
wenn nicht Vereitelung technischer<br />
Fortschritte durch Bedenkenträger, die sich<br />
auf die Ökologie berufen. So zum Beispiel die<br />
infolge der Ablehnung der „grünen“ Gentechnik<br />
verpassten volkswirtschaftlichen Wachstumsimpulse<br />
sowie Entlastungen der Umwelt<br />
und des Arbeitsmarktes.<br />
Der amerikanische Star-Ökonom Lester<br />
Thurow, Professor am MIT in Boston<br />
(kein Bush-Anhänger), sieht in der „grünen“<br />
Gentechnik den Beginn der „dritten industri-<br />
ellen Revolution“. In seinem neuesten Buch<br />
über die Zukunft der Weltwirtschaft (zu Beginn<br />
dieses Jahres auf deutsch im Frankfurter<br />
Campus Verlag erschienen) wirft er den<br />
Europäern vor, aus Furcht vor der Entstehung<br />
von Monstern ein noch weniger kalkulierbares<br />
Risiko einzugehen: den Anschluss an die<br />
industrielle Entwicklung zu verlieren und<br />
sich am Ende dem Entwicklungsniveau Afrikas<br />
anzunähern.<br />
Nach einer Studie des australischen<br />
Instituts für Agrar- und Ressourcenökonomie<br />
(ABARE) könnte die weltweite Nutzung der<br />
Agrarbiotechnologie das globale Bruttosozialprodukt<br />
bis zum Jahre 2015 um mehr als 300<br />
Milliarden US-Dollar steigern. Laut ABARE reduziert<br />
das bislang geltende EU-Moratorium<br />
für den Anbau gentechnisch veränderter<br />
Nutzpflanzen den weltweiten BSP-Zugewinn<br />
bis 2015 um 27 Milliarden US-Dollar. Nach einer<br />
Studie des US-amerikanischen National<br />
Center for Food and Agricultural Policy<br />
(NCFAP) schmälert der Verzicht der EU auf<br />
biotechnisch verbesserte Nutzpflanzen das<br />
Einkommenspotenzial der EU-Landwirte um<br />
rund eine Milliarde Euro jährlich.<br />
„Grüne“ Gentechnik<br />
Die „grüne“ Gentechnik erscheint derzeit<br />
als der bei weitem aussichtsreichste Weg,<br />
auf Äckern und Weinbergen mit weniger Gift<br />
auszukommen. Das Beispiel Mehltau-resistenter<br />
Reben wurde bereits genannt. Bei der<br />
„grünen“ Gentechnik der zweiten und dritten<br />
Generation geht es nicht mehr nur, wie bislang,<br />
um Pflanzen, denen Resistenzgene gegen<br />
Unkrautvernichtungsmittel, Insekten,<br />
Pilze und andere Schädlinge eingebaut wurden.<br />
Schon in naher Zukunft soll es auch<br />
Pflanzen geben, die als umweltschonende<br />
„grüne Fabriken“ für Medikamente, Fasern,<br />
Kunststoffe, Fette und Öle dienen. Auch an<br />
der Vermittlung von Resistenzen gegen<br />
Trockenheit, Hitze oder Kälte wird gearbeitet.<br />
Weltweit bauen bereits sieben Millionen<br />
Landwirte auf etwa 70 Millionen Hektar<br />
transgene Pflanzen an.<br />
In Deutschland dagegen hat die<br />
Blockadepolitik des Bundesministeriums für<br />
Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft<br />
(BMVEL) unter der Grünen Renate<br />
Künast zu einem faktischen Stillstand der<br />
„grünen“ Biotechnologie geführt. Während
criticón 181 – Frühling 2004 von Edgar Gärtner 35<br />
das Bundesministerium für Bildung und Forschung<br />
(BMBF) unter Hildegard Bulmahn Biotechnologieprojekte<br />
mit insgesamt fast einer<br />
Milliarde Euro fördert und jungen Biotech-Firmen<br />
bei der Mobilisierung von Beteiligungskapital<br />
hilft, haben die Frau Künast unterstehenden<br />
Behörden bislang fast alle Versuche,<br />
die Ergebnisse der Biotechnologie ins Freiland<br />
zu bringen, unterbunden. Und was die Grüne<br />
Ministerin nicht schaffte, haben oft rabiate<br />
Gegentechnik-Gegner durch das Zertrampeln<br />
von Versuchsfeldern besorgt. Nun geht Startups<br />
das Geld aus. Firmen und junge Forscher<br />
wandern nach Amerika ab. Die Ausbildungskette<br />
droht abzureißen. Professor Gerhard<br />
Wenzel von der Technischen Universität München,<br />
Freising, schätzt den bei uns bereits<br />
eingetretenen Forschungsrückstand auf diesem<br />
Gebiet auf fünf bis sechs Jahre. „Unser<br />
eigenes Institut arbeitet an einer gentechnisch<br />
optimierten Kartoffel, die einen Farbstoff<br />
produziert, der Altersblindheit verhindert.<br />
Schön wäre es, wenn dieser Fortschritt<br />
nicht aus China importiert werden müsste.<br />
Doch leider wurde unser genehmigtes Versuchsfeld<br />
von fanatischen Gentechnik-Gegnern<br />
zerstört“, klagt Prof. Wenzel.<br />
Risikotechnologie?<br />
Nun gilt die Umsetzung der inzwischen<br />
von der EU verabschiedeten Richtlinie<br />
für die Freisetzung gentechnisch veränderter<br />
Organismen in deutsches Recht als letzte<br />
Chance, um das Label „Green Biotechnology<br />
made in Germany“ noch zu retten (so Harald<br />
Seulberger, Geschäftsführer von SunGene, Gatersleben).<br />
Mit dem Inkraftsetzen der Freisetzungs-Richtlinie<br />
endet das in der EU auf<br />
Druck der Öko-Bewegung ausgesprochene Moratorium<br />
für den Anbau transgener Pflanzen.<br />
Doch der im Januar 2004 von Ministerin<br />
Künast vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur<br />
Neuordnung des Gentechnikrechts (www.verbraucherministerium.de)<br />
sieht eher wie ein<br />
Gesetz zur Abschreckung vor der Gentechnik<br />
aus. Denn anders als die EU-Richtlinie definiert<br />
der BMVEL-Entwurf die Gentechnik einseitig<br />
als „Risikotechnologie“ und sieht folglich<br />
verschärfte Haftungsbestimmungen für<br />
den Fall der unbeabsichtigten Einwanderung<br />
(Auskreuzung) gentechnisch veränderter<br />
Pflanzen in benachbarte Felder mit „gentechnikfreien“<br />
Landbaumethoden vor. Renate<br />
Künast sagte es bei der Vorstellung des Gesetzentwurfs<br />
der Bundesregierung Mitte Februar<br />
ganz offen: „Es ist von grundlegender<br />
Bedeutung, dass wir unsere Spielräume voll<br />
ausschöpfen und Regeln zum Schutze des<br />
gentechnikfreien Anbaus schaffen! Deshalb<br />
hat die Bundesregierung ihren Gesetzentwurf<br />
ganz im Sinne eines Schutzgesetzes für alle<br />
diejenigen vorgelegt, die auch in Zukunft ohne<br />
Gentechnik arbeiten wollen.“<br />
Bei der Herstellung und Vermarktung<br />
von Saatgut sollen folglich Reinheits-Anforderungen<br />
gelten, wie sie sonst nur bei Arzneimitteln<br />
üblich sind. Anders als den großen<br />
Pharma-Konzernen fehlen aber den meist<br />
mittelständischen Saatgut-Herstellern die<br />
Mittel für die aufwändigen Tests, um solche<br />
Vorschriften einhalten zu können. Obendrein<br />
würden sie aufgrund der im Künast-Entwurf<br />
vorgesehenen gesamtschuldnerischen Haftung<br />
auf der Basis einer Beweislastumkehr (Verur-<br />
Der Verzicht auf biotechnisch verbesserte Nutzpflanzen schmälert das Einkommenspotenzial der EU-Landwirte um rund eine Milliarde Euro jährlich<br />
sachervermutung) auch dann zur Kasse gebeten,<br />
wenn sie gar nicht für Verunreinigungen<br />
verantwortlich sind, ihre Unschuld aber nicht<br />
beweisen können. Deshalb weigern sich die<br />
Versicherer, Risiken wie Schadensersatzforderungen<br />
von Öko-Bauern gegenüber Saatgutherstellern<br />
oder konventionell arbeitenden<br />
Landwirten zu übernehmen. Selbst Freilandexperimente<br />
mit dem Ziel der Verbesserung<br />
der Sicherheit transgener Pflanzen wird<br />
unter diesen Umständen kaum jemand durchführen<br />
wollen.
@<br />
Emails<br />
36 Emails vom Tage criticón 181 – Frühling 2004<br />
vom Tage(5. Folge)<br />
38. Warum schmeißt Schröder<br />
den Bettel nicht hin?<br />
Den Zenit seiner Macht hat er unwiderruflich<br />
überschritten. Müntefering als SPD<br />
Vorsitzender lässt ihn nicht einmal mehr zögerliche<br />
Reformschrittchen gehen, womit<br />
Schröder die SPD in den vergangenen Jahren<br />
immerhin in die politische Mitte führte.<br />
Wenn sich Schröder den Traditionsbataillonen<br />
unterwirft, verliert er den Respekt, den er<br />
sich mit ihrer Disziplinierung erwarb. Schröder<br />
ist als Modernisierer der SPD gescheitert,<br />
zum Modernisierer Deutschlands kann er es<br />
nicht mehr bringen. Was er jetzt braucht, ist<br />
ein starker Abgang.<br />
@<br />
39. Rolf Hochhuth schreit auf,<br />
aber wir hören nur ein schepperndes<br />
Jammern. In seinem neuen Theaterstück<br />
‚McKinsey kommt’ fordert er den „unvermeidbaren“<br />
Mord an einem hohen Repräsentanten<br />
der Wirtschaft. Die RAF lässt grüßen. Die Ri-<br />
@@<br />
@<br />
tuale der 68er sind ausgehöhlt. Der Klassenkampf<br />
ist weder das Problem noch eine Antwort<br />
auf Globalisierung, Überalterung, Islamismus.<br />
@<br />
40. Was ist deutsch?<br />
Die ewige Frage beantwortet die Bundesregierung<br />
im eben erschienenen ‚Handbuch<br />
für Deutschland’: Deutsch ist nichts Eigenständiges,<br />
sondern das, was beim Mischen<br />
anderer Kulturen rauskommt. Das liest sich<br />
so: „Kunst und Kultur sind in Deutschland<br />
geprägt durch antikes, jüdisches und christliches<br />
Erbe sowie durch die historische Entwicklung<br />
innerhalb Europas. In der Neuzeit<br />
haben kulturelle Einflüsse der USA, aber auch<br />
Asiens und Afrikas ihren Niederschlag gefunden.<br />
Die Formen der französischen Gotik lösten<br />
den Baustil der Romanik in Deutschland<br />
ab. Die westdeutsche Bildende Kunst und Literatur<br />
nach 1945 ist experimentierfreudig<br />
und nimmt Anregungen aus fremden Ländern<br />
auf, in Ostdeutschland herrschte der sozialistische<br />
Realismus vor. Die moderne Architektur<br />
und das Design der Güter des täglichen<br />
Lebens ist von italienischem und nordischem<br />
Einfluss geprägt. In Cafés wird neben Filterkaffee<br />
und Tee auch Espresso, Capuccino und<br />
Milchkaffee getrunken, als Essensbeilage erhält<br />
man neben Kartoffeln auch französisches<br />
Baguette oder türkisches Fladenbrot. Die<br />
deutsche Unterhaltungsmusik ist stark amerikanisch<br />
geprägt. Aber die klassische deutsche<br />
Musik Ludwig van Beethovens ist genauso<br />
vertreten wie deutsche Volksmusik und<br />
Musikrichtungen mit orientalischen und afrikanischen<br />
Rhythmen.“ Die Integrationsbeauftragte<br />
behauptet nicht, dass alle Kulturen relativ<br />
seien, sie gesteht zu, dass es das Antike,<br />
Christliche, Jüdische oder Amerikanische<br />
gibt, wie die Farben Rot, Schwarz, Gelb oder<br />
Blau. Nur die Deutschen sind ein multikulturelles<br />
Kompositum, eine Farbmischung – dar-<br />
in schwimmen als deutsche Brocken einzig<br />
Beethoven und Kartoffeln.<br />
41. Wir haben Elke Heidenreich<br />
immer für eine Emanze<br />
gehalten,<br />
aber wie sie sich als liebevolle Ehefrau<br />
selbst anpreist, belehrt uns eines besseren:<br />
„Meine beiden Männer waren sehr glücklich<br />
mit mir. Der eine fünf, der andere 25 Jahre<br />
lang. Ich bin eine gute Ehefrau. Ich koche,<br />
und ich mach es sehr gemütlich. Es gibt immer<br />
Blumen, ich kann Pfannkuchen backen,<br />
und ich verweigere mich auch nicht!“<br />
42. Henryk Broder kennt man<br />
als spöttischen Beobachter mit eleganter<br />
Feder, die er auch gern mal in Häme<br />
taucht. Gewöhnlich bürstet er das glatte Fell<br />
des Zeitgeistes gegen den Strich und scheut<br />
auch nicht die Konfrontation mit Platzhirschen<br />
der Öffentlichkeit. Beim Hören der Lebensbeichte<br />
einer Pornoqueen ist ihm sein<br />
kritisches Urteilsvermögen jedoch buchstäblich<br />
in die Hose gerutscht: „Michaela Schaffrath<br />
(‚Insidern besser bekannt unter Gina<br />
Wild’, die Red.) ist ein Phänomen, an dem<br />
Feministinnen, Sozialarbeiter und Milieuforscher<br />
verzweifeln könnten. Sie wurde als<br />
Kind nicht missbraucht, sie kommt nicht aus<br />
einer problematischen Familie, es waren nicht<br />
die üblichen Umstände, die sie in eine Rolle<br />
zwangen; sie hat einfach ihr Hobby zu ihrem<br />
Beruf gemacht... Was bei Naddel oder Verona<br />
mit einem aseptischen Romantik-Schleier daherkommt<br />
(„Die Nacht, in der wir unser Baby<br />
zeugten"), klingt bei Michaela so normal wie<br />
eine Einladung zu Kaffee und Kuchen bei<br />
ihren Eltern: ‚Ich blase unheimlich gerne...,<br />
es ist reine Vertrauenssache, sonst macht Blasen<br />
keinen Spaß.’“ Blasen oder Haare fönen?<br />
Keine Frage, was Schaffrath, Bild und Broder<br />
einem jungen Mädchen empfehlen: Porno<br />
macht mehr Spaß und wird besser bezahlt.<br />
43. Die großen Leistungen<br />
Johannes Pauls II. sind<br />
sämtlich politisch und markieren zugleich<br />
das größte Defizit seines Pontifikats:<br />
Bei der spirituellen Erneuerung der Kirche<br />
versagte er, förderte gar die konservativen<br />
Betonköpfe in den eigenen Reihen. Die neuen<br />
Lebensstile werden von der Kirche weder geistig<br />
begleitet noch spirituell geprägt. Die Kirche<br />
selbst hat vergessen, dass sie mehr sein<br />
muss als nur Politik.
@@ @<br />
@<br />
criticón 181 – Frühling 2004 Emails vom Tage 37<br />
44. Otto Muehl ist<br />
große Kunst, will uns die monumentale<br />
Ausstellung seiner Bilder im Wiener Museum<br />
für angewandte Kunst sagen. Die Exzesse<br />
in seiner Kommune werden damit geadelt.<br />
Der Ex-Guru durchkreuzt diese Intention jedoch<br />
unfreiwillig in einem Zeit-Interview:<br />
„Ich wär lieber Franzose. In Wien gibt’s doch<br />
gar keine interessanten Leute mehr. Sind<br />
doch alle emigriert. Freud wollte auch kein<br />
Österreicher sein. Ich komme mir vor wie ein<br />
Jude. Geistiger Jude. Die Österreicher sind alle<br />
Idioten. Ein Drittel Nazis. Die Ewiggestrigen.<br />
Wirklich ein komisches Land. Ich krieg<br />
geradezu einen Ekel. Österreicher zu sein ist<br />
eine Beleidigung.“ Was haben die Juden<br />
falsch gemacht, dass so ein klebriger Anschleimer<br />
sein will wie sie?<br />
@<br />
45. Die Leitkultur bleibt<br />
deutsch, da braucht sich keiner Sorgen<br />
zu machen. Der Film „Gegen die Wand“<br />
des Deutschtürken Fatih Akin folgt ganz dem<br />
Sozialkitsch des öffentlich-rechtlich geförder-<br />
@@<br />
ten deutschen Mainstreamkinos und erhielt<br />
folgerichtig den goldenen Bären als Zu-<br />
gehörigkeitstrophäe: Die lebensgierige Sibel<br />
entzieht sich der Kontrolle ihres Elternhauses<br />
durch eine Scheinehe mit dem versoffenen<br />
und koksschniefenden Asozialen Cahit. Der<br />
Film reproduziert die klassischen Bohemienklischees,<br />
die mit der Realität wenig, mit den<br />
antibürgerlichen Ressentiments der Szene viel<br />
zu tun haben. An die Stelle des deutschen<br />
autoritären Familienvaters rückt der türkische<br />
Clanchef. Das traditionelle türkische Milieu<br />
muss herhalten, um längst abgenützte<br />
Bürgerschreck-Parolen wieder zu beleben: Es<br />
fließt viel Blut, viel Alkohol und in jeder<br />
zweiten Szene ist vom Ficken die Rede. Das<br />
Übliche also. Akin liefert keinen einzigen<br />
neuen Gedanken. Der zutiefst christliche<br />
Glaube, dass echte Gefühle bei gescheiterten<br />
Randexistenzen, bei Huren und Pennern,<br />
wahrhaftiger zu finden seien, ist Kern der Sozialtheologie<br />
von Karl Rahner, der gelegentlich<br />
im Obdachlosenheim übernachtete, um<br />
dort Gott näher zu sein.<br />
@<br />
46. Wir hatten schon<br />
vergessen, was Dialektik ist, doch erinnert<br />
uns kürzlich Jürgen Habermas wieder<br />
daran, wenn er die Zensur, die der Ayatollah<br />
vom Starnberger See ausübt, als Freiheit ausgibt:<br />
„Nur durch eine informell errichtete,<br />
aber wirksam sanktionierte Schranke zwischen<br />
der offiziell zugelassenen öffentlichen<br />
Rede einerseits und den privat geäußerten<br />
Vorurteilen andererseits hat sich die politische<br />
Denkungsart der Bevölkerung im Laufe<br />
der Jahrzehnte tatsächlich liberalisiert.“<br />
47. Simple Doppelmoral<br />
charakterisierte auch Habermas’ Leitfigur<br />
Adorno: 1943 fleht er in einem Brief an<br />
seine Eltern: „Möchten die Horst Güntherchen<br />
in ihrem Blut sich wälzen und die Ignes<br />
den polnischen Bordellen überwiesen werden,<br />
mit Vorzugsscheinen für Juden.“ 1945 triumphiert<br />
er: „Alles ist eingetreten, was man<br />
sich jahrelang gewünscht hat, das Land vermüllt,<br />
Millionen von <strong>Hans</strong>jürgens und Utes<br />
tot.“ Konnten die Frankfurter deshalb dem<br />
Wiederaufbau nie etwas Positives abgewinnen?<br />
Friedrich Con@n
38 After Sales Service criticón 181 – Frühling 2004<br />
Nach dem Verkauf ist vor dem Verkauf:<br />
After Sales Service<br />
Das Spiel endet nie<br />
von Ralf Sürtenich, Unternehmensberater<br />
Nach dem Verkauf ist vor dem Verkauf.<br />
Der Satz ist nicht ganz von Sepp Herberger,<br />
aber drückt eine Art universelle Erkenntnis<br />
aus: Das gilt auch für Unternehmen<br />
der Informationstechnik und Telekommunikation<br />
(ITK), trotz oder gerade auch wegen der<br />
kurzen Innovationszyklen. Die Feststellung,<br />
dass die Verkaufsphase nicht mit dem eigentlichen<br />
Geschäftsvorgang „Ware oder Leistung<br />
gegen Zahlung“ endet, ist eine der Grundpfeiler,<br />
auf denen das Kürzel CRM beruht.<br />
Customer Relationship Management<br />
betrachtet die klassische Unterteilung in Marketing,<br />
Verkauf und Service unter dem Oberbegriff<br />
der Kundenbeziehung. Im Sinne eines<br />
dauerhaften Geschäftes ist die Kundenbeziehung<br />
ein Aktivposten des Unternehmens, der<br />
dauerhaft gepflegt werden will. Nach alten<br />
Marketing-Erkenntnissen kostet die Gewinnung<br />
eines Neukunden fünf bis zehn mal soviel,<br />
wie die Pflege eines Bestandskunden.<br />
Zudem berichtet ein unzufriedener oder vernachlässigter<br />
Kunde seine schlechten Erfahrungen<br />
auch weiteren acht bis zehn potenziellen<br />
Käufern. Mangelnde Kundenpflege im<br />
Service kann damit sehr leicht jegliche Marketing-Anstrengungen<br />
in der Vorverkaufsphase<br />
torpedieren. CRM ist daher für den Anbieter<br />
kein Luxus, sondern Kernaufgabe seiner<br />
Geschäftstätigkeit. Ein sehr trauriges Beispiel<br />
für mangelhaftes CRM liefert ein bekannter<br />
deutscher Webdomain-Hoster im unteren<br />
Preissegment, der in den vergangenen Jahren<br />
immer wieder negative Schlagzeilen mit Problemen<br />
bei Prozessabläufen, Server-Ausfällen<br />
und mit dem Verlust von Domain-Rechten<br />
machte. Dieses Negativ-Image lässt sich durch<br />
kein noch so teures Marketing- und Werbekonzept<br />
kompensieren.<br />
Für die Hersteller von IT- und TK-<br />
Hardware ist es unter dem herrschenden<br />
Preis- und Wettbewerbsdruck besonders<br />
schwierig, den so genannten „After Sales Service“<br />
adäquat auszuführen. Die vollständige<br />
Abbildung der Wertschöpfungs- und Lebenszykluskette<br />
der Produkte ist heute für ein<br />
Unternehmen gar nicht mehr profitabel möglich.<br />
Was der Kunde heute kauft, ist eine<br />
Marke mit einem bestimmten Image. Die eigentliche<br />
Kernkompetenz der „Hersteller“ beruht<br />
daher immer mehr auf Marketingfähigkeiten.<br />
Produkte werden für Marktbedürfnisse<br />
und bestimmte Marktsegmente konzipiert,<br />
danach die Herstellung, Marktkommunikation<br />
und Werbung geplant und die Vertriebskanäle<br />
aktiviert. Ob Monitore oder Drucker, die ei-<br />
gentliche Entwicklung der Kerntechnik wird<br />
von den meisten „Herstellern“ eingekauft<br />
und schließlich irgendwo in der Welt zur Veredelung<br />
und zur Endmontage gegeben. Der<br />
After Sales Service, so wichtig er für ein dauerhaft<br />
erfolgreiches Geschäft ist, erfordert<br />
ganz andere Fähigkeiten und eine andere<br />
Struktur als die Konzeption und Planung eines<br />
Produktes und seiner Herstellung. Das<br />
sind in erster Linie Marketing- und Vertriebsaufgaben.<br />
After Sales Service aber erfordert<br />
Call Center, Ersatzteillager, Transport und Logistik<br />
– aber keine Produkt- und Verkaufsmanager<br />
oder Entwicklungs-Ingenieure. Statt<br />
dessen Helpdesk-Mitarbeiter, Techniker und<br />
Lagerhaltungsexperten.<br />
After Sales Service und Outsourcing,<br />
bei näherer Betrachtung ist das daher ein nahe<br />
liegendes Begriffspaar. Bei vielen Produkten,<br />
auch im Markt für Endkunden, wird der<br />
After-Sales Service gar nicht mehr vom Hersteller<br />
selbst durchgeführt. Eines dieser Service-Unternehmen<br />
ist die Firma a & o after<br />
sales & onsite services GmbH in Neuss. Michael<br />
Müller, Geschäftsführer von a & o, umreißt<br />
die Arbeit seines Unternehmens folgendermaßen:<br />
„Unser Kerngeschäft ist grundsätzlich<br />
die Wartung und der Reparaturservice. Wir<br />
verstehen uns als verlängerte Werkbank von
criticón 181 – Frühling 2004 von Ralf Sürtenich 39<br />
Unternehmen, die in der IT-Branche tätig<br />
sind. Außerdem betreiben wir Frontside-Service.<br />
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Wenn Sie<br />
heute Lotto spielen gehen, wird Ihr Tippschein<br />
durch eine Maschine gezogen. Nehmen<br />
wir an, an dieser Maschine ist nun der<br />
Drucker defekt. Innerhalb von zwei Stunden<br />
wird ein Mitarbeiter der Firma a & o die Maschine<br />
abholen und wieder reparieren. Und<br />
das rund um die Uhr.“<br />
Der Stagnationsphase zum<br />
Trotz, oder auch: jede Zeit bietet<br />
Chancen<br />
a & o startete Anfang 2003 zunächst<br />
mit 40 Mitarbeitern. Dass der Geschäftsansatz<br />
sehr erfolgreich ist, zeigt die Tatsache, dass<br />
das Unternehmen schon ein Jahr später 130<br />
Mitarbeiter beschäftigt. Eine der großen Stärken<br />
von a & o sieht Michael Müller in dem,<br />
was er „dezentrale Service-Kultur“ nennt:<br />
„Wenn ein Außendienstler von mir morgens<br />
um sieben Uhr wegfährt und um 17.00 Uhr<br />
noch einen Job hat, dann ist er erst um<br />
19.00, 19.30 Uhr zu Hause. Da gehen wir<br />
sehr flexibel vor, was in großen Organisationen<br />
eher selten anzutreffen ist. Als mittelständisches<br />
Unternehmen arbeiten wir nach<br />
den Bedürfnissen des Marktes und sind wesentlich<br />
schneller bei der Auftragsbearbeitung“,<br />
so die Erfahrung von Müller.<br />
Beim Outsourcing des After Sales Service<br />
geht es aber nicht nur um Kosten und<br />
Effizienz, sondern um eine intensive Beziehung<br />
zu den Kunden. „a & o trägt damit direkt<br />
zum Geschäftserfolg seiner Auftraggeber<br />
bei. Wenn heute jemand einen Monitor, ein<br />
TFT-Display, einen Drucker kauft, so beschäftigt<br />
er sich vor der Kaufentscheidung mit den<br />
Produkteigenschaften: technische Daten, Leistungsmerkmale<br />
oder Normen. In der Regel<br />
wird der durchschnittliche Kunde die Hälfte<br />
dieser Angaben gar nicht wirklich verstehen.<br />
Ist das Produkt gekauft, treten schon nach<br />
wenigen Tagen diese technischen Features in<br />
der Wahrnehmung des Käufers in den Hintergrund:<br />
er erwartet einfach, dass das Produkt<br />
über Jahre hinweg einwandfrei funktioniert.<br />
In den weitaus meisten Fällen wird erst im<br />
Fehlerfall das Produkt wieder in den Fokus<br />
der Wahrnehmung des Käufers rücken.Was er<br />
nun erwartet, schnellen und günstigen Service,<br />
hat nichts mit den Leistungsmerkmalen<br />
des Monitors oder Druckers zu tun, sondern<br />
resultiert aus der Leistung der After Sales<br />
Service“, betont Müller. Ob nun dieser Service<br />
vom Hersteller direkt erbracht werde oder<br />
von einem externen Dienstleister, spiele für<br />
die Wahrnehmung des Kunden keine Rolle. „a<br />
& o tritt nicht werblich auf, kommuniziert<br />
nicht direkt mit dem Markt der Endverbraucher.<br />
Der Anwender verbindet den guten Service<br />
mit dem Hersteller. Wir bauen damit<br />
tatsächlich eine Beziehung zwischen dem<br />
Käufer und dem Hersteller auf. Und ein Kunde,<br />
zu dem eine Beziehung aufgebaut wurde,<br />
wird mit großer Sicherheit ein Nachfolgegeschäft<br />
mit dem Hersteller tätigen“, weiß Müller.<br />
Produkte werden immer austauschbarer<br />
– nur der Service<br />
differenziert<br />
Auffällig ist, dass gerade auch in einer<br />
Stagnationsphase der ITK-Branche das<br />
Geschäft mit dem Outsourcing von After Sales<br />
Service ein deutliches Wachstumssegment<br />
darstellt. Das hängt auch direkt mit den<br />
schmaleren Investitionsbudgets der Hersteller<br />
zusammen. Nach Schweizer Untersuchungen<br />
investieren Unternehmen derzeit generell<br />
zunächst in die Beschaffung, Produktion und<br />
den Absatz. Der After Sales Service kommt,<br />
trotz seiner erkannten Relevanz für den<br />
Kaufzyklus, erst an vierter Stelle. Die Hersteller<br />
konzentrieren sich stärker auf ihre Kernkompetenz<br />
und können den Ausbau von Systemen<br />
für den E-Commerce forcieren. Die<br />
Spezialanbieter für den After Sales Service<br />
nutzen Größeneffekte und Schnelligkeit – arbeiten<br />
somit kostengünstiger als der Hersteller.<br />
„Der After Sales Service expandiert<br />
auch durch die Gleichartigkeit der Produkte.<br />
Nicht der Preis ist bei den Endprodukten ent-<br />
scheidend, sondern das, was an Service<br />
folgt“, betont Müller.<br />
Humankapital nicht nur Trend-<br />
Schlagwort<br />
Im Unterschied zu den CRM-Strategien,<br />
wie sie von den großen Beratungsunternehmen<br />
gerne verkauft werden, setzt a & o<br />
auch sehr stark auf den Menschen. Im Zeitalter<br />
von eCommerce ist der Call Center-Agent,<br />
der im Fehlerfall angerufen wird, oder der<br />
Techniker, der vor Ort kommt, oft nur noch<br />
der einzige Mensch, mit dem der Kunde<br />
tatsächlich Kontakt hat. Bei allen optimierten<br />
Prozessabläufen, Betriebskennzahlen,<br />
ihrem Monitoring und der Auswertung wird<br />
der Service von Menschen erbracht. Müller<br />
setzt hier, als wirklich typischer Mittelständler,<br />
auf einen gesunden Mix von<br />
Nachwuchskräften und erfahrenen Mitarbeitern:<br />
„Wenn ich einen Hochschulabgänger<br />
einstelle, habe ich im Grunde einen gut bezahlten<br />
Azubi. Neben jungen Mitarbeitern<br />
haben wir deshalb auch über 50jährige Arbeitskräfte,<br />
die sofort einsetzbar sind“.<br />
Ältere und erfahrene Mitarbeiter<br />
seien sehr engagiert und würden souveräner<br />
mit Problemen im Berufsalltag umgehen.<br />
Für Müller ist das Scheitern vieler Unternehmen<br />
der New Economy auch darauf<br />
zurückzuführen, dass es den überwiegend<br />
jungen Leuten, die sich dort engagierten, an<br />
Praxiswissen fehlte. Brilliante Ideen allein<br />
reichen nach seiner Meinung nicht aus und<br />
der heute häufig von amerikanischen Unternehmen<br />
vorgelebte Trend zu Belegschaften<br />
mit niedrigem Altersdurchschnitt stößt generell<br />
auf sein Misstrauen: „Es gibt eine Statistik,<br />
die belegt, dass in Deutschland in jedem<br />
zweiten Unternehmen kein über 50jähriger<br />
mehr beschäftigt ist.<br />
Das sind die Sünden der Vergangenheit.<br />
Ich frage mich, was die älteren Menschen<br />
machen und ob sie alle schon mit 40<br />
des Arbeitslebens überdrüssig sind. Ich kann<br />
diesen Trend nicht befürworten und steuere<br />
bewusst dagegen.“ Der Vergleich mit den Medizinern<br />
ist für den Mittelständler ein treffendes<br />
Beispiel: „Wenn Sie einen 50jährigen<br />
Internisten und einen Hochschulabgänger<br />
aufsuchen, können Sie sich vorstellen, wer<br />
weniger Probleme bei der Diagnosestellung<br />
hat.“
40 Mittelstandsmeldungen criticón 181 – Frühling 2004<br />
Mittelstandsmeldungen + Mittelstandsmeldungen + Mittel<br />
DIW-Studie warnt<br />
vor Strukturproblemen<br />
der deutschen<br />
Wirtschaft<br />
Breitere Kompetenz statt<br />
technische Abarbeitung<br />
von Bestehendem<br />
Berlin/Düsseldorf – Die aktuelle Studie<br />
‚Deutschlands forschungsintensive Industrien<br />
und wissensorientierte Dienstleistungen:<br />
Außenhandel, Produktion und Beschäftigung’<br />
des deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung<br />
(DIW) hat deutliche Probleme<br />
Deutschlands in der strukturellen Entwicklung<br />
hervor gehoben. Die Industrie fällt demnach<br />
im internationalen Vergleich bei<br />
Spitzentechnologien und hochwertigen Technologiegütern<br />
weiter zurück. Lediglich der<br />
Teilbereich Automobilindustrie sei noch stark<br />
und würde zu einer positiven Bilanz beitragen.<br />
Angesichts des starken Euros und der<br />
zunehmenden Absatzprobleme von VW und<br />
Audi auf dem nordamerikanischen Markt ist<br />
es aber fraglich, ob diese Position noch lange<br />
anhalten kann. Der DIW-Report fordert daher<br />
dringend wettbewerbsfähige Alternativen<br />
zum Automobilbau.<br />
Eine eindeutige Absage erteilt der Report<br />
der Vorstellung, dass die Industrie weitere<br />
Arbeitsplätze in Deutschland schaffen<br />
könne. Die Beschäftigtenzahl im produzierenden<br />
Gewerbe (ohne Baugewerbe) ist kontinuierlich<br />
rückläufig und lag 2003 noch knapp<br />
über 8 Millionen. Nach der DIW-Studie beschäftigt<br />
die Datenverarbeitung rund 6 Millionen<br />
Arbeitnehmer und wird zusammen mit<br />
der Finanz- und Gesundheitsbranche am ehesten<br />
einen Beschäftigungsaufbau ermögli-<br />
chen. Damit verbunden ist aber eine höhere<br />
spezifische Nachfrage nach höherwertigen<br />
Qualifikationen. Die Verfasser der Studie<br />
schließen daraus, dass die Anforderungen an<br />
eine adäquate Bildungs- und Qualifizierungspolitik<br />
zunehmen.<br />
„Was sich aus dem DIW-Report wieder<br />
einmal abzeichnet ist ein Strukturproblem<br />
der deutschen Wirtschaft. Zu lange hat man<br />
sich gerade im internationalen Handel auf<br />
den Export von Industrieerzeugnissen gestützt“,<br />
kritisiert Udo Nadolski, Geschäftsführer<br />
von Harvey Nash, einem Beratungsunternehmen<br />
für Personal-, IT- und Engineering<br />
Services. Der Wandel vom Produktionsstandort<br />
zum Dienstleistungs- und Finanzstandort<br />
laufe hingegen viel zu langsam, besonders<br />
unter Berücksichtigung des rapide zunehmenden<br />
Drucks von Nearshore- und Offshore-Anbietern.<br />
Dazu reiche aber eine Reform der Bildungspolitik,<br />
wie sie Forschungsministerin<br />
Edelgard Bulmahn aus dem Ergebnis der Studie<br />
ableitet, nicht aus.<br />
Dienstleistungsunternehmen, die<br />
transnational arbeiten und internationale<br />
Kunden bedienen, mahnen ein generelles<br />
Umdenken an. „Die Deutschen sind zu stark<br />
auf Sicherheit und Kontinuität aus, nicht so<br />
sehr auf Neues und Veränderung. Die veränderten<br />
weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen<br />
erfordern aber Flexibilität und Kreativität,<br />
den Mut zu neuen Wegen“, so die Erfahrung<br />
von Nadolski, dessen Beratungsunternehmen<br />
in Personalfragen international<br />
operiert. Deutsche Bildungspolitik und deutsche<br />
Unternehmen seien immer noch viel zu<br />
sehr auf technisches Wissen fokussiert und<br />
vernachlässigten Prozesskenntnisse. „Wir<br />
brauchen eine breitere Kompetenz, die nicht<br />
auf Verwaltung und technische Abarbeitung<br />
von Bestehendem ausgerichtet ist, sondern<br />
die Methoden und Instrumente beherrscht,<br />
um neue Märkte und neue Lösungen zu entwickeln“,<br />
fügt Nadolski im Hinblick auf die<br />
Bildungs- und Qualifizierungspolitik hinzu.<br />
+++<br />
Virtueller Größenwahn<br />
–<br />
Accenture und die<br />
„Wertschöpfungsrevolution“<br />
Bonn/Nürnberg – Die Accenture-Manager<br />
Thomas Köhler und Stephan Scholtissek<br />
haben große Pläne mit der öffentlichen<br />
Hand. Sie proklamieren in einem neuen Fachbuch<br />
nichts geringeres als die „dritte Revolution<br />
der Wertschöpfung“(erschienen im Econ-<br />
Verlag). Und zwar durch eine neue, radikale<br />
Form des Outsourcings. Spürbare Effizienzsteigerungen<br />
könnten nur erreicht werden,<br />
wenn die Erfahrungen aus der Fertigung auf<br />
firmeninterne Dienstleistungsprozesse erweitert<br />
würden. Business Process Outsourcing<br />
(BPO) heißt das im Fachjargon. Großkonzerne<br />
nutzen so genannte Innovationspartnerschaften,<br />
indem sie Co-Kompetenzen mit spezialisierten<br />
Unternehmensberatungen aufbauen,<br />
die dann gesamte Kerngeschäftsfunktionen<br />
übernehmen. Das könnten, so die Analyse<br />
der Buchautoren, natürlich nur die ganz<br />
großen Beratungsunternehmen bieten: Zu besichtigen<br />
beim „Vorzeigeprojekt“ von Accenture,<br />
dem virtuellen Arbeitsmarkt der Bundesagentur<br />
für Arbeit (BA), das von dem BA-<br />
Vizechef Heinrich Alt als das „größte informationstechnologische<br />
Projekt“ der Republik<br />
gepriesen wurde. Warum für die Technikrevolution<br />
Mehrkosten in Höhe von 100 Millionen<br />
Euro entstehen, zählt wahrscheinlich für den<br />
BA-Cybermanager Alt zu den ungelösten<br />
Welträtseln seiner Beamtenkarriere. Denn die<br />
von Accenture ausgerufene Wertschöpfungsrevolution<br />
kostet eigentlich nichts. „Unsere Berechnungen<br />
zeigen: Von jedem Euro, den die<br />
Mittelstandsmeldungen + Mittelstandsmeldungen + Mittel
criticón 181 – Frühling 2004 Mittelstandsmeldungen 41<br />
tandsmeldungen + Mittelstandsmeldungen + Mittelstandsm<br />
deutsche Wirtschaft, Bund und Länder für<br />
Dienstleistungs- und Verwaltungsfunktionen<br />
ausgeben, könnten rein rechnerisch 11,6<br />
Cent eingespart werden. Insgesamt entspricht<br />
dies rund 40 Milliarden Euro, ein Potenzial,<br />
das wir als ‚Bruttowertschöpfungsreserve’ bezeichnen“.<br />
So steht es in dem Revolutionsbuch<br />
von Köhler und Scholtissek. Das Ganze<br />
geht sogar noch einen Schritt weiter und<br />
wird die angespannte Stimmung auf den Fluren<br />
der BA-Vorstandsetage sichtlich entspannen.<br />
Der Innovationspartner finanziert die<br />
BPO-Projekte vorab mit eigenen Mitteln, die<br />
er dann im Laufe des Projekts durch Einsparungen<br />
und Effizienzsteigerung wieder hereinholen<br />
müsse. So lautet die Accenture-<br />
Theorie. Die Praxis beschert den virtuellen<br />
Arbeitsmarktarchitekten leider einen handfesten<br />
Skandal. Das Outsourcing-Mantra der<br />
großen Beratungshäuser erweist sich als teure<br />
Luftnummer.<br />
Dass die großen Beratungsunternehmen<br />
wie Accenture, Roland Berger oder<br />
McKinsey sich mittlerweile auf Behörden und<br />
Verbände konzentrieren, ist nach Auffassung<br />
des Düsseldorfer Publizisten Rainer Steppan<br />
kein Zufall. Viele Konzerne hätten sich in<br />
den vergangenen Jahren sämtliche Consultingmoden<br />
gefallen lassen und Strategien gewechselt<br />
wie Unterwäsche. Mittlerweile sei in<br />
der Privatwirtschaft eine regelrechte Berater-<br />
allergie entstanden und Budgets für die klassische<br />
Beratung würden radikal gekürzt. „Also<br />
weichen die Berater auf die öffentliche<br />
Hand aus“, so Steppan. Der schlanke Staat<br />
sei immer noch viel zu fett und schreie geradezu<br />
nach strategisch verordneten Diäten.<br />
„Der öffentliche Sektor hat sich zu einem<br />
attraktiven Markt für die Branche entwickelt,<br />
den die Großen des Geschäfts nun<br />
unter sich aufzuteilen gedenken“, kritisiert<br />
Steppan. Er warnt die Verantwortlichen des<br />
Öffentlichen Dienstes, in eine ähnliche Consultinghörigkeit<br />
zu fallen, wie die Top-Manager<br />
der freien Wirtschaft. „Der Bevölkerung<br />
ist nicht klar, dass jedes der anstehenden politischen<br />
Vorhaben ebenso scheitern kann wie<br />
die Transformationsprozesse der Privatwirtschaft.“<br />
An den tiefgreifenden Reformen, die<br />
auf den deutschen Staat und seine Verwaltungen<br />
zukommen, wollen die Berater genauso<br />
kräftig verdienen wie an der Neuausrichtung<br />
fast aller größeren Konzerne in den<br />
1990er Jahren.<br />
„Es darf nicht sein, dass die Beamten<br />
hilflos mit den Achseln zucken und die Berater<br />
mit geldschweren Taschen von dannen<br />
ziehen, wenn ein öffentliches Projekt im Chaos<br />
endet“, moniert Steppan. Er ermahnt die<br />
Behörden, bei Ausschreibungen sorgfältiger<br />
vorzugehen. Es gäbe eine Vielzahl von kleine-<br />
ren und spezialisierten Consultingfirmen, die<br />
weitaus bessere Leistungen als die Marktführer<br />
erbringen. „Außerdem bieten sie“, unterstreicht<br />
Steppan, „gute Arbeit zu attraktiven<br />
Preisen“.<br />
Für die FAZ-Redakteurin Claudia Bröll<br />
gibt es neben der sinnlosen Verschwendung<br />
von Steuergeldern für die virtuellen Spielchen<br />
der Nürnberger Mammutbehörde auch<br />
noch eine ordnungspolitische Schieflage. Das<br />
Skandalöse an der neuen Affäre der „Agentur“<br />
sei das Projekt selbst. „Mit Hilfe von<br />
zwangsweise erhobenen Beitragsgeldern<br />
dringt eine Behörde in einen gut funktionierenden<br />
Markt ein, auf dem sich Online-Stellenbörsen,<br />
Zeitungen, Zeitschriften und private<br />
Personaldienstleister einen regen Wettbewerb<br />
lieferten. Die ‚Agentur’ verdoppelt<br />
nicht nur Strukturen, die schon längst existieren<br />
und verpulvert hierfür Millionen an<br />
Beitragsgeldern. Unter dem Deckmäntelchen<br />
der Arbeitsmarktpolitik macht sie auch noch<br />
den privaten Anbietern Konkurrenz und verdrängt<br />
sie vom Markt“. So läuft es halt, wenn<br />
der Staat in seiner Planungshysterie alles unter<br />
seine Fittiche nehmen will und dafür<br />
auch noch größenwahnsinnige Beratungsfirmen<br />
als Erfüllungsgehilfen einsetzt.<br />
Mittelstandsmeldungen + Mittelstandsmeldungen + Mittel
42 Bourdeaux - Wein oder Mythos criticón 181 – Frühling 2004<br />
Bordeaux – Wein und Mythos<br />
Die Hafenstadt Bordeaux liegt an der<br />
Garonne und zählt ca. 650.000 Einwohner. Einige<br />
Kilometer nördlich von Bordeaux vereinen<br />
sich Garonne und Dordogne zur Gironde,<br />
die in den Atlantik mündet. Bordeaux ist die<br />
größte Weinbauregion Frankreichs und repräsentiert<br />
mehr Anbaufläche als die gesamte<br />
Rebfläche Deutschlands. Historisch betrachtet<br />
wurde früher mehr Weißwein als Rotwein erzeugt,<br />
dieses kehrte sich in den letzten Jahrzehnten<br />
um.<br />
Klassische Bordeaux-Rotweine sind<br />
Cuvees aus Cabernet Sauvignon, Merlot, Cabernet<br />
Franc und Petit Verdot.<br />
Bei Weißweinen findet man die Sorten<br />
Sauvignon Blanc, den Semillon und Muscadelle.<br />
Insbesondere werden die Weißweintrauben<br />
für den berühmten Süßwein, den Sauternes<br />
und Barsac verwendet.<br />
Mit Bordeaux verbindet man in erster<br />
Linie kräftige, gut strukturierte und füllige<br />
Rotweine mit entsprechender Lagerfähigkeit.<br />
Das Lagerpotenzial kann bis zu 40 Jahren reichen.<br />
Bordeaux-Liebhaber sollten sich gezielt<br />
durch die verschiedenen Appellationen<br />
von Pomerol und St. Emilion bis hin zu Graves<br />
und Medoc trinken, um ihren persönlichen<br />
Stil zu finden. Von einem opulenten Pomerol,<br />
über einen mineralischen nach Tabak<br />
und Kaffee duftenden Graves bis hin zu einem<br />
maskulinen, strengen, tiefgründigen<br />
Pauillac sowie einem filigranen, eleganten<br />
Margaux ergeben sich unabhängig vom Chateau<br />
– und davon gibt es im Bordeaux unzählige<br />
–, regional unterschiedliche Charaktere,<br />
deren Vorzüge man selbst entdecken sollte.<br />
Für Namen wie Cheval Blanc, Chateau<br />
Palmer, Mouton Rothschild, Chateau Margaux,<br />
Lafite Rotschild, Chateau Haut-Brion oder<br />
Chateau Latour geben Kenner ein Vermögen<br />
aus, um bestimmte Jahrgänge im Keller zu<br />
wissen. Zumeist sind diese Weine limitiert<br />
und nur über Subskriptionen (Zuteilungen)<br />
zu ergattern.<br />
HARRY POTTER<br />
GUT ODER BÖSE<br />
Die V. Potterwelle rollt über unsere junge Generation<br />
hinweg. Allenthalben helle Begeisterung. Dabei wäre<br />
kritisches Hinterfragen dringend geboten. Harry Potter<br />
- ein globales Langzeitprojekt - zerstört nämlich das<br />
Unterscheidungsvermögen zwischen Gut und Böse und<br />
reißt die Hemmschwelle zur Magie ein. Die bekannte<br />
Soziologin, Schriftstellerin und Mutter von drei Kindern,<br />
Gabriele Kuby, liefert in diesem Buch eine präzise<br />
Analyse, wie dies geschieht. Ein Denkanstoß für alle,<br />
die sich von einer Massenhysterie nicht manipulieren<br />
lassen wollen und Verantwortung für die nächste<br />
Generation tragen - für Eltern, Lehrer und Erzieher. Das<br />
Buch enthält eine ausführliche, kommentierte Inhaltsangabe von Band<br />
V. Ein mutiges Buch, das sich quer zum Zeitgeist stellt!<br />
GABRIELE KUBY: HARRY POTTER - GUT ODER BÖSE<br />
160 Seiten, 7,80 €, ISBN 3-928929-54-2<br />
Fe-Medienverlag,<br />
Fr.-Wirth-Str. 4,<br />
88353 Kisslegg, Tel. 07563-92006, Fax: 3381<br />
Verwirrend ist nach wie vor die Klassifizierung<br />
aus dem Jahre 1855, die auf den<br />
Auftrag von Napoleon III zurückzuführen ist.<br />
Er forderte eine Klassifikation für die Weine<br />
der Weltausstellung im selbigen Jahr. Ob 1 er<br />
Cru, zweit oder dritt Gewächs, heute wird<br />
diese Klassifizierung grundsätzlich in Frage<br />
gestellt.<br />
Die Entwicklung in der Önologie und<br />
auch der Wechsel des Kellermeisters haben<br />
auf das Niveau der Weine großen Einfluss genommen,<br />
so dass auch von der Klassifizierung<br />
abgeleitet die niederen Gewächse hervorragende<br />
Qualitäten bringen können.<br />
Achten Sie, egal zu welchem Wein Sie<br />
tendieren, auf die Bezeichnung „Mise en bouteilles<br />
au Chateau“ oder „Mise du Chateau“,<br />
welche für die großen und klassifizierten Gewächse<br />
gilt, die auf dem Weingut selbst in<br />
Flaschen gefüllt werden.<br />
Peter Dostmann<br />
Die Autorin:<br />
Gabriele Kuby ist Soziologin,<br />
Schriftstellerin und<br />
Mutter von drei Kindern.<br />
Sie ist Autorin des Bestsellers<br />
Mein Weg zu Ma-<br />
ria - Von der Kraft des lebendigen<br />
Glaubens. Darin<br />
beschreibt sie ihren<br />
Weg der Umkehr von der<br />
Studentenbewegung<br />
über Esoterik und Psychologie<br />
zum katholischen<br />
Glauben.
criticón 181 – Frühling 2004 von Felix Dirsch 43<br />
Konservativer<br />
Skeptiker<br />
von Felix Dirsch<br />
zwischen<br />
Herkunft<br />
und Zukunft<br />
Nein, ein unverdaulicher und schwer<br />
verständlicher Denker ist er nicht. Daran<br />
ändert auch so manches Wortungetüm<br />
nichts („Inkompetenzkompensationskompetenz“),<br />
das sich in seinen Schriften findet.<br />
Hat der Leser erst einmal den Sinn und den<br />
Inhalt derartiger Formulierungskünste eruiert<br />
und sie gekonnt dechiffriert, so ist seine<br />
Befriedigung darüber um so größer und<br />
er schickt sich an, den Autor zu bewundern,<br />
den er zuvor insgeheim verdammt hat.<br />
Die Rede ist von <strong>Odo</strong> <strong>Marquard</strong>, einem<br />
unverwechselbaren Urgestein in der<br />
philosophischen Landschaft der Gegenwart.<br />
Wie Sokrates sieht er den Defekt in größerem<br />
Maße als die Vollkommenheit, die ohnehin<br />
nur selten anzutreffen ist. Beim Men-<br />
Autorenporträt <strong>Odo</strong> <strong>Marquard</strong><br />
schen sowieso. Das Nichtwissen des Griechen<br />
ist bei dem Philosophen aus der hessischen<br />
Stadt Gießen Inkompetenz. Sie muss<br />
nicht nur gewusst, sondern kompensiert<br />
werden. In diesem Ausgleich liegt die eigentliche<br />
Kompetenz. Es handelt sich dabei<br />
also eher um eine minimalistische Fähigkeit.<br />
Manchem erscheint dies als wenig, ja zu wenig.<br />
Aber muss der menschliche Lebensentwurf<br />
darin liegen, maximalistische Forderungen<br />
und Zielsetzungen zu vertreten oder<br />
anzustreben? <strong>Marquard</strong> verneint dies. Als<br />
bekennender Skeptiker gibt er den<br />
grundsätzlichen Anspruch auf, dass Entscheidungen<br />
von einem sicheren Wissen geleitet<br />
sein müssen; es genüge vielmehr, dass<br />
unsere Handlungen auf wahrscheinlichen<br />
Überlegungen beruhen.<br />
Eine solche Perspektive rückt notwendigerweise<br />
den Menschen in den Mittelpunkt<br />
der Betrachtungen, besonders die<br />
conditio humana. So schwer diese auch zu<br />
bestimmen ist: Die Grenzen menschlichen<br />
Daseins sind evident. Die Geburtenrate dieses<br />
Lebewesens liegt bei hundert Prozent,<br />
ebenso die Höhe seiner Mortalität, wie der<br />
nüchterne Skeptiker feststellt. Dies mag banal<br />
klingen, kann aber zum Ausgangspunkt<br />
einer plausiblen philosophischen Anthropologie<br />
werden, die die Grundsätze der „minima<br />
moralia“ beachtet und dabei hilft, die<br />
Eigenarten der menschlichen Sitten und<br />
Verhaltensweisen, so wie sie sind, also eben<br />
ohne vorgefasste Theorie, herauszufinden.<br />
Wer den Menschen auf diese Weise zum Gegenstand<br />
seiner Erörterungen macht und
44 Konservativer Skeptiker criticón 181 – Frühling 2004<br />
sich somit an die Vorgehensweise der abendländischen<br />
Tradition der Moralistik („mores“:<br />
„Sitten, Anstand“) anlehnt, tut gut<br />
daran, seine Person nicht hinter den eigenen<br />
Vorstellungen zu verstecken.<br />
<strong>Odo</strong> <strong>Marquard</strong> hat daher, was nahe<br />
liegt, sein Leben in einigen seiner Aufsätze<br />
bereitwillig Revue passieren lassen. 1928 im<br />
Pommerschen Stolp geboren, konnte seine<br />
Perspektive schon altersspezifisch kaum<br />
eine andere als die der „skeptischen Generation“<br />
(Helmut Schelsky) sein. Schon in<br />
frühester Jugend lernte er massive politische<br />
Indoktrination auf einer Internatsschule<br />
kennen, weiterhin erfuhr er die tristen<br />
Seiten des jugendlichen Soldatendaseins<br />
(sowie der Kriegsgefangenschaft) als<br />
auch den Schmerz des Verlusts der Heimat.<br />
Übertriebener Optimismus war bereits aufgrund<br />
der frühen Biographie kaum angebracht.<br />
Wende zum Besseren<br />
Der numerus-clausus-bedingte<br />
Zufall bewirkte aber eine unübersehbare<br />
Wende zum Besseren. Nach einem „Schippsemester“,<br />
das dem jungen <strong>Marquard</strong> die<br />
Grundlagen des Bauarbeiterdaseins auf allzu<br />
praktische Weise vermittelte, schrieb er<br />
sich an der Universität Münster ein und<br />
fand dort die lebenslang anhaltende intellektuelle<br />
Prägung. Er verdankte sie fast ausschließlich<br />
einem akademischen Lehrer: Joachim<br />
Ritter. Dabei ging es jedoch nicht nur<br />
um die Anregungen durch einen Universitätsprofessor,<br />
sondern um das geistige Klima<br />
des um ihn herum versammelten Kreises.<br />
Die so genannte „Münstersche Invasion“<br />
machte früh von sich reden. Bald entstanden<br />
beträchtliche Gerüchte über diese Zirkel,<br />
ebenso über das von Ritter geleitete<br />
„Collegium Philosophicum“, in dem Carl<br />
Schmitt seine legendenumwobenen Auftritte<br />
hatte und ausnahmsweise keine „Gespräche<br />
in der Sicherheit des Schweigens“ führte.<br />
Bereits die Heterogenität des<br />
Schülerkreises von Ritter verdeutlicht die<br />
hohe Integrationsfähigkeit und Ausstrahlung<br />
des anerkannten Aristoteles- und Hegelforschers<br />
sowie Ästhetik-Kenners: Wer<br />
könnte sich die Philosophie- und Geistesgeschichte<br />
der Bundesrepublik Deutschlands<br />
seit Mitte der sechziger Jahre ohne Namen<br />
wie <strong>Hermann</strong> Lübbe, Robert Spaemann, Günter<br />
Rohrmoser, Bernhard Willms, Karlfried<br />
Gründer, Günter Bien, Ernst-Wolfgang<br />
Böckenförde, Reinhart K. Maurer oder <strong>Odo</strong><br />
<strong>Marquard</strong> vorstellen? Während mancher Phi-<br />
losoph viel veröffentlicht, aber kaum gelesen<br />
wird, verhält es sich bei Ritter umgekehrt:<br />
Er publizierte aufgrund seiner vielen<br />
Verpflichtungen in der Hochschulverwaltung<br />
sowie wegen der zeitraubenden Vorbereitungen<br />
des ‚Historischen Wörterbuchs der Philosophie‘<br />
(in seiner späteren Zeit) nur relativ<br />
wenige Schriften. Diese fanden aber um so<br />
zahlreichere Rezeptoren.<br />
Gehörte wie <strong>Marquard</strong> zum universitären Kreis der<br />
Ritter-Schule: der große Gegenwartsphilosoph<br />
<strong>Hermann</strong> Lübbe<br />
Was lernten die Angehörigen der<br />
Ritter-Schule? <strong>Hermann</strong> Lübbe brachte den<br />
quintessentiellen Lehrinhalt mit prägnanten<br />
Begriffen auf den Punkt: Es handelte sich<br />
um hochreflektierte Formen von „Antikulturkritik“<br />
oder, positiv ausgedrückt, es wurden<br />
„Lebenstatsachen“ vermittelt. Der Meister<br />
machte das zum Thema seiner Lehrveranstaltungen,<br />
was das Leben der allermeisten<br />
Menschen nachhaltig prägt, ohne<br />
üblicherweise zum Gegenstand des Nachdenkens<br />
zu werden: die vielfältigen Formen der<br />
bürgerlichen Lebensart und Weltanschauung<br />
unter Einschluss ihrer komplexen rechtlichen,<br />
politischen und religiösen Voraussetzungen.<br />
Dass diese Themen das akademische<br />
Publikum nicht zu Beifallsstürmen hinreißen,<br />
ändert nichts an deren fortdauernd<br />
gültiger Relevanz. Dagegen erscheint der<br />
seinerzeit heftig umstrittene Verzicht auf<br />
die Kritik an verfallsgeschichtlichen Kehren<br />
oder an der angeblichen „Verhexung“ der<br />
Moderne durch die anrüchige „Tauschäquivalenz“<br />
aus der Retrospektive überaus plausibel.<br />
Derartige Exaltationen des Denkens,<br />
wie sie von den Antipoden Heidegger und<br />
Adorno vorgetragen wurden, faszinierten in<br />
ihrem eigenartigen Duktus nur kurzzeitig.<br />
Sie thematisierten eher das Außerordentliche<br />
als das Ordentliche, eher die Ausnahme<br />
als die Regel, das Ideale mehr als die Realität,<br />
was durchaus auch als Flucht vom Nahen<br />
in das Ferne gedeutet werden kann.<br />
Einfluss auf den Meister<br />
Auffallend am Lehrer-Schüler-Verhältnis<br />
der Ritter-Schule ist vor allem die<br />
Tatsache, dass der Ältere auf die Jüngeren<br />
hörte. Nicht die vielfältigen Einflüsse, die<br />
Ritter auf die wichtigsten <strong>Marquard</strong>-Themen<br />
(Kompensationsthese, Ästhetiktheorie, Entzweiung<br />
von Herkunft und Zukunft in der<br />
Moderne etc.) ausübte, verdienen besonders<br />
betont zu werden, da sie eher zum Alltag<br />
eines solchen universitären Kreises gehören;<br />
vielmehr ließ sich auch der Schulgründer<br />
anregen: Das führte sogar dazu, dass man<br />
<strong>Marquard</strong> unterstellte, er habe die Kompensationstheorie<br />
dem Meister in den Mund gelegt.<br />
Da der Lehrer einmal eine Zeit lang<br />
in der Türkei weilte, erwarb <strong>Marquard</strong> 1954<br />
bei einem anderen Großen der zeitgenössischen<br />
Philosophie den Doktorgrad: Der angehende<br />
Skeptiker promovierte bei dem bekennenden<br />
Katholiken und Heidegger-<br />
Schüler Max Müller, ohne von dessen Lehrinhalten<br />
viel zu übernehmen. Das Thema<br />
der Arbeit lautete: ,Skeptische Methode im<br />
Hinblick auf Kant‘.<br />
Viele Themen, die <strong>Marquard</strong> im Laufe<br />
der folgenden Jahrzehnte im Rahmen seiner<br />
akademischen Tätigkeit weiterverfolgt hat,<br />
finden sich bereits ansatzweise in dieser<br />
frühen Studie. Dazu zählt etwa die von Hegel<br />
besonders herausgearbeitete Dichotomie<br />
von Herkunft und Zukunft, aus der sowohl<br />
Fortschritts- wie auch Bewahrungsphilosophie<br />
hervorgehen. Ebenso ist das Interesse<br />
an Endlichkeits- und Geschichtsphilosophie<br />
wie an der Ästhetik erkennbar. Im Mittelpunkt<br />
der Arbeit steht jedoch eine Interpretation<br />
Kants, der quasi gegen eine eindeutige<br />
(„fundamentalistische“) Deutung in<br />
Schutz genommen wird. In dieser offenen,<br />
unentschiedenen Hermeneutik bewertet<br />
<strong>Marquard</strong> Kant als Kant und nicht als Fortschrittsphilosophen<br />
(wie Georg Lukács) oder<br />
als Bewahrungsphilosophen (wie Gerhard<br />
Krüger). Der junge Doktorand überträgt seine<br />
Leidenschaft an der Urteilsenthaltsamkeit<br />
auf die Transzendentalphilosophie. Wer<br />
dem Königsberger weder das „Heil“ in der
criticón 181 – Frühling 2004 von Felix Dirsch 45<br />
„klassenlosen Gesellschaft“ noch im „Reich<br />
Gottes“ zuschreibt, braucht sich von ihm<br />
auch nicht enttäuscht abzuwenden und ihn,<br />
direkt oder indirekt, zum Verräter an der eigenen,<br />
der richtigen, Position stempeln. Im<br />
Gegensatz zu seinen beiden genannten prominenten<br />
Interpretationsvorläufern verrät<br />
die Haltung <strong>Marquard</strong>s einen klaren Hang<br />
zur „Entrüstungsabstinenz“. Nachträglich<br />
kann man von einer beachtlichen Leistung<br />
sprechen, wenngleich der Autor vielleicht<br />
manchem Leser noch zu sehr mit Begrifflichkeiten<br />
wie „Kontrollvernunft“, „Tota-<br />
litätsvernunft“ oder „Ding-an-sich-<br />
Vernunft“ hantieren dürfte.<br />
Lebensthema<br />
Obwohl bereits der junge<br />
Philosoph den Ausspruch Senecas<br />
„das Leben ist kurz“ kennt, gehört<br />
es sich für einen Verteidiger der Lebensüblichkeiten,<br />
die akademischen<br />
Gepflogenheiten so weit wie möglich<br />
zu respektieren: „vita brevis“, aber<br />
„habilitatio longa“. Erst 1987 wird<br />
veröffentlicht, was <strong>Marquard</strong> ein<br />
Vierteljahrhundert vorher zu Papier<br />
brachte: Thema des zweiten Buches<br />
ist die Behandlung der Psychoanalyse<br />
als philosophisches Problem. Bereits der<br />
Anfang der Studie spezifiziert mit der An-<br />
nahme des „Surrogates“ des Ästhetischen<br />
ein wichtiges Thema des Erstlingswerkes. Als<br />
Ausgangspunkt seiner Betrachtungen wählt<br />
er einen Satz von Ritter: „Die Verdrängung<br />
fundamentaler Lebensbezüge des Menschen<br />
durch die Versachlichungen der modernen<br />
Welt erzwingt als Ersatzbildung die ästhetische<br />
Subjektivität“. Noch Jahrzehnte später<br />
ruft diese Perspektive, wenngleich im allgemeineren<br />
Rahmen der Frage nach der Relevanz<br />
der Geisteswissenschaften, Debatten<br />
hervor.<br />
Es ist sicherlich nicht untertrieben,<br />
wenn man in diesem Zusammenhang<br />
von einem Lebensthema spricht. Worum<br />
geht es bei diesen Kontroversen?<br />
Spätestens seit Galileo Galileis Versuch,<br />
die Natur ausschließlich mathematisch<br />
zu erklären, wird, zumindest<br />
aus der Retrospektive, ein methodischer<br />
Umbruch erkennbar:<br />
Die notwendigerweise methodisch-experimentelleingeschränkte<br />
Zugangsweise, die darüber<br />
hinaus abstrakt und jederzeit<br />
sowie an jedem Ort wiederholbar<br />
sein muss, ist gezwungen,<br />
kulturelle und geschichtliche<br />
Traditionen soweit wie möglich<br />
auszublenden. Dies bringt einen unübersehbaren<br />
Identitätsverlust, ein Vakuum, mit<br />
sich, das im historischen Kontext auf unterschiedliche<br />
Weise versucht wurde zu füllen.<br />
<strong>Marquard</strong> geht in diesem Kontext, was eher<br />
überrascht, davon aus, dass die Geisteswissenschaften,<br />
entgegen einer weit verbreiteten<br />
Annahme, jünger als die Naturwissenschaften<br />
sind und eine kompensatorische<br />
Rolle einnehmen. Sie sollen Identität stiften,<br />
denn die Naturwissenschaften machen<br />
die Menschen in ihrer jeweiligen Funktion<br />
austauschbar. <strong>Marquard</strong> hat wie Lübbe auf<br />
die orientierungsstiftende Bedeutung der<br />
Geisteswissenschaften hingewiesen. Die<br />
nicht wenigen Kritiker der Kompensationsthese<br />
weisen darauf hin, dass mit dieser<br />
Deutung eine Abwertung verbunden ist, weil<br />
es diesem Wissenschaftszweig dann nur<br />
noch um die Reaktion, die Antwort, gehen<br />
müsste, nicht mehr um die primäre Gestaltung<br />
einer Handlung oder Situation. Revolu-<br />
tionsbefürworter oder –planer können eine<br />
solche Interpretation, was einleuchtend<br />
ist, nicht nachvollziehen.<br />
In der Habilitationsschrift hat <strong>Marquard</strong><br />
vor dem Hintergrund dieser erkenntnisleitenden<br />
Fragestellung die Konvergenz<br />
von transzendentalphilosophischer<br />
Naturphilosophie und Freuds Psychoanalyse<br />
herausgearbeitet. In der<br />
habilitationsadäquat schwierigen Sprache<br />
lautet diese Sichtweise: „Freuds Psychoana-
46 Konservativer Skeptiker criticón 181 – Frühling 2004<br />
lyse wiederholt zentrale Thesen des ‚Depotenzierungsdenkens’<br />
der transzendentalphilosophischen<br />
Naturphilosophie - unter den<br />
Bedingungen der Naturentzauberung“.<br />
Berufung<br />
Nach laufbahnentsprechender<br />
Tätigkeit als Privatdozent und einem eher<br />
kurzen Zwischenspiel als Studiendirektor erfolgte<br />
bereits 1965 die Berufung nach<br />
Gießen, wo <strong>Marquard</strong> Kollege von <strong>Hans</strong> Blumenberg<br />
wird. Entgegen einer eigenen, ironisch<br />
gemeinten Bemerkung bleibt er auch<br />
nach 1968 mehr ordentlicher als ‚unordentlicher’<br />
Professor. Apropos „1968“: <strong>Marquard</strong><br />
wäre nicht <strong>Marquard</strong>, wenn er nicht auch<br />
die erst später so genannte 68er-Bewegung<br />
treffend einordnen könnte: Der Nichtwiderstand<br />
von 1933 gegen die Tyrannei wurde<br />
eine Generation später durch den Widerstand<br />
gegen die Nichttyrannei, also die<br />
Bundesrepublik, nachgeholt - eine Deutung,<br />
die zumindest einen Teil der damit einhergehenden<br />
Skurrilitäten erklärt. <strong>Marquard</strong><br />
hat neben seiner Lehrtätigkeit auch eine<br />
Reihe von wichtigen Ämtern und Mitgliedschaften<br />
inne gehabt, so u.a. zeitweise die<br />
Präsidentschaft der Allgemeinen Gesellschaft<br />
für Philosophie in Deutschland und die Ordentliche<br />
Mitgliedschaft der Deutschen Akademie<br />
für Sprache und Dichtung.<br />
Überblickt man die jahrzehntelange<br />
Lehrtätigkeit (bis zur Emeritierung in den<br />
neunziger Jahren), so fällt die erstaunliche<br />
thematische Kontinuität des Philosophen<br />
auf. Die „Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie“,<br />
so der Titel einer Aufsatzsammlung<br />
aus den siebziger Jahren,<br />
aber auch die kritische Haltung gegenüber<br />
der Metaphysik bleiben. Anders als in einer<br />
eigenen, humorvollen Bemerkung ausgesagt,<br />
hat nicht nur <strong>Marquard</strong>s Bauch, sondern<br />
auch sein Werk einen Ansatz: Er ergibt sich<br />
aus der Zugehörigkeit zu einer breiten, epochenübergreifenden<br />
philosophischen Traditionslinie<br />
skeptischen Denkens. Diese reicht<br />
von der Antike (Pyrrhon von Elis, Sextus<br />
Empiricus) über die frühneuzeitliche Moralistik<br />
(Balthasar Gracián, Montaigne etc.) und<br />
Hume zu Nietzsche, bis hin zu den Usualisten<br />
der Ritter-Schule oder einem herausragenden<br />
angelsächsischen Politiktheoretiker<br />
wie Michael Oakeshott (,Zuversicht und<br />
Skepsis‘).<br />
Vertreter des Habituellen<br />
<strong>Marquard</strong> hat auf die Aktualität<br />
dieses skeptischen Gedankengutes immer<br />
wieder insistiert. In seinen vieldiskutierten,<br />
im Reclam-Verlag erschienenen Aufsatzbänden<br />
aus den achtziger und neunziger Jahren<br />
(,Apologie des Zufälligen‘, ,Abschied vom<br />
Prinzipiellen‘, ,Skepsis und Zustimmung‘)<br />
versucht der Verfasser, seinen Ansatz zu<br />
konkretisieren. Als Vertreter des Habituellen<br />
ist für ihn der Mensch stets mehr durch seine<br />
Gewohnheiten als durch Abweichungen<br />
davon gekennzeichnet, mehr durch das Zufällige<br />
als durch das Geplante.<br />
<strong>Marquard</strong> wird wohl die Möglichkeiten<br />
von Veränderungen nicht unterschätzen.<br />
Er sieht sie aber, relativ betrachtet zum<br />
Vorhandenen, immer als den Teil des<br />
menschlichen Potenzials, der (auch quantitativ,<br />
gemessen an den menschlichen Gesamthandlungen)<br />
geringer zu bewerten ist<br />
als die Üblichkeiten; denn an Totalrevisionen<br />
hindert uns unsere geringe Lebenszeit.<br />
Veränderungen setzten daher die Basis des<br />
Bestehenden voraus. Dies sei anhand eines<br />
einleuchtenden Beispiels begründet: Selbst<br />
die meisten finanziell gut ausgestatteten<br />
Forschungsunternehmen in den Geisteswissenschaften<br />
können selten mehr als 5 Prozent<br />
dem vorhandenen Wissen hinzufügen.<br />
Auch der herausragende Wissenschaftler<br />
weiß, dass er als Zwerg auf den Schultern<br />
von Riesen steht.<br />
Eine umfangreichere Gruppe von<br />
Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen,<br />
von der lediglich Stephen Jay<br />
Gould (Paläontologie), Jacques Monod (Bio-
criticón 181 – Frühling 2004 von Felix Dirsch 47<br />
logie), Anton Zeilinger (Quantenphysik)<br />
oder Richard Rorty (Philosophie) genannt<br />
seien, betont besonders die Rolle der Kontingenz<br />
im menschlichen Leben wie in der<br />
Geschichte. Sie arbeitet, wie <strong>Marquard</strong>, in<br />
unterschiedlichen Argumentationszusammenhängen<br />
die „Illusion Fortschritt“<br />
(Gould) heraus und begründet damit zumindest<br />
indirekt skeptische Vorstellungen gegenüber<br />
einem Modell vom linearen Fortschritt,<br />
wie sie etwa ein moralistischer Autor<br />
wie Balthasar Gracián schon im 17. Jahrhundert<br />
geäußert hat: „Immer war sie (die<br />
Welt, F. D.) schon, wie sie ist, so werden sie<br />
alle vorfinden, und so werden sie alle wieder<br />
verlassen.“<br />
Im Kontext seiner skeptischen Gedankengänge<br />
spielt auch das „Lob des Polytheismus“<br />
und der „Polymythie“ eine<br />
nicht zu unterschätzende Rolle. Der postmoderne<br />
Anstrich ist dabei unverkennbar. <strong>Marquard</strong><br />
hat eine ganz und gar unemphatische<br />
Vorstellung von „Mythos“. In Anlehnung an<br />
Wilhelm Schapp und <strong>Hermann</strong> Lübbe versteht<br />
er darunter die Verstrickung des Menschen<br />
in unterschiedliche Geschichten. Lebenslang<br />
wird dieser von Erzählungen begleitet,<br />
vom Märchenbuch bis zu den vielfältigen<br />
Formen des Klatschs, des Vortrages<br />
oder der Standpauke des Ehepartners.<br />
Ohne Geschichten können Menschen<br />
nicht leben. Gerade das aber scheint gewisse<br />
nachholende Aufklärer zu stören - vielleicht<br />
deshalb, weil diese Perspektive eher banal<br />
anmutet. Geschichten sind ebenso zahlreich<br />
wie „aufklärungsresistent“ (<strong>Hermann</strong> Lübbe).<br />
Da die Geschichte aus zahlreichen solcher<br />
Erzählungen besteht, lässt sich kein<br />
Ziel der Historie ermitteln. Die Kritik sowohl<br />
an der „Monomythie“ als auch am Monotheismus,<br />
der in traditionell religiösen, aber<br />
auch in modern-ideologischen Varianten<br />
auftreten kann, teilt <strong>Marquard</strong> mit einer<br />
Reihe angesehener Wissenschaftler, von denen<br />
jüngst besonders Jan Assmann Aufsehen<br />
erregte. Letztlich werden von diesem<br />
Verdikt die großen Einheitsphilosophien,<br />
von Platon bis Habermas, getroffen. Der<br />
„Polytheist“ hat mehr Wahlmöglichkeiten<br />
als seine Gegner und braucht sich keiner<br />
Weltanschauung, Philosophie oder sonstigen<br />
Meinung vollständig hinzugeben. Die Gewalten<br />
sind für ihn geteilt, was für alle gesellschaftlichen<br />
Bereiche gilt.<br />
Apologie des Bürgers<br />
<strong>Marquard</strong> hat die daraus resultierenden<br />
Folgen in unterschiedlichen Kontex-<br />
ten erörtert. Seine Apologie des Bürgers (in<br />
der Nachfolge Ritters) hat in dieser Ansicht<br />
wesentliche Wurzeln. Die bürgerliche Lebensform<br />
erscheint weder als Fisch noch als<br />
Fleisch. Gerade deshalb mutet sie wenig aufregend<br />
an. Konsequent ist, dass die Liste ihrer<br />
Verächter lang ist. Der ganze „philosophische<br />
Extremismus zwischen den Weltkriegen“<br />
(Norbert Bolz) und dessen etwas weniger<br />
extreme bundesrepublikanische Erben,<br />
die den „Spätkapitalismus“ ins Blickfeld<br />
nehmen, zählen dazu. Was <strong>Marquard</strong> am<br />
„Bürger“ verteidigt, ist die Tatsache, dass er<br />
eine vielfältige politische, gesellschaftliche<br />
und ökonomische Kultur hervorbringt und<br />
verteidigt, die eine Fülle von Möglichkeiten<br />
eröffnet. Nicht jeder kann sie nutzen. Aber<br />
auch diese Option (ob gewollt oder nicht)<br />
wird nicht bestraft. Die Bürgerlichkeit ist<br />
für <strong>Marquard</strong> binär codiert: Sie umfasst immer<br />
Einheitlichkeit und Vielfältigkeit - im<br />
Gegensatz zu den großen Monologen der<br />
Utopien und totalitären Bestrebungen.<br />
Ein anderer thematischer Strang, den<br />
er seit seinen Erstlingsschriften weiter verfolgte,<br />
befasst sich mit den philosophiegeschichtlichen<br />
Entwicklungen in der zweiten<br />
Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ästhetik, Anthropologie<br />
und die Geschichtsphilosophie<br />
setzen sich vor dem Hintergrund weitreichender<br />
geistiger und kultureller Veränderungen<br />
durch. Ihre zunehmende Etablierung<br />
im philosophischen Diskurs der Zeit impliziert<br />
das Bestreben des Menschen, einen<br />
Selbststand zu finden, den er in früheren<br />
Epochen, aufgrund der Konkurrenz mit dem<br />
Göttlichen, nicht besaß.<br />
Man kann aus diesen Tendenzen,<br />
ebenso aus den Anfängen der Religionsphilosophie<br />
im frühen 19. Jahrhundert, Emanzipationsbestrebungen,<br />
aber auch die Suche<br />
nach Entlastung herauslesen: Gott fällt als<br />
Instanz, die gerechtfertigt werden muss, zunehmend<br />
aus. An seine Stelle rückt der<br />
Mensch, der deshalb aber auch immer mehr<br />
sein Handeln legitimieren muss. Schnell<br />
sitzt er auf der (nicht nur philosophischen!)<br />
Anklagebank. Es bedarf daher einer Möglichkeit,<br />
den Menschen selbst zu enttribunalisieren.<br />
<strong>Marquard</strong> hat mit diesen Gedankengängen<br />
auch die Kehrseite dessen aufgezeigt,<br />
was gern ohne nähere Umstände als<br />
Befreiung ausgegeben wird. Die moderne,<br />
nüchterne Rationalität führt notwendig zur<br />
„Entzauberung“ der Welt. Was braucht man<br />
deshalb als Entlastung? Es entsteht die<br />
Ästhetik, die Mittel zur Wiederverzauberung<br />
an die Hand geben soll. Was gern als Aktion<br />
begriffen wird, entpuppt sich bei näherem<br />
Hinsehen als Antwort. Er gibt auf diese Weise<br />
eine eigenartige, aber nichtsdestoweniger<br />
faszinierende philosophische Erklärung der<br />
von einem Historiker als „Sattelzeit“ bezeichneten<br />
Epoche.<br />
<strong>Marquard</strong> hat neben diesen selbstständigen<br />
philosophiegeschichtlichen Deutungen<br />
auch seine kulturphilosophischen<br />
Vorstellungen offen ausgesprochen. Er nennt<br />
sich einen „Modernitätstraditionalisten“. Damit<br />
ist mehr als ein bloßes Wortspiel gemeint.<br />
Hinter diesem Ausdruck finden sich<br />
die für den Menschen wesentlichen „Zeit-<br />
Verhältnisse“ (<strong>Hermann</strong> Lübbe). Nicht zufällig<br />
ist er auch mit diesen Ansichten im Gegenwartsdiskurs<br />
von maßgeblicher Seite rezipiert.<br />
Man lese lediglich das Vorwort des<br />
einflussreichen, auf mehrere Bände angelegten<br />
Werkes von Henning Ottmann über die<br />
,Geschichte des politischen Denkens‘ von<br />
den Griechen bis zur Gegenwart.<br />
„Modernitätstraditionalist“<br />
Was ist unter einem „Modernitätstraditionalisten“<br />
zu verstehen? Jede Moderne<br />
wird einmal zur Tradition, wie auch umgekehrt<br />
mancherlei Tradition wieder modern<br />
werden kann. Der Mensch braucht beides,<br />
Zukunft wie Herkunft, Fortschritt wie Tradition.<br />
Vielerlei Arten von Moderne wollen ihre<br />
Modernität bewahren. Wie erreichen sie<br />
das? Ein Beispiel hierfür ist die bleibend<br />
einflussreiche Literatur um 1900. Die Werke<br />
von Schriftstellern wie Thomas Mann, Hugo<br />
von Hofmannsthal oder Rainer Maria Rilke<br />
mutieren zur Klassizität. Das Wort „klassische<br />
Moderne“ soll das Altern jener Bücher<br />
verhindern und die bleibende Aktualität<br />
dieser Bestände sichern.<br />
Man kann diese Zusammenhänge<br />
auch im erweiterten Kontext der europäischen<br />
Geschichte aufzeigen: Ein grundlegendes<br />
Lebensgefühl der Moderne lautet: Die<br />
Moderne ist zu wenig modern. Politische<br />
Modernität, zu einem wesentlichen Teil in<br />
den neuzeitlichen Revolutionen verwirklicht,<br />
wurde oft durch die Hypermoderne<br />
desavouiert. Auf die bürgerliche Revolution<br />
in Frankreich folgte die Zeit der Jakobinerherrschaft.<br />
1789 wurde von 1793 überholt.<br />
Napoleons Kaiserkrönung endlich wollte die<br />
Errungenschaften der Umwälzungen verstetigen.<br />
Strukturanalogien in einem anderen<br />
sozialen Umfeld bot das frühe 20. Jahrhundert<br />
in Russland. Der Terror der Bolschewiki<br />
wollte die Revolution der Menschewiki an<br />
Radikalität überholen. Auch hier kommt es
48 Konservativer Skeptiker criticón 181 – Frühling 2004<br />
zu einem lang dauernden Versuch der Revolutionsbewahrung.<br />
Am Ende der sowjetischen<br />
Herrschaft steht in einer radikalen<br />
Dialektik von Fortschritt und Fortschrittskonservierung<br />
in Permanenz die Gerontokratie.<br />
Die Rezipienten das „Modernitätskonservatismus“<br />
(Ottmann) sehen diesen<br />
Begriff wenig spektakulär. Sie wollen aus<br />
der Geschichte des politischen Denkens die<br />
Voraussetzungen der Freiheit eruieren, da<br />
diese sich nicht selbst begründet.<br />
Zukunft braucht Herkunft<br />
Die letzten gut 20 Jahre haben aus<br />
dem Skeptiker folgerichtig einen Konservativen<br />
gemacht. Diese Bezeichnung hat für<br />
<strong>Marquard</strong> nichts mit einer doktrinären Auffassung<br />
zu tun. Er weiß, dass jedes Bestehende<br />
und jede Tradition irgendwann einmal<br />
zum Neuesten gehört hat. Ebenso ist ihm<br />
die Notwendigkeit der Wandlungsbeschleunigung<br />
bekannt, die jedoch vom Menschen als<br />
„Wesen der Langsamkeit“ bewältigt werden<br />
muss. Somit ist die Wirklichkeit häufig, bevor<br />
sie angeeignet werden kann, schon wieder<br />
Nichtwirklichkeit, was für <strong>Marquard</strong><br />
nichts anderes bedeutet als den Hinweis auf<br />
die Gefahren der Desorientierung. Der Fortschritt<br />
bringt eine “tachogene Weltfremdheit“<br />
mit sich.<br />
Schon das Kind muss damit fertig<br />
werden, wobei es sich bei der Bewältigung<br />
leichter tut: Es nimmt seinen Teddy mit, um<br />
von gestern über heute nach morgen zu<br />
kommen. Derartige Erörterungen sind alles<br />
andere als weltfremd oder abstrakt. Der<br />
Käufer teurer Software – und wer ist das<br />
heute nicht? – kann die leidvolle Erfahrung<br />
machen, dass das imprägnierte Datum einer<br />
Neuerscheinung letztlich schon wieder sein<br />
Verfallsdatum angibt.<br />
Für <strong>Marquard</strong> stellt sich nun aber<br />
in diesem Zusammenhang die Frage: Wie<br />
reagiert der alte Adam auf diese neuen Herausforderungen?<br />
Er will Entlastung und entwickelt<br />
entsprechende Strategien. Die Informationsüberflutung<br />
fördert die Zunahme<br />
von Sekundär- statt Primärerfahrung. Oralität<br />
ersetzt Textualität. Man lässt sich einfach<br />
erzählen, welche neue Literatur erschienen<br />
ist. Man reist zu Tagungen, um zu<br />
hören, was man nicht mehr lesen kann. Das<br />
Mittelbare substituiert immer mehr das Unmittelbare.<br />
Es entsteht eine breite Kultur<br />
des „Stattdessen“ – und <strong>Marquard</strong> ist mutig<br />
genug, die Konsequenzen daraus zu ziehen<br />
und die Illusion der absoluten Vervollkommnungsfähigkeit<br />
des Menschen aufzugeben!<br />
Für ihn gilt unbestritten: „Zukunft<br />
braucht Herkunft!“ Dieses Motto (überliefert<br />
durch <strong>Marquard</strong>s Doktorvater Max Müller!)<br />
stammt auch aus dem Mund Martin Heideggers,<br />
der es dann aussprach, wenn er nach<br />
ausgedehnten Wanderungen eine Kapelle betrat,<br />
um sich mit Weihwasser zu bekreuzigen,<br />
obwohl er den überlieferten Glauben<br />
schon lange vorher abgelegt hatte. Das Wissen<br />
um seine Sterblichkeit wirft den Menschen<br />
immer auf seine Herkunft zurück, da<br />
die Kontingenz seines Daseins nirgendwo so<br />
offenkundig wird wie am Anfang und (durch<br />
seine Kenntnis vorweggenommen!) am<br />
Schluss seines Lebens.<br />
Humorvoller „Geheimtipp“<br />
deutscher Philosophie<br />
Was ist über das „<strong>Marquard</strong>-Gespräch“<br />
der Gegenwart festzustellen? Es<br />
muss sich um einen bedeutenden Autor<br />
handeln, wenn Intellektuelle unterschiedlicher<br />
Couleur die Relevanz seines philosophischen<br />
Gedankengutes für einen zeitgemäßen,<br />
zukunftsfähigen Konservatismus<br />
hervorheben. So hat sich eine Gruppe jüngerer<br />
Sterne am Philosophenhimmel dafür ausgesprochen,<br />
– exemplarisch seien hier<br />
Volker Steenblock und <strong>Marquard</strong>s Schüler<br />
Franz-Josef Wetz genannt – lieber <strong>Marquard</strong><br />
und Lübbe als die früher hymnisch verehrten<br />
Habermas, Apel oder Popper zu rezipieren.<br />
Leider ist die Endlichkeit in Leben<br />
und Werk derzeit nicht nur ein theoretisches<br />
Thema des vielfach geehrten Philosophen.<br />
Vor einigen Jahren erlitt <strong>Marquard</strong> einen<br />
Schlaganfall. Seitdem befindet er sich<br />
in der Genesungsphase, die von gelegentlichen<br />
Vorträgen unterbrochen wird.<br />
Ein Aspekt darf bei einem <strong>Marquard</strong>-Porträt<br />
nicht unerwähnt bleiben: der<br />
besondere Grund, warum er als (nicht mehr<br />
neuer!) Geheimtipp der deutschen Philosophie<br />
gilt. Gewiss gibt es in Deutschland viele<br />
kluge Köpfe auch in diesem Bereich. Aber<br />
es existiert kein Vertreter dieser Disziplin<br />
(hier ist der sonst verpönte Superlativ ausnahmsweise<br />
angebracht!), der auch nur<br />
annähernd so humorvoll schreibt wie <strong>Marquard</strong>.<br />
Egal, ob es sich um die Begründung<br />
handelt, warum und wie er zum Langschläfer<br />
wurde oder um die Zurückweisung von<br />
Habermas’ Einwänden bei gleichzeitiger Beschreibung<br />
seines eigenen Ansatzes als „ohne-ihn-Philosophie“<br />
(gemeint ist mit „ihn“<br />
Habermas selbst!); egal, ob es um das Glück<br />
des seit einigen Jahren altersbedingt wiedererlangten<br />
Status des (allerdings gut dotierten!)<br />
„Privatdozenten“ geht oder die Ironisierung<br />
der Düsseldorfer kapitolinischen<br />
Jense (gemeint ist Walter Jens!) in Anspielung<br />
auf die kapitolinischen Gänse: <strong>Marquard</strong><br />
ist in besonderer Weise ein Lesevergnügen<br />
und steht darin Vicco von Bülow,<br />
besser als Loriot bekannt, auf den er zu<br />
dessen siebzigsten Geburtstag eine Laudatio<br />
verfasste, in nichts nach.<br />
<strong>Marquard</strong>-Mini-Bibliographie zu Maxi-Themen:<br />
Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1973<br />
Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart (Reclam) 1981<br />
Apologie des Zufälligen, Stuttgart (Reclam) 1986<br />
Aesthetica und Anaesthetica, München (Fink) 1989<br />
Skepsis und Zustimmung, Stuttgart (Reclam) 1994<br />
Glück im Unglück, München (Fink) 1995<br />
Philosophie des Stattdessen, Stuttgart (Reclam) 2000<br />
Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays, Stuttgart (Reclam) 2003
criticón 181 – Frühling 2004 Jahresregister 2003 49<br />
criticón criticón 33. Jahrgang – 2003 – Nr. 177-180<br />
AUFSÄTZE:<br />
• BAADER, Roland:<br />
Papiergeldzauber<br />
und die Verirrungen<br />
der „Gesellschaftsingenieure“;<br />
180, 19<br />
• BAADER, Roland:<br />
Voodoo-Ökonomie;<br />
178/179, 24<br />
• BRAUN, Isabel:<br />
Herbststaffel der<br />
„Zeitgespräche mit<br />
Prominenten“ 2003:<br />
Wie kommt<br />
Deutschland aus der<br />
Krise?;<br />
180, 27<br />
• BÜHLER, Bernd<br />
Oliver:<br />
Deutschland und<br />
Europa – Wegweiser<br />
für die Zukunft?;<br />
178/179, 43<br />
• GÄRTNER, Edgar:<br />
Windräder, Demokratie<br />
und Wirtschaftskrieg;<br />
178/179, 51<br />
• GEPPERT,<br />
Dominik:<br />
Die Thatcher-Revolution.<br />
Vorbild für<br />
Deutschland?;<br />
180, 12<br />
• HAMER, Eberhard:<br />
Was machen wir,<br />
wenn die Krise<br />
kommt?;<br />
177, 34<br />
• HANKEL, Wilhelm:<br />
Warum die „Agenda<br />
2010“ zu kurz<br />
greift. Ein Fünf-<br />
Punkte Programm<br />
zur Überwindung<br />
der deutschen<br />
Krankheit;<br />
178/179, 27<br />
• HÖFER, Max:<br />
Keine Angst vor Eigenvorsorge;<br />
178/179, 37<br />
• HORX, Matthias:<br />
Der Mittelstand<br />
muss raus aus der<br />
Mitte;<br />
177, 32<br />
• LANGE, Ansgar:<br />
„Amerika ist überall“;<br />
177, 22<br />
• LANGE, Ansgar:<br />
Konservativ 2003.<br />
Ein Plädoyer für das<br />
Ende bürgerlicher<br />
Feigheit;<br />
178/179, 53<br />
• LANGE, Ansgar:<br />
Ein Leben wider den<br />
Zeitgeist. Nachruf<br />
auf Armin Mohler;<br />
178/179, 72<br />
• LINDENBERG,<br />
Andreas:<br />
Was kommt nach<br />
der New Economy?;<br />
178/179, 49<br />
• MATTHES, Axel:<br />
Gehorsame und<br />
Wagnisse IX;<br />
177, 46<br />
• MATTHES, Axel:<br />
Gehorsame und<br />
Wagnisse X;<br />
178/179, 69<br />
• MAXEINER, Dirk<br />
und Michael Miersch:<br />
Deutschland allein<br />
zuhaus’,<br />
178/179, 47<br />
• MIRBACH, Horst:<br />
Der Fall Babcock<br />
Borsig. „Rheinische<br />
Verstrickungen“ und<br />
die Moral der Manager;<br />
177, 20<br />
• MIRBACH, Horst:<br />
Deutschland im<br />
Dickicht von Regelungen<br />
und Gehorsamsverlangen.<br />
Ein<br />
Plädoyer für mehr<br />
Grundgesetztreue<br />
von Politik und Justiz;<br />
1778/179, 31<br />
• MIRBACH, Horst:<br />
Nachhaltige Berufsbildung.<br />
Konzept<br />
für eine Neuordnung<br />
der Berufsbildung;<br />
180, 34<br />
• MÖLLER, Horst:<br />
Vergeudung von<br />
Steuergeldern in<br />
Milliardenhöhe für<br />
Umschulungsmaßnahmen;<br />
180, 37<br />
• OHOVEN, Mario:<br />
Reformen dulden<br />
keinen Aufschub.<br />
Flexibilisierung des<br />
Arbeitsmarktes und<br />
Umbau des Sozialsystems<br />
als Wachstumsmotoren<br />
für<br />
den Mittelstand;<br />
178/179, 35<br />
• RADNITZKY,<br />
Gerard:<br />
Arbeits-„Markt“ und<br />
Gewerkschaft;<br />
177, 25<br />
• SCHÖN, Max:<br />
Für mehr privates<br />
Bildungsunternehmertum<br />
in Deutschland!;<br />
178/179, 40<br />
• SOHN, Gunnar:<br />
Countdown für das<br />
DSD-Müllmonopol.<br />
Wirtschaft und Kartellamt<br />
wollen mehr<br />
Wettbewerb;<br />
177, 40<br />
• SOHN, Gunnar:<br />
Nachfragekartell des<br />
Grünen Punktes<br />
gerät ins Wanken;<br />
180, 39<br />
• SOHN, Gunnar:<br />
wolfcraft-Modell für<br />
eine Soziale Betriebswirtschaft;<br />
180, 30<br />
• WARRAQ, Ibn:<br />
Warum ich kein<br />
Muslim bin (exklusiver<br />
Vorabdruck);<br />
178/179, 67<br />
• WOLFF, Robert:<br />
Freiheit, soziale Sicherheit<br />
und Wohlstand<br />
– bald nur<br />
noch eine Utopie;<br />
177, 31<br />
PORTRÄTS:<br />
• HERMANN LÜBBE:<br />
Konservativer Denker<br />
der Zivilisationsdynamik<br />
(Felix<br />
Dirsch);<br />
178/179, 61<br />
• MARIO OHOVEN:<br />
Die Stimme des Mittelstandes<br />
(Gunnar<br />
Sohn);<br />
177, 29<br />
• LUDWIG VON<br />
MISES:<br />
Leidenschaftlicher<br />
Denker gegen den<br />
allmächtigen Staat.<br />
Zum 30. Todestag<br />
Ludwig von Mises’<br />
(Guido Hülsmann);<br />
180, 23<br />
INTERVIEWS:<br />
• HARBULOT, Christian:<br />
Informationen<br />
als Waffe. Mit List<br />
und Tücke gegen<br />
die europäische<br />
„Schafsethik“;<br />
177, 15<br />
• HELLWIG, Martin:<br />
Dirigistisches Überwachungsdenken<br />
behindert Konkurrenz<br />
des Grünen<br />
Punktes;<br />
178/179, 57<br />
• RAFFELHÜSCHEN,<br />
Bernd: „Wir müssen<br />
jetzt handeln“;<br />
178/179, 38<br />
• STARBATTY, Joachim:<br />
Das Maultaschenprinzip<br />
und<br />
die Logik der Umverteilung.<br />
„Agenda<br />
2010 nur eine Notoperation“;<br />
178/179, 17<br />
BUCHBE-<br />
SPRECHUNGEN:<br />
• BERNHOLZ, Peter:<br />
Monetary Regimes<br />
and Inflation. History,<br />
Economis and<br />
Political Relationships<br />
(Gerard Radnitzky);<br />
180, 52<br />
• BUCKLEY, William<br />
F. Jr.:<br />
Getting it Right. A<br />
Novel (Till Kinzel);<br />
178/179, 75<br />
• COLE, Benjamin<br />
Mark:<br />
Die Rattenfänger<br />
der Wall Street -<br />
Wie Analysten die<br />
Börsenwelt manipulieren<br />
(Gunnar<br />
Sohn);<br />
178/179, 78<br />
• CULIANU,<br />
Ioan Petru:<br />
Eros und Magie in<br />
der Renaissance (Till<br />
Kinzel);<br />
177, 53
50 Jahresregister 2003 criticón 181 – Frühling 2004<br />
• Educating the Prince.<br />
Essays in Honor<br />
of Harvey Mansfield.<br />
Hg. von Mark Blitz<br />
und William Kristol<br />
(Till Kinzel);<br />
180, 56<br />
• FUKUYAMA,<br />
Francis:<br />
Das Ende des Menschen<br />
(Edgar Gärtner);<br />
177, 54<br />
• GAULAND,<br />
Alexander:<br />
Anleitung zum Konservativsein.<br />
Zur Geschichte<br />
eines Wortes<br />
(Ansgar Lange);<br />
177, 54<br />
• GEPPERT,<br />
Dominik:<br />
Die Ära Adenauer<br />
(Ansgar Lange);<br />
180, 48<br />
• GNOLI, Antonio<br />
und Franco Volpi:<br />
Die kommenden Titanen.<br />
Gespräche mit<br />
Ernst Jünger (Volker<br />
Strebel);<br />
180, 58<br />
• HENNECKE,<br />
<strong>Hans</strong> Jörg:<br />
Die dritte Republik.<br />
Aufbruch und<br />
Ernüchterung (Ansgar<br />
Lange);<br />
180, 48<br />
• HOMES,<br />
Alexander Markus:<br />
Von der Mutter missbraucht<br />
(Karin<br />
Jäckel);<br />
178/179, 76<br />
• JÄGER, Wolfgang:<br />
Wer regiert die Deutschen?Innenansichten<br />
der Parteiendemokratie<br />
(Ansgar<br />
Lange);<br />
180, 48<br />
• LANGGUTH, Gerd:<br />
Mythos `68. Die Gewaltphilosophie<br />
von<br />
Rudi Dutschke (Felix<br />
Dirsch);<br />
177, 51<br />
• NAWRATIL, Heinz:<br />
Der Kult mit der<br />
Schuld. Geschichte<br />
im Unterbewusstsein<br />
(Holger von Dobeneck);<br />
177, 55<br />
• ROTHER, Andreas:<br />
Unternehmensphilosophie<br />
in Textbausteinen<br />
(Ansgar Lange);<br />
180, 53<br />
• SCHRÖDER,<br />
Joachim:<br />
Die U-Boote des Kaisers<br />
(Astrid Mannes);<br />
177, 58<br />
• STEPPAN, Rainer:<br />
Versager im Dreiteiler<br />
– Wie Unternehmensberater<br />
die Wirtschaft<br />
ruinieren<br />
(Gunnar Sohn);<br />
180, 54<br />
• STÖVER, Bernd:<br />
Die Bundesrepublik<br />
Deutschland (Ansgar<br />
Lange);<br />
180, 48<br />
• ULFKOTTE, Udo:<br />
Der Krieg in unseren<br />
Städten. Wie radikale<br />
Islamisten Deutschland<br />
unterwandern<br />
(Holger von Dobeneck);<br />
178/179, 78<br />
• WEICK, Karl E. und<br />
Kathleen M. Sutcliffe:<br />
Das Unerwartete managen.<br />
Wie Unternehmen<br />
aus Extremsituationen<br />
lernen<br />
(Gunnar Sohn);<br />
177, 57<br />
KOLUMNEN,<br />
GLOSSEN<br />
• BOUILLON, Hardy:<br />
Der Wettbewerb als<br />
Befreiungsinstrument;<br />
178/179, 8<br />
• BOUILLON, Hardy:<br />
Glaubenskriege;<br />
177, 5<br />
• CONAN, Friedrich:<br />
Emails vom Tage, 2.<br />
Folge;<br />
177, 12<br />
• CONAN, Friedrich:<br />
Emails vom Tage, 3.<br />
Folge;<br />
178/179, 15<br />
• CONAN, Friedrich:<br />
Emails vom Tage, 4.<br />
Folge;<br />
180, 46<br />
• CRITILOS REISEN.<br />
Denkwerkstätten<br />
groß und klein (Caspar<br />
von Schrenck-<br />
Notzing);<br />
177, 39<br />
• DOSTMANN, Peter:<br />
Spritzig;<br />
178/179, 73<br />
• DOSTMANN, Peter:<br />
Wein macht Sinn;<br />
177, 45<br />
• GLOGOWSKI,<br />
Erhard:<br />
Klugheitslehre für<br />
Manager. Gracíán und<br />
die Kunst der Karriereplanung;<br />
178/179, 5<br />
• HÜLSMANN,<br />
Guido: Stabilität á la<br />
européenne;<br />
180, 5<br />
• HÜLSMANN,<br />
Guido:<br />
Der Staat muss<br />
schrumpfen, damit<br />
die Bürgergesellschaft<br />
wächst!;<br />
178/179, 4<br />
• LINDENBERG,<br />
Andreas:<br />
Aus der Traum ...;<br />
177, 9<br />
• MAXEINER, Dirk<br />
und Michael Miersch:<br />
Deutscher Volkssport<br />
„Amerikabashing“;<br />
180, 6<br />
• RADDATZ,<br />
<strong>Hans</strong>-Peter:<br />
EccE! Blick auf die<br />
Zeit;<br />
177, 27<br />
• RADDATZ,<br />
<strong>Hans</strong>-Peter:<br />
EccE! Blick auf die<br />
Zeit;<br />
178/179, 60<br />
• RADDATZ,<br />
<strong>Hans</strong>-Peter:<br />
EccE! Blick auf die<br />
Zeit;<br />
180, 33<br />
• RADNITZKY,<br />
Gerard:<br />
Freitod und letzte<br />
Hilfe als philosophisches<br />
Problem;<br />
180, 7<br />
• RUDORF, Reginald:<br />
Der Antiamerikanismus;<br />
177, 7<br />
• SCHNEIDER,<br />
Andreas:<br />
Der Nationalismus<br />
der Linken und das<br />
historische Versagen<br />
der Rechten.<br />
Protagonisten und<br />
Choreographie;<br />
178/179, 10<br />
• SCHÖNING, Falk:<br />
Die Friedens-Tauben;<br />
177, 6<br />
• SCHÖNING, Falk:<br />
Reden wir nicht über<br />
Deutschland. Handeln<br />
wir;<br />
178/179, 9<br />
• SOHN, Gunnar:<br />
Der Irakkrieg und<br />
das folgenlose<br />
Empörungsgelaber<br />
der Medienmaschine;<br />
177, 4<br />
• SOHN, Gunnar:<br />
Hayek, Thatcher und<br />
die Malaise der Konsensdemokratie;<br />
178/179, 6<br />
• SOHN, Gunnar:<br />
Tarifkartell ruiniert<br />
Deutschland;<br />
180, 4<br />
MITTELSTANDS-<br />
MELDUNGEN<br />
• Basel II und die<br />
Bedeutung des Geomarketings.<br />
Der Nutzen<br />
digitaler Landkarten<br />
für Vertrieb<br />
und Marketing;<br />
177, 37<br />
• Bundesrat sieht<br />
Wettbewerbsnachteile<br />
für das deutsche Direktmarketing;<br />
178/179, 56<br />
• Creditreform: Neue<br />
Rekordmarke bei Insolvenzen;<br />
180, 42<br />
• Deutschland<br />
braucht Impulse für<br />
neues Unternehmertum<br />
– „Small-Business-Act“<br />
auf gesamten<br />
Mittelstand ausdehnen;<br />
177, 37<br />
• Die Grenzen der<br />
traditionellen BWL<br />
und der Wert des<br />
Kunden;<br />
180, 43<br />
• Die missachtete<br />
Macht. Mittelstand<br />
im Machtstrudel des<br />
Staates und der<br />
Großkonzerne;<br />
180, 42<br />
• Expertenstreit:<br />
Outsourcing und das<br />
Ende des schlanken<br />
Betriebes;<br />
180, 44<br />
• Gesetzgebung bei<br />
werblichen Telefonanrufen;<br />
178/179, 56<br />
• Interim Manager<br />
stärker gefragt. Manager<br />
auf Zeit nicht<br />
nur „Feuerwehrleute“;<br />
177, 38<br />
• Mikromarketing<br />
statt Massenvermarktung.<br />
Neue Spielregeln<br />
des Wirtschaftslebens;<br />
178/179, 56<br />
• Zwangsmitgliedschaft<br />
verstößt gegen<br />
EU-Recht. Italien<br />
vom EuGH wegen<br />
Handelskammer-<br />
Zwang verurteilt;<br />
177, 38
criticón 181 – Frühling 2004 Neues aus der Bücherwelt 51<br />
Allahs Schleier<br />
<strong>Hans</strong>-Peter Raddatz:<br />
Allahs Schleier – Die Frau im Kampf<br />
der Kulturen<br />
München:<br />
Herbig-Verlag 2004<br />
472 Seiten<br />
34,90 Euro<br />
ISBN 3-7766-2366-7<br />
Der Islamwissenschaftler <strong>Hans</strong>-Peter<br />
Raddatz hat nun den letzten Band seiner Islam-Trilogie<br />
vorgelegt. Nach ‚Von Gott zu Allah?’<br />
und ‚Von Allah zum Terror?’ beschäftigt<br />
er sich in ‚Allahs Schleier – Die Frau im<br />
Kampf der Kulturen’, ebenso umfassend wie<br />
in den beiden anderen Bänden, mit Fragen<br />
der Macht und Gewalt, hier speziell im Hinblick<br />
auf die Frau, die im Westen und Islam<br />
unterschiedlich beantwortet werden.<br />
Da die Geschlechterdifferenz eine<br />
überpolitische Menschheitsfrage ist, spannt<br />
der Autor einen weiten Bogen von der mythischen<br />
Urtrennung bis zum modernen Geschlechtskonsumismus.<br />
Wenngleich er damit<br />
ein enormes intellektuelles Wagnis eingeht,<br />
gelingt es ihm – um das wesentliche Ergebnis<br />
vorwegzunehmen – eine doppelte Einsicht zu<br />
Ein gar nicht so überraschendes<br />
Resultat interkultureller Toleranz:<br />
die Frau als Vehikel<br />
für den männlich<br />
dominierten „Dialog<br />
mit dem Islam“<br />
öffnen. In über weite Strecken geradezu fesselnder<br />
Weise wird dem Leser die Zeitlosigkeit<br />
geschlechtsspezifischer Weltbilder und<br />
zum anderen die offenbar kaum veränderbare<br />
Verbindung zwischen Macht und Masse, Elite<br />
und Volk, sowie – männlicher – Kultur und –<br />
weiblicher – Natur vorgestellt.<br />
Ob in prähistorischen Urhorden, ob in<br />
vorchristlichen bzw. vorislamischen Kulturen<br />
oder ob im Christentum oder Islam selbst –<br />
immer formieren sich männliche Priesteroder<br />
Führungseliten, die rigoros drei Bereiche<br />
besetzen und „verwalten“: das jeweils<br />
machtspendende Gottesbild, den materiellen<br />
Besitz und die weibliche Sexualität. Dabei erfahren<br />
wir allerdings, dass sich im indo-iranischen<br />
und mesopotamischen Kulturkreis zwei<br />
offenbar unterschiedlich formgebende Frauenbilder<br />
entfalteten. Ersterer beruhte auf der<br />
Landwirtschaft und erkannte die Erlösung im<br />
Geiste sowie die Frau eher als Individuum in<br />
der Einehe, während man sich im nomadischen<br />
Stammland des Orients im genealogischen<br />
Fortleben erlöst sah und dabei die Frau<br />
als polygames Teil eines biologischen Kollektivs<br />
zu befruchten hatte.<br />
Auch wenn man einzelnen Wertungen<br />
vielleicht nicht zustimmen mag, zeigt Rad-<br />
datz insgesamt überzeugend, wie sich diese<br />
Kulturwurzeln im Christentum und Islam<br />
fortsetzten und heute mit der – männlich dominierten<br />
– Ideologie eines islamisch besetzten<br />
Multikulturalismus zu einem beklemmend<br />
biologistischen Machtglauben verbinden.<br />
Denn wie der Autor detailliert nachweist, hat<br />
sich der „neue“ Islam unserer Zeit nicht sehr<br />
weit von seiner „alten“, historischen Version,<br />
seinem politischen Herrschaftsideal und repressiven<br />
Frauenbild entfernt.<br />
Indem sich nun allerdings der Westen<br />
mit ungehemmter Zuwanderung und einem<br />
einseitigen „Dialog“ immer weiter den Forderungen<br />
nach Moscheebau, Muezzinruf, Islamunterricht<br />
etc. öffnete, schreitet die authentische<br />
Installation des islamischen Rechtssystems<br />
(Scharia) voran. Er gibt zugleich Elemente<br />
preis, die einst die eigene Kultur<br />
entscheidend prägten: die christlich-humanistische<br />
Individualität, die wissenschaftliche<br />
Objektivität und damit auch die Grundrechte<br />
der Demokratie.<br />
Aus diesem Verlust, der ganz wesentlich<br />
auch durch die bewusstseinsverändernde<br />
Wirkung der modernen Bilderwelt verstärkt<br />
wird, entwickelt Raddatz die These von der<br />
„dritten Ideologie“ des Proislamismus – nach
52 Neues aus der Bücherwelt criticón 181 – Frühling 2004<br />
Sozialismus und Faschismus. Mit einer Fülle<br />
erstaunlicher Beispiele verdeutlicht er die<br />
gnostische, d.h. überpolitische, quasi-religiöse<br />
Dimension dieser Ideologie, die er durch<br />
überzeugende Argumente untermauert. Sowohl<br />
die Kulturkritik als auch die Totalitarismusforschung<br />
und nicht zuletzt die zeitgenössische<br />
Soziologie sind sich in der Beurteilung<br />
des Phänomens einig. Aus einer diktierten<br />
Toleranz für ein politreligiöses System<br />
wie den Islam, der selbst keine nichtislamischen<br />
Systeme toleriert, entwickelt sich in<br />
Europa – zu Lasten aller Frauen – eine Strömung,<br />
die schon jetzt islamische Gewalt<br />
rechtfertigt. Die Öffentlichkeit soll mit der<br />
Doktrin „Islamismus ist nicht gleich Islam“<br />
an der Erkenntnis gehindert werden, dass es<br />
ersteren ohne letzteren nicht geben kann.<br />
Inzwischen entsendet das deutsche<br />
Außenministerium Vertreter zu Konferenzen<br />
mit Terroristen der Hisbollah im Libanon,<br />
lehnt der Leiter des öffentlich finanzierten<br />
Deutschen Orient-Instituts die Reziprozität<br />
westlicher Toleranz für die islamischen Länder<br />
als „Menschenrechtsfundamentalismus“<br />
ab, wertet die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung<br />
die türkisch-radikale Milli<br />
Görüsh, die vom Verfassungsschutz als staatsgefährdend<br />
eingestuft wird, zu einer Gruppe<br />
auf, die „deutliche Tendenzen zu demokratischer<br />
Differenzierung“ entwickelt.<br />
Raddatz’ neues Buch analysiert ein<br />
komplexes Geschehen nachvollziehbar, nämlich<br />
die Entwicklung der westlichen Neo-Islamisten,<br />
zu einer „Elite“, der das Mehrheitsinteresse<br />
gleichgültig ist. Wenn auch zukünftig<br />
islamische Gewalt verständnisvoll interpretiert<br />
und dem Islam keine Forderungen auf<br />
Geltung der Universalen Menschenrechte „zugemutet“<br />
werden, dann müssen wir uns<br />
tatsächlich auf einen „Kampf der Kulturen“<br />
einrichten. Die Debatte um das Kopftuch wird<br />
dabei eine der harmloseren Facetten sein,<br />
wenngleich sie offenbar geeignet ist, den<br />
Kreis zum Mythischen zu schließen: die Besetzung<br />
des Weiblichen durch den männlichen<br />
Machtanspruch, der sich seit Urzeiten<br />
die passenden Gottesbilder selbst schmiedete,<br />
also immer „religionsfrei“ war. Dieses Buch ist<br />
ein großartiges Plädoyer für die Humanität,<br />
es fordert die Gleichberechtigung der Geschlechter,<br />
die Trennung von Staat und Moschee,<br />
somit den Verzicht des Islam auf die<br />
Scharia, ein menschenverachtendes System,<br />
in dem es auch im 21. Jahrhundert noch Körperstrafen<br />
bis hin zur Steinigung gibt und<br />
das Verlassen der Religion verfolgt wird. Es<br />
wendet sich gegen die Macht des Menschen<br />
über den Menschen und ist ein Bekenntnis<br />
zur Demokratie und eine Warnung hinter die<br />
Aufklärung zurückzufallen.<br />
Gerechtigkeit<br />
Caroline David<br />
Der Politikphilosoph Anthony de Jasay<br />
analysiert einen vielschichtigen Begriff<br />
Anthony de Jasay: Justice and its<br />
Surroundings<br />
Indianapolis: Liberty Fund 2002<br />
Pb., 321 Seiten<br />
ISBN 0865979774<br />
Der Autor ist ein ungarischer Aristokrat,<br />
der in Australien Ökonomie studierte,<br />
dann an der Oxford Universität lehrte – was<br />
heißt, dass er direkt aus der fernen Provinz<br />
(man denke an Oscar Wilde’s ‚This world, the<br />
next world, or Australia’) direkt ins „Allerheiligste“<br />
kam –, später Investmentbanker wurde<br />
(da er meinte: „Von einem Professorengehalt<br />
könne er nicht leben“) und schließlich<br />
sich als Privatgelehrter etablierte. Meines Erachtens<br />
ist er der interessanteste Politikphilosoph<br />
des 20. Jahrhunderts. Trotz einer Anzahl<br />
von Büchern ist er keinesfalls allgemein<br />
bekannt, sondern besonders im deutschen<br />
Sprachbereich eher ein Geheimtipp. Wenn ich<br />
ihn mittels einer Etikette charakterisieren<br />
sollte, würde ich „libertarian conventionalist“<br />
wählen: ein Ökonom der Österreichischen<br />
Schule der Ökonomie, jedoch (im Gegensatz<br />
zum Apriorismus der Mises-Anhänger)<br />
mit einer soliden Erkenntnistheorie gestützt<br />
auf David Hume. „Libertarian“, da er<br />
davon ausgeht, dass das Individuum im Prinzip<br />
frei ist, eine bestimmte Handlung auszuführen,<br />
solange es keine gültigen Einwände<br />
gegen diese Art von Handlung gibt, und dass<br />
es der Gegenredner ist, also derjenige, der behauptet,<br />
es gäbe gültige Einwände, der die<br />
Beweislast trägt. „Konventionalist“ in dem<br />
Sinn, dass er eine Sozialordnung, die auf der<br />
Vertragskonvention und Reputation (begründetem<br />
Vertrauen) aufbaut – „Ordered Anarchy“<br />
–, für eine mögliche und attraktive Alternative<br />
zum Staat hält. Jasays Logik ist<br />
einwandfrei, sein Stil meisterhaft.<br />
Der vorliegende Band ist klar strukturiert<br />
und der Titel sagt genau worum es geht.<br />
Die zentralen Essays, die sich mit Gerechtigkeit<br />
befassen, sind umgeben von Essays, welche<br />
die Umwelt von Gerechtigkeit untersuchen,<br />
Topoi die sich bei Diskussionen über<br />
Gerechtigkeit aufdrängen und oft mit Gerech-
criticón 181 – Frühling 2004 Neues aus der Bücherwelt 53<br />
tigkeitsproblemen konfundiert werden. So behandelt<br />
der erste Teil, ‚The Needless State’<br />
den Staat; der zweite Teil befasst sich mit der<br />
Umverteilung und führt damit zum dritten,<br />
dem zentralen Teil mit dem Essay, ‚Justice’.<br />
Ihm folgt der vierte Teil, ‚Socialism’ und der<br />
fünfte ‚Freedom’.<br />
Philosophische Diskussion<br />
Der zentrale Essay gibt eine Explikation<br />
des Begriffs ‚Gerechtigkeit’: Der vieldeutige<br />
und vage Begriff der Umgangssprache und<br />
der Politik soll in bestimmten Bereichen, vor<br />
allem in der politischen Philosophie, durch<br />
einen Begriff ersetzt werden, der ein besseres<br />
intellektuelles Instrument ist. Der umgangssprachliche<br />
Gebrauch von „Gerechtigkeit“ ist<br />
ein Musterbeispiel für den politischen Gebrauch<br />
der Sprache. Er ist so konfus, dass eine<br />
Analyse dieses Begriffs, (des „Explikandums“<br />
wie man es in der Philosophie nennt)<br />
nichts bringen würde. Deshalb nimmt Jasay<br />
die philosophische Diskussion zum Ausgangspunkt.<br />
Den Kern bilden zwei Prinzipien: das<br />
aristotelische „Suum cuique tribuere“ und<br />
„Gleiche Fälle gleich behandeln!“ Das Prinzip<br />
„Jedem nach seinem Verdienst“ wird evoziert,<br />
wenn wir fragen: „Verdient er, was er verdient?“<br />
(Does he deserve what he earns?).<br />
Das Prädikat „x ist gerecht / ungerecht“ wird<br />
ausgesagt von individuellen Handlungen. Die<br />
Verbindung von Handlung und Folgen (Belohnung<br />
oder Sanktionen), von Handlungsfreiheit<br />
und Verantwortung, steht im Vordergrund.<br />
Das Individuum ist verantwortlich für<br />
seine Taten. Der Blick richtet sich also<br />
hauptsächlich in die Vergangenheit.<br />
Suggestivdefinitionen<br />
Das zweite Prinzip führt zur Frage:<br />
was macht zwei Fälle „gleich“? Es wird gezeigt,<br />
dass das Problem darin besteht, die<br />
Kriterien dafür zu legitimieren, dass zwei Fälle<br />
in relevanter Hinsicht gleich sind. Dass<br />
dieses zweite Prinzip für rationale Erwartungen<br />
und Stabilität einer Gesellschaft unentbehrlich<br />
ist, leuchtet sofort ein. Das dem<br />
zentralen Essay vorausgehende Kapitel befasst<br />
sich mit den Verschmutzungen der intellektuellen<br />
Umwelt von „Gerechtigkeit“, mit<br />
Suggestivdefinitionen des Ausdrucks ‚gerecht’.<br />
Vor allem folgende Versuche sind en vogue:<br />
Gerechtigkeit als „Fairness“ (John Rawls), Gerechtigkeit<br />
als Unabweisbarkeit (non-rejectability,<br />
T. M. Scanlon), Gerechtigkeit als Unparteilichkeit<br />
(impartiality, Brian Barry). Allen<br />
ist gemeinsam, dass Gerechtigkeit expliziert<br />
wird als etwas anderes als Gerechtigkeit.<br />
Besonders Rawls’ Theorie erfreut sich großer<br />
Beliebtheit, sogar bei Ökonomen. Warum? Ihr<br />
substantieller Gehalt entspricht dem sozialdemokratischen<br />
Klima (bzw. in den USA dem<br />
amerikanischen Liberalismus – „east-coast“<br />
order „big-government liberals“). An dieser<br />
Stelle greift der Begriff „Gerechtigkeit“ in die<br />
soziale Umwelt ein. Der Ausdruck ‚gerecht’<br />
wird nun ausgesagt, nicht mehr von Handlungen,<br />
sondern von Zuständen. Damit wird<br />
ein völlig anderer Begriff als der ursprüngliche<br />
Begriff der Handlungsgerechtigkeit unterschoben.<br />
Ein bestimmter Zustand einer Gesellschaft<br />
wird als „ungerecht“ bezeichnet,<br />
weil er einem bestimmten, vorgefassten normativen<br />
Ideal nicht entspricht. Der Blick<br />
richtet sich also auf die Zukunft: welchen Zustand<br />
„solidarische“ Gutmenschen herbeiführen<br />
wollen .Die Behauptung, dass dies<br />
im Namen der Gerechtigkeit geschehe, dient<br />
dann dazu, die Forderung nach Veränderungen<br />
zu begründen.<br />
Im Namen der Gerechtigkeit?<br />
Leute, die ihr vorgefasstes Ideal<br />
durchsetzen wollen, können jetzt ihre Aktion<br />
als Beseitigung von Ungerechtigkeiten kamouflieren,<br />
sich als Moralapostel „outen“,<br />
anstatt offen zu erklären, dass sie ihren Willen<br />
anderen aufzwingen wollen. Sie dürfen<br />
nebenher sogar hoffen, die „Akzeptanz“ dieser<br />
anderen zu den sie benachteiligenden Änderungen<br />
zu gewinnen, wenn sie behaupten,<br />
dies geschehe im Namen der Gerechtigkeit.<br />
Mit einer auf dieser holistischen Gerechtigkeitsinterpretation<br />
basierenden Rhetorik wird<br />
die umverteilende Staatstätigkeit als Mittel,<br />
um „Ungerechtigkeiten“ zu beseitigen, dargestellt.<br />
„Ungerechtigkeiten“ zu finden, kostet<br />
den Politikern wenig Mühe. Mit dem Arsenal<br />
an „Ungerechtigkeiten“ befasst sich Kapitel<br />
6, ‚A stocktaking of perversities’. Zu den Perversitäten<br />
gehört auch die Idee eines „Market<br />
Socialism“, einer „sozialistischen Marktwirtschaft“<br />
(Kapitel 14). Die Interventionen des<br />
Staates, die vorgeblich der Beseitigung von<br />
Ungerechtigkeiten dienen, haben meistens<br />
keine guten Folgen. So führen Maßnahmen,<br />
deren erklärte Absicht es ist, Trittbrettfahren<br />
zu verunmöglichen, oft nicht zur Verringerung<br />
des Trittbrettfahrens, sondern im Gegenteil<br />
zu mehr Zwang und auch dazu, an<br />
Stelle der Individuen, die freiwillig beigetragen<br />
haben, nunmehr die Rollen von Trittbrettfahrern<br />
und „Dummen“ durch staatlichen<br />
Zwang festzulegen. Besonders deutlich<br />
ist das in der Demokratie, wo die Majorität,<br />
die Mitglieder der Verliererkoalition dazu<br />
zwingt, Vorhaben mitzufinanzieren, die sie<br />
selbst für wünschenswert hält (Kapitel 2 ‚Taxpayers,<br />
suckers, and free riders’). Der Zusam-<br />
menhang zwischen Trittbrettfahren und dem<br />
Gefangenendilemma liegt auf der Hand. Jasay<br />
zeigt, dass nicht nur bei einem Zweipersonenspiel,<br />
sondern auch bei Mehrpersonenspielen,<br />
der Staat keine notwendige Bedingung<br />
dafür ist, dass eine kooperative Lösung<br />
des Dilemmas zustande kommen kann (Kapitel<br />
3, ‚Prisoners’ Dilemma and the Theory of<br />
the State’). Das ist höchst relevant für das<br />
Problem der so genannten öffentlichen (steuerfinanzierten)<br />
Güter. (Es wäre lohnend, diese<br />
Problematik in Bezug auf die laufende Debatte<br />
um Denkmäler als öffentlicher Güter<br />
[oder öffentliche Übel] durchzuspielen:<br />
Mahnmale für Holocaust, Mahnmale für Vertreibung,<br />
für dieses und Jenes – was man<br />
hier privatisieren, dem Markt überlassen<br />
könnte und sollte, anstatt dem Bürger<br />
zwangsweise Geld aus der Tasche zu ziehen.)<br />
Worthülsen<br />
Die zeitgenössische politische Rhetorik<br />
quasselt oft von „sozialer Gerechtigkeit“,<br />
ohne zu fragen, was macht eine bestimmte<br />
Art von Gerechtigkeit sozial? Gibt es auch eine<br />
Gerechtigkeit, die nicht-sozial ist? Was<br />
macht die so genannte „soziale Gerechtigkeit“<br />
überhaupt zu einer Abart von Gerechtigkeit?<br />
Der Ausdruck erweist sich als Leerformel;<br />
ideologische Pfadfinder beeilen sich,<br />
die Worthülse mit Inhalt ihres Geschmacks zu<br />
füllen. Die modernen Prokrustes und die Robin<br />
Hoods sind hier in ihrem Element, denn<br />
sie wissen, was „gerecht“ ist. Man hört Politiker<br />
sogar von einer „Gerechtigkeitslücke“ faseln.<br />
Soeben forderte der Verdi-Vorsitzende<br />
öffentliche Investitionen auf der Basis einer<br />
„gerechten“ Besteuerung. Kurz, in der pseudomoralischen<br />
Machtpolitik ist „Gerechtigkeit“<br />
ein wichtiges Instrument. Das gilt insbesondere<br />
für die Sozialdemokraten in allen<br />
Parteien. Jasays Buch kann allen denen helfen,<br />
die auf diesem Gebiet klar denken wollen.<br />
Gerard Radnitzky<br />
www.radnitzky.de
54 Neues aus der Bücherwelt criticón 181 – Frühling 2004<br />
Die Vertreibung<br />
aus dem Zeitschriftenparadies<br />
<strong>Hans</strong>-Christof Kraus (Hg.): Konservative<br />
Zeitschriften zwischen Kaiserreich<br />
und Diktatur. Fünf Fallstudien (Studien<br />
und Texte zur Erforschung des Konservatismus,<br />
Band 4). Berlin: Duncker & Humblot<br />
2003, 190 Seiten, 58,- Euro,<br />
ISBN 3-428-11037-4.<br />
Der verstorbene Politikwissenschaftler Theodor<br />
Eschenburg hat die Jahre 1945 bis 1949<br />
als die „Blüteperiode der Zeitschriften“ bezeichnet.<br />
Nach der geistigen Öde des „tausendjährigen<br />
Reiches“ hatten viele Menschen<br />
Hunger nach neuen Ideen. Papier und Bücher<br />
waren knapp. Daher griffen die Leute lieber<br />
zur Zeitschrift. Ungefähr 150 bis 250 kulturpolitische<br />
Zeitschriften existierten bald nach<br />
Kriegsende. Millionen von Exemplaren gingen<br />
durch die Hände einzelner Leser oder ganzer<br />
Lesezirkel. Heutzutage bringt es ein Periodikum<br />
vom Rang des Merkur vielleicht noch auf<br />
3.000 bis 4.000 Exemplare.<br />
Wenn man zu dem Schluss kommt,<br />
dass es heute kaum noch anspruchsvolle kulturpolitische<br />
Zeitschriften gibt, da ihr Geschäft<br />
von den großflächigen Feuilletons der<br />
FAZ und der SZ besorgt wird und viele nicht<br />
mehr bereit sind, längere Zeitschriftentexte<br />
zu lesen, so darf man sich getrost mit historischem<br />
Interesse der Zeitschriftenforschung<br />
zuwenden. In der jüngsten Zeit sind drei interessante<br />
Publikationen über verschiedene<br />
Zeitschriften erschienen, die zwischen Kaiserreich<br />
und Bundesrepublik erschienen sind.<br />
Dieser Sammelband bietet viele Vorteile.<br />
Die seriöse Förderstiftung Konservative<br />
Bildung und Forschung des ehemaligen criticón-Herausgebers<br />
Caspar von Schrenck-Notzing<br />
hat in <strong>Hans</strong>-Christof Kraus einen ausgewiesenen<br />
Kenner des deutschen Konservatismus<br />
als Herausgeber gewonnen. Die übrigen<br />
Autoren (Felix Dirsch, Dieter J. Weiß, Karlheinz<br />
Weißmann und Guido Müller) bringen<br />
neben viel Sympathie für konservatives Ge-<br />
dankengut auch die Fähigkeit mit, Verirrungen<br />
des deutschen Konservatismus z. B. in<br />
der anbrechenden Nazi-Zeit kritisch zu beleuchten.<br />
Alle Aufsätze basieren auf gründlicher<br />
Recherche und stellen wichtige Presseerzeugnisse<br />
wie die Süddeutschen Monatshefte<br />
(Kraus steuert hierzu einen exzellenten Beitrag<br />
bei), das Hochland (der Beitrag von Felix<br />
Dirsch ist äußerst fundiert, leider aber auch<br />
nicht unbedingt „eingängig“ geschrieben),<br />
die Historisch-politischen Blätter und die Gelben<br />
Hefte (Dieter J. Weiß), das Gewissen und<br />
der Ring (Weißmanns Aufsatz ist neben<br />
demjenigen von Kraus der beste dieses Bandes)<br />
und die Europäische Revue (Guido Müller)<br />
dar.<br />
Hier kann nicht auf alle Beiträge eingegangen<br />
werden. Eines machen die Autoren<br />
jedenfalls auf sachlich-nüchterne und umsichtig<br />
argumentierende Art und Weise deutlich:<br />
Moralische Verurteilungen mancher konservativer<br />
Positionen in der Zeit zwischen
criticón 181 – Frühling 2004 Neues aus der Bücherwelt 55<br />
Kaiserreich und „Drittem Reich“ mit dem moralischen<br />
Pathos der bundesrepublikanischen<br />
Wohlstandszöglinge stehen uns nicht zu.<br />
Kraus macht diesen Ansatz in seinem klugen<br />
Vorwort deutlich: Die Ideen und Gedanken<br />
der fünf Fallbeispiele kulturpolitischer Zeitschriften<br />
sind „Reaktionen auf jene säkulare<br />
Krise, die durch den Ersten Weltkrieg in Europa<br />
und besonders im durch den Versailler Vertrag<br />
schwer gedemütigten Deutschland ausgelöst<br />
worden war“.<br />
Moralische und politische Blindheit<br />
fand sich auch zur Genüge auf der linken Seite,<br />
wofür die linksradikale Weltbühne nach<br />
dem Tode Siegfried Jacobsohns ein Beleg ist:<br />
„Dieses philokommunistische Organ hat, indem<br />
es seine eigenen infantilen Ressentiments<br />
(‘Soldaten sind Mörder’) wöchentlich<br />
mit großer Vehemenz publizierte und damit<br />
die entsprechend vehementen Gegenressentiments<br />
mobilisierte, beträchtlich zum Siege<br />
Hitlers beigetragen. Das gilt zumal für ihre<br />
Haltung nach dem Tode des klugen Siegfried<br />
Jacobsohns (1926), an dessen Stelle Carl v.<br />
Ossietzky trat(...), der nicht begriff, was unter<br />
seiner Verantwortung getrieben wurde,<br />
wie sehr diese Art des Kampfes gegen Hitler<br />
dessen Machtergreifung gerade förderte.“<br />
(Winfried Martini)<br />
Seinen Aufsatz über die Süddeutschen<br />
Monatshefte (1904-1936) stellt Kraus unter<br />
die bezeichnende Überschrift ‚Kulturkonservatismus<br />
und Dolchstoßlegende’. Er weist überzeugend<br />
nach, dass sich das zeitweilig sehr<br />
einflussreiche Organ bis Mitte der 20er Jahre<br />
vor allem mit der Frage nach der Schuld am<br />
Kriegsausbruch und den eigentlichen Ursachen<br />
des deutschen Zusammenbruchs im November<br />
1918 beschäftigte. In einem sehr traditionellen<br />
Sinne konservativ-national orientiert,<br />
trat die Zeitschrift nach 1918 für die<br />
Wiederherstellung des Kaiserreiches ein.<br />
Felix Dirsch bescheinigt dem katholischen<br />
Hochland, dass es für den Ausbruch aus<br />
dem katholischen Getto eintrat. Seit Mitte<br />
des 19. Jahrhunderts war katholische Literatur<br />
im deutschen Sprachraum fast ausschließlich<br />
von einem geschlossenen katholischen<br />
Milieu beachtete Unterhaltungs- und Tendenzliteratur.<br />
In der Weimarer Republik entsprach<br />
die Haltung des Hochland derjenigen<br />
des Mehrheitskatholizismus: Carl Muths Zeitschrift<br />
stellte sich zwar auf den Boden der<br />
Republik, trat aber nicht offensiv für sie ein.<br />
Insgesamt betrachtet bedeutete Hitlers<br />
„Machtergreifung“ das Aus oder die geistige<br />
Gleichschaltung der hier untersuchten<br />
Periodika. Auch auf dem Zeitschriftensektor<br />
versetzte Adolf Hitlers nationaler Sozialismus<br />
dem Konservatismus einen Todesstoß, von<br />
dem er sich nach 1945 nie wieder richtig erholen<br />
sollte.<br />
Diese These lässt sich auch durch Michel<br />
Grunewalds vorzüglichen Zeitschriftenband<br />
bestätigen:<br />
Michel Grunewald/<strong>Hans</strong> Manfred<br />
Bock (Hrsg.): Der Europadiskurs in den<br />
deutschen Zeitschriften (1945-1955).<br />
Bern-Berlin-Brüssel-F.a.M.-New York, Oxford-Wien:<br />
Peter Lang Verlag 2001, 472<br />
Seiten, 78,10 Euro, ISBN 3-906758-26-5.<br />
Die meisten der in diesem Sammelband<br />
vorgestellten Zeitschriften hatten ein<br />
eher linkes oder liberales Profil. Die Autoren<br />
halten sich glücklicher Weise nicht an die<br />
Vorgabe, sich auf die Wiedergabe des Europadiskurses<br />
zu beschränken. Der Leser erhält<br />
ebenfalls wichtige Basisinformationen über<br />
die Herausgeber und Autoren sowie die generelle<br />
politische Linie so bedeutender Zeitschriften<br />
wie Aufbau, Ost und West, Der Ruf,<br />
Die Wandlung, Merkur, Die Gegenwart, Frankfurter<br />
Hefte, Der Monat, Neues Abendland<br />
usw.<br />
Zunächst ein paar Anmerkungen zu<br />
den konservativen Blättern. Der Merkur ist<br />
eines der wenigen Organe, das seit den Tagen<br />
der frühen Nachkriegszeit bis heute überlebt<br />
hat. In einem recht kritisch angelegten Beitrag<br />
bescheinigt <strong>Hans</strong> Manfred Bock den Merkur-Autoren<br />
„hohes wissenschaftliches oder<br />
publizistisches Prestige und konservative<br />
Wertorientierung“. Für die geistesaristokratische<br />
Linie des von <strong>Hans</strong> Paeschke herausgegebenen<br />
Merkur stehen u. a. folgende Namen<br />
renommierter Schriftsteller und Publizisten:<br />
Wilhelm E. Süskind, Dolf Sternberger, Helmut<br />
Schelsky, Michael Freund, Ernst Forsthoff,<br />
<strong>Hans</strong> Egon Holthusen. Bock bemängelt allerdings,<br />
dass die Zeitschrift kaum „Vertretern<br />
des parteiendemokratischen Staates“ Platz<br />
geboten habe, dafür aber so genannten „Repräsentanten<br />
der Fundamentalkritik an der<br />
Demokratie wie Winfried Martini und Armin<br />
Mohler“: „Von den führenden Politikern der<br />
frühen Bundesrepublik kam nicht einer in<br />
den Heften des Merkur zu Worte.“ Hierzu<br />
ließe sich anmerken, dass der Stil eines Martini<br />
oder Mohler sicher um einiges brillanter<br />
ausfiel als die gestanzte Prosa unserer bundesrepublikanischen<br />
Berufspolitiker. Bocks<br />
Beitrag über den Merkur gehört, auch wenn<br />
man seine Kritik an der eher konservativen<br />
Ausrichtung der Zeitschrift nicht teilt, zu den<br />
besten und kenntnisreichsten dieses Bandes.<br />
Er sieht den Merkur vor allem in der Tradition<br />
der Europäischen Revue, die (siehe oben) Guido<br />
Müller für den von <strong>Hans</strong>-Christof Kraus<br />
herausgegebenen Zeitschriftenband porträtiert<br />
hat.<br />
Bedenklicher war wohl eher die geistige<br />
Haltung des Neuen Abendlandes. Als ideologische<br />
Pfeiler macht die Historikerin Vanessa<br />
Plichta, welche diese Variante des süddeutschen<br />
Katholizismus porträtiert, Rechristianisierungspläne<br />
und Antikommunismus aus.<br />
Der Nationalsozialismus wurde mit Verweis<br />
auf den Abfall von Gott als eine Art europäisches<br />
Phänomen entsorgt. Gottlosigkeit erkannte<br />
das Neue Abendland sowohl im Nationalsozialismus<br />
als auch im Kommunismus, so<br />
dass „Vergangenheitsbewältigung“ nicht hoch<br />
im Kurs stand. Es galt ja, gegen den gottlosen<br />
Kollektivismus im Osten zu kämpfen. Es<br />
gab Verbindungen zwischen „Neuem Abendland“<br />
und „Abendländischer Akademie“, zu<br />
der prominente C-Politiker wie Richard Jaeger,<br />
Alois Hundhammer, Heinrich von Brentano,<br />
<strong>Hans</strong>-Joachim von Merkatz oder auch Otto<br />
von Habsburg gehörten. Für das Neue<br />
Abendland schrieben u. a. Reinhold Schneider,<br />
Werner Bergengruen, Erik von Kuehnelt-<br />
Leddhin, Erich Franzel und Franz Herre. Vorbilder<br />
waren die autoritären Systeme der iberischen<br />
Halbinsel (Franco und Salazar). Allen<br />
Ernstes sprach man sich für ein europäisches<br />
Kaisertum aus, welches dem Abbau des Nationalismus<br />
dienen könne.<br />
Sehr interessant sind auch die Aufsätze<br />
über den Monat (Thomas Keller) und die<br />
Frankfurter Hefte (Michel Grunewald). Den<br />
Monat auf seine CIA-Finanzierung zu reduzieren,<br />
ist einfach lächerlich. Vielmehr schafften<br />
es so unterschiedliche Autoren wie Melvin<br />
Lasky, Raymond Aron, Arthur Koestler, Richard<br />
Löwenthal, Willy Brandt, Wilhelm Röpke,<br />
Carlo Schmid sowie namhafte ausländische<br />
Schriftsteller bzw. ehemalige deutsche Emigranten,<br />
dem westlichen Deutschland den<br />
Anschluss an die (westliche) Moderne zu ermöglichen.<br />
Im Monat wurde die Literatur und<br />
Ideenwelt wieder zugänglich, die der Autor<br />
von ‚Mein Kampf’ und seine geistlosen Satrapen<br />
für zwölf Jahre in den Giftschrank gesperrt<br />
hatten.<br />
Einen besonders interessanten Forschungsgegenstand<br />
stellen die von Eugen Kogon<br />
und Walter Dirks zwischen 1946 und<br />
1984 herausgegebenen Frankfurter Hefte dar,<br />
die von Anfang an mit großer Überzeugungskraft<br />
für den europäischen Gedanken stritten<br />
und jeglichem Nationalismus eine klare Absa-
56 Neues aus der Bücherwelt criticón 181 – Frühling 2004<br />
ge erteilten. Kogon und Dirks lehnten ähnlich<br />
vehement die konservative Abendlandideologie<br />
wie den Nationalismus der deutschen<br />
Sozialdemokratie unter Kurt Schumacher<br />
ab. Ihre damals vielleicht noch vertretbaren<br />
Vorstellungen von einem Europa als<br />
„Dritte Kraft“ zwischen Ost und West präsentieren<br />
heutzutage ja wieder Konservative wie<br />
Alexander Gauland, die es im Jahr 2003 eigentlich<br />
besser wissen müssten. Angesichts<br />
der wahllosen Aufnahme neuer Mitglieder in<br />
die EU ist fraglich, ob die damaligen Visionen<br />
eines Eugen Kogon nicht immer mehr zur<br />
Utopie werden.<br />
Der junge Publizist und Autor Marko<br />
Martin hat jüngst den Versuch unternommen,<br />
dem Monat Gerechtigkeit widerfahren zu lassen<br />
und ihn erneut ins öffentliche Bewusstsein<br />
zu rücken:<br />
Marko Martin, „Eine Zeitschrift gegen<br />
das Vergessen“. Bundesrepublikanische<br />
Traditionen und Umbrüche im Spiegel<br />
der Kulturzeitschrift Der Monat, F. a.<br />
M.-Berlin-Bern-Brüssel-New York-Oxford-<br />
Wien: Peter Lang Verlag 2003, 106 Seiten,<br />
23,- Euro, ISBN 3-631-51105-1<br />
Zweifelsohne kann Martin gut schreiben<br />
und weiß viel Interessantes über den Monat<br />
zu berichten, nicht zuletzt deshalb, da er<br />
wohl in intensivem Kontakt zu Melvin Lasky,<br />
dem ersten Herausgeber der Zeitschrift und<br />
Organisator des „Kongresses für kulturelle<br />
Freiheit“, stand. Wir wissen nun, dass der<br />
Monat in seiner Glanzzeit den ideologischen<br />
Mief aus der bundesrepublikanischen Geisteswelt<br />
vertrieben hat. Wir erfahren, dass dieses<br />
Blatt mehrheitlich nicht von finsteren Reaktionären<br />
gemacht wurde, die ihre Schecks<br />
von amerikanischen Regierungsbehörden bezogen.<br />
Wir vermissen schmerzlich, dass es eine<br />
ähnlich niveauvolle und mit internationa-<br />
Die Gazelle jagen<br />
Was kleine und mittlere Unternehmen brauchen,<br />
um es mit den Großen aufzunehmen<br />
Stahl, Heinz K. und <strong>Hans</strong> H. Hinterhuber<br />
(Hrsg.):<br />
Erfolgreich im Schatten der Großen<br />
Berlin: Erich Schmidt Verlag 2003<br />
342 Seiten<br />
58,- Euro<br />
ISBN 350307451 1<br />
Die meisten kleinen und mittleren Unternehmen<br />
haben es schwer, Großkonzernen<br />
die Stirn zu bieten. Die beiden an der Universität<br />
Innsbruck tätigen Professoren <strong>Hans</strong> Hinterhuber<br />
und Heinz Stahl proklamieren in<br />
ihrem neuen Fachbuch ‚Erfolgreich im Schatten<br />
der Großen’ einige „Wettbewerbsvorteile<br />
für kleine und mittlere Unternehmen“. Und<br />
zwar aus unterschiedlichen Perspektiven: aus<br />
der Sicht des Unternehmertums, Managers und<br />
Mitarbeiters. Zwischen dem Unternehmer und<br />
dem Manager bestünden allgemeine Unterschiede.<br />
Der Unternehmer handle eher intuitiv<br />
und sei risikobereiter, der Manager hingegen<br />
sei realitätsnah und vorsichtiger. Kleinere und<br />
mittlere Unternehmen bräuchten Führungskräfte,<br />
die beide Typen in sich vereinen.<br />
Die Autoren zeigen auf, wie wichtig<br />
die Kooperationsfähigkeit in und von kleinen<br />
Unternehmen ist und welche Barrieren dabei<br />
zu überwinden sind. Ein Lösungsansatz liegt<br />
im systematischen Coaching – eine spezielle<br />
Beratungsmethode –, mit dem das menschliche<br />
Miteinander in kleinen und mittleren Unternehmen<br />
verbessert werden kann. Es wird<br />
außerdem die Einbettung in internationale<br />
Wertschöpfungsnetzwerke illustriert. Dabei gilt<br />
es, die unternehmerische Rente und den Produktionswert<br />
zwischen den verschiedenen Teilnehmern<br />
am Netzwerk aufzuteilen.<br />
Was Großkonzerne hemmt, sind Bürokratie<br />
und hierarchische Strukturen: Bei<br />
len Autoren bestückte Zeitschrift wie den Monat<br />
in Deutschland nicht mehr gibt. Aber wir<br />
stellen auch fest, dass die deutschen Lektoren<br />
ausgestorben sind. An zwei Stellen liest<br />
man das Wort „Provinienz“, der Monroe-Gatte<br />
Arthur Miller wird zum Erotiker Henry Miller,<br />
Hegel und Fichte werden für den Nationalsozialismus<br />
verantwortlich gemacht und und<br />
und. Das Buch ist voller Rechtschreibfehler,<br />
so dass es ein wenig an eine unkorrigierte<br />
Seminararbeit erinnert. Und irgendwann<br />
nervt es auch, dass Martin seinen Liberalismus<br />
wie eine Monstranz vor sich herträgt.<br />
Marko Martin muss aufpassen, sonst endet er<br />
noch wie die Dogmatiker des westlichen Liberalismus<br />
Hannes Stein und Richard Herzinger,<br />
die nur ein Thema kennen und sich selbst für<br />
völlig ideologiefrei halten.<br />
Ansgar Lange<br />
großen Konzernen gibt es starre Mechanismen,<br />
zum Beispiel bei der Preiskalkulation. Da tut<br />
man sich sehr schwer, wie auch mit einer<br />
schnellen Entscheidung. Heute muss man als<br />
Dienstleister in der Lage sein, kurzfristig zu<br />
handeln. Im Konzern benötigt man hierfür<br />
zeitweise vier oder fünf Abteilungen.<br />
Dass David sich gegen Goliath wirksam<br />
zu behaupten lernt, ist das Anliegen der<br />
Buchautoren Stahl und Hinterhuber. Für die<br />
Unternehmer, die im Schatten der Großen erfolgreich<br />
sind, gilt nach ihrer Ansicht immer<br />
noch ein altpersischer Spruch: „Nicht jeder,<br />
der sich bemüht, kann eine Gazelle erjagen.<br />
Wer eine Gazelle erjagt, der hat sich sicher<br />
bemüht".<br />
Peter Schäfer
criticón 181 – Frühling 2004 Neues aus der Bücherwelt 57<br />
Noch vor dem Zweiten Weltkrieg wendet<br />
sich Gerhard Nebel, geboren im Jahre<br />
1903, an den renommierten Autor Ernst Jünger,<br />
um dessen Meinung über seinen „Versuch<br />
über Ernst Jünger“ einzuholen, der<br />
1939 in dem Essayband ‚Feuer und Wasser‘<br />
erscheinen sollte. Unmissverständlich gibt<br />
der promovierte Altphilologe Nebel seine Verehrung<br />
gegenüber dem acht Jahre älteren<br />
Jünger zu erkennen, die sich im Laufe der<br />
folgenden Jahrzehnte in neuen Formulierungen<br />
wiederholen wird. Vor dem politischen<br />
Hintergrund in Deutschland gewinnt Nebels<br />
Bekenntnis vom Juni 1939 an zusätzlicher<br />
Brisanz: „Ihr Denken hat die erstaunliche Eigenschaft,<br />
entbindend zu sein. Es stammt aus<br />
dem Wohlwollen und nicht aus der Herrschsucht“.<br />
Gerhard Nebels feuriges Temperament<br />
droht ihm in den kommenden Jahren manches<br />
Mal durchzugehen. Bereits während der<br />
NS-Zeit hatte ihm ein Artikel in der Neuen<br />
Rundschau nicht nur Ärger, sondern auch seine<br />
Versetzung als Bausoldat auf eine britische<br />
Kanalinsel eingebracht. Freilich, als es 1951<br />
zum Bruch zwischen Jünger und Nebel gekommen<br />
war, der fast zehn Jahre anhalten<br />
sollte, berichtete Jünger über Nebels lautstarkes<br />
und undiplomatisches Gebaren bereits<br />
während der Pariser Zeit, als beide an den legendären<br />
Georgs-Runden um <strong>Hans</strong> Speidel,<br />
den Stabschef beim Militärbefehlshaber im<br />
besetzten Frankreich teilgenommen hatten.<br />
Und bereits 1940 hatte sich Ernst Jünger gezwungen<br />
gesehen, Nebel zur Mäßigung zu raten,<br />
da ihm über Dritte Nebels unvorsichtige<br />
Äußerungen zugetragen worden waren. Die<br />
auch inhaltlich intensivste Phase dieses<br />
Briefwechsels liegt in den Jahren zwischen<br />
1945 und 1950. Der Krieg war verloren, die<br />
NS-Herrschaft zerschlagen und eine Besat-<br />
Mediterranes<br />
und Nebelbänke<br />
Ernst Jünger – Gerhard Nebel „Briefe<br />
1938-1974“<br />
Herausgegeben, kommentiert und<br />
mit einem Nachwort versehen von Ulrich<br />
Fröschle und Michael Neumann<br />
Stuttgart: Klett-Cotta Verlag 2003<br />
989 Seiten<br />
49,- Euro<br />
ISBN 3608936262<br />
zungsverwaltung hatte unter anderem auch<br />
Ernst Jünger ein Publikationsverbot verhängt,<br />
das erst 1949 aufgehoben worden war.<br />
Es waren schwere Jahre, die nicht zuletzt<br />
auch von massiven materiellen Mängeln gekennzeichnet<br />
waren. Jünger und Nebel waren<br />
sich einig, dass nach Jahren der „Despotie“<br />
die Zeit einer „Nach-Despotie“ angebrochen<br />
ist. Jünger, der sich von den Nazis nicht<br />
ideologisch einverleiben ließ, wollte auch einer<br />
neuen Herrschaft nicht zu Kreuze kriechen.<br />
In diesem Zusammenhang ist eine Episode<br />
bezeichnend, die <strong>Hans</strong> Mayer in seinen<br />
‚Erinnerungen an eine Deutsche Demokratische<br />
Republik‘ – ‚Der Turm von Babel‘ – schildert.<br />
1950 war er in der DDR mit dem umstrittenen<br />
sowjetischen Schriftsteller Ilja Ehrenburg<br />
zusammengetroffen. Ehrenburg vermied<br />
demonstrativ ein Gespräch über<br />
DDR-Schriftsteller, die er nicht zuletzt aufgrund<br />
deren ideologischer Hörigkeit nicht zu<br />
schätzen schien: „Der einzige deutsche Autor,<br />
nach welchem er sich interessiert erkundigte,<br />
war Ernst Jünger“.<br />
Der Briefwechsel streift neben politischer<br />
Polemik immer wieder die Erinnerung<br />
an den Süden. Gemeinsame Reisen werden<br />
geplant, aber nicht verwirklicht. Nebel berichtet<br />
über seine Vortragsreisen und schlaglichtartig<br />
zeichnen sich Intrigen ab, die nicht<br />
zuletzt im Zusammenspiel mit Jüngers jungem<br />
Sekretarius Armin Mohler stattfinden.<br />
Spätestens an dieser Stelle erweist es sich als<br />
Glücksfall, dass die beiden Herausgeber mit<br />
einem soliden Anmerkungsapparat aufwarten.<br />
Zu den aufschlussreichsten Passagen<br />
gehören sicher Ernst Jüngers wiederholte<br />
Hinweise und Erinnerungen an die Vorgänge<br />
des Attentats auf Hitler vom 20. Juli 1944.<br />
So mancher Maulheld, der selbst in unserer<br />
Zeit noch von Verrätern faselt, sollte Ernst<br />
Jüngers Ausführungen lesen, die auch aus<br />
der Distanz der Jahre von emotionaler Aufwühlung<br />
gekennzeichnet sind. Ein Zustand,<br />
der Jünger ansonsten eher fremd war: „Ich<br />
hege zwar vor diesen Männern, die ich zum<br />
großen Teil persönlich kannte, die höchste<br />
Achtung und habe nicht davor zurückgeschreckt,<br />
mich zu gefährden, indem ich ihnen<br />
meine Friedensschrift als außenpolitische<br />
Mitgift zur Verfügung stellte, obwohl ich ihre<br />
Konzeptionen nicht geteilt habe“.<br />
Ernst Jünger macht seit dem 19. Jahrhundert<br />
gesellschaftlich-politische Entwicklungen<br />
aus, die sich dem Angriff auf den geistigen<br />
Menschen verschrieben haben. Das 20.<br />
Jahrhunderte steigerte sich im sprichwörtlich<br />
totalitärem Sinne: „Man muss ebenso unterscheiden<br />
zwischen den Russen und dem Kommunismus,<br />
wie das zwischen den Deutschen<br />
und dem Nationalsozialismus nötig war“. Das<br />
Leben unter der Tyrannis sowie die Frage<br />
nach der Rettung der nationalen Identität<br />
sind nicht die einzigen leidvoll erfahrenen<br />
Berührungspunkte dieser beiden Länder.<br />
Womöglich rührt von daher das ungewöhnliche<br />
Interesse an den Schriften Ernst Jüngers,<br />
das sich im heutigen Russland feststellen lässt.<br />
Volker Strebel
58 Neues aus der Bücherwelt criticón 181 – Frühling 2004<br />
Der Sieger<br />
schreibt<br />
die Geschichte<br />
Hartmuth Becker/Felix Dirsch/Stefan<br />
Winckler (Hrsg.):<br />
Die 68er und ihre Gegner.<br />
Der Widerstand gegen die Kulturrevolution.<br />
Graz: Leopold Stocker 2003<br />
252 Seiten<br />
19,90 Euro<br />
ISBN 3-7020-1005-X<br />
Eigentlich fällt einem zu 1968 nichts<br />
mehr ein. Mit Argumenten ist den ehemaligen<br />
Protestlern, die heute nicht nur Müll und<br />
politische Gesinnungen fein säuberlich trennen,<br />
sondern auch in höchsten Staatsämtern<br />
sitzen, sowieso nicht beizukommen. Sie haben<br />
dieses Land an die Wand gefahren. Politik,<br />
Wirtschaft, Kultur, Bildung, gesellschaftliche<br />
Umgangsformen haben die Rebellen von<br />
einst in weiten Teilen korrumpiert. Darüber<br />
muss man nicht lamentieren. Es gilt, die Lage<br />
nüchtern zu erkennen. Und es bleibt ein<br />
Trost: Auch für die Alt-68er ergibt sich bald<br />
die biologische Lösung in Form von üppigen<br />
Altersversorgungen, die sich diese so geschickte<br />
sowie charakter- und verantwortungslose<br />
Generation gesichert hat. Die ergrauten<br />
und arrivierten Ideologen von 1968<br />
können nicht mehr zur Verantwortung gezogen<br />
werden. Man sollte ihnen allerdings auch<br />
keine Kränze flechten, beispielsweise in der<br />
würdelosen Form, wie die immer noch latent<br />
autoritätshörigen Deutschen den gutmensch-<br />
lichen Herrenmenschen aus dem Auswärtigen<br />
Amt regelmäßig zum beliebtesten deutschen<br />
Politiker küren.<br />
Die ehemaligen 68er haben ihre Geschichte<br />
weitestgehend selbst geschrieben.<br />
Sie haben ohne große Gegenwehr der oft<br />
aufgeschreckt und feige agierenden deutschen<br />
Bürgerlichen und Konservativen die<br />
„Deutungshoheit und Interpretationsmacht<br />
über das damalige Geschehen“ (Rudolf Wassermann)<br />
vollends behauptet. Sie sind die<br />
Sieger der Geschichte, die ihr Schlafmittel<br />
nicht zuletzt in die öffentlich alimentierten<br />
Rundfunk- und Fernsehanstalten gespritzt<br />
haben. An diesem Tatbestand wird auch der<br />
jüngste Sammelband über die 68er und ihre<br />
Gegner nichts ändern. Er ist im dezidiert<br />
konservativen Grazer Leopold Stocker Verlag<br />
erschienen, was befürchten lässt, dass er sowieso<br />
– gleichsam zur eigenen Bestätigung –<br />
nur von den Eingeweihten gelesen werden<br />
wird. Der Mühe der noch relativ jungen Herausgeber<br />
Hartmuth Becker, Felix Dirsch und<br />
Stefan Winckler muss man Respekt zollen.<br />
Insbesondere Till Kinzels Aufsatz über den<br />
‚Bund Freiheit der Wissenschaft’ und Hartmuth<br />
Beckers Porträt des ‚Hessischen Elternvereins’,<br />
der gegen die totalitäre hessische<br />
Schulpolitik der 70er Jahre vorging, sind<br />
äußerst aufschlussreich. Andere Beiträge enttäuschen.<br />
Felix Dirsch weiß nichts Neues zu<br />
berichten über konservative Zeitschriften, die<br />
mutig gegen die Ideen von 1968 zu Felde zogen.<br />
Stefan Winckler reiht Zitat an Zitat, um<br />
die Haltung der Tageszeitung Die Welt ge-<br />
genüber den protestierenden Studenten zu<br />
erforschen. In dieser Zitat-Wüste bleibt die<br />
Analyse auf der Strecke.<br />
Recht ergiebig fällt das Gespräch mit<br />
<strong>Hermann</strong> Lübbe aus, auch wenn man kein<br />
Freund seiner sprachlichen Manierismen ist:<br />
„Die Sozialdemokratie galt als sozial- und bildungspolitisch<br />
bei Fälligkeiten von unzweifelbarer<br />
Dringlichkeit engagiert.“ Gestelzte<br />
Sprache scheint kein Privileg von Habermas &<br />
Co., sondern eher ein Markenzeichen deutscher<br />
Professoren zu sein. Selbst ein kleiner<br />
Redakteur des Trostberger Tagblattes würde<br />
vor einem solchen Satz zurückschrecken. Zur<br />
Bestätigung ein zweiter Lübbe-Satz: „Es lag<br />
in den Konsequenzen meiner universitären<br />
Profession, dass ich in der Sozialdemokratie<br />
primär bildungspolitisch tätig gewesen bin.“<br />
Könnte man nicht einfach folgendes sagen:<br />
„Aufgrund meiner Erfahrungen als Professor<br />
habe ich mich innerhalb der SPD vor allem<br />
bildungspolitisch engagiert.“ Der hier vorgestellte<br />
Sammelband hat also einige starke,<br />
aber auch viele schwache Seiten. Letztlich<br />
bleibt er zu theoretisch (Beitrag von Ulrich E.<br />
Zellenberg) oder geizt mit Tiefgang und Analyse<br />
(Beiträge von Dirsch und Winckler). Die<br />
Gesprächspartner (<strong>Hermann</strong> Lübbe, Klaus<br />
Motschmann, Fritz Schenk) sind alle um die<br />
70 Jahre alt. Was sagen jüngere Intellektuelle<br />
über 1968? Gibt es heute geistige Erben sowohl<br />
der 68er als auch ihrer ideologischen<br />
Gegner?<br />
Ansgar Lange
criticón<br />
Das Blaue Brett<br />
Semantik<br />
Der doppelte Lomborg<br />
Manchmal geht es schnell. Vergangenes<br />
Jahr hat eine „Kommission gegen<br />
wissenschaftliche Unredlichkeit“ dem dänischen<br />
Statistikprofessor Bjørn Lomborg<br />
vorgeworfen, mit seinem Buches ‚Apokalypse<br />
No!’ gegen die Standards guter wissenschaftlicher<br />
Praxis verstoßen zu haben.<br />
Jetzt stellte das dänische Wissen-<br />
Licht aus, Spott an, endlich: Der<br />
Forschungsreaktor FRM II in Garching bei<br />
München hat am 2. März die ersten Neutronen<br />
erzeugt. Wir gratulieren. Vorausgegangen<br />
war ein über zehn Jahre langer<br />
bürokratischer Hindernislauf. Besonders<br />
die Grünen haben sich um das Auftürmen<br />
schaftsministerium klar, dass diese Verdächtigungen<br />
jeder Grundlage entbehren.<br />
Die Kommission hatte Anschuldigungen<br />
erklärter Lomborg-Gegner aus einem<br />
höchst polemischen Artikel des Scientific<br />
American ungeprüft übernommen. In<br />
Deutschland wurde der Freispruch recht<br />
unterschiedlich vermeldet. Die Financial<br />
stets neuer Hindernisse verdient gemacht.<br />
Originellster Einwand von Gegnern: In<br />
Garching bestrahlte Krebspatienten könnten<br />
auf der Rückfahrt zum Krankenhaus<br />
auf den umliegenden Feldern Pipi machen.<br />
Eine Verstrahlung der Umwelt sei<br />
somit nicht auszuschließen.<br />
Times titelte: „Apokalypse der Selbstgewissen“.<br />
In der Süddeutschen Zeitung hieß<br />
es dagegen: „Im Zwielicht – von Skandal<br />
zu Skandal: Der dänische Ökologe Lomborg.“<br />
Da weiß man doch, was man an<br />
seiner Süddeutschen hat.<br />
Quellen: FTD und SZ vom 19.12.2003<br />
John Lawrence Daly 1943 – 2004<br />
Nachruf<br />
Der Zweifel ist das methodische<br />
Prinzip der gesamten Wissenschaft. Auch<br />
die zahlreichen Hypothesen zum Klimawandel<br />
müssen sich dem Feuer der Kritik<br />
stellen, sonst sind sie nichts wert. Leider<br />
wird diese Aufgabe von der etablierten<br />
Klima-Wissenschaft nur selten wahrgenommen,<br />
statt dessen beschwört sie einen<br />
so genannten Konsens in Sachen Klimakatastrophe.<br />
Auch ist es zu einer häufigen<br />
Übung geworden, skeptische Stimmen<br />
moralisch oder persönlich zu<br />
desavouieren. Der Autodidakt John Daly<br />
begann 1995 mit seiner Webpage "Still<br />
Waiting for Greenhouse" gegen diese politisch<br />
korrekte Wissenschaft zu rebellieren.<br />
Mit untrüglichem Gespür für Widersprüche<br />
und Plausibilitäten schuf er im<br />
Internet das, was man im besten Sinne<br />
als Gegenöffentlichkeit bezeichnen könnte.<br />
Der Einzelkämpfer Daly hatte das subversive<br />
Potenzial des Internet für diesen<br />
Zweck frühzeitig erkannt, seine Seite<br />
wurde millionenfach angeklickt. Von seinem<br />
kleinen Büro in Tasmanien aus<br />
brachte er mit bescheidensten finanziel-<br />
Wissenschaft<br />
Forschen wieder erlaubt<br />
len Mitteln die milliardenschwere PR-Maschinerie<br />
der staatlich geförderten Katastrophen-Industrie<br />
in Verlegenheit. John<br />
Daly erlag am 29. Januar 2004 einem<br />
Herzinfarkt. Er hat einen festen Platz in<br />
unserer Hall of Fame für couragierte und<br />
skeptische Menschen. Seine Website wird<br />
von seiner Tochter und Freunden weitergeführt.<br />
Link: www.john-daly.com<br />
Quelle: TU-München Pressemitteilung<br />
vom 2.03.04<br />
Aus: Michael Miersch und Dirk Maxeiner:<br />
Die Frohe Botschaft! Nr. 21,<br />
www.maxeiner-miersch.de