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Odo Marquard - Hans-Hermann Hoppe

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181 Euro 8,20 / sfr 13,- Frühling 2004 G 52246 ISSN 0011 – 1597<br />

riticón<br />

Das Magazin für Mittelstand, Marktwirtschaft und Freiheit. www.criticon.de<br />

Flip-Flop-Kerry<br />

und die Irrwege des Neo-Protektionismus – Guido Hülsmann<br />

Die Feinde der offenen Gesellschaft und ihre Bildungslücke<br />

criticón-Gespräch mit Johan Norberg, schwedischer Historiker<br />

Auf der Suche nach dem ‚Schumpeter’schen Politiker’ – Matthias Schmitz<br />

Nach dem Verkauf ist vor dem Verkauf – Ralf Sürtenich<br />

Libertäre Strategien gegen die Allmacht des Staates – Gunnar Sohn<br />

<strong>Odo</strong> <strong>Marquard</strong><br />

Konservativer Skeptiker zwischen Herkunft und Zukunft<br />

Porträt von Felix Dirsch


criticón 181 – Frühling 2004 Inhalt 3<br />

S. 4 Editorial<br />

S. 5 Krise und Kritik<br />

Wer nicht handelt, der nicht gewinnt, Gunnar Sohn<br />

„Nationalistische Schützengräben“ und „vaterlandslose Gesellen“, Matthias Schmitz<br />

Dosenpfand treibt Grünen Punkt in die Enge, Silke Landwehr<br />

Beiheft zum Beiheft oder Wenn das Feuilleton zum Luxus wird, Peter Schäfer<br />

Zeit der Jugenddomänen ist vorbei, Peter Schäfer<br />

S. 12 Auf der Suche nach dem „Schumpeter’schen Politiker“, Matthias Schmitz<br />

S. 14 Libertäre Strategien gegen die Allmacht des Staates, Gunnar Sohn<br />

S. 16 Über Konservatismus und Libertarismus, <strong>Hans</strong>-<strong>Hermann</strong> <strong>Hoppe</strong><br />

S. 21 Anarcho-kapitalistische Theorie, Michael Kastner<br />

S. 23 Demokratie – eine Methode der Kollektiventscheidung wird zur Ideologie, Gerard Radnitzky<br />

S. 26 US-Wahlkampf. Flip-Flop-Kerry und die<br />

Irrwege des Neo-Protektionismus, Guido Hülsmann<br />

S. 28 Die Feinde der offenen Gesellschaft und ihre Bildungslücke, criticón-Gespräch<br />

mit Johan Norberg<br />

S. 31 Ecce! Blick auf die Zeit, <strong>Hans</strong>-Peter Raddatz<br />

S. 32 Was kostet uns der Öko-Dogmatismus?, Edgar Gärtner<br />

S. 36 Emails vom Tage, Friedrich Conan<br />

S. 38 Nach dem Verkauf ist vor dem Verkauf, Ralf Sürtenich<br />

S. 40 Mittelstandsmeldungen<br />

DIW-Studie warnt vor Strukturproblemen der deutschen Wirtschaft<br />

Breitere Kompetenz statt technische Abarbeitung von Bestehendem<br />

Virtueller Größenwahn – Accenture und die „Wertschöpfungsrevolution“<br />

S. 42 Bordeaux – Wein und Mythos, Peter Dostmann<br />

S. 43 Konservativer Skeptiker zwischen Herkunft und Zukunft.<br />

Autorenporträt <strong>Odo</strong> <strong>Marquard</strong>, Felix Dirsch<br />

S. 49 Jahresregister 2003<br />

S. 13 Impressum<br />

S. 59 Das Blaue Brett<br />

Neues aus der Bücherwelt<br />

<strong>Hans</strong>-Peter Raddatz: Allahs Schleier – Die Frau im Kampf der Kulturen (Caroline David) S. 51; Anthony de Jasay: Justice and its Surroundings<br />

(Gerard Radnitzky) S. 52; <strong>Hans</strong>-Christof Kraus (Hg.): Konservative Zeitschriften zwischen Kaiserreich und Diktatur. Fünf Fallstudien;<br />

Michel Grunewald/<strong>Hans</strong> Manfred Bock (Hrsg.): Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (1945-1955); Marko Martin: „Eine Zeitschrift<br />

gegen das Vergessen“. Bundesrepublikanische Traditionen und Umbrüche im Spiegel der Kulturzeitschrift Der Monat (Ansgar Lange) S.<br />

54; Stahl, Heinz K. und <strong>Hans</strong> H. Hinterhuber (Hrsg.): Erfolgreich im Schatten der Großen (Peter Schäfer) S. 56; Ernst Jünger – Gerhard<br />

Nebel „Briefe 1938-1974“. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Ulrich Fröschle und Michael Neumann<br />

(Volker Strebel) S. 57; Hartmuth Becker/Felix Dirsch/Stefan Winckler (Hrsg.): Die 68er und ihre Gegner. Der Widerstand gegen die Kulturrevolution<br />

(Ansgar Lange) S. 58


4 Editorial criticón 181 – Frühling 2004<br />

Editorial<br />

Blockiertes Denken<br />

und die Macht<br />

des Staates<br />

„Die verneinte Realität. Überlegungen<br />

zum Romantizismus heute“: So überschrieb<br />

der Publizist Joachim Fest einen Spiegel-Essay,<br />

den er 1970 über die damalige studentische<br />

Protestgeneration vorlegte. Traf der Vorwurf<br />

der Realitätsblindheit und –flucht damals<br />

also eher eine gewisse „elitäre“ Minderheit,<br />

so scheint er heute breitere Kreise zu<br />

treffen. Das Deutschland des Jahres 2004 befindet<br />

sich im Würgegriff dieser Wirklichkeitsverweigerung.<br />

Denken und Gehirn sind<br />

blockiert. Das Kürzel DGB sollte man in diesem<br />

Zusammenhang am Besten mit „Deutsche<br />

Gehirn-Blockade“ übersetzen, wozu die Gewerkschaftsproteste<br />

gegen die so genannte<br />

„Reformpolitik“ der Regierung Schröder wieder<br />

bestes Anschauungsmaterial geliefert haben.<br />

Den vermeintlichen „Terror des Ökonomischen“<br />

beklagen mittlerweile etliche<br />

Gruppierungen innerhalb unserer Gesellschaft.<br />

In dieser „unheiligen Allianz“ der Modernitätsverweigerung<br />

haben sich die militanten<br />

Fantasten von attac, die Betonköpfe<br />

der Gewerkschaften, die Herz-Jesu-Marxisten<br />

sämtlicher Parteien, die ökonomisch blauäugigen<br />

Gutmenschen beider Großkirchen und<br />

seltsamer Weise auch einige versprengte Konservative<br />

wie der Journalist Alexander Gau-<br />

land zusammengefunden, der am Liebsten<br />

mit dem Fahrstuhl in die gute alte Zeit der<br />

Vormoderne zurückfahren würde. Selbstverständlich<br />

bietet dieser heterogene Haufen<br />

keine eigenen Rezepte an. Man will in diesen<br />

Kreisen eigentlich nur eines: Die Wirklichkeit<br />

soll sich dem eigenen Denken anpassen. „Oft<br />

ist die Feindschaft gegenüber dem Ökonomischen<br />

daher einfach eine besondere Methode,<br />

unangenehme Tatsachen aus dem Weg zu gehen.“<br />

Mit diesen Worten hat der SZ-Redakteur<br />

Nikolaus Piper diese Beobachtung treffend<br />

umschrieben.<br />

<strong>Hans</strong>-<strong>Hermann</strong> <strong>Hoppe</strong> weist dem Staat<br />

zwei Kernaufgaben zu, die er zu erfüllen habe:<br />

Er müsse Eigentum und Leben seiner Bürger<br />

schützen. Doch gerade hier versagt er. Einerseits<br />

dreht die Regierung immer weiter an<br />

der Steuerschraube und entdeckt die Vorzüge<br />

von Erbschafts- und Vermögenssteuer, andererseits<br />

macht sie die Bundeswehr durch<br />

stumpfsinnige Sparpolitik zu einem kastrierten<br />

Kater. Die rasante wirtschaftliche Talfahrt<br />

Deutschlands, die der Spiegel-Journalist Gabor<br />

Steingart in seinem jüngsten Buch<br />

‚Deutschland – Der Abstieg eines Superstars’<br />

beklagt, bekämpft man am Liebsten mit Umverteilung.<br />

Dem vitalen und brutalen Aufstand<br />

radikaler Islamisten begegnet man mit<br />

einem Kopftuchverbot, dem Beiseitestehen im<br />

Irak-Krieg und einem zweifelhaften „Dialog<br />

der Kulturen“.<br />

Deutschland benötigt einen Mentalitätswandel.<br />

<strong>Hoppe</strong> setzt nicht mehr auf den<br />

Staat. Seine antietatistische Gesinnung verlangt<br />

nach dem Anarchentum und geht an<br />

der politischen Realität etwas vorbei. Vielleicht<br />

könnte ein Gespann Merkel-Köhler ein<br />

wenig staatliche Besserung verschaffen. Frau<br />

Merkel muss einem nicht sympathisch sein.<br />

Aber sie bringt unter Umständen die nötige<br />

Panzerung mit, um sich über Widerstände der<br />

Interessengruppen (Vetospieler) hinwegzusetzen.<br />

Vielleicht reicht ihre bei der Behandlung<br />

Wolfgang Schäubles gezeigte Kaltschnäuzigkeit,<br />

die menschlich abstoßend wirken mag,<br />

auch nur zur persönlichen Machtsicherung<br />

und nicht zum Durchpeitschen von Reformen.<br />

Das bleibt abzuwarten. Ein Bundespräsident<br />

Horst Köhler könnte nach dem unsäglichen<br />

Wahlspruch von Bruder Johannes („Versöhnen<br />

statt spalten“) seinen Landsleuten einen guten<br />

Rat geben: „Handeln statt träumen“.<br />

Ansgar Lange


criticón 181 – Frühling 2004 Krise und Kritik 5<br />

Krise und Kritik<br />

Wer nicht handelt, der nicht gewinnt –<br />

Weltbank-Analyst Carlos Braga<br />

über Globalisierung, Offshoring und Protektionismus<br />

Die Informationstechnik-Branche<br />

wächst. Jedoch nicht in den westlichen Industriestaaten,<br />

sondern in Indien, China, Russland,<br />

Bulgarien, im Baltikum oder in Rumänien.<br />

Dr. Carlos Braga, Senior Adviser für<br />

globalen Handel bei der Weltbank lobt Indiens<br />

„breite Verfügbarkeit von gut ausgebildetem,<br />

englischsprachigem Personal.“<br />

Deutschland habe im Gegensatz zu Indien<br />

und anderen Entwicklungs- beziehungsweise<br />

Schwellenländern eine alternde Gesellschaft:<br />

„Betrachtet man die Ressourcen des<br />

Landes, etwa das demographische Profil mit<br />

seinem hohen Anteil an jungen Menschen<br />

und dazu die steigenden Investitionen in das<br />

Bildungssystem, ist ein weiteres Wachstumspotenzial<br />

in diesen Dienstleistungsbereichen<br />

sehr zu erwarten“, führt Braga in einem Interview<br />

mit dem Fachdienst Competence Report<br />

des Krefelder Customer Contact Centers<br />

Sitel aus.<br />

Offensichtlich spielt beim so genannten<br />

Offshoring neben den niedrigeren Lohnkosten<br />

auch die Qualifikation eine große Rolle.<br />

Der Faktor „niedrige Lohnkosten“ von ausländischen<br />

Spezialisten wird generell überschätzt:<br />

„Es stimmt, dass an einen Call<br />

Center-Agent in Indien sieben mal weniger<br />

ausgezahlt werden muss als an einen vergleichbaren<br />

Mitarbeiter in den Industrieländern,<br />

und dass die Produktionskosten durch<br />

Offshoring oft um zwei Drittel reduziert wer-<br />

Glossen,<br />

Glamour,<br />

Gleichnisse<br />

den können. Um jedoch hierbei erfolgreich zu<br />

sein, muss ein Unternehmen alle Transaktionskosten<br />

berücksichtigen, die mit dem Outsourcing-Vertrag<br />

verbunden sind“, so Braga.<br />

Somit sei Offshoring für westliche Unternehmen<br />

keine risikofreie Maßnahme mit hundertprozentiger<br />

Erfolgsgarantie.<br />

„Die Globalisierung hat viele Facetten.<br />

Der internationale Handel bringt sowohl Verlierer<br />

als auch Gewinner hervor“, betont der<br />

Weltbank-Analyst. Das bedeutet nicht, dass<br />

Industrieländer als Gewinner und Entwicklungsländer<br />

als Verlierer dastehen. In jedem<br />

Land gebe es Gewinner und Verlierer. Entwicklungsländer<br />

profitierten vom freien Handel,<br />

indem sie ein Aufblühen des Arbeitsmarktes<br />

mit gut ausgebildeten Arbeitskräften<br />

erlebten. Allerdings mache dieser Fortschritt<br />

nur einen Bruchteil des Arbeitsmarktes eines<br />

Landes aus und könne insofern die Gesamtsituation<br />

in Entwicklungsländern nur teilweise<br />

bessern. Für Industrieländer sei der freie<br />

Handel ein Spiel mit positivem Endergebnis,<br />

da seinetwegen niedrige Preise von Konsumgütern<br />

ermöglicht würden. Globalisierungsgegner<br />

halten den inländischen Arbeitsmarkt<br />

von Industrieländern für den Verlierer, weil<br />

die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland<br />

einen Stellenabbau im Inland bewirke.<br />

Diese Meinung wird von amerikanischen Handelsprotektionisten<br />

und mittlerweile auch<br />

von einigen Politikern in Europa vertreten.<br />

So bezeichnete Bundeskanzler Gerhard Schrö-<br />

Braga: Globaler Handel für alle von Vorteil<br />

der den Vorschlag des DIHK-Präsidenten,<br />

mehr Internationalisierung zu wagen, als<br />

„unpatriotischen Akt“. Für die neue Welle des<br />

Protektionismus hat Braga wenig Verständnis.<br />

Er hält den Einfluss des freien internationalen<br />

Handels auf die Arbeitsplätze für viel geringer<br />

als den Einfluss der inländischen Wirtschaft.<br />

Insgesamt führe der globale Handel<br />

für alle Beteiligten mehr Vorteile als Nachteile<br />

mit sich und man könne Nachteile durch<br />

bestimmte Mechanismen kompensieren. So<br />

sei es möglich, die Auslagerung von Arbeitsplätzen<br />

durch Weiterbildung auszugleichen.<br />

Gunnar Sohn<br />

Zur Person: Der gebürtige Brasilianer<br />

Dr. Carlos Alberto Primo Braga ist Senior Adviser<br />

für internationalen Handel bei der Weltbank.<br />

Er ist in Genf verantwortlich für Entwicklungsaufgaben<br />

von Ländern mit Schnittstellen<br />

zu europäischen Organisationen, wie<br />

die OECD, die Europäische Kommission, UNC-<br />

TAD und die World Trade Organisation. Bevor<br />

er 1991 zur World Bank kam, lehrte er unter<br />

anderem an der Paul Nitze School for Advanced<br />

International Studies (SAIS) und an der<br />

Universität von Sao Paulo. Braga promovierte<br />

an der Universität von Illinois in Wirtschaftswissenschaften.


6 Krise und Kritik criticón 181 – Frühling 2004<br />

„Nationalistische<br />

Schützengräben“<br />

und „vaterlandslose Gesellen“:<br />

Offshore-Trend<br />

bei Hightech-Positionen<br />

nicht mehr aufzuhalten<br />

Die Verlagerung von Arbeitsplätzen<br />

ins Ausland, in Nearshore-Standorte in Osteuropa<br />

oder in Offshore-Standorte wie Indien<br />

und China, ist längst ökonomisch bedingte<br />

Realität. „Ob Mittelstandsunternehmen mit<br />

nationalem Fokus oder international operierende<br />

Konzerne, der weltweite Wettbewerb<br />

erlaubt niemandem, unter Inkaufnahme von<br />

Standortnachteilen geschäftlich tätig zu sein.<br />

Besonders auch das Internet und E-Commerce<br />

tragen dazu bei, dass Angebote in kürzester<br />

Zeit verglichen werden können und unter<br />

Berücksichtigung von Kommunikations- und<br />

Transportkosten das attraktivste Angebot<br />

ausgewählt werden kann“, sagt Ralf Sürtenich<br />

von der Düsseldorfer Unternehmensberatung<br />

insieme business.<br />

Während noch große Teile der Öffentlichkeit<br />

dies als ein „Billigland-Phänomen“<br />

betrachten, zeigen die aktuellen Meldungen<br />

über die Verlagerung von rund 10.000 Siemens-Arbeitsplätzen<br />

ins Ausland, dass es hier<br />

auch um hochqualifizierte Hightech-Positionen<br />

geht. Nachdem bereits schon bekannt<br />

war, dass davon die GSM- und DECT-Geräteproduktion<br />

betroffen ist, werden nach neuesten<br />

Meldungen auch ICN (Netzwerke), TS<br />

(Verkehrstechnik), Automatisierung und weitere<br />

Bereiche von Siemens Arbeitsplätze international<br />

auslagern. Angesichts der Gesamtverteilung<br />

im Konzern, der fast 80 Prozent<br />

seiner Umsätze im Ausland erwirtschaftet<br />

und dort auch schon 60 Prozent seiner<br />

Arbeitnehmer beschäftigt, verwundern diese<br />

Meldungen eigentlich nicht wirklich.<br />

Experten sehen die Aktivitäten von<br />

Siemens im Einklang mit der Erkenntnis, dass<br />

Deutschland nicht mehr zwingend ein Top-<br />

Standort für Hochtechnologie ist. „Das müssen<br />

auch deutsche Politfunktionäre zur<br />

Kenntnis nehmen. Wer sich in nationalistische<br />

Schützengräben verkriecht und Wirtschaftsvertreter<br />

als vaterlandslose Gesellen<br />

diffamiert, dokumentiert nur seine ökonomische<br />

Inkompetenz“, führt Sürtenich aus.<br />

Auch der Verweis auf zu hohe Lohnnebenkosten<br />

würde nicht weiterhelfen, wenn aufgrund<br />

völlig anderer Lebenshaltungskosten<br />

für die gleiche Leistung in Rumänien oder in<br />

Indien nur ein Viertel oder weniger gezahlt<br />

werden müsse. „Dank konsequenter Investitionen<br />

in Bildung und Qualifikation sowie in<br />

Kommunikationstechnik befinden sich viele<br />

asiatische Länder heute auf der Überholspur.<br />

Südkorea etwa hat bereits eine DSL-Penetration,<br />

von der man in Deutschland noch nicht<br />

einmal zu träumen wagt. Während andere<br />

Länder in Europa längst das Selbstverständnis<br />

als Technologiestandort abgelegt haben und<br />

sich als internationale Finanz- und Dienstleistungsstandorte<br />

definieren, orientiert sich<br />

Deutschland immer noch an industriellen Produkten“,<br />

kritisiert Sürtenich. Dazu trage<br />

auch die deutsche Automobilindustrie bei, die<br />

unter den sehr spezifischen Bedingungen des<br />

deutschen Marktes – einer hohen Penetration<br />

mit Firmenwagen und geschäftlich genutzten<br />

Leasing-Fahrzeugen – ein wesentlich schlechteres<br />

Abschneiden der deutschen Industrie<br />

verhindere.<br />

„Wenn ich an einem Standort weder<br />

günstiger produzieren kann, egal ob es sich<br />

um Produkte oder Dienstleistungen handelt,<br />

noch komparative Vorteile bei Transport und<br />

Verteilung in die Zielmärkte habe, ist die Produktion<br />

im internationalen Vergleich nicht<br />

haltbar. Sind die Unterschiede so gravierend<br />

wie zwischen Deutschland und den osteuropäischen<br />

und asiatischen Ländern, dann<br />

werden daran auch keine Reformen der Sozial-<br />

und Arbeitsmarktpolitik oder selbst protektionistische<br />

Maßnahmen etwas ändern“,<br />

so Sürtenich. Er sieht vielmehr die Notwendigkeit,<br />

den Schritt in die Dienstleistungsgesellschaft<br />

zu forcieren für innovative Marketing-<br />

und Vertriebsideen, international verteilte<br />

Service-Modelle, Finanzdienstleistungen,<br />

Serviceentwicklung,<br />

Anwendungsszenarien und Konzeptualisierung.<br />

Gerade das ständig wiederholte Zitat<br />

der „Servicewüste Deutschland“ schreie danach,<br />

mit Dienstleistungen aktiv zu werden.<br />

„Bei PC-Peripherie wie Druckern wäre es völ-


criticón 181 – Frühling 2004 Krise und Kritik 7<br />

lig abwegig, so etwas in Deutschland zu produzieren.<br />

Auch die Technologie-Entwicklung<br />

für diese Technik ist kein Thema mit einem<br />

Vorteil für unseren Standort. Aber die Konzeption<br />

des Produktlebenszyklus, des Marketings<br />

für den deutschen Markt, ganz besonders<br />

der Aufbau und die Umsetzung des Service,<br />

das sind Leistungen, die lassen sich<br />

kaum sinnvoll und erfolgreich durch Auslagerung<br />

in Offshore-Länder durchführen“, so<br />

Michael Müller, Geschäftsführer der a & o aftersales<br />

& onsite services GmbH in Neuss.<br />

Müller sieht einen erheblichen Spielraum<br />

mit guten Erfolgschancen im Service-<br />

Geschäft für Technologie-Produkte: „Nehmen<br />

wir den Bereich Netzwerke und Telekommunikation.<br />

Zum Leidwesen einiger Hersteller<br />

drängen jetzt chinesische Firmen wie Huawei<br />

Eine Ausweitung des Einwegpfands für<br />

Getränkeverpackungen wird von der Vorstandsetage<br />

des Müllsammlers Duales System<br />

Deutschland (DSD) äußerst kritisch betrachtet<br />

und führt zu empfindlichen Einbußen bei<br />

den Lizenzeinnahmen für den "Grünen<br />

Punkt". Wie der DSD-Vorstandsvorsitzende<br />

<strong>Hans</strong>-Peter Repnik mitteilte, hat die erste<br />

Stufe der Pfandregelung die Lizenzeinnahmen<br />

pro Jahr schon um rund 300 Millionen Euro<br />

gemindert. Das sind rund 20 Prozent der Einnahmen.<br />

Eine Ausdehnung des Pflichtpfands<br />

würde einen weiteren Ausfall von 200 bis 210<br />

Millionen Euro zur Folge haben.<br />

Der Bundesverband mittelständische<br />

Wirtschaft (BVMW) hatte schon zum Start des<br />

Dosenpfandes vor gut einem Jahr verkündet,<br />

auch auf die europäischen Märkte. Das wird<br />

unweigerlich zu einem Preisverfall führen.<br />

Das Entscheidende aber für den Markterfolg<br />

wird der Service sein. Ein flexibler, anwenderfreundlicher<br />

und dabei preiswerter Service,<br />

gepaart mit innovativen Produktkonzepten<br />

hinsichtlich Aufrüstbarkeit, Migrationsfähigkeit<br />

und Zukunftssicherheit. Diese Faktoren<br />

werden über Erfolg oder Misserfolg entscheiden.<br />

Die Produkte und die Vertriebskonzepte<br />

müssen auf unsere Märkte zugeschnitten<br />

sein. Das erfordert spezifisches Know-how –<br />

Think global, act local – und der Service<br />

muss hier erbracht werden.“ Standortvorteile<br />

werden sich nach Ansicht von Müller immer<br />

wieder neu herausbilden und auch schnell<br />

verlagern: „Heute mag Indien ein Top-Standort<br />

für IT-Entwicklung sein. In fünf bis zehn<br />

dass das Müllmonopol des Grünen Punktes<br />

überflüssig sei: „Die Lobby des DSD, die Spitzenverbände<br />

des Handels und der Industrie<br />

stehen vor dem Trümmerhaufen ihrer Strategie<br />

für die Entsorgung des Verpackungsabfalls.<br />

Mit dem Dosenpfand hat der Grüne<br />

Punkt Verpackungen verloren, die noch halbwegs<br />

kostengünstig zu recyceln waren: Metalldosen,<br />

PET-Flaschen und Einwegglas. Was<br />

in der Gelben Tonne übrig bleibt, ist Restmüll<br />

und ein Mischmasch aus Milchdöschen, verschmutzten<br />

Folien oder kleinen Joghurtbechern<br />

und anderen Mini-Portions-Verpackungen",<br />

kritisiert BVMW-Präsident Mario Ohoven.<br />

Weniger Grüne Punkt-Verpackungen<br />

bei relativ gleichbleibenden Entsorgungsko-<br />

Jahren kann sich das aber schon wieder verlagert<br />

haben, dann ist es vielleicht China.<br />

Der Versuch, Standortvorteile künstlich durch<br />

staatliche Regelungen zu erhalten oder zu erzeugen,<br />

ist ziemlich illusorisch. Man kann<br />

generelle Grundlagen schaffen, etwa durch<br />

Qualifizierung und Infrastruktur, auch durch<br />

Anreize für Unternehmensgründungen, man<br />

kann dafür sorgen, dass die Wirtschaft einen<br />

soliden Nachwuchs an jungen, innovativen<br />

Unternehmen hervorbringt, aber man kann<br />

nicht die Dynamik der Märkte aufhalten.<br />

Wenn die Entwicklung im internationalen<br />

Rahmen an Tempo zulegt, dann muss ich<br />

ebenfalls mehr Fahrt aufnehmen“, so Müller,<br />

der als Wirtschaftssenator beim Bundesverband<br />

mittelständische Wirtschaft (BVMW) aktiv<br />

ist.<br />

Matthias Schmitz<br />

Dosenpfand<br />

treibt Grünen Punkt<br />

in die Enge<br />

Unionsblockade im Bundesrat gegen<br />

Pfandregelung chancenlos<br />

sten müssten notgedrungen zu höheren Lizenzgebühren<br />

führen. „Diese Logik ist in der<br />

aktuellen Wirtschaftslage den Verbrauchern<br />

und der Industrie aber nicht mehr zuzumuten.<br />

Es ist daher längst an der Zeit, den überregulierten<br />

und von Machtkartellen beherrschten<br />

Entsorgungsmarkt aufzubrechen“,<br />

fordert Ohoven.<br />

In den Neuverhandlungen der Entsorgungsverträge<br />

versucht das DSD-Management<br />

von den hohen Preisen für die Sammlung,<br />

Sortierung und Verwertung runterzukommen.<br />

Nach Einschätzung von Abfallexperten wird<br />

das den Kostendruck beim Grünen Punkt<br />

nicht entschärfen. Um so größer sind die<br />

Hoffnungen der DSD-Lobbyisten in Richtung<br />

der hessischen Gesetzesinitiative im Bundes-


8 Krise und Kritik criticón 181 – Frühling 2004<br />

rat, die das Dosenpfand beseitigen will. Sie<br />

sieht eine so genannte Kombinationsquote<br />

aus Mehrweg- und Verwertungsquote vor, bei<br />

deren Unterschreiten eine Einwegabgabe oder<br />

ein Einwegzuschlag erhoben werden soll. Die<br />

Deutsche Umwelthilfe lehnt es kategorisch<br />

ab, das bewährte Instrument Pflichtpfand<br />

wieder abzuschaffen und durch die Kombiquote<br />

zu ersetzen, die beispielsweise in<br />

Österreich zum beschleunigten Zusammenbruch<br />

des Mehrwegsystems führte. Von der<br />

Kombiquote profitiere nur die Einweglobby<br />

und das DSD, dessen Vorstandschef Repnik<br />

gleichzeitig Mitglied der CDU/CSU-Bundestagsfraktion<br />

sei und von dort aus die Interessen<br />

seines Unternehmens durchsetzen wolle.<br />

Auch im Lager der Union regt sich Widerstand.<br />

So warnt der baden-württembergische<br />

Umweltminister Ulrich Müller (CDU) seine<br />

Parteikollegen vor den Folgen der Kombiquote:<br />

Auch bei diesem Modell gäbe es Quotenregelungen,<br />

„deren Erhebung einen nicht unerheblichen<br />

bürokratischen und finanziellen<br />

Aufwand erfordert. Die jährlichen Erhebungen<br />

können von den betroffenen Wirtschaftskreisen<br />

angefochten werden. Wie dies die Vergangenheit<br />

gezeigt hat, wird davon auch Gebrauch<br />

gemacht“, so Müller. Ob es zudem<br />

Zugegeben:<br />

Einen so<br />

vielseitig begabten<br />

Menschen<br />

wie Marcus Tullius<br />

Cicero zum<br />

Namenspatron<br />

für ein Magazin<br />

zu wählen, ist<br />

sehr geschickt,<br />

um sich die<br />

Vielseitigkeit<br />

des römischen<br />

Philosophen,<br />

Rhetorikers und<br />

Politikers zuzuschreiben. Weil der Mythos Cicero<br />

zweitausend Jahre alt ist, fällt es uns<br />

schwer, diesem Magazin aus dem Weg zu gehen<br />

– ebenso wie es unmöglich ist, im schulischen<br />

Lateinunterricht der Ikone Cicero aus<br />

dem Weg zu gehen.<br />

Wer die sieben Euro für das Monatsmagazin<br />

„für politische Kultur“ gezahlt hat,<br />

hat entweder den Titel des Magazins richtig<br />

ausgesprochen, oder Glück gehabt, dass der<br />

rechtlich zulässig sei, dass die Ausgleichsabgabe<br />

eigener Art vom DSD erhoben werden<br />

könne, „erscheint mir wegen des Kontrahierungszwanges<br />

bedenklich“, führt Müller aus.<br />

Er sieht den Bundesumweltminister Jürgen<br />

Trittin keineswegs in einer defensiven Situation.<br />

„Es würde ihm höchstwahrscheinlich<br />

auch hier gelingen, die CDU/CSU-geführten<br />

Bundesländer und die Opposition als ‚Blockierer’,<br />

die ständig mit neuen Vorschlägen an<br />

die Öffentlichkeit herantreten, an den Pranger<br />

zu stellen“, schreibt Müller.<br />

Auch das von der EU-Kommission eingeleitete<br />

Vertragsverletzungsverfahren gegen<br />

Deutschland, auf das die Dosenpfandgegner<br />

in den großen Handelskonzernen bei der Verhinderung<br />

eines einheitlichen Rücknahmesystems<br />

für Einweg-Getränkeverpackungen gerne<br />

verweisen, werde nach Müllers Einschätzung<br />

nicht kurzfristig entschieden. „Die Bundesregierung<br />

hat ja bereits in diesem<br />

Zusammenhang angekündigt, dass sie dieses<br />

Vertragsverletzungsverfahren bis zum EuGH<br />

bringen wolle. Die EU-Kommission wendet<br />

sich in ihrer Stellungnahme vor dem EuGH<br />

auch nicht gegen die Pfandpflicht als solche.<br />

Sie charakterisiert nur in sehr allgemeiner<br />

Form die Bedingungen eines mit dem Ge-<br />

Verkäufer am Kiosk wusste, was mit „Kikero“<br />

oder „Tschitschero“ gemeint war.<br />

Cicero fährt ganze Bataillone an Prominenten<br />

auf: Es schreiben Arthur Miller,<br />

Umberto Eco, Hellmuth Karasek, Fritz J. Raddatz,<br />

Maxim Biller, Christoph Stölzl, Wladimir<br />

Kaminer und viele andere. Nach einigem Herumblättern<br />

hat man herausgefunden, für wen<br />

das Magazin schlägt. Schlagzeilen wie der<br />

‚Der einsame Kanzler’, ‚Berlin – ein schöner,<br />

großer, tiefer Schmerz’ oder ‚Sind die Deutschen<br />

faul?’ zeigen, dass die 146 Seiten eine<br />

feuilletonistische XXL-Packung sein sollen.<br />

Feuilleton bedeutet „Beiblättchen“. Im<br />

ursprünglichen Sinne fügt es jeder Zeitung<br />

einen kulturellen Zusatz, ein Bonbon seelischer<br />

Nahrung zu. Cicero zuckert über das ursprüngliche<br />

Maß hinaus. Der Chefredakteur<br />

Wolfram Weimer hat eine Torte geschaffen.<br />

An sich spricht nichts dagegen, feuilletonistischen<br />

Luxus anzubieten oder zu genießen.<br />

Der Berlin-Beitrag von Maxim Biller<br />

dürfte jeden stadtsentimentalen Flaneur begeistern.<br />

Die musilsche Periphrasierung Gerhard<br />

Schröders als ‚Mann ohne Eigenschaften’<br />

mag entzückend wirken, denn sie gibt einen<br />

meinschaftsrecht konformen Pfandrücknahmesystems.<br />

Konkrete Kritik äußert die Kommission<br />

nur gegenüber den so genannten Insellösungen“,<br />

so Müller. Selbst dieses Problem<br />

dürfte sich nach Informationen aus Branchenkreisen<br />

kurzfristig lösen, da die Systemanbieter<br />

für Insellösungen über eine Fusion<br />

verhandeln und eine bundesweit einheitliche<br />

Rücknahmelogistik etablieren wollen. Der baden-württembergische<br />

Umweltminister rät<br />

seinen Unionskollegen, im Bundesrat eine<br />

konstruktive Lösung anzustreben. „Es ist Minister<br />

Trittin ja bereits gelungen, die Verantwortlichkeit<br />

der B-Länder öffentlich zu machen.<br />

Wir sind dadurch in einer gewissen<br />

Zwangslage, da das geltende Recht immerhin<br />

eine Verordnung einer ehemaligen CDU/FDP-<br />

Regierung ist. Trittins Vorschlag für eine Änderung<br />

des Dosenpfandes sei die Basis für einen<br />

Kompromiss: „Sie macht die Pfandpflicht<br />

einfach und klar. Nur die ökologisch nachteiligen<br />

Verpackungen der Massengetränke Bier,<br />

Mineralwasser und kohlensäurehaltigen Getränke<br />

unterliegen einer Pfandpflicht“.<br />

Fruchtsäfte, Wein und Milch sollten von der<br />

Pfandpflicht ausgenommen werden.<br />

Silke Landwehr<br />

Beiheft zum Beiheft oder Wenn das Feuilleton zum Luxus wird<br />

– Warum das Magazin Cicero den römischen Sandalen abschwören muss<br />

weit verbreiteten Eindruck des Medienkanzlers<br />

wieder, von dem man mehr Fotos und<br />

Seifenoper-Auftritte als politische Inhalte<br />

kennt.<br />

Jedoch: Wer verputzt schon monatlich<br />

eine Torte? Selbst regelmäßiger Kaffee und<br />

Kuchen ist etwas für „Radikale“. Wer braucht<br />

Cicero, wenn er das Zeitungsfeuilleton schon<br />

hat? Wer braucht ein Beiheft zum Beiheft?<br />

Chefredakteur Weimer hat es auf<br />

50.000 Leser abgesehen. Dabei missachtet er,<br />

wie Spiegel-Redakteur Reinhard Mohr<br />

schreibt, „schon zu Beginn eine Grundregel<br />

des ,gehobenen' Journalismus: nicht die Masse<br />

macht’s, und sei sie noch so klangvoll,<br />

sondern einzig die Qualität.“<br />

Cicero muss nicht verstummen, aber<br />

den römischen Sandalen abschwören und sich<br />

etwas wärmer anziehen. Viele und regelmäßige<br />

Leser zu finden, ist für ein Kultur-Magazin<br />

schwierig und kann nur mit herausragender<br />

Qualität erreicht werden. Wer monatlichen<br />

Luxus anbietet, muss damit rechnen, dass es<br />

mehr Menschen gibt, die eher kurzweilig genießen.<br />

Peter Schäfer


criticón 181 – Frühling 2004 Krise und Kritik 9<br />

„Wir ziehen mit dem falschen Weltbild<br />

in die Zukunft. All unsere Parameter über Alter<br />

und Jugend stammen aus Zeiten, in denen<br />

das Altern die Ausnahme war“, schreibt<br />

Frank Schirrmacher in seinem neu erschienenen<br />

Buch ‚Das Methusalem-Komplott’. Wir –<br />

damit sind nicht nur Deutschland, sondern<br />

alle westlichen Industrienationen gemeint.<br />

Das Altern wird bald nicht mehr das sein,<br />

was es mal war. Neueste Studien zwingen<br />

uns, unsere Einstellung zum Altern zu überdenken,<br />

oder gar – wie Schirrmacher schreibt<br />

– „neu zu erfinden“.<br />

Altern wird bald ein Massenphänomen<br />

sein. Sinkende Geburtenraten und eine steigende<br />

Lebenserwartung eröffnen die Vision<br />

einer Gesellschaft, in der es erstmalig mehr<br />

alte als junge Menschen geben wird. Spätestens<br />

im Jahr 2050 wird die Hälfte der Bevölkerung<br />

über 48 Jahre alt sein. Es wird eine<br />

Welt geben, die „fast nichts mehr mit der<br />

heutigen zu tun haben wird“, so Schirrmacher.<br />

Die bisherige Gesellschaftsideologie<br />

könnte auf die Formel „alt gleich schlecht“<br />

reduziert werden. Diese Peter Pan-Mentalität<br />

erscheint vor dem Hintergrund der sich bereits<br />

heute abzeichnenden Entwicklungen,<br />

wie Schul-Schließungen und Arbeitszeit-Verlängerungen,<br />

als vollkommen untragbar.<br />

Wertvolle Ressource<br />

„Die extremistischste Unterstellung,<br />

die den älter werdenden Menschen in unserer<br />

Gesellschaft trifft, sind die Zweifel an seinem<br />

Gehirn. Sie können sportlich sein und gute<br />

Zeit der<br />

Jugenddomänen<br />

ist vorbei<br />

Die Renaissance der Computerveteranen<br />

Blutwerte haben, Berge besteigen und Weltmeere<br />

durchkreuzen: Der Zweifel an ihrem<br />

Gehirn sitzt wie Gift an ihrem Körper“, betont<br />

der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen<br />

Zeitung. Die gesellschaftliche Meinung<br />

über den Leistungsverfall älterer Menschen<br />

ist eine „Konstruktion, die mit der<br />

Wirklichkeit so viel zu tun hat, wie die Teletubbies<br />

mit der sozialen Beziehung zwischen<br />

Menschen“, so Schirrmacher.<br />

Seine Thesen stoßen auf Zustimmung.<br />

„Ältere Mitarbeiter bringen besondere Qualifikationen<br />

mit, weil sie durch ihren Erfahrungsreichtum<br />

im Besitz eines problembewussten<br />

Fachwissens sind. Sie vermitteln Seriosität<br />

und Zuverlässigkeit. Oft sorgen ihre Geschäftsverbindungen,<br />

die sie sich in vielen<br />

Jahren angeeignet haben, bei Problemen für<br />

Abhilfe. Die Erfahrungen von älteren Mitarbeitern<br />

sind eine der wertvollsten Ressourcen<br />

unseres Unternehmens“, weiß Peter Juraschek,<br />

IT-Spezialist von Harvey Nash, ein Beratungsunternehmen<br />

für Personal-, IT- und<br />

Engineering Services.<br />

Altersscheu<br />

Leider denken viele Unternehmen anders.<br />

„Viele Betriebe haben keine Erfahrung<br />

im Umgang mit älteren Mitarbeitern. Zurzeit<br />

gibt es in mehr als der Hälfte der deutschen<br />

Unternehmen keine über 50-jährigen mehr.<br />

Viele meinen, es lohne sich nicht, in einen<br />

50-jährigen zu investieren“, sagt Meinhard<br />

Miegel, Leiter des Instituts für Wirtschaft<br />

und Gesellschaft (IWG) in Bonn, in einem In-<br />

terview mit dem Magazin McK. Juraschek hat<br />

für die Altersscheu vieler Arbeitgeber kein<br />

Verständnis und meint, dass sogar im IT-Service,<br />

der sonst als Jugenddomäne gilt, ältere<br />

Mitarbeiter den jungen weit voraus sind:<br />

„Wenn wir als Personaldienstleister eine IT-<br />

Stelle von einem Unternehmen besetzen müssen,<br />

haben wir oft keine andere Wahl, als einen<br />

älteren Kandidaten einzusetzen. Ein junger<br />

Mitarbeiter kommt überhaupt nicht in<br />

Frage, wenn es gilt, einen Großrechner zu<br />

programmieren, denn sie kennen keine auch<br />

weiterhin gefragten Programmiersprachen wie<br />

Assembler und Cobol. Die Kenntnisse solcher<br />

Programmiersprachen werden an deutschen<br />

Universitäten einfach nicht vermittelt. So<br />

kommt es vor, dass ein junger Programmierer<br />

trotz seiner Internet- und Java-Kenntnisse<br />

passen muss. Zwar hatten wir kürzlich mit einem<br />

Automobilkonzern den Fall, dass wir einen<br />

Großrechner auf eine neue Programmiersprache<br />

umstellen konnten, jedoch brauchten<br />

wir auch da jemanden, der sich an die alte<br />

Sprache erinnerte.“ Die schnelle Entwicklung<br />

der IT-Welt ohne Gedächtnis ist ebenso ein<br />

Anzeichen für einen blinden Fortschritt, wie<br />

die Unterstellung einer jungen Generation,<br />

die ältere sei nicht leistungsstark genug. „Besonders<br />

vor dem Hintergrund des anstehenden<br />

demografischen Wandels muss ein gesellschaftliches<br />

Umdenken erfolgen,“ so die Forderung<br />

von Juraschek.<br />

Peter Schäfer


12 Auf der Suche criticón 181 – Frühling 2004<br />

Auf der Suche nach dem<br />

“Schumpeter’schen<br />

Politiker”<br />

Vetospieler und der<br />

Reformstau in Deutschland<br />

Yvonne Heiniger; Thomas Straubhaar;<br />

<strong>Hans</strong> Rentsch; Stefan Flückiger; Thomas Held:<br />

Ökonomik der Reform – Wege zu mehr Wachstum in Deutschland.<br />

Zürich, Orell Füssli Verlag 2004<br />

160 Seiten<br />

24,- Euro (CHF 39,80)<br />

ISBN 3-280-05045-6<br />

von Matthias Schmitz<br />

Warum ist es so schwer, Deutschland<br />

zu reformieren? Ein Jahr Agenda 2010 und<br />

schon verlässt die Deutschen der Mut.<br />

Dabei haben andere Länder längst vorgemacht,<br />

wie erfolgreiche Reformen gehen<br />

können. Die Slowakei brilliert mit einem Steuersatz<br />

von 19 Prozent für alle und ist das Investorenparadies<br />

in Osteuropa. Und Finnland<br />

hat sich zum Musterknaben in der EU gemausert.<br />

Zwei Denkfabriken – Avenir Suisse aus<br />

der Schweiz und das Hamburgische Weltwirtschaftsarchiv<br />

HWWA – haben nach den Ursachen<br />

geforscht, warum Deutschland besonders<br />

schwer zu reformieren ist. Das Ergebnis: In<br />

kaum einem anderen Land gibt es so viele Vetospieler<br />

wie hierzulande. Vetospieler sind Individuen<br />

oder Gruppen, deren Zustimmung für<br />

eine Änderung des Status quo notwendig ist.<br />

Jede Gesellschaft entwickelt sich über die<br />

Zeit in eine so genannte «rent-seeking society»:<br />

Interessengruppen versuchen, Wett-<br />

bewerb und Marktmechanismen zu ihren<br />

Gunsten außer Kraft zu setzen.<br />

Dafür wenden sie sich an die Politik.<br />

Regierungen, Legislative und die staatliche<br />

Bürokratie lassen sich für wirtschaftliche<br />

Sonderinteressen einspannen, wenn dies<br />

dem eigenen Fortkommen dient.<br />

Problematisch an den Marktverzerrungen<br />

durch «rent seeking» sind große versteckte<br />

Effizienzverluste. Die Belastung für<br />

die gesamte Volkswirtschaft ist größer als<br />

der wirtschaftliche Nutzen für die «rent seekers».<br />

Faktoren für eine erfolgreiche<br />

Reform<br />

Die Autoren der Studie ‚Ökonomik der<br />

Reform’ haben in den sechs Ländern Dänemark,<br />

Finnland, Großbritannien, Neuseeland,<br />

die Niederlande und Schweden, die in jüngerer<br />

Vergangenheit tief greifende Reformen<br />

durchgeführt haben, nach Bedingungen gesucht,<br />

unter denen eine Modernisierung der<br />

Strukturen möglich war. Dabei ließen sich<br />

sechs «Reformfaktoren» ableiten, die für den<br />

Anstoß, die Umsetzung und die Aufrechterhaltung<br />

von Veränderung ausschlaggebend<br />

waren. Dieses «Reformparadigma» war in fast<br />

allen Veränderungsprozessen enthalten:<br />

• Problembewusstsein wecken: Die<br />

Einsicht in die Notwendigkeit der Veränderung<br />

steht am Anfang der Reform. Nicht<br />

überraschend bilden schockartige Krisen oft<br />

den Anstoß für Veränderungen.<br />

• Leadership fördern: Erfolgreiche Reformen<br />

sind geprägt von Führungspersönlichkeiten<br />

oder Teams, die bereit sind, Verantwortung<br />

zu übernehmen. Veränderungsprozesse<br />

erfordern einen politischen Unternehmer,<br />

den «Schumpeter’schen Politiker».


criticón 181 – Frühling 2004 von Matthias Schmitz 13<br />

Radikale Reformen werden von starken und<br />

glaubwürdigen Persönlichkeiten durchgesetzt.<br />

• Glaubwürdigkeit herstellen: Je<br />

schneller es der politischen Führung gelingt,<br />

eine aufrichtige, kohärente Politik glaubhaft<br />

zu kommunizieren, desto höher sind die<br />

Chancen auf Erfolg. Förderlich dafür sind<br />

früh etablierte feste Regeln, unideologisches<br />

Vorgehen, zielgerichtete, langfristige Programme<br />

ohne Schielen auf Partikularinteressen.<br />

• Verbündete gewinnen: Koalitionen<br />

und Allianzen, auch außerhalb der gewohnten<br />

Strukturen oder im Rahmen von ad-hoc-<br />

Übereinkünften, mündeten oft in zielführende<br />

Reformen.<br />

• Vetokräfte schwächen: Reformer waren<br />

dann erfolgreich, wenn es gelang, etablierte<br />

Interessengruppen zwar anzuhören,<br />

aber aus dem unmittelbaren Entscheidungsprozess<br />

heraus zu halten. Zeitlich beschränkte<br />

Kompensationen für «Verlierer» können<br />

die Akzeptanz von Reformen erhöhen.<br />

• Abgestuftes Vorgehen: In entwickelten<br />

Demokratien gibt es kaum erfolgreiche<br />

Muster eines Big Bang. In der Regel sind Reformprogramme<br />

stufenweise eingeführt worden.<br />

Je länger der Reformprozess dauert, desto<br />

größer sind jedoch die Gefahren der Behinderung,<br />

vor allem bei zahlreichen<br />

einflussreichen Vetospielern.<br />

criticón sprach mit dem Co-Autor der Studie,<br />

Stefan Flückiger von Avenir Suisse in<br />

Zürich:<br />

criticón: Für den Erfolg von politischen<br />

Reformen kommt es nach den Erkenntnissen<br />

Ihrer Studie vor allem auf Personen<br />

und nicht so sehr auf Institutionen an.<br />

Impressum<br />

Herausgeber:<br />

Gunnar Sohn<br />

Redaktion:<br />

Kurfürstenstr. 40<br />

53115 Bonn<br />

Telefon: 0228/62 04 474<br />

Fax: 0228/62 04 475<br />

Abo- und Leserservice:<br />

Mühlenstr. 93<br />

53347 Alfter<br />

Tel.: 0228/74 87 840<br />

Fax: 0228/98 63 894<br />

Verantwortlicher<br />

Redakteur:<br />

Gunnar Sohn<br />

Politischer Korrespondent:<br />

Wolfram A. Zabel<br />

Ressortleiter Politik &<br />

Wirtschaft:<br />

Gunnar Sohn<br />

Ressortleiterin Kultur:<br />

Silke Landwehr<br />

Ressortleiterin Buch &<br />

Medien:<br />

Bärbel Goddon<br />

Die Redaktion ist immer<br />

montags bis donnerstags von<br />

9:00 – 12:00 Uhr erreichbar.<br />

e-mail:<br />

redaktion@criticon.de<br />

www.criticon.de<br />

Gründer der Zeitschrift:<br />

Caspar Frhr. von Schrenck-<br />

Notzing<br />

GES Verlag<br />

Kurfürstenstr. 40<br />

53115 Bonn<br />

Wie kommen Sie zu dieser Schlussfolgerung?<br />

Stefan Flückiger: Unsere Studie<br />

kommt zu dem Schluss, dass in Deutschland<br />

das institutionelle Gefüge, die "Spielregeln"<br />

allgemein, ein Haupthindernis für Reformen<br />

darstellen: der fein austarierte Föderalismus,<br />

die "runden Tische". Aber um diese Institutionen<br />

zu ändern, sind immer Personen<br />

nötig. Wir haben einfach beobachtet, dass in<br />

Ländern mit erfolgreichen Reformen immer<br />

ein überzeugendes Reformteam mit einer Persönlichkeit,<br />

die sich glaubwürdig mit den<br />

Veränderungen identifiziert, am Werk war.<br />

Jetzt kann man sagen das sei banal, nur<br />

muss man sich dann auch fragen, wieso<br />

macht man es denn nicht so in Deutschland.<br />

Was muss ein Politiker mitbringen, um<br />

politische Reformen durchzusetzen?<br />

Glaubwürdigkeit, Überzeugungskraft,<br />

Beharrlichkeit, Unabhängigkeit, und den Willen,<br />

das Risiko einzugehen, unter Umständen<br />

in der nächsten Wahlperiode nicht mehr gewählt<br />

zu werden, weil Reformen immer sehr<br />

vielen potenziellen Wählern und Wählerinnen<br />

wehtun, siehe aktuelles Beispiel Frankreich.<br />

Sie verweisen in Ihrer Abhandlung auf<br />

Persönlichkeiten wie Margaret Thatcher<br />

oder Mikula Dzurinda, die radikale Reformer<br />

waren. Wie beurteilen Sie den amtierenden<br />

deutschen Kanzler Gerhard Schröder<br />

im Vergleich zu den von Ihnen untersuchten<br />

politischen Führungspersönlichkeiten?<br />

Wir machen keine Persönlichkeitsbeurteilungen,<br />

schon gar nicht als Schweizer<br />

über deutsche Politiker. Aber man muss sich<br />

schon fragen, ob die deutsche Regierung heu-<br />

Anzeigen<br />

Jutta Sohn<br />

Mozartstraße 14<br />

77654 Offenburg<br />

Telefon/Fax: 0781/43234<br />

anzeigen@criticon.de<br />

Druck:<br />

DCM Meckenheim<br />

Eichelnkampstraße 2<br />

53340 Meckenheim<br />

Satz:<br />

Steffi Ringel, Bonn<br />

ringeldesign@t-online.de<br />

Erscheinungsweise<br />

vierteljährlich<br />

Jahresbezugspreise<br />

Euro 32,80 / sFr 52,-<br />

(Schüler / Studenten mit<br />

Nachweis Euro 21,50)<br />

Auslandsabonnements zuzgl.<br />

Porto.<br />

Das Abonnement verlängert<br />

sich nur dann um einen weiteren<br />

Jahrgang, wenn es<br />

nicht bis zum 1.11. des laufenden<br />

Jahres schriftlich<br />

gekündigt wird.<br />

te nicht besser dastünde, hätte sie nicht<br />

1998 nach gewonnenen Wahlen mutig und<br />

entschlossen genau die Reformen angepackt,<br />

die sie heute unter viel schwierigeren Umständen<br />

ja ohnehin durchführen muss. Die<br />

Fakten lagen ja bereits damals auf dem Tisch.<br />

Sie hat klar ein "window of opportunity" verpasst.<br />

In öffentlichen Debatten wird die deutsche<br />

Harmoniesucht in der Reformdiskussion<br />

kritisiert. Man quält sich mit Scheindebatten,<br />

Spiegelgefechten und Rhetorik<br />

durch einen der härtesten Veränderungsprozesse<br />

der jüngeren Geschichte. Leidet<br />

Deutschland an der Sehnsucht zum Konsens?<br />

Ja. Das ist eine Eigenschaft, die<br />

Deutschland mit der Schweiz teilt, wenn auch<br />

historisch aus unterschiedlichen Gründen.<br />

Das hat auch in "guten Zeiten" sehr lange<br />

funktioniert, solange es immer genug zu verteilen<br />

gab. Schlägt das Wetter um – und das<br />

tut es mit der Globalisierung und der demographischen<br />

Alterung definitiv, längerfristig<br />

und tiefgreifend – dann werden die Schwierigkeiten<br />

sichtbar.<br />

Der Radikalreformer David Lange, Ex-Premierminister<br />

von Neuseeland, hält Mut<br />

und Schnelligkeit für die entscheidenden<br />

Erfolgsfaktoren, um Reformen durchzusetzen.<br />

Politische Führer müssten dafür auch<br />

bereit sein, sich politisch das Genick zu<br />

brechen. Wie beurteilen Sie das?<br />

Ich bin ein überzeugter Anhänger dieser<br />

Ansicht. Aber diese Spezies ist rar. Politiker<br />

wollen gewählt und geliebt werden. Reformer<br />

werden in der Regel erst in der nächsten<br />

und übernächsten Generation honoriert.<br />

Zahlungen im<br />

Bankeinzugsverfahren<br />

(bitte Formular anfordern)<br />

oder durch Überweisung an<br />

GES Verlag<br />

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Kto.-Nr. 6108826019<br />

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Für unverlangte<br />

Einsendungen keine<br />

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Nachdruck – auch<br />

auszugsweise – nur mit<br />

Einwilligung der Redaktion.<br />

Bitte unterstützen Sie die<br />

Arbeit von criticón auch mit<br />

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criticón<br />

Bildnachweis:<br />

S. 5 privat (Braga)<br />

S. 19 projectphotos<br />

S. 15 www.hanshoppe.com<br />

Titel, S. 26, S. 27 Kerry Pressematerial<br />

Titel, S. 28, 29 Ann Ek/Johan Norberg<br />

Titel, S. 43 privat (<strong>Marquard</strong>)


14 Das demokratische Zwangsmonopol criticón 181 – Frühling 2004<br />

Das demokratische<br />

Zwangsmonopol<br />

und die Vorzüge der<br />

Privatrechtsgesellschaft<br />

Libertäre Strategien gegen die Allmacht des Staates<br />

von Gunnar Sohn<br />

In den USA sorgt der libertäre Wirtschaftswissenschaftler<br />

<strong>Hans</strong>-<strong>Hermann</strong><br />

<strong>Hoppe</strong> mit seinem provokanten Buch ‚Democracy<br />

– The God That Failed’ bereits in<br />

der fünften Auflage für erhitzte Debatten.<br />

Nun liegt das Werk in deutscher Übersetzung<br />

vor: Der Titel ‚Demokratie – Der Gott,<br />

der keiner ist’ deutet schon an, dass der<br />

Autor eine intellektuelle Zeitbombe zünden<br />

will. <strong>Hoppe</strong> ist Lehrstuhlnachfolger<br />

des legendären Murray N. Rothbard an der<br />

Universität in Las Vegas, dem Begründer<br />

der konsequentesten Freiheitslehre unserer<br />

Tage – Libertarianism genannt. Wie<br />

Rothbard steht auch <strong>Hoppe</strong> in der Tradition<br />

der Österreichischen Schule der Nationalökonomie,<br />

die von Ludwig von Mises in<br />

die USA exportiert wurde. Während seine<br />

geistigen Vorbilder Mises und Rothbard<br />

die Demokratie trotz scharfer Kritik an<br />

deren Schwächen für einen Fortschritt gegenüber<br />

dem Feudalismus hielten, sieht<br />

<strong>Hoppe</strong> sie als „zivilisatorischen Abstieg“.<br />

Entscheidend sei dabei das unterschiedliche<br />

Eigentums-Bewusstsein des Monarchen<br />

im Vergleich mit den politischen Eliten<br />

der Massendemokratie. So führt der<br />

Autor aus:<br />

„Als Erbmonopolist betrachtet der Fürst das<br />

Territorium und das Volk unter seiner Gerichtsbarkeit<br />

als sein persönliches Eigentum<br />

und betreibt eine monopolistische Ausbeutung<br />

seines Eigentums. Unter der Demokratie<br />

verschwindet die Ausbeutung nicht. Auch<br />

wenn es jedermann erlaubt ist der Regierung<br />

beizutreten, wird der Unterschied zwischen<br />

Herrschern und Beherrschten nicht eliminiert.<br />

Regierung und Regierte sind nicht ein<br />

und dieselben Personen. Anstatt eines Fürsten,<br />

der das Land als sein Privateigentum<br />

betrachtet, wird ein vorübergehender austauschbarer<br />

Verwalter in monopolistischer<br />

Leitungsposition eingestellt. Sowohl Erbfürsten<br />

wie auch demokratische Verwalter können<br />

ihre laufenden Ausgaben durch höhere<br />

Steuern steigern. Doch ein Fürst tendiert dazu,<br />

Steuererhöhungen dann zu vermeiden,<br />

wenn diese zum Kapitalverzehr führen – zu<br />

einem Sinken des diskontierten Gegenwartswerts<br />

des Kapitalstocks, dessen Eigentümer er<br />

ist. Im Gegensatz dazu zeigt ein Verwalter<br />

keine solche Zurückhaltung. Während er das<br />

gegenwärtige Steuereinkommen besitzt, ist er<br />

doch nicht der Besitzer des Kapitals, mittels<br />

dessen sein Einkommen erzielt wird – andere<br />

besitzen dieses Kapital. Entsprechend geht<br />

das Maß der Besteuerung unter demokratischen<br />

Bedingungen weit über das unter fürstlicher<br />

Herrschaft erreichte Niveau hinaus“.<br />

Schröpfen der Ressourcen<br />

Programmiert sei somit auch die Entwicklung<br />

zum umverteilenden Wohlfahrtsstaat. In feudalen<br />

Zeiten hingegen wurden Staatsausgaben<br />

als die persönlichen Ausgaben des Monarchen<br />

betrachtet, die er aufgrund seiner Position<br />

auf sich nimmt. Er war mit Eigentumsrechten<br />

ausgestattet, die ihm ein Einkommen<br />

sicherten. Es ist ungefähr so, als würde von<br />

einer Regierung unserer Zeit erwartet, dass<br />

sie ihre normalen Ausgaben aus den Einnahmen<br />

der im Staatsbesitz befindlichen Industrien<br />

deckt. Das Gegenteil ist der Fall. Anstatt<br />

den Wert des Regierungsbesitzes zu erhalten<br />

oder gar zu steigern, wie es ein Privateigentümer<br />

täte, wird ein vorübergehender<br />

Verwalter einer demokratischen Regierung so<br />

schnell wie möglich so viele Ressourcen wie<br />

nur möglich aufbrauchen, denn was er nicht<br />

jetzt konsumiert, wird er nach seiner Abwahl<br />

möglicherweise niemals konsumieren können.<br />

Als Beispiel führt <strong>Hoppe</strong> die Entwicklung der<br />

Staatsausgaben, Steuerlast, Geldmenge,


criticón 181 – Frühling 2004 von Gunnar Sohn 15<br />

Staatsbediensteten und Gesetzesflut an.<br />

Selbst zur Zeit des Ersten Weltkrieges lag der<br />

Anteil der Regierungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt<br />

in Deutschland selten über 10<br />

Prozent. Im deutlichen Gegensatz dazu wuchsen<br />

mit Beginn des demokratisch-republikanischen<br />

Zeitalters die Gesamtausgaben im<br />

Verlauf der 1920er Jahre auf 20 bis 30 Prozent<br />

an und ab Mitte der 1970er Jahre erreichten<br />

sie generell etwa 50 Prozent. Bis<br />

zum Ende des 19. Jahrhunderts lag der Anteil<br />

der Regierungsbeschäftigten nur bei drei Pro-<br />

Sorgt für erhitzte Debatten: <strong>Hans</strong>-<strong>Hermann</strong> <strong>Hoppe</strong><br />

zent. In den 1970er Jahren waren es 15 Prozent.<br />

Dazu <strong>Hoppe</strong>:<br />

„Nach mehr als einem Jahrhundert Zwangsdemokratie<br />

sind die vorhersehbaren Resultate<br />

offensichtlich. Die Eigentümern und Produzenten<br />

auferlegte Steuerlast lässt die ökonomische<br />

Last von Sklaven und Leibeigenen<br />

vergleichsweise moderat erscheinen. Regierungsschulden<br />

sind auf atemberaubende<br />

Höhen gestiegen. Gold ist durch Regierungspapiergeld<br />

ersetzt worden, dessen Wert kontinuierlich<br />

gesunken ist. Jede Einzelheit des<br />

Privatlebens, Eigentums, Handels und von<br />

Verträgen wird durch ständig wachsende Ber-<br />

ge von Papierrecht (Gesetzgebung) reguliert.<br />

Im Namen sozialer, öffentlicher oder nationaler<br />

Sicherheit ‚beschützen’ unsere Verwalter<br />

uns vor globaler Erwärmung und Abkühlung,<br />

dem Aussterben von Tieren und Pflanzen, vor<br />

Ehemännern und -frauen, vor Eltern und Arbeitgebern,<br />

zahllosen öffentlichen Feinden<br />

und Gefahren. Die einzige Aufgabe jedoch,<br />

die eine Regierung jemals annehmen sollte –<br />

unser Leben und Eigentum zu schützen –,<br />

wird von unseren Verwaltern nicht erfüllt. Je<br />

höher die Ausgaben für soziale, öffentliche<br />

und nationale Sicherheit gestiegen<br />

sind, umso mehr sind unsere<br />

Privateigentumsrechte erodiert<br />

worden, umso mehr ist unser Eigentum<br />

enteignet, beschlagnahmt,<br />

zerstört und entwertet<br />

worden und umso mehr wird uns<br />

die Grundlage jeden Schutzes<br />

entzogen: persönliche Unabhängigkeit,<br />

wirtschaftliche Stärke<br />

und privates Vermögen. Je mehr<br />

Papierrechte produziert wurden,<br />

umso mehr Rechtsunsicherheit<br />

und moralisches Risiko ist erzeugt<br />

worden.“<br />

Interessenkartell<br />

<strong>Hoppe</strong> ist mitnichten ein Monarchist.<br />

Er hält beide – Monarchie<br />

und Demokratie – für „defekte<br />

Sozialordnungen“ und streitet<br />

mit zwingender Logik für eine<br />

„natürliche Ordnung“, eine Privatrechtsgesellschaft,<br />

die Freiheit<br />

und Eigentum der Person sowie<br />

ihr Streben nach Glück schützt.<br />

Sein Plädoyer für den bedingungslosen<br />

Schutz der Privatrechte<br />

ist kein Angriff auf die<br />

Demokratie. Im Fokus seiner Kritik<br />

stehen die allmächtigen Apparatschicks,<br />

die mit demokratischer<br />

Legitimation kräftig in die<br />

Kasse greifen auf Kosten der Allgemeinheit.<br />

<strong>Hoppe</strong> steht dabei mit seiner<br />

fundamentalen Abrechnung nicht alleine.<br />

„Die Parteien haben unseren Staat fest im<br />

Griff und bedienen sich nach Belieben", skizziert<br />

beispielsweise der ehemalige BDI-Chef<br />

Olaf Henkel die Lage. Es ist ein uneinnehmbares<br />

Interessenkartell, wenn es um die Verteidigung<br />

von gemeinsamen Pfründen geht.<br />

Die Parteifunktionäre, oder nach dem Duktus<br />

von <strong>Hoppe</strong>, die Verwalter, zersetzen die Fundamente<br />

des Staates. Das hat der Wirtschaftsnobelpreisträger<br />

Friedrich August von Hayek<br />

schon vor über zwei Jahrzehnten gesehen:<br />

Die heute praktizierte Form der Demokratie<br />

ist für ihn ein Synonym für den Prozess des<br />

Stimmenkaufs, für das Schmieren und Belohnen<br />

von unlauteren Sonderinteressen. Ein<br />

Auktionssystem, in dem alle paar Jahre die<br />

Macht der Gesetzgebung denen anvertraut<br />

wird, die ihren Gefolgsleuten die größten<br />

Sondervorteile versprechen. Es werden Kumpaneien<br />

gepflegt, die der gegenseitigen Absicherung<br />

bei Fehlverhalten dienen – wer klüngelt,<br />

verteilt! Landtage und Bundestag haben<br />

sich zu Basaren und Umverteilungsagenturen<br />

gewandelt – eine Börse von Gruppeninteressen<br />

auf Gegenseitigkeit. Für <strong>Hoppe</strong> sind die<br />

Systemdefizite der Demokratie allerdings kein<br />

Grund, auf einen ökonomischen Zusammenbruch<br />

zu hoffen. Die Zustände könnten dann<br />

schlimmer statt besser werden. Was zusätzlich<br />

zu einer Krise notwendig ist, sind Ideen<br />

– richtige Ideen – und Menschen, die in der<br />

Lage sind, sie zu verstehen und zu verwirklichen,<br />

wenn die Gelegenheit dazu kommt.<br />

<strong>Hoppe</strong> verweist auf die Geistesgrößen Etienne<br />

de la Boétie, David Hume und Ludwig von Mises.<br />

Sie erkannten, dass die Macht der Regierung,<br />

ob eines Fürsten oder eines Verwalters,<br />

letzten Ende auf Meinung statt auf bloßer<br />

physischer Macht beruht. Die Regierungsagenten<br />

stellen immer nur einen kleinen Anteil<br />

der sich unter ihrer Kontrolle stehenden<br />

Bevölkerung dar, ob unter fürstlicher oder<br />

demokratischer Herrschaft. Wenn die Macht<br />

einer Regierung jedoch nur auf Meinung und<br />

zustimmender Kooperation ruht, dann kann<br />

jede Regierung auch durch eine schlichte<br />

Meinungsänderung und die Ausübung bloßer<br />

Willenskraft gestürzt werden. Für <strong>Hoppe</strong><br />

genügt der massenhafte Entzug der Zustimmung:<br />

„Liebesentzug“<br />

„Das heißt, um der Regierung ihre Macht zu<br />

entreißen und sie auf den Status einer freiwilligen<br />

Mitgliederorganisation zurückzustutzen,<br />

ist es nicht notwendig, die Herrschaft zu<br />

übernehmen, gewalttätige Schlachten gegen<br />

sie zu führen oder gar Hand an die eigenen<br />

Herrscher zu legen. Die zu tun würde das<br />

Prinzip des Zwangs und der aggressiven Gewaltanwendung,<br />

dem das gegenwärtige System<br />

unterliegt, nur bestätigen und unweigerlich<br />

zum bloßen Austausch einer Regierung<br />

oder eines Tyrannen führen“, so <strong>Hoppe</strong>.<br />

Er plädiert stattdessen für einen Akt der persönlichen<br />

Sezession. Im modernen Jargon<br />

könnte man auch von Liebesentzug sprechen.<br />

„Die Entscheidung zu sezedieren bedeutet,<br />

dass man die Zentralregierung als illegitim<br />

erachtet und sie und ihre Agenten entspre-


16 Über Konservatismus und Libertarismus criticón 181 – Frühling 2004<br />

chend als rechtlose Agentur und ‚fremde’ Besatzungsmacht<br />

behandelt. Das heißt, wenn<br />

von ihr gezwungen, gibt man nach, aus Klugheit<br />

und aus keinem anderen Grund als dem<br />

der Selbsterhaltung, aber man tut nichts, um<br />

ihre Handlungen zu unterstützen oder zu erleichtern.<br />

Man versucht soviel Eigentum wie<br />

möglich zu behalten und zahlt sowenig Steuern<br />

wie möglich. Man betrachtet das Staatsrecht,<br />

alle Gesetzgebung und Regulation als<br />

null und nichtig und ignoriert es wo immer<br />

möglich. Man arbeitet nicht für die Regierung<br />

und stellt sich ihr nicht freiwillig zur<br />

Verfügung, weder ihrer Exekutive, Legislative<br />

oder Judikative, und man verkehrt mit keinem,<br />

der dies tut. Man beteiligt sich nicht an<br />

der Politik der Zentralregierung und trägt<br />

nichts zum Betrieb der politischen Maschinerie<br />

bei. Man unterstützt keine politische Partei<br />

oder politische Kampagne, noch hilft man<br />

Organisationen, Agenturen, Stiftungen oder<br />

Denkfabriken, die mit dem Leviathan kooperieren<br />

oder von ihm finanziert werden“, führt<br />

der Autor in seinem Buch aus.<br />

Der antietatistische Stratege <strong>Hoppe</strong> gleicht<br />

dem Anarchen aus Ernst Jüngers Roman Eumeswil<br />

oder auch Bartleby, der rätselhaften<br />

Figur von Herman Melville: „I would prefer<br />

not to.“ Ich möchte mich nicht definitiv auf<br />

etwas festlegen, ich möchte mir die Freiheit<br />

erhalten, einen Rückzieher zu machen, wenn<br />

mir etwas nicht passt. Betrachtet man die tagesaktuellen<br />

Eskapaden der Politiker, so erscheint<br />

<strong>Hoppe</strong>s Empfehlung der staatlichen<br />

Enthaltsamkeit überhaupt nicht abwegig: Im<br />

vergangenen Jahr überraschte SPD-Fraktionschef<br />

Franz Müntefering die Öffentlichkeit mit<br />

der Forderung: „Weniger für den privaten<br />

Konsum – und dem Staat Geld geben, damit<br />

Bund, Länder und Gemeinden ihre Aufgaben<br />

erfüllen können". Der Staat soll noch mehr<br />

Finanzen von den Bürgern absaugen, um seine<br />

Funktionen weiter auszudehnen. Müntefering<br />

kommt einem dabei vor, wie die französische<br />

Königin Marie Antoinette, die dem<br />

nach Brot hungernden Volk empfahl, „doch<br />

Kuchen zu essen“. Man weiß, wie derlei<br />

Hochmut endet. Nun muss die politische<br />

Über Konservatismus<br />

und Libertarismus<br />

von <strong>Hans</strong>-<strong>Hermann</strong> <strong>Hoppe</strong><br />

Der moderne Konservatismus in den Vereinigten<br />

Staaten und in Europa ist verwirrt und<br />

verzerrt. Unter dem Einfluss der repräsentativen<br />

Demokratie und mit der seit dem Ersten<br />

Weltkrieg stattgefundenen Verwandlung der<br />

USA und Europas in Massendemokratien, wurde<br />

der Konservatismus von einer anti-egalitären,<br />

aristokratischen, anti-staatlichen<br />

ideologischen Kraft in eine Bewegung kulturell<br />

konservativer Etatisten verwandelt: in<br />

den rechten, bürgerlichen Flügel der Sozialisten<br />

und Sozialdemokraten. Die meisten<br />

selbsternannten Konservativen sind besorgt,<br />

und das mit Recht, über den Zerfall der Familie,<br />

die Scheidung, die unehelichen Kinder,<br />

den Verlust der Autorität, den Multikultura-<br />

lismus, die alternativen Lebensstile, die soziale<br />

Auflösung, den Sex und die Kriminalität.<br />

Alle diese Phänomene repräsentieren<br />

Anomalien und skandalöse Abweichungen<br />

von der natürlichen Ordnung. Ein Konservativer<br />

muss sich in der Tat gegen all diese Entwicklungen<br />

stellen und versuchen, Normalität<br />

wiederherzustellen. Die meisten zeitgenössischen<br />

Konservativen jedoch (zumindest die<br />

meisten Sprecher des konservativen Establishments)<br />

erkennen entweder nicht, dass<br />

ihr Ziel der Wiederherstellung der Normalität<br />

die drastischsten, sogar revolutionären, antistaatlichen<br />

sozialen Veränderungen notwendig<br />

macht, oder (wenn sie es wissen) sie sind<br />

als Mitglieder der „fünften Kolonne“ damit<br />

Klasse unserer Tage nicht mehr die Guillotine<br />

befürchten. Aber was passiert, wenn die braven<br />

Steuerbürger in einer konzertierten Aktion<br />

der Forderung des sozialdemokratischen<br />

Vordenkers folgen und den Konsum verweigern?<br />

Das Ancien Régime würde aus den Latschen<br />

kippen. Kein Konsum, keine Steuern.<br />

Die Öffentlichkeit erkennt dann sehr schnell<br />

die Nacktheit des Kaisers mit den neuen Kleidern.<br />

Ein Sturm auf die Bastille ist überhaupt<br />

nicht erforderlich.<br />

<strong>Hans</strong>-<strong>Hermann</strong> <strong>Hoppe</strong>:<br />

Demokratie – Der Gott, der keiner ist.<br />

Waltrop und Leipzig: Verlag Manuskriptum<br />

2003, 547 Seiten, 24,80 Euro.<br />

In dieser Ausgabe veröffentlichen wir aus<br />

dem <strong>Hoppe</strong>-Buch die gekürzte Fassung des<br />

Kapitels ‚Über Konservatismus und Libertarismus’.<br />

beschäftigt, den Konservatismus von innen<br />

zu zerstören und müssen daher als bösartig<br />

betrachtet werden.<br />

Dass dies für die so genannten Neokonservativen<br />

zutrifft bedarf hier keiner weiteren Erläuterung.<br />

Was deren Führungskräfte betrifft,<br />

kann man in der Tat den Verdacht hegen,<br />

dass die meisten von ihnen der letzteren<br />

(bösartigen) Sorte angehören. Sie machen<br />

sich nicht wirklich über kulturelle Angelegenheiten<br />

Sorgen, sondern sie spielen die<br />

Karte des kulturellen Konservatismus, um<br />

nicht die Macht zu verlieren und ihr gänzlich<br />

anderes Ziel der globalen Sozialdemokratie zu<br />

fördern. Dies trifft jedoch ebenfalls auf viele<br />

Konservative zu, die sich wirkliche Sorgen


criticón 181 – Frühling 2004 von <strong>Hans</strong>-<strong>Hermann</strong> <strong>Hoppe</strong> 17<br />

über zerfallene und dysfunktionale Familien<br />

und kulturelle Verrottung machen. Ich denke<br />

hier insbesondere an den Konservatismus, wie<br />

er von Patrick Buchanan und seiner Bewegung<br />

repräsentiert wird. Buchanans Konservatismus<br />

ist keineswegs so verschieden von<br />

dem des konservativen Establishments der<br />

Republikanischen Partei, wie er und seine Gefolgschaft<br />

sich einbilden. In einem entscheidenden<br />

Punkt ihrer Marke des Konservatismus<br />

befinden sie sich in vollständiger Übereinstimmung<br />

mit dem konservativen Establishment:<br />

beide sind Etatisten. Sie streiten<br />

sich darüber, was genau zu tun ist, um Normalität<br />

in den USA wiederherzustellen, aber<br />

sie stimmen darin überein, dass dies durch<br />

den Staat zu geschehen hat. In keinem von<br />

beiden gibt es eine Spur von prinzipieller Antistaatlichkeit.<br />

„Amerika Zuerst“-Bewegung<br />

Lassen Sie mich das darstellen, indem ich Samuel<br />

Francis zitiere, einem der führenden<br />

Theoretiker und Strategen der Buchanan-Bewegung.<br />

Nachdem er „anti-weiße“ und „antiwestliche“<br />

Propaganda beklagt, „militanten<br />

Sekularismus, raffgierigen Egoismus, ökonomischen<br />

und politischen Globalismus, demographische<br />

Überschwemmung und unkontrollierten<br />

Staatszentralismus“ erläutert er den<br />

neuen Geist der „Amerika Zuerst“-Bewegung,<br />

der „nicht nur bedeutet, die nationalen Interessen<br />

über die anderer Nationen und Abstraktionen<br />

wie ‚Weltführerschaft‘, ‚globale<br />

Harmonie‘ und die ‚neue Weltordnung‘ zu setzen,<br />

sondern auch der Nation vor der Befriedigung<br />

individueller und subnationaler Interessen<br />

Priorität zu geben“. Aber was schlägt er<br />

vor, um das Problem des kulturellen Verfalls<br />

zu lösen? Jene Teile des föderalen Leviathans,<br />

die für die Vermehrung der moralischen und<br />

kulturellen Verschmutzung verantwortlich<br />

sind, wie das Bildungsministerium, die Nationale<br />

Kunststiftung, die Kommission für Beschäftigungs-<br />

und Chancengleichheit und die<br />

zentralstaatliche Gerichtsbarkeit sollten gestrichen<br />

oder gestutzt werden. Aber es gibt<br />

keine Opposition gegen die staatliche Einmischung<br />

in Bildungsangelegenheiten. Es gibt<br />

keine Erkenntnis, dass natürliche Ordnung<br />

auf dem Gebiet der Bildung bedeutet, dass<br />

der Staat nichts damit zu tun hat. Bildung<br />

ist eine reine Familienangelegenheit.<br />

Ferner gibt es keine Erkenntnis, dass moralische<br />

Degeneration und kultureller Verfall tiefere<br />

Ursachen haben und nicht einfach durch<br />

staatlich verordnete Veränderungen im Bildungsplan<br />

oder durch Ermahnungen oder Tiraden<br />

geheilt werden können. Im Gegenteil,<br />

Francis schlägt vor, dass die kulturelle Wende<br />

– die Wiederherstellung der Normalität – ohne<br />

fundamentale Veränderung in der Struktur<br />

des modernen Wohlfahrtsstaates erzielt werden<br />

kann. Tatsächlich verteidigen Buchanan<br />

und seine Ideologen ausdrücklich die drei<br />

zentralen Institutionen des Wohlfahrtsstaates:<br />

die Sozialversicherung, die staatliche Gesundheitsfürsorge<br />

und die Subventionen für<br />

Arbeitslosigkeit. Sie wollen die „soziale“ Verantwortung<br />

des Staates sogar ausweiten, indem<br />

sie dem Staat die Aufgabe zuschreiben,<br />

mittels nationaler Einfuhr- und Ausfuhrbeschränkungen<br />

amerikanische Arbeitsplätze zu<br />

„schützen“, insbesondere in Branchen von<br />

nationalem Belang, und „die Löhne der USamerikanischen<br />

Arbeiter vor ausländischen<br />

Arbeitern, die für einen Dollar pro Stunde<br />

oder weniger arbeiten müssen, abzuschotten.“<br />

Die Buchananisten geben freizügig zu, dass<br />

sie Etatisten sind. Sie verachten und verhöhnen<br />

den Kapitalismus, laissez-faire, freie<br />

Märkte und Handel, Wohlstand, Eliten und<br />

Adel; und sie werben für einen neuen populistischen<br />

– tatsächlich proletarischen – Konservatismus,<br />

der sozialen und kulturellen<br />

Konservatismus mit einer sozialen oder sozialistischen<br />

Ökonomie verknüpft. Somit, fährt<br />

Francis fort,<br />

Neue Identität<br />

Während die Linke die Mittel-Amerikaner<br />

durch ihre ökonomischen Maßnahmen für<br />

sich gewinnen konnte, verlor sie sie durch<br />

ihren sozialen und kulturellen Radikalismus,<br />

und während die Rechte die Mittel-Amerikaner<br />

durch ihren Appell an Recht und Ordnung<br />

und die Verteidigung sexueller Normalität,<br />

konventioneller Moral und Religion, traditionelle<br />

soziale Institutionen und Beschwörungen<br />

des Nationalismus und<br />

Patriotismus anlocken konnte, verlor sie die<br />

Mittel-Amerikaner, wenn sie ihre alten bürgerlichen<br />

ökonomischen Formeln aufsagten.<br />

Daher sei es notwendig, die Wirtschaftspolitik<br />

der Linken und den Nationalismus und<br />

kulturellen Konservatismus der Rechten zu<br />

kombinieren, um „eine neue Identität“ zu erzeugen,<br />

„die die wirtschaftlichen Interessen<br />

und die kulturell-nationalen Loyalitäten der<br />

proletarisierten mittleren Klasse synthetisiert<br />

und zu einer separaten und vereinigten politischen<br />

Bewegung zusammenführt.“ Aus offensichtlichen<br />

Gründen wird diese Doktrin<br />

nicht so benannt, aber es gibt einen Begriff<br />

für diese Art von Konservatismus: Er nennt<br />

sich sozialer Nationalismus oder National-Sozialismus.<br />

Buchanan und seine Theoretiker glauben, Politik<br />

sei eine reine Angelegenheit des Willens<br />

und der Macht. Sie glauben nicht an so etwas<br />

wie ökonomische Gesetze. Wenn Menschen<br />

nur etwas wollen und ihnen die Macht gegeben<br />

wird, ihren Willen durchzusetzen, kann<br />

alles erreicht werden. Der „tote österreichische<br />

Ökonom“ Ludwig von Mises, auf den<br />

sich Buchanan während seiner Kampagne verächtlich<br />

bezog, charakterisierte diesen Glauben<br />

als „Historizismus“, die intellektuelle<br />

Einstellung der deutschen Kathedersozialisten,<br />

die eine jede etatistische Maßnahme<br />

rechtfertigten.<br />

Umverteilung<br />

Aber historizistische Verachtung und Ignoranz<br />

der Ökonomie ändert nichts an der<br />

Tatsache, dass es unumstößliche ökonomische<br />

Gesetze gibt. Man kann seinen Kuchen nicht<br />

essen und gleichzeitig behalten. Oder was<br />

man heute konsumiert kann nicht nochmals<br />

in der Zukunft konsumiert werden. Oder<br />

mehr von einem Gut zu produzieren erfordert,<br />

dass weniger von einem anderen Gut<br />

produziert wird. Kein Wunschdenken kann<br />

solche Gesetze verschwinden lassen. Etwas<br />

anderes zu glauben kann nur in praktischem<br />

Versagen enden. „In der Tat“, schreibt Mises,<br />

„ist Wirtschaftsgeschichte ein langes Register<br />

von politischen Maßnahmen der Regierungen,<br />

die genau deshalb versagt haben, weil sie mit<br />

kühner Missachtung der Gesetze der Ökonomie<br />

entworfen wurden.“ Im Lichte elementarer<br />

und unabänderlicher ökonomischer Gesetze<br />

ist das Buchanan-Programm des sozialen<br />

Nationalismus lediglich ein weiterer kühner,<br />

aber unmöglicher Traum. Kein Wunschdenken<br />

kann die Tatsache abändern, dass das Aufrechterhalten<br />

der zentralen Institutionen des<br />

gegenwärtigen Sozialsystems und der<br />

Wunsch, zurück zu traditionellen Familien,<br />

Normen, Verhaltensweisen und Kultur zu<br />

kehren unvereinbare Ziele sind. Man kann<br />

das eine – Sozialismus (Wohlfahrt) – oder das<br />

andere – traditionelle Moral – haben, aber<br />

man kann nicht beides zugleich haben, denn<br />

eine sozial-nationalistische Wirtschaftspolitik,<br />

die Säule des gegenwärtigen Wohlfahrtsstaatssystems,<br />

die Buchanan unverändert beibehalten<br />

möchte, ist gerade die Ursache der<br />

kulturellen und sozialen Anomalitäten.<br />

Um dies zu verstehen, ist es lediglich nötig,<br />

sich eines der fundamentalsten Gesetze der<br />

Ökonomie wieder zu vergegenwärtigen, das<br />

besagt, dass jede Zwangsumverteilung von<br />

Vermögen oder Einkommen, unabhängig auf<br />

welche Kriterien sie gegründet ist, bedeutet,<br />

von einigen – den Habenden von etwas – etwas<br />

wegzunehmen und es anderen – den<br />

Nicht-Habenden von etwas – zu geben. Ent-


18 Über Konservatismus und Libertarismus criticón 181 – Frühling 2004<br />

sprechend ist der Anreiz, ein Habender zu<br />

sein, reduziert, und der Anreiz, ein Nicht-Habender<br />

zu sein, vergrößert. Ein Habender hat<br />

etwas, was normalerweise als „gut“ betrachtet<br />

wird, und was der Nicht-Habende nicht hat,<br />

ist „schlecht“ oder ein Mangel. Dies ist der<br />

Gedanke, der jeder Umverteilung unterliegt:<br />

einige haben zuviel des Guten und andere zu<br />

wenig. Das Resultat jeder Umverteilung ist,<br />

dass zukünftig weniger Güter produzieren<br />

werden und zunehmend mehr Ungüter, weniger<br />

Perfektion und mehr Mangel. Indem mit<br />

Steuergeldern (mit Geldern, die anderen entwendet<br />

wurden) arme Menschen („schlecht“)<br />

subventioniert werden, wird mehr Armut erzeugt.<br />

Indem Menschen subventioniert werden,<br />

weil sie arbeitslos sind („schlecht“) sind,<br />

wird mehr Arbeitslosigkeit erzeugt. Indem<br />

unverheiratete Mütter („schlecht“) subventioniert<br />

werden, wird es mehr unverheiratete<br />

Mütter und mehr uneheliche Geburten geben,<br />

usw.<br />

Zwangssysteme<br />

Offensichtlich ist diese grundlegende Einsicht<br />

auf das gesamte so genannte Sozialversicherungssystem<br />

anwendbar, das in ganz Westeuropa<br />

(seit den 1880er Jahren) und den USA<br />

(seit den 1930er Jahren) implementiert worden<br />

ist: die Regierungs-Zwangs„versicherung“<br />

gegen Altersarmut, Krankheit, Verletzungen<br />

am Arbeitsplatz, Arbeitslosigkeit, Armut usw.<br />

In Verbindung mit dem noch älteren Zwangssystem<br />

der öffentlichen Bildung summieren<br />

sich diese Institutionen und Praktiken zu einem<br />

massiven Angriff auf die Institution der<br />

Familie und der persönlichen Verantwortung.<br />

Indem Individuen von der Pflicht befreit werden,<br />

für ihr eigenes Einkommen, ihre Gesundheit,<br />

Sicherheit, ihre Rente und die Ausbildung<br />

ihrer Kinder zu sorgen, sinkt die<br />

Reichweite und der Zeithorizont der privaten<br />

Vorsorge und der Wert der Ehe, Familie, Kinder<br />

und verwandtschaftlicher Beziehungen<br />

wird vermindert. Unverantwortlichkeit, Kurzsichtigkeit,<br />

Nachlässigkeit, Krankheit und sogar<br />

Zerstörungswut (Ungüter) werden gefördert<br />

und Verantwortung, Weitblick, Fleiß, Gesundheit<br />

und Konservatismus (Güter) werden<br />

bestraft. Insbesondere die Zwangsrentenversicherung,<br />

bei dem die Rentner (die Alten) mit<br />

Steuern subventioniert werden, die gegenwärtigen<br />

Einkommensverdienern auferlegt<br />

werden (den Jungen), hat den natürlichen<br />

Intergenerationenverbund zwischen Eltern,<br />

Großeltern und Kindern systematisch geschwächt.<br />

Die Alten brauchen sich nicht<br />

mehr auf die Unterstützung durch ihre Kinder<br />

zu verlassen, wenn sie für ihr eigenes hohes<br />

Alter nicht vorgesorgt haben; und die<br />

Jungen (normalerweise mit weniger akkumuliertem<br />

Vermögen) müssen die Alten (mit<br />

normalerweise mehr akkumuliertem Vermögen)<br />

unterstützen, statt andersherum, wie<br />

innerhalb von Familien normalerweise der<br />

Fall. Infolgedessen wollen Menschen nicht<br />

nur weniger Kinder haben – und Geburtenraten<br />

sind seit Einsetzung der modernen Sozialversicherungs-<br />

(Wohlfahrts-)politik halbiert<br />

worden – auch der Respekt, den die Jungen<br />

traditionell Älteren gegenüber zollten, hat<br />

sich vermindert, und alle Indikatoren von Familienzerfall,<br />

wie Scheidungsquoten, uneheliche<br />

Kinder, Kindesmissbrauch und Abtreibung<br />

haben sich erhöht.<br />

Sozialversicherung<br />

Darüber hinaus ist mit der Sozialisierung des<br />

Gesundheitsversorgungssystems und der Regulierung<br />

der Versicherungsindustrie eine<br />

monströse Maschinerie der Vermögens- und<br />

Einkommensumverteilung zugunsten verantwortungsloser<br />

Akteure und Hochrisikogruppen<br />

und auf Kosten verantwortungsbewusster<br />

Individuen und Gruppen mit niedrigem Risiko<br />

in Gang gesetzt worden. Man kann nichts<br />

besseres machen als den „toten österreichischen<br />

Ökonom“ Ludwig von Mises nochmals<br />

zu zitieren:<br />

Kranksein ist kein vom bewussten Willen unabhängiges<br />

Phänomen. ... Die Effizienz eines<br />

Menschen ist nicht lediglich das Ergebnis seiner<br />

physischen Kondition; sie hängt weitgehend<br />

von seinem Geist und seinem Willen ab<br />

... Der zerstörerische Aspekt der Unfall- und<br />

Krankenversicherung liegt vor allem in der<br />

Tatsache, dass solche Institutionen Unfälle<br />

und Krankheiten fördern, die Erholung behindern<br />

und sehr oft die funktionalen<br />

Störungen, die einer Krankheit oder einem<br />

Unfall folgen, intensivieren und in die Länge<br />

ziehen ... Sich gesund zu fühlen ist etwas<br />

gänzlich anderes als gesund im medizinischen<br />

Sinne zu sein. ... Indem der Wille, gesund<br />

und arbeitsfähig zu bleiben geschwächt oder<br />

gänzlich zerstört wird, erzeugt Sozialversicherung<br />

Krankheit und Arbeitsunfähigkeit;<br />

sie produziert die Angewohnheit, sich zu beschweren<br />

– welches selbst eine Neurose ist –<br />

und Neurosen anderer Art. ... Als eine soziale<br />

Institution macht sie ein Volk körperlich und<br />

geistig krank oder führt zumindest dazu,<br />

dass sich Krankheiten vermehren, in die Länge<br />

ziehen und intensivieren. ... Die Sozialversicherung<br />

hat somit die Neurosen der Versicherten<br />

in eine gefährliche öffentliche Seuche<br />

verwandelt. Im Falle der Erweiterung und<br />

Entwicklung der Institution wird sich die<br />

Seuche weiter ausbreiten. Keine Reform wird<br />

irgendwelche Abhilfe schaffen. Wir können<br />

nicht den Willen zur Gesundheit schwächen<br />

oder zerstören ohne Krankheiten zu erzeugen.<br />

Ökonomischer Destruktivismus<br />

Ebenso unsinnig sind die noch weiter gehenden<br />

Ideen einer Schutzzoll Politik von Buchanan<br />

und seinen Theoretikern. Wenn sie<br />

recht hätten, würde ihr Argument zugunsten<br />

ökonomischer Protektion zu einer Verurteilung<br />

jeglichen Handels führen und zur Verteidigung<br />

der These, dass jeder (jede Familie)<br />

besser dran wäre, wenn er (sie) niemals mit<br />

irgendjemand anderem Handel treiben würde.<br />

Sicherlich würde in einem solchen Fall niemand<br />

seine Arbeit verlieren, und Arbeitslosigkeit<br />

aufgrund „ungerechten“ Wettbewerbs<br />

wäre auf Null reduziert. Eine solche Vollbeschäftigungsgesellschaft<br />

wäre jedoch nicht<br />

wohlhabend und stark; sie wäre aus Menschen<br />

zusammengesetzt, die, obwohl sie von<br />

morgens bis abends arbeiteten, zur Armut<br />

und zum Verhungern verdammt wären. Buchananas<br />

internationaler Protektionismus würde<br />

im Ergebnis genau dieselbe Wirkung haben.<br />

Das ist nicht Konservatismus – das ist<br />

ökonomischer Destruktivismus.<br />

Der kulturelle Verfall und die Entzivilisierung<br />

sind die zwangsläufigen und unvermeidbaren<br />

Ergebnisse des Wohlfahrtsstaates und seiner<br />

zentralen Institutionen. Klassische Konservative<br />

der alten Schule wussten dies und<br />

bekämpften die öffentliche Bildung und die<br />

Sozialversicherung mit aller Kraft. Ihnen war<br />

klar, dass Staaten überall darauf abzielen, Familien<br />

und Institutionen, Schichten und<br />

Hierarchien sozialer Autorität zu zerstören,<br />

um ihre eigene Macht zu vergrößern und zu<br />

stärken.<br />

Wohlfahrts-Etatismus<br />

Im Gegensatz dazu zeugt der auch in<br />

Deutschland weit verbreitete populistischproletarische<br />

Konservatismus mit seinem sozialen<br />

Nationalismus von vollständiger Ignoranz<br />

hinsichtlich alldem. Kulturellen Konservatismus<br />

mit Wohlfahrts-Etatismus zu<br />

kombinieren ist unmöglich und daher ökonomischer<br />

Unsinn. Wohlfahrts-Etatismus – soziale<br />

Sicherheit in jeder Art, Gestalt oder<br />

Form – fördert den moralischen und kulturellen<br />

Verfall. Eine Rückkehr zur Normalität erfordert<br />

nichts geringeres als die vollständige<br />

Eliminierung des gegenwärtigen sozialen Sicherheitssystems:<br />

der Arbeitslosenversicherung,<br />

der Sozialhilfe, der Krankenversicherung,<br />

der öffentlichen Bildung usw. – und damit<br />

die fast vollständige Auflösung und De-


criticón 181 – Frühling 2004 von <strong>Hans</strong>-<strong>Hermann</strong> <strong>Hoppe</strong> 19<br />

konstruktion des gegenwärtigen Staatsapparates<br />

und der Regierungsmacht. Wenn man<br />

jemals Normalität wiederherstellen möchte,<br />

müssen die Finanzmittel und die Macht der<br />

Regierung auf oder sogar unter das Niveau<br />

des 19. Jahrhunderts fallen. Echte Konservative<br />

müssen von daher libertäre Hardliner<br />

(Anti-Etatisten) sein. Der soziale Nationalismus<br />

der populistisch-proletarischen Konservativen<br />

ist verfehlt: er möchte zur traditionellen<br />

Moral zurückkehren, fordert aber gleichzeitig,<br />

dass gerade die Institutionen erhalten<br />

bleiben, die für die Pervertierung und Zerstörung<br />

traditioneller Moral verantwortlich<br />

ist.<br />

Rothbardismus<br />

Die meisten zeitgenössischen Konservativen,<br />

sind daher keine Konservativen, sondern Sozialisten<br />

– entweder der internationalistischen<br />

Art oder der nationalistischen Sorte.<br />

Echte Konservative müssen sich beiden widersetzen.<br />

Um soziale und kulturelle Normalität<br />

wiederherzustellen, müssen echte Konservative<br />

radikale Libertäre sein und den Abriss der<br />

gesamten Struktur der Sozialversicherung –<br />

als einer moralischen und ökonomischen Perversion<br />

– fordern. Wenn Konservative Libertäre<br />

sein müssen, weshalb müssen Libertäre<br />

Konservative sein? Wenn Konservative von Libertären<br />

lernen müssen, müssen Libertäre<br />

auch von Konservativen lernen?<br />

Zunächst sind einige terminologische Klarstellungen<br />

nötig. Kulminierend im Werk Murray<br />

N. Rothbards, dem Schöpfer der modernen<br />

libertären Bewegung, und insbesondere<br />

in seiner Ethics of Liberty, ist Libertarismus<br />

ein rationales System der Ethik (des Rechts).<br />

Rothbard arbeitet innerhalb der Tradition der<br />

klassischen politischen Philosophie – von<br />

Hobbes, Grotius, Pufendorf, Locke und Spencer<br />

– und er verwendet im wesentlichen dieselben<br />

analytischen Werkzeuge und logischen<br />

Verfahren wie die Klassiker. Libertarismus ist<br />

ein systematischer Rechtskodex, der mittels<br />

logischer Deduktion von einem einzigen Prinzip<br />

abgeleitet wird, dessen Gültigkeit nicht<br />

bestritten werden kann ohne sich dabei in einen<br />

logisch-praktischen (praxeologischen)<br />

oder performativen Widerspruch zu verwickeln.<br />

Dieses Axiom ist das uralte Prinzip<br />

der ursprünglichen Aneignung: Eigentum an<br />

knappen Ressourcen – das Recht an der ausschließlichen<br />

Kontrolle über knappe Ressourcen<br />

(Privateigentum) – wird durch die Handlung<br />

ursprünglicher Aneignung erworben<br />

(wodurch Ressourcen aus einem natürlichen<br />

Zustand in einen zivilisatorischen Zustand<br />

übertragen werden). Wenn dem nicht so wäre,<br />

könnte niemand jemals anfangen zu han-<br />

Wird der Intergenerationenverbund zwischen Eltern, Großeltern und Kindern systematisch geschwächt?<br />

deln (irgendetwas vorschlagen oder tun); daher<br />

ist jedes andere Prinzip praxeologisch unmöglich<br />

(und argumentativ nicht zu verteidigen).<br />

Vom Prinzip ursprünglicher Aneignung<br />

– dem Prinzip „erster Benutzer-erster-Besitzer“<br />

– werden Regeln bezüglich der Verwandlung<br />

und des Transfers (des Austauschs) ursprünglich<br />

angeeigneter Ressourcen abgeleitet,<br />

und die gesamte Ethik (das Recht),<br />

einschließlich der Prinzipien der Bestrafung,<br />

wird dann in eigentumstheoretischen Begriffen<br />

rekonstruiert: alle Menschenrechte sind<br />

Eigentumsrechte und alle Menschenrechtsverletzungen<br />

sind Eigentumsrechtsverletzungen.<br />

Das Ergebnis dieser libertären Theorie des<br />

Rechts ist in diesen Kreisen wohlbekannt: der<br />

einflussreichsten Strömung der libertären<br />

Theorie zufolge, dem Rothbardismus, ist der<br />

Staat eine außergesetzliche Gangster-Organisation<br />

und die einzige gerechte Sozialordnung<br />

ist das System einer Privateigentumsanarchie.<br />

Inhaltliche Affinität zweier<br />

Doktrinen<br />

Einige oberflächliche Kommentatoren, meist<br />

von der konservativen Seite, haben Libertarismus<br />

und Konservatismus als unvereinbare,<br />

gegnerische oder sogar antagonistische Ideologien<br />

bezeichnet. Tatsächlich ist diese Ansicht<br />

ein kompletter Irrtum. Die Beziehung<br />

zwischen Libertarismus und Konservatismus<br />

ist eine der praxeologischen Vereinbarkeit,<br />

soziologischer Ergänzung und wechselseitiger<br />

Verstärkung.<br />

Um dies zu erklären, muss ich darauf hinweisen,<br />

dass die meisten führenden libertären<br />

Denker faktisch sozial-kulturelle Konservative<br />

waren: Verteidiger der traditionellen, bürgerlichen<br />

Moral und Verhaltensweisen. Am bezeichnendsten<br />

war Murray Rothbard ein ausgesprochener<br />

kultureller Konservativer. Ebenso<br />

war es auch Rothbards wichtigster Lehrer,<br />

Ludwig von Mises. Während dies nicht viel<br />

beweist, deutet es auf eine inhaltliche Affinität<br />

zwischen den zwei Doktrinen hin. Es ist<br />

nicht schwer zu erkennen, dass die konservative<br />

und libertäre Sicht der Gesellschaft perfekt<br />

vereinbar sind. Konservative sind überzeugt,<br />

dass das „natürliche“ und „normale“<br />

alt und weitverbreitet ist und somit immer<br />

und überall erkannt werden kann. Ähnlich<br />

sind Libertäre überzeugt, dass die Prinzipien<br />

der Gerechtigkeit ewig und universell gültig<br />

sind und somit der Menschheit von ihrem<br />

Anbeginn an im wesentlichen bekannt gewesen<br />

sein müssen. Die libertäre Ethik ist nicht<br />

neu und revolutionär, sondern alt und konservativ.<br />

Selbst Kinder sind in der Lage, die<br />

Gültigkeit des Prinzips ursprünglicher Aneignung<br />

zu begreifen und die meisten Menschen<br />

erkennen es normalerweise als unumstößliche<br />

Tatsache an.<br />

In ihrem Versuch, eine freie natürliche Sozialordnung<br />

zu etablieren, müssen Libertäre<br />

danach streben, das im Privateigentum inhärente<br />

Recht des Ausschlusses vom Staat<br />

zurückzugewinnen. Doch bevor sie dieses Ziel<br />

erreichen und um sein Erreichen überhaupt<br />

möglich zu machen, können Libertäre nicht<br />

früh genug damit beginnen, sofern die Umstände<br />

ihnen dies noch erlauben, ihr Ausschlussrecht<br />

im Alltagsleben wieder zu beanspruchen<br />

und auszuüben. Wie echte Konservative,<br />

die sich vom falschen sozial(istischen)<br />

Konservatismus trennen müssen.


20 criticón 181 – Frühling 2004<br />

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criticón 181 – Frühling 2004 von Michael Kastner 21<br />

von Michael Kastner<br />

Die Hauptkritik, die dem Anarchokapitalismus<br />

von Anhängern des Staates und<br />

selbst von staatsskeptischen Liberalen entgegengehalten<br />

wird, lässt sich in einem Wort<br />

zusammenfassen: Utopie!<br />

Diesem Vorwurf möchte ich im folgenden<br />

entgegentreten – ausgerechnet mit Hilfe<br />

eines theoretischen Ansatzes, den einer der<br />

liberalen Hauptverfechter des Verfassungsstaates,<br />

Friedrich August von Hayek, in verschiedenen<br />

Schriften, insbesondere in seiner<br />

Aufsatzsammlung ‚Die Anmaßung von Wissen’<br />

herausgearbeitet hat.<br />

Entwicklungstheorie und die<br />

Theorie komplexer Phänomene<br />

Die Entwicklungstheorie beschreibt einen<br />

Auswahl- und Replikationsprozess, bei<br />

dem nach Hayek jene Elemente ausgewählt<br />

werden, „die fähig sind, komplexere Strukturen<br />

zu bilden; und die Vermehrung ihrer Mitglieder<br />

wird zur Bildung noch komplexerer<br />

Strukturen führen“. Eine evolutorische Entwicklung,<br />

d.h. die Auslese von Verfahren mit<br />

Hilfe von Versuch und Irrtum wird überhaupt<br />

erst notwendig, weil es sich bei menschlichen<br />

Gesellschaften um solch komplexe Phänomene<br />

handelt. Ein komplexes Phänomen existiert,<br />

vereinfacht ausgedrückt, wenn die Anzahl<br />

der Elemente eines Systems und deren<br />

Handlungsmöglichkeiten so groß ist, dass eine<br />

Voraussage über das einzelne Element unmöglich<br />

ist. Bestenfalls ist gemäß Hayek eine<br />

Vorhersage über bestimmte Muster möglich.<br />

Anarcho-<br />

kapitalistische<br />

Theorie<br />

Der Staat ist die eigentliche Utopie<br />

Spontane Ordnung und Tradition<br />

Gesellschaften können als solche<br />

komplexe Phänomene verstanden werden. Die<br />

Handlungsmöglichkeiten und Wünsche der<br />

Individuen in den Gesellschaften sind nahezu<br />

unbegrenzt und verändern sich permanent.<br />

Gleichzeitig verändert sich aber auch die Umwelt<br />

der Gesellschaften und es entstehen<br />

wiederum neue Aktions- und Reaktionsmöglichkeiten,<br />

die die Komplexität des Systems<br />

weiter erhöhen. In diesem Chaos bilden sich<br />

spontan, basierend auf den Handlungsalternativen<br />

des Individuums, Ordnungen, Verhaltensweisen<br />

und Regeln. Können sich diese<br />

über einen längeren Zeitraum durchsetzen, so<br />

werden sie zu Traditionen. Aufgrund des geringen<br />

Wissens, welches einzelne Individuen<br />

über die einzelne Gesellschaft und über die<br />

erweiterten Ordnungen außerhalb der Gesellschaften<br />

haben, bildet die Tradition den<br />

größten und brauchbarsten Teil des Wissens<br />

im Umgang mit einer komplexen sozialen<br />

Umwelt.<br />

Individuum, Gesellschaft und<br />

erweiterte Ordnung<br />

Nur dort, wo sich Individuen freiwillig<br />

zusammenschließen, kann überhaupt von Gesellschaft<br />

gesprochen werden. Nur in solchen<br />

Gesellschaften können Anpassungsprozesse<br />

an den Wandel durchgeführt werden. Die Arten<br />

der gesellschaftlichen Organisation und<br />

die Regeln des Zusammenlebens können in<br />

den gesellschaftlichen Gebilden sehr unterschiedlich<br />

sein. Für die Anpassungsfähigkeit<br />

einer Gesellschaft ist lediglich die Freiwilligkeit<br />

der Teilnahme ausschlaggebend.<br />

Über die Gesellschaften hinaus interagiert<br />

der Einzelne auch mit Individuen, die<br />

sich außerhalb seines bekannten Erkenntnishorizonts<br />

befinden. Er nutzt Güter und Leistungen<br />

von Menschen, deren Gesellschaften<br />

er nicht angehört. Hayek nennt dies die "erweiterte<br />

Ordnung".<br />

In dem Maße, in dem Bevölkerungen<br />

wachsen, wächst auch die Anzahl der Gesellschaften<br />

und es wächst die Anzahl anonymer<br />

Transaktionen. Umgekehrt wird die einstmals<br />

für das Individuum vermeintlich oder<br />

tatsächlich überschaubare Welt immer kleiner<br />

im Verhältnis zu einer wachsenden erweiterten<br />

Ordnung. Gleichzeitig führt das Wachstum<br />

der Tauschprozesse zu einer immer besseren<br />

Allokation von Ressourcen. Dies führt<br />

wiederum zu einem stärkeren Wachstum der<br />

Bevölkerungen.<br />

Erweiterte Ordnung und Kleingruppenorganisation<br />

Der Prozess der Bildung erweiterter<br />

Ordnungen hat sich in Europa seit dem Mittelalter<br />

stark beschleunigt. Überkommene<br />

Herrschafts- und Organisationsstrukturen, die<br />

noch während der Zeit der Völkerwanderung<br />

und noch bis einige Jahrhunderte danach<br />

durchsetzbar waren, gerieten zunehmend unter<br />

Druck. Der Herausbildung erster bürgerli-


22 Anarcho-kapitalistische Theorie criticón 181 – Frühling 2004<br />

cher Neuordnung in Form freier Reichsstädte,<br />

der <strong>Hans</strong>e oder der oberitalienischen Städte<br />

hatten Fürsten, Feudalherren und Kaiser<br />

außer an militärischer Macht wenig entgegenzusetzen,<br />

zumal auch ihre militärische<br />

Macht zunehmend von den Früchten der erweiterten<br />

Ordnung abhing.<br />

Der Prozess der Ausweitung einer von<br />

zentralen Entscheidungsträgern unkontrollierbaren<br />

anonymen Ordnung machte den einzelnen<br />

Menschen Angst. Die Welt begann sich<br />

immer schneller zu verändern. Die Menschen<br />

in England oder Deutschland waren mit dem<br />

Beginn der industriellen Revolution Veränderungen<br />

ausgesetzt, deren Ursachen sie nicht<br />

kannten und deren Folgen sie fürchteten.<br />

Verhaltensmuster und Traditionen, die in<br />

agrarischen Kleingruppen bzw. dörflichen Gemeinschaften<br />

eventuell noch für ein Überleben<br />

ausreichten, wurden teilweise nutzlos<br />

oder gar hinderlich.<br />

Aufstieg der Marktanarchie<br />

Es waren städtische Strukturen, die<br />

den Informationsfluss, den Warenaustausch<br />

und auch die Experimentierfreudigkeit des<br />

Einzelnen förderten. Die Städte erweiterten<br />

die Anzahl der Handlungsalternativen auf<br />

kleinem Raum. Es war in den Städten leichter,<br />

Gleichgesinnte für eine Sache zu finden<br />

als auf dem Lande, wo die Dorfgemeinschaften<br />

klein, die Entfernungen groß und die<br />

Traditionen starr waren. Gleichzeitig gab es<br />

erstmals auch verstärkt Möglichkeiten, in der<br />

Anonymität einer Menschenmasse abzutauchen.<br />

In den Städten entstand eine Ordnung,<br />

die zunehmend von obrigkeitlicher<br />

Entscheidung unabhängig war. Es entstand<br />

eine neue Ordnung, die nicht mehr kontrollierbar<br />

war und die sich außerhalb des Einflussbereichs<br />

fürstlicher Herrschaft befand.<br />

Städtische Entwicklung, Bevölkerungswachstum<br />

und Zunahme der Handlungsspielräume<br />

des Einzelnen begünstigten sich gegenseitig.<br />

Und dies nicht nur innerhalb der Stadtmauern,<br />

sondern in der Folge auch im Umland.<br />

Der Aufstieg des Staates als<br />

Reaktion gegen den Wandel<br />

Die neue Ordnung war nicht gewollt<br />

oder gar geplant. Sie war kein Komplott anarchistischer<br />

Umstürzler. Sie war oftmals<br />

selbst von jenen Stadtbürgern nicht gebilligt<br />

und nicht gewollt, die unbewusst halfen, sie<br />

mit herbeizuführen. Hayek formuliert es so:<br />

„Die Schritte in einem Prozess der Entwicklung<br />

auf etwas zu, das vorher unbekannt war,<br />

können den Menschen nicht gerecht erscheinen,<br />

weil die Erfolge größtenteils unbeabsichtigt<br />

und unvorhergesehen waren.“ Was<br />

den Erfolg der Marktordnung ausmachte, war<br />

die schlichte ökonomische und soziale Notwendigkeit.<br />

Nicht die Einsicht. Wer sich der<br />

Notwendigkeit nicht anschloss, war von den<br />

Möglichkeiten des ökonomischen Erfolges und<br />

des sozialen Aufstiegs ausgeschlossen.<br />

Es ist kein Zufall, dass mit dem Überflüssigwerden<br />

überkommener Ordnungen und<br />

dem Entstehen neuer Ordnungen und Gesellschaften<br />

die Idee der Nation und des Staates<br />

an Zulauf gewann. Hayek erklärt: „Die Abneigung<br />

gegen solche Zufallsergebnisse, die mit<br />

dem Vorgang des Experimentierens untrennbar<br />

verbunden sind, lassen die Menschen<br />

wünschen, die Entwicklung selbst in die<br />

Hand zu nehmen und mit ihren Wünschen in<br />

Einklang zu bringen.“<br />

In dieser Situation konnte die Idee<br />

des Staates gedeihen. Einerseits versprach die<br />

Idee der Nation bei Arbeitern, Bauern und<br />

dem Bürgertum den Ersatz für Familie, verlorengegangene<br />

kollektive Idylle und die Wiederherstellung<br />

der Verankerung in einer Gemeinschaft.<br />

Andererseits betrachtete das Bürgertum,<br />

das seit dem Ende des 18. Jahrhunderts<br />

im Erfolgstaumel des technisch<br />

Machbaren lebte, den Staat als technokratisches<br />

Mittel, um die Veränderungen zu kanalisieren<br />

und planbar zu machen. Das Bürgertum<br />

und auch die Sozialisten glaubten, man<br />

könne Ordnung per Verfassung konstruieren.<br />

Das staatliche Chaos<br />

Die Gründer von National- und Sozialstaat<br />

waren davon überzeugt, es genüge, die<br />

Ergebnisse sozialer Prozesse zu kopieren. Und<br />

schon würde man das gleiche Ergebnis erzielen<br />

wie der Markt.<br />

Frühzeitig wurden so die Ergebnisse<br />

von Marktprozessen, etwa die Sicherheitsproduktion,<br />

das Geldwesen und die Gerichtsbarkeit<br />

verstaatlicht. Es folgten Mitte des 19.<br />

Jahrhunderts das Bildungswesen, die Infrastruktur<br />

und Teile des Versicherungswesens.<br />

Dies führte dazu, dass viele Entdeckungsverfahren,<br />

die sich in der Marktanarchie abspielten,<br />

plötzlich unterbunden wurden. Auch<br />

Verfahren, die nach den bestmöglichen Ergebnissen<br />

suchen sollten, wurden verhindert. Wo<br />

der Markt zuvor eine Vielfalt von Lösungen<br />

anbieten konnte, aus denen sich im Rahmen<br />

des Wettbewerbs die beste herausbildete, gab<br />

nun der Staat eine einzige Lösung vor.<br />

Reaktions- und Suchverfahren, die die<br />

Ordnung überhaupt erst ermöglichten, die<br />

der Staat nun zu beherrschen versuchte, wurden<br />

außer Kraft gesetzt. Je größer die Kom-<br />

plexität der erweiterten Ordnung wurde, d.h.<br />

je höher die Anzahl der teilnehmenden Menschen,<br />

ihre Interaktionen pro Zeiteinheit und<br />

je größer die Anzahl der bestehenden Wahlmöglichkeiten,<br />

desto katastrophaler gestalteten<br />

und gestalten sich die Folgen dieses Eingriffs.<br />

Ordnung aus dem Chaos<br />

Der staatliche Zentralismus war dem<br />

Marktanarchismus bereits zum Zeitpunkt der<br />

ersten Staatsgründungen unterlegen. Die Eingriffe<br />

der Nationalstaaten waren zu deren<br />

Gründerzeit jedoch recht gering und die Vielfalt<br />

der Transaktionsmöglichkeiten noch<br />

nicht in dem Maße gegeben wie es gegenwärtig<br />

der Fall ist.<br />

Mit wachsender Bevölkerung versuchten<br />

die Staaten immer stärker vom Markt<br />

vorgegebene Funktionen zu übernehmen, um<br />

die ihnen dennoch entgleitende Kontrolle<br />

nicht zu verlieren.<br />

Für Staaten ist das Szenario einer auf<br />

stetigen Wandel reagierenden, stetigen Wandel<br />

auslösenden und zunehmend anwachsenden<br />

Bevölkerung eine Bedrohung. Die Erhöhung<br />

der Systemkomplexität stellt eine<br />

permanente Schwächung der staatlichen<br />

Macht dar. Auch wenn die staatliche Welt ein<br />

Chaos erzeugt, so bilden sich in diesem Chaos<br />

verstärkt und immer schneller an vielen Stellen<br />

erfolgreiche spontane und erweiterte Ordnungen.<br />

Sie bilden sich ohne von außen vorgegebenen<br />

Masterplan, vielmehr aus dem<br />

Wettbewerb mit anderen Ordnungen.<br />

Trotz des Chaos, das Staaten mit<br />

ihrem Interventionismus im ökonomischen<br />

und sozialen Bereich anrichten, bilden sich<br />

nicht kontrollierbare Ausgleichsmechanismen<br />

in Form von Schmuggel, Schwarzmärkten und<br />

anderen illegalen Selbsthilfestrukturen. Die<br />

Anzahl und der Anteil dieser Strukturen<br />

wachsen ständig.<br />

Staaten waren seit ihrer Gründung<br />

niemals fähig, Ordnungen zu schaffen. Sie<br />

bedienten und bedienen sich lediglich der<br />

menschlichen Sehnsucht nach Kleingruppensicherheit<br />

in einer sich immer schneller wandelnden<br />

Welt. Sie erreichen dies, indem sie<br />

die technokratische Vorstellung der Verwaltbarkeit<br />

gesellschaftlicher Komplexität als<br />

Pragmatismus deklarieren.<br />

Der Staat - das ist die Utopie, nicht<br />

der Anarchokapitalismus.<br />

Erstveröffentlicht in: eigentümlich frei Nr.<br />

39/2004.


criticón 181 – Frühling 2004 von Gerard Radnitzky 23<br />

Demokratie –<br />

eine Methode<br />

der Kollektiventscheidung<br />

wird zur Ideologie<br />

von Gerard Radnitzky<br />

Das paradigmatische Beispiel einer artifiziellen,<br />

prozeduralen Methode ist die demokratische<br />

Methode der Kollektiventscheidung<br />

(Majoritätsprinzip, definiertes Stimmrecht<br />

usf.). Sie ist eine Unterklasse der prozeduralen<br />

Methode. Sie kann funktionieren<br />

für eine gewisse Art von Problemen, wenn sie<br />

auf eine „kleine“ Einheit von Handelnden (eine<br />

Gemeinde, allenfalls bis zur Größe eines<br />

schweizerischen Kantons) bezogen wird. Ihre<br />

große Popularität besteht im Glauben, sie sei<br />

die beste Methode, um den „Willen“ der Allgemeinheit<br />

(„Volonté Générale“) zu ermitteln.<br />

Allgemeine demokratische Wahlen seien<br />

die beste Methode, um herauszufinden, welches<br />

Mandat der Auftraggeber (the principal),<br />

nämlich „das Volk“ oder „die Gesellschaft“<br />

dem Staat zur Zeit gibt. Der Staat, oder die<br />

Regierung fungiert dabei als Auftragnehmer<br />

eines Auftraggebers, des „Volkes“ (the principal-agent<br />

problem). Da die demokratische<br />

Methode nur eine der vielen prozeduralen<br />

Methoden ist und die gesamte Gruppe dieser<br />

Verfahren daran scheitert, dass ein mechanisches<br />

Verfahren keine substantiven Probleme<br />

lösen kann, bietet sie keine Lösung des Problems<br />

der Kollektiventscheidung. Man sollte<br />

offen eingestehen, dass dieses Problem bisher<br />

ungelöst ist. Vielleicht ist es unlösbar. Mit<br />

dieser Feststellung ist die logische Analyse<br />

der demokratischen Methode abgeschlossen.<br />

Aber da sich diese Methode so großer<br />

Beliebtheit erfreut, mag es sich lohnen, sich<br />

näher anzusehen, wie diese Methode im Alltag<br />

angewandt wird und welche Tricks dabei<br />

verwendet werden, um ihr Plausibilität zu<br />

verleihen.<br />

Das einfachste Modell der demokratischen<br />

Politik ist ein Drei-Personen-Spiel.<br />

Wir können eine Gesellschaft beschreiben<br />

als ein Aggregat von drei Gruppen,<br />

geordnet nach Einkommen: Unter-, Mittelund<br />

Oberschicht Die Mittelgruppe ist der „Medianwähler“,<br />

das Zünglein an der Waage (in<br />

der BRD die FDP). Der potenzielle Gewinn aus<br />

der demokratischen Spielregel wird dann maximiert,<br />

wenn Unter- und Mittelgruppe sich<br />

zusammen tun, um einen Teil des Einkommens<br />

der Obergruppe zu sich umzuverteilen.<br />

Im Modell können wir die Gruppen idealisieren<br />

als jeweils 50 Prozent der Gesamtsumme<br />

minus 1 (den Medianwähler) und 50 Prozent<br />

plus 1, also z.B. bei einer Gesamtzahl von<br />

1001, 500 plus l (den Medianwähler) und<br />

500. In der Wirklichkeit kann man sich die<br />

Gruppierungen mit etwa jeweils 40-45 zur<br />

Mittelgruppe („Medienwähler“) von l0-20<br />

Prozent vorstellen.<br />

Hat man die demokratische Methode<br />

gewählt, dann ergeben sich einige Folgeprobleme<br />

wie: Für welche Art von Problemen<br />

kann diese Methode rational verwendet werden?<br />

In welchen Arten von Aktivitäten kann<br />

sie nützlich sein? Einige Bereiche scheiden<br />

hier a priori aus wie zum Beispiel die wissenschaftliche<br />

Forschung und der militärische<br />

Betrieb. In welchen sozialen Einheiten kann<br />

diese Methode funktionieren, d. h. mehr Nutzen<br />

als Schaden machen? (Vermutlich in kleineren,<br />

einigermaßen überschaubaren Einheiten,<br />

wie Gemeinden, evt. Kantone o.ä.) 1 Und<br />

wie wählt man politische Einheiten? (Etwa Irland<br />

oder Nordirland?) Verwendet man die<br />

proportionale- oder die Mehrheitsmethode?<br />

Welche Selektionskriterien sollen für das aktive<br />

Wahlrecht gelten? Je nach dem, was man<br />

bei den einzelnen Alternativen gewählt hat,<br />

wird man ganz verschiedene Resultate bekommen.<br />

Sogar die Agenda einer Abstimmung<br />

beeinflusst die Resultate.<br />

Zu unserem Wissen, das wir als gesichert<br />

betrachten können, gehört Folgendes.<br />

Handeln im vollen Sinne des Wortes können<br />

nur Individuen, Kollektive können nur Quasi-<br />

Handlungen mittels Individuen ausführen.<br />

1 Die griechische Polis, die als<br />

klassisches Modell angeführt wird,<br />

ähnelte mehr einer Stammesgemeinschaft<br />

als einer modernen Demokratie;<br />

nur etwa ein Fünftel der Bevölkerung<br />

hatte aktives Wahlrecht. Auch in Amerika<br />

hatten im Anfang nur etwa ein Fünftel<br />

Wahlrecht.


24 Demokratie criticón 181 – Frühling 2004<br />

Alle echten (nicht-instrumentellen) Werturteile<br />

sind subjektiv. Das Aggregieren von Nutzen<br />

verschiedener Personen ist genau so unsinnig<br />

wie der Versuch, fünf Äpfel aus einer<br />

Menge von acht Orangen herauszunehmen.<br />

Diese Einsichten müssen wir also berücksichtigen.<br />

Die Gretchenfrage ist, welche Kriterien<br />

für das aktive Wahlrecht gelten sollen. In<br />

unserer Epoche hat man sich für ein unqualifiziertes<br />

Wahlrecht entschieden. Man abstrahiert<br />

von allen Eigenschaften, die als Kandidaten<br />

für Kriterien in Frage kämen, wie Intensität<br />

der Präferenz oder Risikobeteiligung,<br />

relevantes Wissen und Information usf. Das<br />

heißt Wähler und Stimmen werden behandelt<br />

als ob sie homogen wären. Das Homogenisieren<br />

ist notwendig, denn man will Stimmen<br />

addieren können.<br />

Deshalb muss man versuchen, die bekannte<br />

Unmöglichkeit interpersoneller<br />

Nutzenaggregation zu umgehen. Wenn Peter<br />

die Ziege und Paul das Grünzeug vorzieht,<br />

wie sieht dann die gemeinsame Präferenzordnung<br />

von Peter & Paul aus? Wie sollte man<br />

Peters Freude mit Pauls Schmerz verrechnen?<br />

Von den vielen möglichen Gleichheitsaxiomen<br />

wählt man die Zugehörigkeit zur biologischen<br />

Spezies Mensch aus. Mit dem biologischen<br />

Kriterium will man den Anschein erwecken,<br />

nun sei es möglich, die inkommensurablen<br />

Entitäten kommensurabel zu machen. Denn,<br />

wenn man an sich verschiedene Entitäten addieren<br />

will, dann muss man sie mittels einer<br />

höheren Kategorie eines klassifikatorischen<br />

Systems beschreiben. Fünf Äpfel und drei<br />

Pflaumen zu „addieren“ – interpretiert als<br />

physisches Zusammenlegen – ist keine sinnvolle<br />

Operation; aber wenn wir sie als Früchte<br />

beschreiben, dann sind einige arithmetische<br />

Operationen auf diese Domäne sinnvoll anwendbar.<br />

Ob die arithmetische Operation des<br />

Addierens sinnvoll angewandt werden kann,<br />

hängt von der Domäne ab: Nüsse können<br />

sinnvoll addiert werden, Quecksilbertropfen<br />

nicht. Die auf diese Weise konstruierte Kommensurabilität<br />

der Stimmen ist jedoch für das<br />

Problem der (nicht-einstimmigen) Kollektiventscheidung<br />

– des Ermittelns einer „kollektiven<br />

Präferenz“ – irrelevant. Anderes zu behaupten<br />

ist Betrug oder Selbsttäuschung.<br />

Nehmen wir dieses Vorgehen einmal unter die<br />

logische Lupe.<br />

(1) Die Methode kann nur eine ordinale<br />

Rangordnung von Präferenzen ausdrücken;<br />

sie unterdrückt kardinale Präferenzen.<br />

Wenn man diese Methode verwendet,<br />

dann muss man entweder annehmen, dass die<br />

Intensität der Präferenzen so gleichmaßig ist,<br />

dass man sie ignorieren kann oder dass einfach<br />

die Präferenzen erraten werden können.<br />

Beides ist offensichtlich erkenntnistheoretisch<br />

und moralisch Unfug. (2) Die arithmetische<br />

Operation der Stimmen-Aggregation ist<br />

sinnlos und zwar in derselben Weise wie interpersonelle<br />

Nutzenaggregation. (Es ist wie<br />

wenn man Hausnummern addierte.) Als Methode,<br />

um herauszufinden, was der fiktive<br />

holistische Akteur „die Gesellschaft“ will, ist<br />

sie ebenso sinnlos. Sie ist nur sinnvoll als<br />

Methode des Zusammenzählens von Stimmen<br />

(oder „head counting“). Aus der erhaltenen<br />

Summe lassen sich keine holistischen Werte<br />

ableiten. Das Stimmenzusammenzählen verführt<br />

aber geradezu zum Missbrauch: indem<br />

man vorgibt, das erhaltene Resultat sei lediglich<br />

die „Summe der Teile“, wird eine holistische<br />

Entität eingeschmuggelt: „die Wahl, welche<br />

‘die Gesellschaft’ (als Abstraktum) getroffen<br />

habe“. So etwas kann es jedoch auf Grund<br />

der konflingierenden Interessen reeller Individuen<br />

nicht geben. Entitäten wie die „Wahl<br />

der Gesellschaft“ oder der „Wille der Gesellschaft“<br />

usf. haben nicht nur keinen ontologischen<br />

Status in unserer Welt (sind nichtexistent),<br />

sondern sie sind nicht einmal Begriffe,<br />

weil sie einer selbstwidersprüchlichen<br />

Konstruktion entspringen. Wenn man von<br />

den reellen Individuen abstrahiert, dann<br />

bleibt die fiktive Entität, der „Wille der Gesellschaft“<br />

zurück wie das Lächeln der Cheshire<br />

Katze in Alice in Wonderland, das<br />

zurück blieb als die Katze längst verschwunden<br />

war.<br />

Anstatt dieses Problem zuzugestehen,<br />

greift man wiederum zum Moralisieren. Wie<br />

bereits oben erwähnt, wird anbefohlen, das<br />

Ergebnis einer korrekten Anwendung des demokratischen<br />

Verfahrens solle als „gut“ bewertet<br />

werden – so wird hier ein bestimmtes<br />

Gleichheitsaxiom gegen Kritik immunisiert,<br />

zur Heiligen Kuh erhoben. Eine Kritik wird<br />

dann eo ipso „undemokratisch“, also böse.<br />

Allerdings ist die Demokratie oft nur Façade<br />

und de facto herrscht eine kleine politische<br />

Klasse. Die BRD und die EU bieten Beispiele<br />

dafür. In kleinen Einheiten kann Demokratie<br />

funktionieren; man denke an die Plebiszite<br />

in der Schweiz. In der BRD würde die classe<br />

politique dem Bürger niemals so viel Mündigkeit<br />

einräumen. 2<br />

Wenn die Methode, einfach die Stimmen<br />

zu addieren, akzeptiert wird, dann ist<br />

nur die Majoritätsregel möglich. Wegen der<br />

Dynamik des demokratischen Verfahrens ist<br />

jede Regel die qualifizierte Majoritäten vorschreibt,<br />

der Erosion ausgesetzt. Indem sie<br />

die Verlierergruppe maximiert kann die Gewinnermajorität<br />

ihren Gewinn aus der Umverteilung<br />

maximieren. „One-man, one-vote“<br />

ist das entscheidende Gambit für das Demokratiespiel.<br />

Aus ihm folgt alles weitere. Zu-<br />

erst, dass die entscheidende Teilmenge – und<br />

es kann nur eine geben – größer sein muss<br />

als 50 Prozent: 50 Prozent + 1 Stimme. Es<br />

geht gar nicht mehr um die „tyranny of the<br />

majority“, sondern um die „tyranny of minorities“.<br />

Und Mehrheiten werden gewonnen,<br />

indem die Parteien versprechen, Forderungen<br />

vieler Minderheiten zu erfüllen. Der neue König<br />

ist die dominante Koalition.<br />

Rationale Spieler, die im Anreizsystem<br />

einer demokratischen Verfassung operieren,<br />

werden ihren Gewinn auf zwei Weisen maximieren.<br />

(1) Direkte „payoffs“ sind erreichbar,<br />

indem die Regeln (legislation) im politischen<br />

Prozess (also innerhalb der gegeben Meta-Regeln)<br />

beeinflusst wird. (2) Indirekte „payoffs“<br />

sind erreichbar, indem die Meta-Regeln geändert<br />

werden. Sie werden lernen, die Meta-Regeln<br />

so zu ändern, dass der Bereich für die<br />

umverteilende Legislatur maximiert wird. Die<br />

der demokratischen Methode inhärente Dynamik<br />

(unqualifiziertes Wahlrecht und rationale<br />

2 Der bekannteste Kritiker der<br />

strukturellen Schwächen der bundesdeutschen<br />

Demokratie, der Juraprofessor<br />

<strong>Hans</strong> Herbert v. Arnim, hat das deutsche<br />

Parteienwesen als ein Kartellparteiensystem<br />

bezeichnet. Dieses zeichnet sich<br />

durch ein kollusives Zusammenwirken<br />

der politischen Kräfte aus, die nach der<br />

von Joseph Schumpeter entwickelten<br />

Konzeption, wonach Demokratie als<br />

Wettbewerb um die vorübergehende<br />

Mehrheit eines Volkes zu verwirklichen<br />

sei, eigentlich um die beste Verwirklichung<br />

der Wähleranliegen im harten<br />

Wettbewerb stehen müssten. Das Zusammenwirken<br />

der gegnerischen Kräfte erklärt,<br />

warum in der Bundesrepublik in<br />

wesentlichen politischen Bereichen – zu<br />

nennen sind etwa die Abschaffung der<br />

europäischen Währungswettbewerbs, der<br />

Umsturz im Staatsangehörigkeitsrecht<br />

und die geduldete Masseneinwanderung<br />

– gegen die Mehrheit der Deutschen regiert<br />

werden kann. Ein Kennzeichen für<br />

den „deutschen Sonderweg Bundesrepublik“<br />

ist eine staatliche Einrichtung, die<br />

unter dem Vorwand die Verfassung zu<br />

schützen, de facto die Ideologie des Kartellparteiensystems<br />

schützt. (Das dokumentiert<br />

der im Jahr 2000 erschiene,<br />

von H.-H. Knütter und St. Winckler<br />

2000 herausgegebene Sammelband ‚Der<br />

Verfassungsschutz‘.). Wie <strong>Hans</strong>-Herbert<br />

von Arnim feststellt: Das Dilemma der<br />

deutschen Demokratie besteht darin,<br />

dass sie keine ist. Etwas was für die<br />

Brüsseler Eurokratie a fortiori gilt.


criticón 181 – Frühling 2004 von Gerard Radnitzky 25<br />

Spieler vorausgesetzt) führen zu unbegrenzter<br />

Zuständigkeit (unrestricted domain) und<br />

reiner Majoritätsregel (bare majority rule).<br />

Das heißt, sie führen notwendigerweise zur<br />

uneingeschränkten Demokratie (unlimited<br />

democracy). 3 Und in einer totalitären Demokratie<br />

kann es keine Individualrechte geben.<br />

Eine demokratische Verfassung bietet<br />

keinen Schutz gegen Totalitarismus. Das ist<br />

keine Kritik speziell der Demokratie. Keine<br />

Verfassung kann einen solchen Schutz bieten.<br />

In der sozio-politischen Evolution<br />

schließt sich der Kreis. Holistische Werte, also<br />

Werte, die einem holistischen Akteur, wie<br />

dem „Volke“ zugeschrieben werden, oder „Soziale<br />

Gerechtigkeit“, oder „Gleichheit der Lebensbedingungen“<br />

usf. werden beschworen,<br />

um Eigentum, die Schlüsselkonvention (den<br />

Schlüsselwert), dessen Schutz die Hauptaufgabe<br />

jeder Sozialordnung ist, zu unterminieren<br />

und zu zerstören. Der Kreis hat sich geschlossen:<br />

vom Privatrechtsstaat (protective<br />

state) zum umverteilenden und produktiven<br />

Staat (redistributive-productive state), zur<br />

Wohlfahrts-Umverteilungsdemokratie.<br />

Zusammenfassung:<br />

(1) Die Kollektiventscheidung (nichteinstimmig)<br />

ist moralisch befleckt oder verdorben,<br />

weil sie einer Gruppe, die weniger<br />

mächtig ist als die dominierende Gruppe, etwas<br />

aufoktroyiert, also zumindest implizit<br />

Zwang ausübt.<br />

(2) Bei welchen Kollektiventscheidungen,<br />

wenn überhaupt für irgendeine,<br />

kann der Zwang gegenüber der weniger<br />

mächtigen Gruppe legitimiert werden? Diese<br />

theoretische Frage lenkt die Aufmerksamkeit<br />

auf die Frage, welche Alternativen es zum<br />

Staat gibt, ob er unentbehrlich ist, oder ob<br />

„geordnete Anarchie“ eine realistische Alternative<br />

bietet.<br />

(3) Das praktische Problem ist: wie<br />

erschwert man den Rekurs zur Kollektiventscheidung,<br />

wie verhindert man die Tendenz,<br />

dass wirtschaftliche oder rechtliche Probleme<br />

in politische Probleme verwandelt werden. 4<br />

(4) Wenn die demokratische Methode<br />

als Problemlösung für das Problem der Kollektiventscheidung<br />

angeboten wird, so wird da-<br />

3 Die rein repräsentative Demokratie<br />

erlaubt es den Parteien, die Res<br />

Publica zu durchtränken, zu verunreinigen,<br />

wie ein undichter Öltank das unter<br />

ihm liegende Erdreich. Österreich und<br />

die BRD sind Vorzeigebeispiele, wie der<br />

Staat zur Beute der Parteien werden<br />

kann, vom Parteienstaat. Politik wird<br />

institutionalisierter Kuhhandel.<br />

mit das Problem verschleiert – denn für ein<br />

substantives Problem kann es keine prozedurale<br />

Lösung geben.<br />

(5) Es gibt keine neutralen Meta-Regeln<br />

(Verfassungsregeln). Jede Regel, gleichgültig<br />

auf welcher Ebene, favorisiert identifizierbare<br />

Interessen.<br />

(6) Die Majoritätsregel einer demokratischen<br />

Verfassung führt zu dem oben im Modell<br />

dargestellten Drei-Personen-Umverteilungsspiel.<br />

(Der Endzustand ist dann dem des<br />

fundamentalistischen Sozialismus analog:<br />

Bankrott – wie es Ludwig von Mises bereits<br />

1920 prognostiziert hat.)<br />

(7) Das o.g. „Drei-Personen-Umverteilungsspiel“<br />

ist instabil (zirkulärer Wechsel in<br />

der Rolle der Enteigneten). Im Zeitalter der<br />

modernen Massendemokratie erweist sich der<br />

Staat als ein Zwangsinstrument, mit dem die<br />

Gewinnerkoalition die Verliererkoalition (den<br />

Rest der Bürger) ohne Gewaltanwendung ausbeuten<br />

kann. Doktrinen, die behaupten, der<br />

Staat sei notwendig (für bindende Verträge<br />

usf.) oder er sei nützlich, erhöhen die Effizienz<br />

dieses Prozesses (Jasay 1997, p. 2).<br />

Es gibt zwei Wege, den Prozess zu dezelerieren:<br />

von oben und von unten.<br />

Von oben: die „Goldene Henne“ Version.<br />

Die Henne, welche die goldenen Eier legt,<br />

soll man nicht beschädigen oder vertreiben.<br />

Der schwedische, sozialdemokratische Finanzminister<br />

Gunnar Sträng nannte das Modell<br />

so. Er ermahnte seine Genossen, die Umverteilungspolitik<br />

nicht so weit zu treiben, dass<br />

die Großindustrien das Land verlassen. Auch<br />

bei dieser Fassung bleibt die Grundidee intakt:<br />

ein Teil der Gesellschaft nutzt die prozedurale<br />

Kollektiventscheidungsmethode dazu,<br />

Einkommen und Vermögen auf Kosten eines<br />

anderen Teils zu erzielen (rent seeking).<br />

Ein Teil der Gesellschaft (vom Bürokraten bis<br />

zum Sozialhilfeempfänger) parasitiert am<br />

produktiven Teil der Gesellschaft. Eine PR-Etikette<br />

für dieses System ist „Soziale Marktwirtschaft“:<br />

die Wirtschaft soll das Nationaleinkommen<br />

erwirtschaften, der Staat umverteilt<br />

es dann im Sinne einer von ihm erkann-<br />

4 Man denke an die hochpolitischen<br />

Urteile des Bundesverfassungsgerichts<br />

in der rechtlichen Frage der Rückgabe<br />

von Eigentum an die so genannten<br />

Alteigentümer (z.B. Bericht der Neuen<br />

Zürcher Zeitung vom 23.11.2000) Allerdings<br />

wird hier von einem offen politisierten<br />

Gericht versucht, den Schein zu<br />

bewahren, so zu tun als ob es ein rechtlicher<br />

Vorgang wäre.<br />

ten „höheren Moral“. Das bringt bestenfalls<br />

eine Verzögerung des Niedergangs. 5<br />

Dezelerieren von unten. Wenn der<br />

Bürger sich ausgebeutet fühlt greift er zu Verteidigungsmaßnahmen:<br />

Er transferiert seine<br />

Firma in mehr hospitable Länder, transferiert<br />

sein Kapital, oder schließlich auch sein Humankapital<br />

– er emigriert. Wenn er im Lande<br />

bleibt, hat er zwei Optionen: er reduziert seinen<br />

Arbeitseinsatz oder er wandert ab in die<br />

„Parallelökonomie“, in die so genannte Schattenwirtschaft.<br />

Diese Vorgänge zeigen, dass<br />

Entscheidungen, die zwar prozedural korrekt<br />

zustande gekommen sind, aber den reellen<br />

Machtverhältnissen nicht entsprechen, sehr<br />

wohl in den Ring gerufen, herausgefordert<br />

werden können. Die Methode, die Jasay<br />

„natürliche“ Methode genannt hat, taucht<br />

dann aus der Versenkung auf. Die tatsächlichen<br />

Machtverhältnisse machen sich geltend,<br />

wenngleich offiziell die majoritäre Demokratie<br />

eine Alleinherrschaft ausübt. Das zeigt gleichzeitig<br />

auch die Grenzen der „Volkswillen-Souveränität“<br />

(popular sovereignty).<br />

Will man die demokratische Methode<br />

der Kollektiventscheidung behalten und verbessern,<br />

dann müsste zuerst die Heilige Kuh<br />

des unqualifizierten Wahlrechts geschlachtet<br />

werden. Wenn man meint, der Staat sei unentbehrlich,<br />

dann müsste man versuchen<br />

herauszufinden, für welche Art von Fragestellungen<br />

welche Art von Gleichheitsaxiomen<br />

adäquat sind. Nur bei reinen Bewertungen –<br />

eigentlich der Wahl eines Lebensstils – könnte<br />

man ein „breites“ Wahlrecht einräumen.<br />

Allerdings würde m. E. dann anstelle des arbiträr<br />

festgesetzten Mindestalters eine gewisse<br />

Lebenserfahrung zu fordern sein. Die Besteuerung<br />

an der Quelle dient vor allem der<br />

Camouflage. An ihrer Stelle sollte der Steuerzahler<br />

selbst seine Zahlung an den Staat entrichten.<br />

Und als Mindest-Lebenserfahrung sei<br />

zu fordern, ein paar Jahre Steuer gezahlt zu<br />

haben und zwar von einem Einkommen, das<br />

nicht aus politischer Tätigkeit verdient wurde.<br />

Abschließend möchte ich es nicht unterlassen,<br />

auf die kürzlich erschienene deutsche<br />

Übersetzung von <strong>Hans</strong>-<strong>Hermann</strong> <strong>Hoppe</strong>s<br />

ausgezeichnetem Demokratiebuch – H.-H.<br />

<strong>Hoppe</strong>, ed.: Demokratie. Der Gott, der keiner<br />

ist. Leipzig: Manuscriptum 2003 – und auf<br />

die Aufklärungsbücher von Roland Baader im<br />

Resch-Verlag (zuletzt Totgedacht. Warum Intellektuelle<br />

unsere Welt zerstören.) hinzuweisen.<br />

5 Ludwig von Mises nannte sie<br />

die jüngste Version des Interventionismus:<br />

3. erw. Aufl. von ‚Human Action‘,<br />

p. 723.


26 US-Wahlkampf criticón 181 – Frühling 2004<br />

US-Wahlkampf<br />

von Guido Hülsmann<br />

Die Große Depression der frühen<br />

30er Jahre wird vornehmlich mit dem<br />

„Schwarzen Freitag“ des Oktober 1929 in<br />

Verbindung gebracht, an dem die New Yorker<br />

Börse seinerzeit ihren ersten großen<br />

Einbruch erlitt. Aber dieser Einbruch hätte<br />

nicht eine langjährige Krise der Weltwirtschaft<br />

hervorrufen können. Der eigentliche<br />

Auslöser der Depression war die Handelspolitik<br />

der Vereinigten Staaten. Im Juni 1930<br />

wurde der Hawley-Smoot Tariff Act verabschiedet,<br />

mit dem die höchsten Einfuhrzölle<br />

in der Geschichte der USA in Kraft traten.<br />

Die anderen Staaten erhöhten daraufhin<br />

ebenfalls die Zölle und brachen damit dem<br />

Welthandel endgültig das Genick. Der Westen<br />

stürzte in einen langen ökonomischen<br />

und politischen Winter. Überall wuchs der<br />

Staat auf Kosten der Gesellschaft – in<br />

Deutschland wurde er sogar totalitär.<br />

Krise der Weltwirtschaft<br />

Heute besteht die Gefahr, dass der<br />

gleiche Fehler wiederholt wird – mit ähnlichen<br />

oder vielleicht sogar schlimmeren Folgen.<br />

Wie in den späten 20er Jahren befindet<br />

sich die heutige Weltwirtschaft in einer Kri-<br />

Flip-Flop-Kerry<br />

und die Irrwege des<br />

Neo-Protektionismus<br />

se, die durch eine inflationäre Währungspolitik<br />

hervorgerufen wurde. Und heute genau<br />

wie damals will kein Politiker an die<br />

Währungspolitik rühren. Die expansive Geldpolitik<br />

soll munter weiter gehen, da der<br />

Staat ja zu den wichtigsten Nutznießern<br />

dieser Expansion gehört. Stattdessen machen<br />

heute einflussreiche Kreise – genau<br />

wie in den frühen 30er Jahren – den freien<br />

Welthandel zum Sündenbock. Aber diese<br />

Diagnose ist falsch, und die aus ihr abgeleiteten<br />

politischen Empfehlungen würden katastrophale<br />

Folgen zeitigen.<br />

Expansive Geldpolitik<br />

Seit dem Zusammenbruch der Börsenkurse<br />

im Frühjahr 2001 hat die amerikanische<br />

Zentralbank versucht, mit expansiver<br />

Geldpolitik einen neuen Aufschwung in<br />

Gang zu setzen. Allen nüchternen Beobachtern<br />

ist heute klar, dass dabei im Ergebnis<br />

nur eine künstliche „Blase“ der Börsenkurse<br />

herauskam. Mit anderen Worten: Es wurde<br />

viel Geld in den Sand gesetzt, aber der viel<br />

beschworene Wirtschaftsaufschwung will<br />

einfach nicht kommen. Anfang März 2004<br />

kamen neue Hiobsbotschaften vom Arbeits-<br />

markt: nur 21.000 neue Stellen, statt der<br />

erhofften 200.000. Für viele Beobachter liegen<br />

nun die Ursachen dieser Lage in der<br />

Handelspolitik. Sie weisen darauf hin, dass<br />

die amerikanischen Konsumenten seit Jahren<br />

schon immer mehr ausländische (vor allem<br />

chinesische) Produkte kaufen und dass<br />

die chinesischen Unternehmen jetzt auch<br />

auf den Märkten für Produktionsgüter nachziehen.<br />

Immer mehr amerikanische Firmen<br />

verlegen mehr oder minder große Teile ihrer<br />

Produktion ins Ausland („Offshore-Outsourcing“).<br />

Die Folge sei vermehrte Arbeitslosigkeit<br />

und Verarmung unter den Amerikanern.<br />

Ruf nach Schutzmaßnahmen<br />

Als besonders skandalös wird der Bezug<br />

ausländischer Dienstleistungen empfunden.<br />

Dramatische Kostensenkungen in der<br />

Telekommunikation machen es zum Beispiel<br />

möglich, dass amerikanische Unternehmen<br />

indische Telefonisten beschäftigen – natürlich<br />

zu einem Bruchteil des Lohnes, den sie<br />

in den USA zu bezahlen hätten. Banken,<br />

Versicherungen und viele andere Anbieter<br />

machen davon zunehmend Gebrauch. Der<br />

Freihandel scheint also nicht nur die einfa


criticón 181 – Frühling 2004 von Guido Hülsmann 27<br />

chen Leute im Blaumann zu bedrohen, sondern<br />

auch die feinen Leute, die mit Telefon<br />

und Computer arbeiten. Seit Monaten mehren<br />

sich daher die Stimmen, die nach politischen<br />

Schutzmaßnahmen rufen. Präsident<br />

Bush machte sich im vergangenen Jahr daran,<br />

die Stahlzölle zu erhöhen, ließ aber<br />

schließlich davon ab. Doch im Wahljahr<br />

2004 könnte sich das Blatt wenden. Sein<br />

Konkurrent Kerry hat bereits öffentlich das<br />

Outsourcing als „unpatriotische Praxis“ gegeißelt;<br />

im Falle seiner Wahl will er alle<br />

Handelsverträge im Lichte amerikanischer<br />

Umwelt- und Arbeitsnormen revidieren.<br />

Mehr Schein als Sein? Kerry im Wahlkampf<br />

Patriotismus-Debatte<br />

Während die Patriotismus-Debatte in<br />

Deutschland gerade startet, ist sie in den<br />

USA bereits in vollem Gange – mit Konsequenzen.<br />

„Der US-Senat hat bereits ein Gesetz<br />

verabschiedet, das die Vergabe von IT-<br />

Aufträgen ins Ausland erschwert. Mehr als<br />

ein Dutzend US-Bundesstaaten erwägen<br />

ähnliche Initiativen. Und Kerry hat Ende<br />

2003 ein Offshore-Gesetz eingebracht“, berichtet<br />

die Financial Times Deutschland. Vor<br />

allem die von Mitgliederschwund bedrohten<br />

amerikanischen Gewerkschaften witterten<br />

eine Chance, sich über das Thema zu profilieren.<br />

„Diverse Arbeitnehmervertretungen<br />

initiierten im vergangenen Jahr Postkartenund<br />

E-Mail-Kampagnen, die sich an die US-<br />

Kongressabgeordneten richteten. Anders als<br />

bei der Verlagerung von Produktionsarbeitsplätzen<br />

ins Ausland rechneten sie sich mehr<br />

Resonanz bei den Volksvertretern aus. Denn<br />

die Bedrohung erstreckt sich nun auf Mittelschicht-Jobs;<br />

sie trifft jene Bevölkerungsgruppe,<br />

aus der die meisten Abgeordneten<br />

stammen. Die Proteste zeigen mittlerweile<br />

Wirkung. Im November kündigte der Gouverneur<br />

des Bundesstaats Indiana einen 15,2<br />

Milliarden Dollar schweren Vertrag mit einer<br />

indischen Firma. Den Zuschlag bekam ein<br />

einheimischer Anbieter“, schreibt die FTD.<br />

Aktuelle Gesetzesinitiativen sehen vor, dass<br />

die öffentliche Hand nur eingeschränkt Aufträge<br />

an Firmen in Niedriglohnländern vergeben<br />

dürfen. Nach Kerrys Vorstellungen<br />

sollen sogar Call Center-Agenten bei jedem<br />

Kundenkontakt via Telefon oder E-Mail erklären<br />

müssen, in welchem Land sie stationiert<br />

sind. Damit werde, so glaubt er, „ein<br />

großer Schritt getan, amerikanische Jobs zu<br />

erhalten“. Für den Wirtschaftswissenschaftler<br />

Robert Barro von der Harvard Universität<br />

gehen Kerrys Vorstellungen in die völlig<br />

falsche Richtung. „Die Verlagerung von Arbeitsplätzen<br />

ist eine Form internationalen<br />

Handels, diesmal in Form von Diensten. Der<br />

Angriff auf das Outsourcing ist nichts anderes<br />

als Protektionismus in neuem Gewand“,<br />

kritisiert Barro. Auch die Aufnahme von<br />

amerikanischen Arbeits- und Umweltnormen<br />

in Handelsabkommen wäre eine Form des<br />

Protektionismus. „Es ist doch ganz offensichtlich,<br />

dass sich einer der größten Vorteile<br />

aus dem Handel vor allem mit ärmeren<br />

Ländern aus den niedrigeren Lohnkosten<br />

dort ergibt“, so Barro.<br />

Protektionismus<br />

Den Befürwortern des Freihandels ist<br />

es zu verdanken, dass Präsident Bush im<br />

letzten Jahr von der Erhöhung der Stahlzölle<br />

abließ. Sie weisen darauf hin, dass die<br />

freie internationale Zusammenarbeit – auch<br />

im Bereich der Dienstleistungen – für alle<br />

beteiligten Nationen große Vorteile bringt.<br />

Und sie haben Kerry bereits als Heuchler<br />

entlarvt, der seine Wahlkampagne mit Hilfe<br />

kanadischer Telefonisten und ausländischer<br />

Praktikanten betreibt. Die Polit-Strategen<br />

im Lager der Republikaner sprechen schon<br />

vom Flip-Flop-Kandidaten, bei dem Schein<br />

und Sein weit auseinander klaffen.<br />

Zyniker werden hier eine Konstante<br />

der amerikanischen Politik sehen. Während<br />

des gesamten zwanzigsten Jahrhunderts haben<br />

amerikanische Politiker den freien<br />

Markt gepredigt, aber dann doch immer wieder<br />

dem Protektionismus gefrönt, wenn dies<br />

im Interesse der tonangebenden Gruppen zu<br />

sein schien. Aber der grundsätzliche Einwand<br />

reicht sehr viel weiter und tiefer. Der<br />

Protektionismus ist nicht allein deshalb verwerflich,<br />

weil er die traditionelle Heuchlerei<br />

amerikanischer Handelspolitiker entlarvt; er<br />

ist verwerflich, weil er den Interessen der<br />

großen Bevölkerungsmehrheit entgegensteht.<br />

Heuchelei<br />

Das ist ganz offensichtlich der Fall,<br />

wenn man das Problem vom globalen Standpunkt<br />

der Weltbevölkerung betrachtet. Protektionismus<br />

in einem Land bedeutet immer<br />

auch Einkommensverluste in anderen Ländern.<br />

Der Protektionismus der westlichen<br />

Länder, vor allem im Bereich landwirtschaftlicher<br />

Produkte ist sicherlich das größte<br />

Hemmnis für die Entwicklung der Dritten<br />

Welt. Wir in Europa sehen uns ja gerne als<br />

die humanen Förderer der armen Länder. In<br />

Wirklichkeit jedoch steht die europäische<br />

Heuchelei der amerikanischen nicht nach.<br />

Wir verteilen ein paar milde Gaben an ausländische<br />

Regierungen („Entwicklungshilfe“),<br />

aber die Arbeitsfrüchte ausländischer<br />

Bauern haben bei uns Hausverbot, weil ja<br />

sonst unsere Bauern vom Land in die Städte<br />

ziehen müssten und dort die Löhne der gewerkschaftlich<br />

organisierten Industriearbeiter<br />

drücken würden. Die Folge: statt afrikanischer<br />

und asiatischer Waren strömen uns<br />

nun afrikanische und asiatische Menschen<br />

zu. Das vorläufige Zwischenergebnis unserer<br />

Handelspolitik ist die gewaltigste Wanderungsbewegung<br />

der letzten 1500 Jahre; und<br />

es steht zu befürchten, dass am Ende der<br />

Bürgerkrieg steht.<br />

Neue Börsenblase<br />

Auch vom engen Standpunkt der eigenen<br />

nationalen Interessen ist und bleibt<br />

der Protektionismus ein Irrweg. Er kann allenfalls<br />

sehr kurzfristige Vorteile für einige<br />

tonangebende Gruppen wie z.B. Gewerkschaften<br />

und Politiker bringen. Den Kapitalabfluss<br />

und die damit einhergehende Ausgleichung<br />

der Lebensverhältnisse auf der<br />

ganzen Welt kann er letztlich doch nicht<br />

verhindern.<br />

Niemand wird behaupten wollen,<br />

dass mit der gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung<br />

alles zum Besten bestellt ist. Aber<br />

ihre strukturellen Mängel liegen eben nicht<br />

im Handel – der freie Handel operiert immer<br />

und überall zum Vorteil der breiten Masse.<br />

Jene Mängel liegen vielmehr im Bereich der<br />

Währungspolitik. Hier gilt es, das Übel an<br />

der Wurzel zu packen. Die neuerlich heraufziehende<br />

Börsenblase zeigt überdeutlich,<br />

dass eine gesunde Wirtschaft ein gesundes<br />

Geld verlangt, d.h. ein Geld, das nicht von<br />

Politikern manipuliert werden kann. Das ist<br />

insbesondere bei Silber und Gold der Fall,<br />

deren monetärer Gebrauch bei uns seit vielen<br />

Jahren schon vom Gesetzgeber behindert<br />

wird.


28 criticón-Gespräch mit Johan Norberg criticón 181 – Frühling 2004<br />

criticón: Herr Norberg, welche Reaktionen<br />

haben Sie hier in Schweden, nach der Veröffentlichung<br />

Ihres Buches ‚Das Kapitalistische<br />

Manifest’ erfahren? Schweden galt<br />

ja lange als das „sozialdemokratischste“<br />

Land der Welt.<br />

Johan Norberg: Es gab schon heftige<br />

Kritik vom linken Flügel der hiesigen Sozialdemokraten.<br />

Allerdings möchte ich betonen,<br />

dass Schweden historisch betrachtet ein sehr<br />

internationales Land ist, ein kleiner Markt,<br />

der vom Import und Export abhängig ist.<br />

Deswegen gab es auch viele positive Besprechungen<br />

und Reaktionen nach der Veröffentlichung<br />

des Buches, sogar aus dem linken<br />

Spektrum. Mein Buch erschien ja zu einem<br />

Zeitpunkt, als die Anti-Globalisierungsbewegung<br />

diese Thematik dominierte und möglicherweise<br />

wurde mein Buch als eine Art Balance,<br />

als ein Ausgleich in dieser Debatte betrachtet.<br />

Wurde im Ausland grundlegend anders auf<br />

Ihr Buch reagiert als beispielsweise in<br />

Schweden?<br />

Nein eigentlich nicht, grundsätzlich<br />

gab es die gleiche Art von Kritik und Zustimmung.<br />

Die Feinde<br />

der offenen Gesellschaft<br />

und ihre<br />

Bildungslücke<br />

Der schwedische Wissenschaftler<br />

Johan Norberg kritisiert im Gespräch<br />

mit criticón die Anti-Globalisten<br />

Als Gymnasiast waren Sie überzeugter<br />

Anarchist. Welche Gemeinsamkeiten und<br />

Schnittpunkte gibt es zwischen dem Anarchismus<br />

und dem Liberalismus? Existieren<br />

gemeinsame Grundsätze zwischen beiden<br />

politischen Theorien?<br />

Ja sicher, es existieren eine Menge<br />

Gemeinsamkeiten zwischen beiden politischen<br />

Theorien. Der Kampf für individuelle<br />

Freiheit und auch der Kampf gegen die Zentralisierung<br />

von politischer Macht sind in beiden<br />

Weltanschauungen zu finden. Für mich<br />

persönlich hat sich diesbezüglich nichts an<br />

meiner politischen Überzeugung verändert.<br />

Nur meine Einstellung zur Frage, wie man<br />

diese Ziele erreichen und erhalten kann. Zum<br />

Beispiel halte ich die Globalisierung und internationale<br />

Konkurrenz für absolut notwendig,<br />

um Machtkonzentrationen und Monopolbildungen,<br />

egal in welchem Bereich, zu begrenzen.<br />

Meine Einstellung zur Regierung hat<br />

sich ebenfalls verändert. Ich denke heute<br />

nicht mehr, dass wir Freiheit durch die Beseitigung<br />

des Staates erreichen werden, sondern<br />

eher durch Transparenz der Verwaltung und<br />

indem wir die Regierung einer permanenten<br />

Kontrolle unterwerfen. Alles in allem habe<br />

ich immer noch die gleiche Vision einer freien<br />

Welt ohne Grenzen, wie zu meinen anarchistischen<br />

Zeiten. Wir benötigen allerdings<br />

andere Institutionen, um diese Ziele zu erreichen.<br />

Welche Institutionen?<br />

Kleine Regierungen und ein funktionstüchtiges<br />

Rechtsystem sind Grundvoraussetzungen,<br />

um die persönliche Freiheit zu erhalten.<br />

Daran kranken viele Entwicklungsländer<br />

und machen es dort fast unmöglich, menschenwürdige<br />

Lebensbedingungen zu<br />

schaffen.<br />

Wie würden Sie sich heute politisch definieren.<br />

Als ein Liberaler im klassischen<br />

Sinne, als libertär oder möglicherweise als<br />

anarcho-libertär?<br />

Ich denke als liberal im klassischen,<br />

europäischen Sinne. Als ein Adam Smith-Liberaler,<br />

dieses dürfte wohl am ehesten zutreffen.<br />

Wer hat Ihr politisches Denken stärker beeinflusst?<br />

Der österreichische Philosoph<br />

Karl Popper oder der ebenfalls aus Österreich<br />

stammende Wirtschaftswissenschaftler<br />

Friedrich August von Hayek?<br />

Beide waren für mich sehr wichtig<br />

und beide haben mir ein großes Wissen vermittelt,<br />

allerdings auf verschiedenen Gebieten.<br />

Popper mehr im Politischen und Hayek


criticón 181 – Frühling 2004 criticón-Gespräch mit Johan Norberg 29<br />

im Wirtschaftlichen. Ich denke, beide haben<br />

im Endeffekt dieselbe Analyse, die mich sehr<br />

beeindruckt und mein politisches Denken geprägt<br />

hat. Man sollte nicht davon ausgehen,<br />

dass Menschen von Natur aus vernünftige<br />

und großzügige Individuen sind.<br />

Momentan ist weltweit der Aufstieg der<br />

Anti-Globalisierungsbewegung zu beobachten,<br />

eine Bewegung, die höchst unterschiedliche<br />

Akteure vereint und möglicherweise<br />

immer stärker wird. Sind Sie<br />

persönlich über diese Entwicklung beunruhigt?<br />

Man sollte diese Entwicklung gut im<br />

Auge behalten. Ja ich bin besorgt. Sicherlich<br />

könnte man einwenden, es gäbe wichtigere<br />

Erscheinungen, die politisches Handeln beeinflussen<br />

als diese Anti-Globalisierungsbewegung.<br />

Politische Ideen sind sehr wichtig, das<br />

sollten wir als Lektion aus der Geschichte gelernt<br />

haben. Würde man nicht dauerhaft beobachten,<br />

was weltweit passiert, könnte man<br />

plötzlich mit der Tatsache konfrontiert werden,<br />

dass eine ganze Generation politische<br />

Ideen vertritt, welche im krassen Gegensatz<br />

zu dem stehen, was ich als wünschenswert<br />

für die Welt betrachte. So war es ja auch bei<br />

der Studentenrevolte der 68er Bewegung. Ein<br />

Ereignis, welches das politische Denken unserer<br />

Politiker bis zum heutigen Tage stark geprägt<br />

hat, nachdem sie Ihren langen Marsch<br />

durch die Institutionen angetreten haben.<br />

Ähnliches kann sich natürlich wiederholen.<br />

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum es<br />

so schwierig erscheint Ihre politischen<br />

Ideen, also die Ideale von individueller<br />

Freiheit im Verbund mit freien Märkten,<br />

populär zu machen?<br />

Dafür gibt es mehrere Erklärungen. Einer<br />

der Gründe, warum ich persönlich früher<br />

der Globalisierung und dem Big Business<br />

skeptisch gegenüberstand, basierte auf einer<br />

Bildungslücke über historische Prozesse –<br />

speziell über langfristige historische Entwicklungen.<br />

Die Menschheit ist im Allgemeinen<br />

eher schwach darin aus der Geschichte zu lernen<br />

und die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden.<br />

Deshalb wissen wir es ja auch nicht<br />

zu schätzen, wo wir stehen, was wir an Positivem<br />

erreicht haben und vor allem, durch<br />

welche Entwicklungen wir dahin gekommen<br />

sind. Noch vor 100 Jahren waren fast alle<br />

Länder der Welt das, was wir heute Entwicklungsländer<br />

nennen würden. In Schweden<br />

gehörten Armut, Analphabetismus und Unwissenheit<br />

zum Alltag der breiten Bevölkerung.<br />

In einem Prozess der kreativen Zerstörung<br />

lernten wir unser Leben effizienter<br />

zu gestalten. Menschen verließen das Land<br />

und hinterfragten die alten Lebensstile. Kurzfristig<br />

kam es dadurch zu Arbeitslosigkeit,<br />

aber langfristig verbesserte sich das Leben<br />

und die Gesellschaft wurde zu der, in der wir<br />

heute leben. Rückblickend sind wir also in<br />

der Lage, diese Prozesse zu verstehen und zu<br />

analysieren. Oberflächlich betrachtet allerdings<br />

nicht. Heute haben wir es uns zur Angewohnheit<br />

gemacht, die Schattenseiten der<br />

Globalisierung wahrzunehmen, ohne den Gesamtzusammenhang<br />

zu erkennen. Man<br />

kommt zu dem Entschluss, die Welt krankt<br />

an zuviel Globalisierung. Allerdings ist das<br />

Gegenteil richtig. Insbesondere in unseren<br />

ausgeprägten Mediengesellschaften werden<br />

die Menschen mit Bildern und individuellen<br />

Geschichten überflutet, die keine langfristige<br />

Perspektive vermitteln und somit ein falsches<br />

Bewusstsein erzeugen. Deshalb ist es auch so<br />

schwierig den Kapitalismus zu unterstützen<br />

und ihn als liebenswert zu betrachten.<br />

Betrachten Sie die Antiglobalisierungsbewegung<br />

als einen Feind der „offenen Gesellschaft"<br />

im Sinne von Karl Popper?<br />

Man sollte diese Bewegung nicht als<br />

eine homogene Einheit betrachten. Es gibt<br />

Menschen in dieser Bewegung, mit denen ich<br />

durchaus sympathisiere. Aber die Grundsätze,<br />

die Gesamtausrichtung der Anti-Globalisten,<br />

halte ich für gefährlich. Auf zwei verschiedene<br />

Arten handelt es sich bei Ihnen um "Feinde<br />

der offenen Gesellschaft". Zu aller erst<br />

herrscht bei diesen Menschen nicht das Bewusstsein<br />

vor, dass ihre politischen Visionen<br />

gefährlich sind und dass kollektive Mächte<br />

einen Nachteil für die Menschheit darstellen.<br />

Stattdessen dominieren extrem utopische<br />

Vorstellungen, nach dem Motto, wenn wir<br />

erst die Macht in den Händen halten, wird<br />

sich alles zum Guten wenden. Andererseits<br />

haben diese Leute auch kein Verständnis für<br />

die Vorzüge offener Gesellschaften und die<br />

Vorteile von freien Märkten. Sie lehnen Gesellschaften<br />

ab, in denen es eine Konkurrenz<br />

von Ideen gibt, die von außerhalb kommen.<br />

Die Argumentation dieser Bewegung ist monokausal<br />

und es dominieren simple schwarzweiße<br />

Bilder, wenn auch intellektuell verpackt.<br />

Was denken Sie eigentlich über die schwedische<br />

Gesellschaft. Sind Sie mehr oder<br />

weniger zufrieden mit der sozialdemokratischen<br />

Regierung oder neigen Sie eher zu<br />

Frustration und haben schon mal an Emigration<br />

gedacht?<br />

Sicherlich bin ich manchmal frustriert.<br />

Aber das Schweden von heute ist ja<br />

auch eine widersprüchliche Gesellschaft. In<br />

den vergangenen 15 Jahren hat es schon be-<br />

merkenswerte Fortschritte gegeben. Nur wenige<br />

westliche Länder haben Ihre Wirtschaftspolitik<br />

im gleichen Maße liberalisiert wie die<br />

schwedischen Sozialdemokraten und die<br />

schwedische Politik. Das ist ein großer Unterschied<br />

zu Deutschland. Deshalb geht es uns<br />

momentan im Vergleich zu anderen europäischen<br />

Gesellschaften recht gut. Allerdings<br />

halte ich diesen ökonomischen Glanz für<br />

nicht sehr stabil. Es wurde versäumt etwas<br />

gegen den ausufernden öffentlichen Sektor<br />

und gegen die hohe Besteuerung zu unternehmen.<br />

Die Steuergelder werden vom öffentlichen<br />

Sektor verschlungen, anstatt damit die<br />

notwendigen Reformen durchzuführen. Das<br />

Wohlfahrtssystem, der Sozialstaat, hat den<br />

Menschen jahrzehntelang eingetrichtert,<br />

nicht auf eigenen Beinen stehen zu können.<br />

Deshalb sind die Schweden im Speziellen und<br />

die Europäer im Allgemeinen auf eine Art abhängig<br />

geworden von eben diesem Wohlfahrtsstaat.<br />

Daher bin ich auch etwas pessimistisch<br />

über das öffentliche Bewusstsein<br />

hier in Europa. Wenn wir etwas verändern<br />

wollen, schauen wir zuerst auf den Staat, die<br />

einzige Institution von der wir etwas erwarten.<br />

Das betrachte ich nicht als Grundlage für<br />

eine gesunde Gesellschaft. Ans Auswandern<br />

habe ich aber noch nicht gedacht.<br />

Johan Norberg<br />

Der 1973 geborene Historiker ist Mitarbeiter<br />

von Timbro, einer liberalen Denkfabrik<br />

in Stockholm. Durch sein Buch ‚In Defence<br />

of global Capitalism/Das kapitalistische<br />

Manifest’ wurde Norberg international bekannt.<br />

Im vergangenen Jahr wurde er mit der<br />

Hayek-Medaille ausgezeichnet.<br />

Das Gespräch führte Ramon Schack


criticón 181 – Frühling 2004 EccE! Blick auf die Zeit 31<br />

EccE!<br />

Blick<br />

auf die Zeit<br />

In den vergangenen Monaten mischte<br />

sich in die Dauerdebatte über die so genannten<br />

„Reformen“ in Sachen Renten, Steuern<br />

und Gesundheit ein thematischer Doppeldecker,<br />

in dem die türkischen Mitbürger oder<br />

solche, die es werden sollen, eine zentrale Rolle<br />

spielen. Es ging und geht um die zwei Fragen,<br />

ob nach der Osterweiterung im Mai dieses<br />

Jahres die Europäische Union sich mit der Türkei<br />

auch nach Asien ausdehnen soll, und wie<br />

im Zuge dessen die weibliche Kleiderordnung –<br />

etwa 75 Prozent der deutschen Muslime sind<br />

Türken – zu verstehen ist.<br />

Um der üblichen Verdächtigung als<br />

„Christenclub“ zu entgehen, setzten sich die<br />

Atheisten der Bundesregierung so vehement<br />

für ein EU-Mitglied Türkei ein, dass sich die<br />

CDU/CSU mit einer konträren Position einmal<br />

wieder als Opposition profilieren wollte. Vertreten<br />

durch die Frau Angela Merkel, handelte<br />

man sich allerdings mit dem Angebot einer<br />

„privilegierten Partnerschaft“ bei den regierenden<br />

Männern in Ankara eine prompte Abfuhr<br />

ein. Mit Rückenwind aus den USA wollen sie<br />

die Mitgliedschaft mit Potenzial zur Führerschaft,<br />

weil innerhalb eines vergreisenden Europa<br />

die Türken zum vorgesehenen Termin um<br />

2013 den mit Abstand stärksten demographischen<br />

und militärischen Faktor bilden werden.<br />

Noch tiefere Gräben wurden bei der geschlechterspezifischen<br />

Uniformierung – Stichwort<br />

Kopftuch – sichtbar, bei der es sich offenbar<br />

um eine überpolitische Angelegenheit<br />

handelt. Hier scheinen sich völlig neue Allianzen<br />

zu bilden, die allmählich auch die MultikulturalistInnen<br />

an der Rot/Grün-Front zu erfassen<br />

beginnen. Auslöser war eine islamische<br />

Lehrerin, die auf Zulassung zum öffentlichen<br />

Dienst mit Kopftuch klagte und das Bundesverfassungsgericht<br />

in Verlegenheit brachte:<br />

Man wies die Länder an, die Sache auf Gesetzesbasis<br />

zu klären.<br />

Wie der Sprecher des Mehrheitsvotums<br />

dieser „Entscheidung“, BVG-Vizepräsident Hassemer,<br />

Anfang Februar in einem Vortrag vor<br />

hessischen Juristen in Wiesbaden erläuterte,<br />

soll sich eine breite Öffentlichkeit an der Diskussion<br />

des Kopftuchthemas zwar beteiligen,<br />

dabei allerdings, diffamiert durch die Gewalt<br />

der Kreuzzügler, ihre Toleranz hinsichtlich des<br />

Islam nicht relativieren dürfen. Der Verfassungsjurist<br />

nahm also weder die Säkularisierung<br />

Europas, noch die dominante Rolle des<br />

islamischen Rechtswesens (Scharia) zur Kenntnis,<br />

das sich religiös legitimiert und einen klar<br />

antidemokratischen Geltungsanspruch erhebt.<br />

Wer indessen nicht nur Regierung und<br />

Rechtsprechung, sondern auch EU-Spitzen<br />

beim Wort nahm, konnte sich beruhigt<br />

zurücklehnen, da in ihrer Wahrnehmung die<br />

Türkei schon immer zu Europa gehörte, die Osmanen<br />

toleranter als die Europäer waren und<br />

ihre Nachfahren Europa vor dem Ansturm des<br />

arabischen Terrorismus schützen werden. Auch<br />

der Europa-Abgeordnete Özdemir, der bis vor<br />

kurzem nicht wusste, dass es in Deutschland<br />

eine Steuerpflicht gibt, gab sich als Historiker<br />

und plädierte für den Beitritt, weil die Seldjuken,<br />

die türkische Kalifensoldateska des 11.<br />

und 12. Jahrhunderts, „Vorläufer der Säkularisierung“<br />

gewesen seien.<br />

Aus derlei Perspektiven massierter Inkompetenz<br />

muss die Verhüllung der islamischen<br />

Frau als „Zeichen der Religionsfreiheit“<br />

erscheinen. Hier kann weder eine Rolle spielen,<br />

dass der Islam selbst keine Religionsfreiheit<br />

kennt, noch dass die Verhüllung primäre<br />

Voraussetzung für die zweitklassige, vom<br />

Mann kontrollierte weibliche Existenz ist. Erst<br />

verhüllt, im Westen mit der Mindestversion<br />

des Kopftuchs bedeckt, darf sie in den öffentlichen<br />

Bereich vordringen. Im bekenntnisfreien<br />

Staat bestätigt dieses „Stück Stoff“ nicht<br />

nur das religiöse Bekenntnis und die politi-<br />

sche Abwertung der Frau; es etabliert vor allem<br />

auch ihre islamrechtlich verankerte, sexuelle<br />

Verfügbarkeit als Besitz des Mannes und<br />

damit die Ungleichheit der Geschlechter in der<br />

„demokratischen Praxis“.<br />

Über Jahre sind die deutschen „Verantwortlichen“<br />

den Forderungen der Muslime so<br />

einseitig nachgekommen, dass deren Vertreter<br />

inzwischen aus demokratiefeindlichen Islamisten<br />

bestehen. Mit dem Diktat ungeprüfter<br />

„Toleranz“ pressen beide dem Rechtsstaat immer<br />

weiter reichende Zugeständnisse ab, wobei<br />

sie mit Moscheebau, Muezzinruf, Islamunterricht<br />

etc. die Freiheitsrechte der Mehrheitsgesellschaft<br />

zunehmend einschränken.<br />

Was bedeutet es, wenn man in den<br />

Schulen Rücksicht auf „islamische Pflichten“<br />

wie Absenz der Mädchen von „islamwidrigem<br />

Unterricht“ nimmt, während die türkischen Eltern<br />

fordern, die geltende Schulpflicht durchzusetzen?<br />

Wie kommt es, dass deutsche Richter<br />

muslimischen Straftätern „kulturbedingte“,<br />

d.h. mildernde Umstände einräumen und einer<br />

ihrer Kollegen einen Kurden trotz Lebensgefahr<br />

abschob, weil er die Folter zum „Kulturgut<br />

der Türkei“ zählte?<br />

Kann es sein, dass der islamistische<br />

Druck die schweigende Mehrheit der Türken zu<br />

besseren Demokraten macht, als es den deutschen<br />

„Eliten“ genehm ist? Zur Rettung einer<br />

Restdemokratie, nicht zur Wiederwahl ihrer<br />

Politiker, sollen daher manche Beobachter bereits<br />

resigniert genug sein, den Türkeibeitritt<br />

– verhüllt oder unverhüllt – zu fordern. Sie<br />

haben noch nicht die Zweischneidigkeit des –<br />

noch verbalen – Schwertes erkannt, das Allahs<br />

Gesetz sowohl den „gemäßigten Islamisten“ in<br />

Ankara, als auch ihren Helfern in Europa in<br />

die Hand legt.<br />

<strong>Hans</strong>-Peter Raddatz


32 Was kostet uns der Öko-Dogmatismus criticón 181 – Frühling 2004<br />

Eine Nachricht, die leicht im deutschen<br />

Reformstrudel untergeht, aber dennoch<br />

Symbolwert haben dürfte: Im Rheingau hat<br />

gerade mit dem Weingut Graf von Kanitz das<br />

letzte von einer Reihe bedeutender Weingüter,<br />

die sich dem ökologischen Weinbau verschrieben<br />

hatten, aufgegeben. Wegen des hohen<br />

Arbeitsaufwandes bei der Bekämpfung<br />

hartnäckiger Schädlinge wie Mehltau und der<br />

ungünstigen Entwicklung der Absatzmärkte<br />

für vergleichsweise teure Öko-Produkte hatte<br />

sich die Öko-Methode nicht gerechnet. Denn<br />

in Zeiten knapper Kassen scheuen auch Weinkenner<br />

nicht den Gang zu ALDI, zumal selbst<br />

das Öko-Test-Magazin einige der dort angebotenen<br />

Tropfen mit Bestnoten bewertete.<br />

Schon Jahre zuvor waren die Hessischen<br />

Staatsdomänen, die einst vom damaligen Umweltminister<br />

Joschka Fischer in die Rolle von<br />

Vorreitern des ökologischen Weinbaus gedrängt<br />

worden waren, aus Kostengründen<br />

wieder zu herkömmlichen Methoden zurückgekehrt.<br />

Zur ernüchternden Kostenbilanz<br />

kommt noch ein weiteres Problem: Der im<br />

Öko-Weinbau für die Mehltaubekämpfung einzig<br />

zugelassene Einsatz von Kupferverbindungen<br />

führt zur nachhaltigen Vergiftung des<br />

Bodens, da Kupfer im Unterschied zu moder-<br />

Was kostet<br />

uns der<br />

Öko-Dogmatismus?<br />

Wer die Ökologie mit einer Ersatzreligion verwechselt,<br />

gefährdet Wirtschaftswachstum und Wohlstand.<br />

von Edgar Gärtner<br />

nen synthetischen Präparaten nicht biologisch<br />

abbaubar ist. In den kupferbelasteten<br />

Böden machen sich zuerst die für die Fruchtbarkeit<br />

wichtigen Regenwürmer rar. Nach und<br />

nach verschwindet alles höhere Leben aus der<br />

Krume und am Ende muss der Boden komplett<br />

ausgetauscht werden, um überhaupt<br />

noch etwas darauf anbauen zu können. Der<br />

österreichische Landbauexperte Professor<br />

Heinrich Wohlmeyer, bis 2002 Präsident der<br />

Österreichischen Vereinigung für agrarwissenschaftliche<br />

Forschung (ÖVAF) und heute an<br />

der Universität für Bodenkultur in Wien<br />

tätig, mahnt die Öko-Winzer: „Entscheiden<br />

sie sich nicht bald für eine umweltschonende<br />

Alternative zum Kupfereinsatz gegen Mehltau,<br />

wobei auch die Gentechnik kein Tabu<br />

bleiben sollte, wird die gute Idee des ökologischen<br />

Weinbaus unwiderruflich Schaden nehmen.“<br />

Doch obwohl es inzwischen in Versuchen<br />

bereits gelungen ist, Weinstöcke mithilfe<br />

der Gentechnik gegen Mehltau resistent zu<br />

machen, halten die Ökologischen Weinbauverbände<br />

an ihrer strikten Ablehnung der<br />

Gentechnik fest.<br />

Hier zeigt sich, wie Dogmatismus dem<br />

begründeten Anliegen der Ökologie schaden<br />

kann. Würden ökologische Begriffe wie<br />

„Gleichgewicht“ oder „Kreislauf“ allzu wört-<br />

lich genommen, warnt der Buch-Autor Josef<br />

H. Reichholf, Abteilungsleiter in der Zoologischen<br />

Staatssammlung und Professor für Naturschutz<br />

an der Technischen Universität<br />

München, dann komme es zum Overkill, weil<br />

man sich dann vom offenen Weltbild der Wissenschaft<br />

verabschiede und in der geschlossenen<br />

Welt einer Ideologie lande. Reichholf<br />

wörtlich: „Leider wird heute in der politischen<br />

Debatte nicht mehr zwischen Ökologie<br />

als Wissenschaft und dem Ökologismus als Ersatzreligion<br />

unterschieden. Das viel zitierte<br />

'ökologische Gleichgewicht' ist wissenschaftlich<br />

nicht definierbar. Wer jede Veränderung<br />

der Natur durch die Menschen zur Störung einer<br />

paradiesischen Harmonie erklärt und darauf<br />

besteht, diese Sünde in Form eines<br />

Ablasshandels, eines Totalumbaus der Wirtschaft<br />

oder eines Verzichts auf neue Techniken<br />

zu sühnen, kann sich nicht auf die Naturwissenschaft<br />

berufen.“<br />

Regenerative Energien und<br />

Arbeitsplatzverluste<br />

Noch deutlicher als im Weinbau zeigen<br />

sich die schädlichen Konsequenzen des<br />

Öko-Dogmatismus in der Energiepolitik. Be-


criticón 181 – Frühling 2004 von Edgar Gärtner 33<br />

sonders augenfällig ist das Missverhältnis<br />

zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei der<br />

Windenergienutzung (siehe DMEURO 9/2003).<br />

Seit kurzem machen sich die Zweifel am Segen<br />

der so genannten regenerativen Energien<br />

nicht mehr nur an der Unzuverlässigkeit der<br />

dem Naturschutz hohnsprechenden Windräder<br />

fest. Davon gibt es in Deutschland inzwischen<br />

schon über 15.000. Sie drehen sich allerdings<br />

im Schnitt nur zwei Stunden am Tag.<br />

Auch das von Bundesumweltminister Jürgen<br />

Trittin dafür ins Feld geführte Arbeitsplatzargument<br />

wackelt, seit das Bremer Energieinstitut<br />

aus einer Firmenbefragung geschlossen<br />

hat, dass der Bau von Wind- und Sonnenenergieanlagen<br />

tendenziell mehr Arbeitsplätze<br />

vernichtet als neu schafft. Zwar entstünden<br />

in der Windbranche rund 28.000 neue Arbeitsplätze,<br />

die mithilfe gesetzlich festgelegter<br />

hoher Einspeisevergütungen für Windstrom<br />

jährlich mit je 150.000 Euro (das heißt<br />

dreimal so hoch wie die Arbeitsplätze im<br />

Steinkohlebergbau) subventioniert werden.<br />

Doch bewirkt die Umlage dieser Subventionen<br />

auf alle Energieverbraucher eine zusätzliche<br />

Belastung von durchschnittlich 1,5 Cent je<br />

Euro Umsatz, was vor allem in energieintensiven<br />

Wirtschaftszweigen zu massiven Arbeitsplatzverlusten<br />

führen müsse. Während ihres<br />

angenommenen 20-jährigen Betriebs vernichte<br />

eine einzige Windkraftanlage in Deutschland<br />

per saldo acht Arbeitsplätze. „Nimmt<br />

man das Investitionsvolumen des Jahres<br />

2002, so führt dies über 20 Jahre zu einer<br />

Beschäftigungseinbuße von insgesamt 19.000<br />

Personenjahren“, heißt es in der Ende 2003<br />

von Wolfgang Pfaffenberger, Khanh Nguyen<br />

und Jürgen Gabriel vorgelegten Studie<br />

(www.bei.uni-bremen.de).<br />

Stromerzeugungs-Mix<br />

Die Gesamtkosten des beschlossenen<br />

Ausstiegs aus der Kernenergie-Nutzung und<br />

der Ausweitung des Einsatzes erneuerbarer<br />

Energien lassen sich recht gut beziffern. Der<br />

Ingenieur Helmut Alt, in Düren zuständig für<br />

die Geschäftskunden der RWE Rhein-Ruhr AG<br />

und Professor an der Fachhochschule Aachen,<br />

rechnet vor: Beim derzeitigen deutschen<br />

Stromerzeugungs-Mix belaufen sich die Produktionskosten<br />

für Strom in Deutschland auf<br />

insgesamt etwa 15 Milliarden Euro. Bei dem<br />

im Atomausstiegs-Kompromiss und in der nationalen<br />

Nachhaltigkeitsstrategie programmierten<br />

zukünftigen Mix ergäben sich bei<br />

konstanten Preisen Produktionskosten von 45<br />

Mrd. Euro, das heißt glatt das Dreifache. Auf<br />

Seiten der Privathaushalte, die derzeit bei einem<br />

durchschnittlichen Jahresverbrauch von<br />

etwa 4.000 Kilowattstunden (kWh) 17 c/kWh<br />

bezahlen, dürfte der Preissprung ähnlich ausfallen.<br />

Privathaushalte werden also in Zukunft<br />

höchstwahrscheinlich über 50 Eurocent<br />

je Kilowattstunde zahlen müssen.<br />

Mögliche technische Fortschritte bei<br />

der Gewinnung von Wind- und Solarstrom<br />

dürften daran nicht viel ändern, zumal die<br />

Stromerzeugung durch die schon projektierten<br />

30 Offshore-Windparks voraussichtlich<br />

deutlich teurer werden wird als die zur Zeit<br />

durch das Gesetz über den Vorrang Erneuerbarer<br />

Energien (EEG) garantierte Einspeisevergütung<br />

von 9,1 Eurocent je Kilowattstunde.<br />

Auch Strom aus Gaskraftwerken dürfte deutlich<br />

teurer werden, weil es in Deutschland<br />

kaum Erdgas gibt, während die ausländischen<br />

Gasvorkommen sich in der Hand weniger Anbieter<br />

(vor allem Russlands) befinden und<br />

weil aufgrund weltweit steigender<br />

Nachfrage (sowie höchstwahrscheinlich<br />

auch politischer Einflüsse)<br />

mit einem starken Anstieg des<br />

Gaspreises gerechnet werden muss.<br />

Explodierende Stromund<br />

Gaspreise<br />

Dennoch drängte Jürgen<br />

Trittin im Gerangel um die Ausgestaltung<br />

des Nationalen Allokationsplanes<br />

(NAP) für den europäischen<br />

Handel mit Treibhausgasemissionslizenzen<br />

auf eine Bevorzugung<br />

von Gaskraftwerken, indem er zurück<br />

die Zuteilung der Zertifikate an<br />

Kraftwerke vom Kohlenstoffgehalt ihres<br />

Brennstoffs abhängig machen wollte<br />

(www.bmu.de). Damit wollte er die Übertragung<br />

von Zertifikaten von Kohle- auf Gaskraftwerke<br />

anregen. Energiekonzerne, die<br />

stillgelegte Kohlekraftwerke durch Gaskraftwerke<br />

ersetzen, sollten die einmal zugeteilten<br />

Emissionsrechte versteigern können, um<br />

damit die neuen Kraftwerke zu finanzieren.<br />

Dadurch würde die Braunkohle, Deutschlands<br />

preisgünstigster und langfristig verlässlichster<br />

heimischer Brennstoff, mittelfristig ganz<br />

vom Markt verdrängt. Und die Stromrechnungen<br />

für Unternehmen und Privathaushalte<br />

dürften noch höher als von Professor Alt geschätzt<br />

ausfallen. Alt warnt: „Wenn Herr Trittin<br />

mit seinen Plänen durchkommt, werden<br />

in Deutschland keine neuen Kohlekraftwerke<br />

mehr gebaut. Stromintensive Industrien werden<br />

ins Ausland gehen und die deutschen<br />

Privathaushalte werden sich auf explodierende<br />

Strom- und Gaspreise einstellen müssen."<br />

Begründet wird die von Trittin und<br />

seinen Verbündeten in der Berliner Regierung<br />

bewusst herbeigeführte Verteuerung der Le-<br />

benshaltung mit der Notwendigkeit des Klimaschutzes.<br />

Dazu Jürgen Trittin: „Wir müssen<br />

den Ausstoß von Treibhausgasen deutlich<br />

vermindern. Deutschland ist hier ein Vorreiter.<br />

Ein Kernelement ist der massive Ausbau<br />

erneuerbarer Energien.“ Unter dem parteilosen<br />

Werner Müller hatte das Bundeswirtschaftsministerium<br />

(BMWi) die Kosten der<br />

Ende 1997 in Kioto von der deutschen Bundesregierung<br />

übernommenen Verpflichtung<br />

zur Reduktion der „Treibhausgase“ Kohlendioxid,<br />

Methan, Lachgas usw. bis zum Jahre<br />

2020 auf insgesamt nicht weniger als 250<br />

Milliarden Euro geschätzt. Inzwischen hat die<br />

zweite rot-grüne Bundesregierung verkündet,<br />

sie werde an der Kioto-Zusage auch dann<br />

festhalten, wenn das Kioto-Protokoll, wie<br />

nun absehbar, gar nicht in Kraft treten sollte.<br />

Aus Kostengründen kehren Öko-Winzer zu herkömmlichen Methoden<br />

Klimawandel<br />

Der vom Bundesministerium für Bildung<br />

und Forschung (BMBF) eingesetzte<br />

Sachverständigenkreis „Globale Umweltaspekte“,<br />

dem nicht nur bekannte Klimaforscher<br />

wie Guy Brasseur (Hamburg), Martin Claussen<br />

(Potsdam) und Jörn Thiede (Bremerhaven),<br />

sondern mit dem Volkswirtschaftler Gunter<br />

Stephan (Bern) und dem Soziologen Peter<br />

Weingart (Bielefeld) auch Sozialwissenschaftler<br />

angehörten, beklagt demgegenüber in seiner<br />

Ende 2003 vorgelegten Studie „Herausforderung<br />

Klimawandel“ (www.bmbf.de ), Politik<br />

und Medien hätten sich in den letzten Jahren<br />

darauf versteift, im Klimawandel etwas<br />

Böses zu sehen, das es zu verhindern gelte –<br />

koste es, was es wolle. Doch es sei unmöglich,<br />

den Klimawandel aufzuhalten. Erst ab<br />

2070 könnten die in Kioto vereinbarten Maßnahmen<br />

überhaupt die Durchschnittstemperatur<br />

beeinflussen. „Die bisherige pauschale<br />

Annahme, dass Klimaänderungen ‚negativ’ zu<br />

sehen seien, sollte durch eine vorurteilsfreie


34 Was kostet uns der Öko-Dogmatismus criticón 181 – Frühling 2004<br />

Sicht ersetzt werden, da es nicht um ‚gut’<br />

und ‚schlecht’ geht, sondern darum, wie mit<br />

dem, was da kommt, rational umgegangen<br />

wird“, betonen die Wissenschaftler. Sie kritisieren<br />

damit in verklausulierter Form das<br />

Festhalten der Bundesregierung am Kioto-<br />

Prozess, denn es liegt auf der Hand, dass es<br />

für 250 Milliarden Euro nützlichere Verwendungsmöglichkeiten<br />

gäbe.<br />

Die Kosten eines vermeintlich klimaschützenden<br />

Totalumbaus unserer Stromversorgung<br />

sind allerdings nur die sichtbare<br />

Spitze des Eisberges. Hinzu kommen versteckte<br />

„opportunity costs“ (entgangene Gewinn-<br />

und Wachstumschancen) in kaum bezifferbarer<br />

Größenordnung infolge der Hemmung,<br />

wenn nicht Vereitelung technischer<br />

Fortschritte durch Bedenkenträger, die sich<br />

auf die Ökologie berufen. So zum Beispiel die<br />

infolge der Ablehnung der „grünen“ Gentechnik<br />

verpassten volkswirtschaftlichen Wachstumsimpulse<br />

sowie Entlastungen der Umwelt<br />

und des Arbeitsmarktes.<br />

Der amerikanische Star-Ökonom Lester<br />

Thurow, Professor am MIT in Boston<br />

(kein Bush-Anhänger), sieht in der „grünen“<br />

Gentechnik den Beginn der „dritten industri-<br />

ellen Revolution“. In seinem neuesten Buch<br />

über die Zukunft der Weltwirtschaft (zu Beginn<br />

dieses Jahres auf deutsch im Frankfurter<br />

Campus Verlag erschienen) wirft er den<br />

Europäern vor, aus Furcht vor der Entstehung<br />

von Monstern ein noch weniger kalkulierbares<br />

Risiko einzugehen: den Anschluss an die<br />

industrielle Entwicklung zu verlieren und<br />

sich am Ende dem Entwicklungsniveau Afrikas<br />

anzunähern.<br />

Nach einer Studie des australischen<br />

Instituts für Agrar- und Ressourcenökonomie<br />

(ABARE) könnte die weltweite Nutzung der<br />

Agrarbiotechnologie das globale Bruttosozialprodukt<br />

bis zum Jahre 2015 um mehr als 300<br />

Milliarden US-Dollar steigern. Laut ABARE reduziert<br />

das bislang geltende EU-Moratorium<br />

für den Anbau gentechnisch veränderter<br />

Nutzpflanzen den weltweiten BSP-Zugewinn<br />

bis 2015 um 27 Milliarden US-Dollar. Nach einer<br />

Studie des US-amerikanischen National<br />

Center for Food and Agricultural Policy<br />

(NCFAP) schmälert der Verzicht der EU auf<br />

biotechnisch verbesserte Nutzpflanzen das<br />

Einkommenspotenzial der EU-Landwirte um<br />

rund eine Milliarde Euro jährlich.<br />

„Grüne“ Gentechnik<br />

Die „grüne“ Gentechnik erscheint derzeit<br />

als der bei weitem aussichtsreichste Weg,<br />

auf Äckern und Weinbergen mit weniger Gift<br />

auszukommen. Das Beispiel Mehltau-resistenter<br />

Reben wurde bereits genannt. Bei der<br />

„grünen“ Gentechnik der zweiten und dritten<br />

Generation geht es nicht mehr nur, wie bislang,<br />

um Pflanzen, denen Resistenzgene gegen<br />

Unkrautvernichtungsmittel, Insekten,<br />

Pilze und andere Schädlinge eingebaut wurden.<br />

Schon in naher Zukunft soll es auch<br />

Pflanzen geben, die als umweltschonende<br />

„grüne Fabriken“ für Medikamente, Fasern,<br />

Kunststoffe, Fette und Öle dienen. Auch an<br />

der Vermittlung von Resistenzen gegen<br />

Trockenheit, Hitze oder Kälte wird gearbeitet.<br />

Weltweit bauen bereits sieben Millionen<br />

Landwirte auf etwa 70 Millionen Hektar<br />

transgene Pflanzen an.<br />

In Deutschland dagegen hat die<br />

Blockadepolitik des Bundesministeriums für<br />

Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft<br />

(BMVEL) unter der Grünen Renate<br />

Künast zu einem faktischen Stillstand der<br />

„grünen“ Biotechnologie geführt. Während


criticón 181 – Frühling 2004 von Edgar Gärtner 35<br />

das Bundesministerium für Bildung und Forschung<br />

(BMBF) unter Hildegard Bulmahn Biotechnologieprojekte<br />

mit insgesamt fast einer<br />

Milliarde Euro fördert und jungen Biotech-Firmen<br />

bei der Mobilisierung von Beteiligungskapital<br />

hilft, haben die Frau Künast unterstehenden<br />

Behörden bislang fast alle Versuche,<br />

die Ergebnisse der Biotechnologie ins Freiland<br />

zu bringen, unterbunden. Und was die Grüne<br />

Ministerin nicht schaffte, haben oft rabiate<br />

Gegentechnik-Gegner durch das Zertrampeln<br />

von Versuchsfeldern besorgt. Nun geht Startups<br />

das Geld aus. Firmen und junge Forscher<br />

wandern nach Amerika ab. Die Ausbildungskette<br />

droht abzureißen. Professor Gerhard<br />

Wenzel von der Technischen Universität München,<br />

Freising, schätzt den bei uns bereits<br />

eingetretenen Forschungsrückstand auf diesem<br />

Gebiet auf fünf bis sechs Jahre. „Unser<br />

eigenes Institut arbeitet an einer gentechnisch<br />

optimierten Kartoffel, die einen Farbstoff<br />

produziert, der Altersblindheit verhindert.<br />

Schön wäre es, wenn dieser Fortschritt<br />

nicht aus China importiert werden müsste.<br />

Doch leider wurde unser genehmigtes Versuchsfeld<br />

von fanatischen Gentechnik-Gegnern<br />

zerstört“, klagt Prof. Wenzel.<br />

Risikotechnologie?<br />

Nun gilt die Umsetzung der inzwischen<br />

von der EU verabschiedeten Richtlinie<br />

für die Freisetzung gentechnisch veränderter<br />

Organismen in deutsches Recht als letzte<br />

Chance, um das Label „Green Biotechnology<br />

made in Germany“ noch zu retten (so Harald<br />

Seulberger, Geschäftsführer von SunGene, Gatersleben).<br />

Mit dem Inkraftsetzen der Freisetzungs-Richtlinie<br />

endet das in der EU auf<br />

Druck der Öko-Bewegung ausgesprochene Moratorium<br />

für den Anbau transgener Pflanzen.<br />

Doch der im Januar 2004 von Ministerin<br />

Künast vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur<br />

Neuordnung des Gentechnikrechts (www.verbraucherministerium.de)<br />

sieht eher wie ein<br />

Gesetz zur Abschreckung vor der Gentechnik<br />

aus. Denn anders als die EU-Richtlinie definiert<br />

der BMVEL-Entwurf die Gentechnik einseitig<br />

als „Risikotechnologie“ und sieht folglich<br />

verschärfte Haftungsbestimmungen für<br />

den Fall der unbeabsichtigten Einwanderung<br />

(Auskreuzung) gentechnisch veränderter<br />

Pflanzen in benachbarte Felder mit „gentechnikfreien“<br />

Landbaumethoden vor. Renate<br />

Künast sagte es bei der Vorstellung des Gesetzentwurfs<br />

der Bundesregierung Mitte Februar<br />

ganz offen: „Es ist von grundlegender<br />

Bedeutung, dass wir unsere Spielräume voll<br />

ausschöpfen und Regeln zum Schutze des<br />

gentechnikfreien Anbaus schaffen! Deshalb<br />

hat die Bundesregierung ihren Gesetzentwurf<br />

ganz im Sinne eines Schutzgesetzes für alle<br />

diejenigen vorgelegt, die auch in Zukunft ohne<br />

Gentechnik arbeiten wollen.“<br />

Bei der Herstellung und Vermarktung<br />

von Saatgut sollen folglich Reinheits-Anforderungen<br />

gelten, wie sie sonst nur bei Arzneimitteln<br />

üblich sind. Anders als den großen<br />

Pharma-Konzernen fehlen aber den meist<br />

mittelständischen Saatgut-Herstellern die<br />

Mittel für die aufwändigen Tests, um solche<br />

Vorschriften einhalten zu können. Obendrein<br />

würden sie aufgrund der im Künast-Entwurf<br />

vorgesehenen gesamtschuldnerischen Haftung<br />

auf der Basis einer Beweislastumkehr (Verur-<br />

Der Verzicht auf biotechnisch verbesserte Nutzpflanzen schmälert das Einkommenspotenzial der EU-Landwirte um rund eine Milliarde Euro jährlich<br />

sachervermutung) auch dann zur Kasse gebeten,<br />

wenn sie gar nicht für Verunreinigungen<br />

verantwortlich sind, ihre Unschuld aber nicht<br />

beweisen können. Deshalb weigern sich die<br />

Versicherer, Risiken wie Schadensersatzforderungen<br />

von Öko-Bauern gegenüber Saatgutherstellern<br />

oder konventionell arbeitenden<br />

Landwirten zu übernehmen. Selbst Freilandexperimente<br />

mit dem Ziel der Verbesserung<br />

der Sicherheit transgener Pflanzen wird<br />

unter diesen Umständen kaum jemand durchführen<br />

wollen.


@<br />

Emails<br />

36 Emails vom Tage criticón 181 – Frühling 2004<br />

vom Tage(5. Folge)<br />

38. Warum schmeißt Schröder<br />

den Bettel nicht hin?<br />

Den Zenit seiner Macht hat er unwiderruflich<br />

überschritten. Müntefering als SPD<br />

Vorsitzender lässt ihn nicht einmal mehr zögerliche<br />

Reformschrittchen gehen, womit<br />

Schröder die SPD in den vergangenen Jahren<br />

immerhin in die politische Mitte führte.<br />

Wenn sich Schröder den Traditionsbataillonen<br />

unterwirft, verliert er den Respekt, den er<br />

sich mit ihrer Disziplinierung erwarb. Schröder<br />

ist als Modernisierer der SPD gescheitert,<br />

zum Modernisierer Deutschlands kann er es<br />

nicht mehr bringen. Was er jetzt braucht, ist<br />

ein starker Abgang.<br />

@<br />

39. Rolf Hochhuth schreit auf,<br />

aber wir hören nur ein schepperndes<br />

Jammern. In seinem neuen Theaterstück<br />

‚McKinsey kommt’ fordert er den „unvermeidbaren“<br />

Mord an einem hohen Repräsentanten<br />

der Wirtschaft. Die RAF lässt grüßen. Die Ri-<br />

@@<br />

@<br />

tuale der 68er sind ausgehöhlt. Der Klassenkampf<br />

ist weder das Problem noch eine Antwort<br />

auf Globalisierung, Überalterung, Islamismus.<br />

@<br />

40. Was ist deutsch?<br />

Die ewige Frage beantwortet die Bundesregierung<br />

im eben erschienenen ‚Handbuch<br />

für Deutschland’: Deutsch ist nichts Eigenständiges,<br />

sondern das, was beim Mischen<br />

anderer Kulturen rauskommt. Das liest sich<br />

so: „Kunst und Kultur sind in Deutschland<br />

geprägt durch antikes, jüdisches und christliches<br />

Erbe sowie durch die historische Entwicklung<br />

innerhalb Europas. In der Neuzeit<br />

haben kulturelle Einflüsse der USA, aber auch<br />

Asiens und Afrikas ihren Niederschlag gefunden.<br />

Die Formen der französischen Gotik lösten<br />

den Baustil der Romanik in Deutschland<br />

ab. Die westdeutsche Bildende Kunst und Literatur<br />

nach 1945 ist experimentierfreudig<br />

und nimmt Anregungen aus fremden Ländern<br />

auf, in Ostdeutschland herrschte der sozialistische<br />

Realismus vor. Die moderne Architektur<br />

und das Design der Güter des täglichen<br />

Lebens ist von italienischem und nordischem<br />

Einfluss geprägt. In Cafés wird neben Filterkaffee<br />

und Tee auch Espresso, Capuccino und<br />

Milchkaffee getrunken, als Essensbeilage erhält<br />

man neben Kartoffeln auch französisches<br />

Baguette oder türkisches Fladenbrot. Die<br />

deutsche Unterhaltungsmusik ist stark amerikanisch<br />

geprägt. Aber die klassische deutsche<br />

Musik Ludwig van Beethovens ist genauso<br />

vertreten wie deutsche Volksmusik und<br />

Musikrichtungen mit orientalischen und afrikanischen<br />

Rhythmen.“ Die Integrationsbeauftragte<br />

behauptet nicht, dass alle Kulturen relativ<br />

seien, sie gesteht zu, dass es das Antike,<br />

Christliche, Jüdische oder Amerikanische<br />

gibt, wie die Farben Rot, Schwarz, Gelb oder<br />

Blau. Nur die Deutschen sind ein multikulturelles<br />

Kompositum, eine Farbmischung – dar-<br />

in schwimmen als deutsche Brocken einzig<br />

Beethoven und Kartoffeln.<br />

41. Wir haben Elke Heidenreich<br />

immer für eine Emanze<br />

gehalten,<br />

aber wie sie sich als liebevolle Ehefrau<br />

selbst anpreist, belehrt uns eines besseren:<br />

„Meine beiden Männer waren sehr glücklich<br />

mit mir. Der eine fünf, der andere 25 Jahre<br />

lang. Ich bin eine gute Ehefrau. Ich koche,<br />

und ich mach es sehr gemütlich. Es gibt immer<br />

Blumen, ich kann Pfannkuchen backen,<br />

und ich verweigere mich auch nicht!“<br />

42. Henryk Broder kennt man<br />

als spöttischen Beobachter mit eleganter<br />

Feder, die er auch gern mal in Häme<br />

taucht. Gewöhnlich bürstet er das glatte Fell<br />

des Zeitgeistes gegen den Strich und scheut<br />

auch nicht die Konfrontation mit Platzhirschen<br />

der Öffentlichkeit. Beim Hören der Lebensbeichte<br />

einer Pornoqueen ist ihm sein<br />

kritisches Urteilsvermögen jedoch buchstäblich<br />

in die Hose gerutscht: „Michaela Schaffrath<br />

(‚Insidern besser bekannt unter Gina<br />

Wild’, die Red.) ist ein Phänomen, an dem<br />

Feministinnen, Sozialarbeiter und Milieuforscher<br />

verzweifeln könnten. Sie wurde als<br />

Kind nicht missbraucht, sie kommt nicht aus<br />

einer problematischen Familie, es waren nicht<br />

die üblichen Umstände, die sie in eine Rolle<br />

zwangen; sie hat einfach ihr Hobby zu ihrem<br />

Beruf gemacht... Was bei Naddel oder Verona<br />

mit einem aseptischen Romantik-Schleier daherkommt<br />

(„Die Nacht, in der wir unser Baby<br />

zeugten"), klingt bei Michaela so normal wie<br />

eine Einladung zu Kaffee und Kuchen bei<br />

ihren Eltern: ‚Ich blase unheimlich gerne...,<br />

es ist reine Vertrauenssache, sonst macht Blasen<br />

keinen Spaß.’“ Blasen oder Haare fönen?<br />

Keine Frage, was Schaffrath, Bild und Broder<br />

einem jungen Mädchen empfehlen: Porno<br />

macht mehr Spaß und wird besser bezahlt.<br />

43. Die großen Leistungen<br />

Johannes Pauls II. sind<br />

sämtlich politisch und markieren zugleich<br />

das größte Defizit seines Pontifikats:<br />

Bei der spirituellen Erneuerung der Kirche<br />

versagte er, förderte gar die konservativen<br />

Betonköpfe in den eigenen Reihen. Die neuen<br />

Lebensstile werden von der Kirche weder geistig<br />

begleitet noch spirituell geprägt. Die Kirche<br />

selbst hat vergessen, dass sie mehr sein<br />

muss als nur Politik.


@@ @<br />

@<br />

criticón 181 – Frühling 2004 Emails vom Tage 37<br />

44. Otto Muehl ist<br />

große Kunst, will uns die monumentale<br />

Ausstellung seiner Bilder im Wiener Museum<br />

für angewandte Kunst sagen. Die Exzesse<br />

in seiner Kommune werden damit geadelt.<br />

Der Ex-Guru durchkreuzt diese Intention jedoch<br />

unfreiwillig in einem Zeit-Interview:<br />

„Ich wär lieber Franzose. In Wien gibt’s doch<br />

gar keine interessanten Leute mehr. Sind<br />

doch alle emigriert. Freud wollte auch kein<br />

Österreicher sein. Ich komme mir vor wie ein<br />

Jude. Geistiger Jude. Die Österreicher sind alle<br />

Idioten. Ein Drittel Nazis. Die Ewiggestrigen.<br />

Wirklich ein komisches Land. Ich krieg<br />

geradezu einen Ekel. Österreicher zu sein ist<br />

eine Beleidigung.“ Was haben die Juden<br />

falsch gemacht, dass so ein klebriger Anschleimer<br />

sein will wie sie?<br />

@<br />

45. Die Leitkultur bleibt<br />

deutsch, da braucht sich keiner Sorgen<br />

zu machen. Der Film „Gegen die Wand“<br />

des Deutschtürken Fatih Akin folgt ganz dem<br />

Sozialkitsch des öffentlich-rechtlich geförder-<br />

@@<br />

ten deutschen Mainstreamkinos und erhielt<br />

folgerichtig den goldenen Bären als Zu-<br />

gehörigkeitstrophäe: Die lebensgierige Sibel<br />

entzieht sich der Kontrolle ihres Elternhauses<br />

durch eine Scheinehe mit dem versoffenen<br />

und koksschniefenden Asozialen Cahit. Der<br />

Film reproduziert die klassischen Bohemienklischees,<br />

die mit der Realität wenig, mit den<br />

antibürgerlichen Ressentiments der Szene viel<br />

zu tun haben. An die Stelle des deutschen<br />

autoritären Familienvaters rückt der türkische<br />

Clanchef. Das traditionelle türkische Milieu<br />

muss herhalten, um längst abgenützte<br />

Bürgerschreck-Parolen wieder zu beleben: Es<br />

fließt viel Blut, viel Alkohol und in jeder<br />

zweiten Szene ist vom Ficken die Rede. Das<br />

Übliche also. Akin liefert keinen einzigen<br />

neuen Gedanken. Der zutiefst christliche<br />

Glaube, dass echte Gefühle bei gescheiterten<br />

Randexistenzen, bei Huren und Pennern,<br />

wahrhaftiger zu finden seien, ist Kern der Sozialtheologie<br />

von Karl Rahner, der gelegentlich<br />

im Obdachlosenheim übernachtete, um<br />

dort Gott näher zu sein.<br />

@<br />

46. Wir hatten schon<br />

vergessen, was Dialektik ist, doch erinnert<br />

uns kürzlich Jürgen Habermas wieder<br />

daran, wenn er die Zensur, die der Ayatollah<br />

vom Starnberger See ausübt, als Freiheit ausgibt:<br />

„Nur durch eine informell errichtete,<br />

aber wirksam sanktionierte Schranke zwischen<br />

der offiziell zugelassenen öffentlichen<br />

Rede einerseits und den privat geäußerten<br />

Vorurteilen andererseits hat sich die politische<br />

Denkungsart der Bevölkerung im Laufe<br />

der Jahrzehnte tatsächlich liberalisiert.“<br />

47. Simple Doppelmoral<br />

charakterisierte auch Habermas’ Leitfigur<br />

Adorno: 1943 fleht er in einem Brief an<br />

seine Eltern: „Möchten die Horst Güntherchen<br />

in ihrem Blut sich wälzen und die Ignes<br />

den polnischen Bordellen überwiesen werden,<br />

mit Vorzugsscheinen für Juden.“ 1945 triumphiert<br />

er: „Alles ist eingetreten, was man<br />

sich jahrelang gewünscht hat, das Land vermüllt,<br />

Millionen von <strong>Hans</strong>jürgens und Utes<br />

tot.“ Konnten die Frankfurter deshalb dem<br />

Wiederaufbau nie etwas Positives abgewinnen?<br />

Friedrich Con@n


38 After Sales Service criticón 181 – Frühling 2004<br />

Nach dem Verkauf ist vor dem Verkauf:<br />

After Sales Service<br />

Das Spiel endet nie<br />

von Ralf Sürtenich, Unternehmensberater<br />

Nach dem Verkauf ist vor dem Verkauf.<br />

Der Satz ist nicht ganz von Sepp Herberger,<br />

aber drückt eine Art universelle Erkenntnis<br />

aus: Das gilt auch für Unternehmen<br />

der Informationstechnik und Telekommunikation<br />

(ITK), trotz oder gerade auch wegen der<br />

kurzen Innovationszyklen. Die Feststellung,<br />

dass die Verkaufsphase nicht mit dem eigentlichen<br />

Geschäftsvorgang „Ware oder Leistung<br />

gegen Zahlung“ endet, ist eine der Grundpfeiler,<br />

auf denen das Kürzel CRM beruht.<br />

Customer Relationship Management<br />

betrachtet die klassische Unterteilung in Marketing,<br />

Verkauf und Service unter dem Oberbegriff<br />

der Kundenbeziehung. Im Sinne eines<br />

dauerhaften Geschäftes ist die Kundenbeziehung<br />

ein Aktivposten des Unternehmens, der<br />

dauerhaft gepflegt werden will. Nach alten<br />

Marketing-Erkenntnissen kostet die Gewinnung<br />

eines Neukunden fünf bis zehn mal soviel,<br />

wie die Pflege eines Bestandskunden.<br />

Zudem berichtet ein unzufriedener oder vernachlässigter<br />

Kunde seine schlechten Erfahrungen<br />

auch weiteren acht bis zehn potenziellen<br />

Käufern. Mangelnde Kundenpflege im<br />

Service kann damit sehr leicht jegliche Marketing-Anstrengungen<br />

in der Vorverkaufsphase<br />

torpedieren. CRM ist daher für den Anbieter<br />

kein Luxus, sondern Kernaufgabe seiner<br />

Geschäftstätigkeit. Ein sehr trauriges Beispiel<br />

für mangelhaftes CRM liefert ein bekannter<br />

deutscher Webdomain-Hoster im unteren<br />

Preissegment, der in den vergangenen Jahren<br />

immer wieder negative Schlagzeilen mit Problemen<br />

bei Prozessabläufen, Server-Ausfällen<br />

und mit dem Verlust von Domain-Rechten<br />

machte. Dieses Negativ-Image lässt sich durch<br />

kein noch so teures Marketing- und Werbekonzept<br />

kompensieren.<br />

Für die Hersteller von IT- und TK-<br />

Hardware ist es unter dem herrschenden<br />

Preis- und Wettbewerbsdruck besonders<br />

schwierig, den so genannten „After Sales Service“<br />

adäquat auszuführen. Die vollständige<br />

Abbildung der Wertschöpfungs- und Lebenszykluskette<br />

der Produkte ist heute für ein<br />

Unternehmen gar nicht mehr profitabel möglich.<br />

Was der Kunde heute kauft, ist eine<br />

Marke mit einem bestimmten Image. Die eigentliche<br />

Kernkompetenz der „Hersteller“ beruht<br />

daher immer mehr auf Marketingfähigkeiten.<br />

Produkte werden für Marktbedürfnisse<br />

und bestimmte Marktsegmente konzipiert,<br />

danach die Herstellung, Marktkommunikation<br />

und Werbung geplant und die Vertriebskanäle<br />

aktiviert. Ob Monitore oder Drucker, die ei-<br />

gentliche Entwicklung der Kerntechnik wird<br />

von den meisten „Herstellern“ eingekauft<br />

und schließlich irgendwo in der Welt zur Veredelung<br />

und zur Endmontage gegeben. Der<br />

After Sales Service, so wichtig er für ein dauerhaft<br />

erfolgreiches Geschäft ist, erfordert<br />

ganz andere Fähigkeiten und eine andere<br />

Struktur als die Konzeption und Planung eines<br />

Produktes und seiner Herstellung. Das<br />

sind in erster Linie Marketing- und Vertriebsaufgaben.<br />

After Sales Service aber erfordert<br />

Call Center, Ersatzteillager, Transport und Logistik<br />

– aber keine Produkt- und Verkaufsmanager<br />

oder Entwicklungs-Ingenieure. Statt<br />

dessen Helpdesk-Mitarbeiter, Techniker und<br />

Lagerhaltungsexperten.<br />

After Sales Service und Outsourcing,<br />

bei näherer Betrachtung ist das daher ein nahe<br />

liegendes Begriffspaar. Bei vielen Produkten,<br />

auch im Markt für Endkunden, wird der<br />

After-Sales Service gar nicht mehr vom Hersteller<br />

selbst durchgeführt. Eines dieser Service-Unternehmen<br />

ist die Firma a & o after<br />

sales & onsite services GmbH in Neuss. Michael<br />

Müller, Geschäftsführer von a & o, umreißt<br />

die Arbeit seines Unternehmens folgendermaßen:<br />

„Unser Kerngeschäft ist grundsätzlich<br />

die Wartung und der Reparaturservice. Wir<br />

verstehen uns als verlängerte Werkbank von


criticón 181 – Frühling 2004 von Ralf Sürtenich 39<br />

Unternehmen, die in der IT-Branche tätig<br />

sind. Außerdem betreiben wir Frontside-Service.<br />

Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Wenn Sie<br />

heute Lotto spielen gehen, wird Ihr Tippschein<br />

durch eine Maschine gezogen. Nehmen<br />

wir an, an dieser Maschine ist nun der<br />

Drucker defekt. Innerhalb von zwei Stunden<br />

wird ein Mitarbeiter der Firma a & o die Maschine<br />

abholen und wieder reparieren. Und<br />

das rund um die Uhr.“<br />

Der Stagnationsphase zum<br />

Trotz, oder auch: jede Zeit bietet<br />

Chancen<br />

a & o startete Anfang 2003 zunächst<br />

mit 40 Mitarbeitern. Dass der Geschäftsansatz<br />

sehr erfolgreich ist, zeigt die Tatsache, dass<br />

das Unternehmen schon ein Jahr später 130<br />

Mitarbeiter beschäftigt. Eine der großen Stärken<br />

von a & o sieht Michael Müller in dem,<br />

was er „dezentrale Service-Kultur“ nennt:<br />

„Wenn ein Außendienstler von mir morgens<br />

um sieben Uhr wegfährt und um 17.00 Uhr<br />

noch einen Job hat, dann ist er erst um<br />

19.00, 19.30 Uhr zu Hause. Da gehen wir<br />

sehr flexibel vor, was in großen Organisationen<br />

eher selten anzutreffen ist. Als mittelständisches<br />

Unternehmen arbeiten wir nach<br />

den Bedürfnissen des Marktes und sind wesentlich<br />

schneller bei der Auftragsbearbeitung“,<br />

so die Erfahrung von Müller.<br />

Beim Outsourcing des After Sales Service<br />

geht es aber nicht nur um Kosten und<br />

Effizienz, sondern um eine intensive Beziehung<br />

zu den Kunden. „a & o trägt damit direkt<br />

zum Geschäftserfolg seiner Auftraggeber<br />

bei. Wenn heute jemand einen Monitor, ein<br />

TFT-Display, einen Drucker kauft, so beschäftigt<br />

er sich vor der Kaufentscheidung mit den<br />

Produkteigenschaften: technische Daten, Leistungsmerkmale<br />

oder Normen. In der Regel<br />

wird der durchschnittliche Kunde die Hälfte<br />

dieser Angaben gar nicht wirklich verstehen.<br />

Ist das Produkt gekauft, treten schon nach<br />

wenigen Tagen diese technischen Features in<br />

der Wahrnehmung des Käufers in den Hintergrund:<br />

er erwartet einfach, dass das Produkt<br />

über Jahre hinweg einwandfrei funktioniert.<br />

In den weitaus meisten Fällen wird erst im<br />

Fehlerfall das Produkt wieder in den Fokus<br />

der Wahrnehmung des Käufers rücken.Was er<br />

nun erwartet, schnellen und günstigen Service,<br />

hat nichts mit den Leistungsmerkmalen<br />

des Monitors oder Druckers zu tun, sondern<br />

resultiert aus der Leistung der After Sales<br />

Service“, betont Müller. Ob nun dieser Service<br />

vom Hersteller direkt erbracht werde oder<br />

von einem externen Dienstleister, spiele für<br />

die Wahrnehmung des Kunden keine Rolle. „a<br />

& o tritt nicht werblich auf, kommuniziert<br />

nicht direkt mit dem Markt der Endverbraucher.<br />

Der Anwender verbindet den guten Service<br />

mit dem Hersteller. Wir bauen damit<br />

tatsächlich eine Beziehung zwischen dem<br />

Käufer und dem Hersteller auf. Und ein Kunde,<br />

zu dem eine Beziehung aufgebaut wurde,<br />

wird mit großer Sicherheit ein Nachfolgegeschäft<br />

mit dem Hersteller tätigen“, weiß Müller.<br />

Produkte werden immer austauschbarer<br />

– nur der Service<br />

differenziert<br />

Auffällig ist, dass gerade auch in einer<br />

Stagnationsphase der ITK-Branche das<br />

Geschäft mit dem Outsourcing von After Sales<br />

Service ein deutliches Wachstumssegment<br />

darstellt. Das hängt auch direkt mit den<br />

schmaleren Investitionsbudgets der Hersteller<br />

zusammen. Nach Schweizer Untersuchungen<br />

investieren Unternehmen derzeit generell<br />

zunächst in die Beschaffung, Produktion und<br />

den Absatz. Der After Sales Service kommt,<br />

trotz seiner erkannten Relevanz für den<br />

Kaufzyklus, erst an vierter Stelle. Die Hersteller<br />

konzentrieren sich stärker auf ihre Kernkompetenz<br />

und können den Ausbau von Systemen<br />

für den E-Commerce forcieren. Die<br />

Spezialanbieter für den After Sales Service<br />

nutzen Größeneffekte und Schnelligkeit – arbeiten<br />

somit kostengünstiger als der Hersteller.<br />

„Der After Sales Service expandiert<br />

auch durch die Gleichartigkeit der Produkte.<br />

Nicht der Preis ist bei den Endprodukten ent-<br />

scheidend, sondern das, was an Service<br />

folgt“, betont Müller.<br />

Humankapital nicht nur Trend-<br />

Schlagwort<br />

Im Unterschied zu den CRM-Strategien,<br />

wie sie von den großen Beratungsunternehmen<br />

gerne verkauft werden, setzt a & o<br />

auch sehr stark auf den Menschen. Im Zeitalter<br />

von eCommerce ist der Call Center-Agent,<br />

der im Fehlerfall angerufen wird, oder der<br />

Techniker, der vor Ort kommt, oft nur noch<br />

der einzige Mensch, mit dem der Kunde<br />

tatsächlich Kontakt hat. Bei allen optimierten<br />

Prozessabläufen, Betriebskennzahlen,<br />

ihrem Monitoring und der Auswertung wird<br />

der Service von Menschen erbracht. Müller<br />

setzt hier, als wirklich typischer Mittelständler,<br />

auf einen gesunden Mix von<br />

Nachwuchskräften und erfahrenen Mitarbeitern:<br />

„Wenn ich einen Hochschulabgänger<br />

einstelle, habe ich im Grunde einen gut bezahlten<br />

Azubi. Neben jungen Mitarbeitern<br />

haben wir deshalb auch über 50jährige Arbeitskräfte,<br />

die sofort einsetzbar sind“.<br />

Ältere und erfahrene Mitarbeiter<br />

seien sehr engagiert und würden souveräner<br />

mit Problemen im Berufsalltag umgehen.<br />

Für Müller ist das Scheitern vieler Unternehmen<br />

der New Economy auch darauf<br />

zurückzuführen, dass es den überwiegend<br />

jungen Leuten, die sich dort engagierten, an<br />

Praxiswissen fehlte. Brilliante Ideen allein<br />

reichen nach seiner Meinung nicht aus und<br />

der heute häufig von amerikanischen Unternehmen<br />

vorgelebte Trend zu Belegschaften<br />

mit niedrigem Altersdurchschnitt stößt generell<br />

auf sein Misstrauen: „Es gibt eine Statistik,<br />

die belegt, dass in Deutschland in jedem<br />

zweiten Unternehmen kein über 50jähriger<br />

mehr beschäftigt ist.<br />

Das sind die Sünden der Vergangenheit.<br />

Ich frage mich, was die älteren Menschen<br />

machen und ob sie alle schon mit 40<br />

des Arbeitslebens überdrüssig sind. Ich kann<br />

diesen Trend nicht befürworten und steuere<br />

bewusst dagegen.“ Der Vergleich mit den Medizinern<br />

ist für den Mittelständler ein treffendes<br />

Beispiel: „Wenn Sie einen 50jährigen<br />

Internisten und einen Hochschulabgänger<br />

aufsuchen, können Sie sich vorstellen, wer<br />

weniger Probleme bei der Diagnosestellung<br />

hat.“


40 Mittelstandsmeldungen criticón 181 – Frühling 2004<br />

Mittelstandsmeldungen + Mittelstandsmeldungen + Mittel<br />

DIW-Studie warnt<br />

vor Strukturproblemen<br />

der deutschen<br />

Wirtschaft<br />

Breitere Kompetenz statt<br />

technische Abarbeitung<br />

von Bestehendem<br />

Berlin/Düsseldorf – Die aktuelle Studie<br />

‚Deutschlands forschungsintensive Industrien<br />

und wissensorientierte Dienstleistungen:<br />

Außenhandel, Produktion und Beschäftigung’<br />

des deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung<br />

(DIW) hat deutliche Probleme<br />

Deutschlands in der strukturellen Entwicklung<br />

hervor gehoben. Die Industrie fällt demnach<br />

im internationalen Vergleich bei<br />

Spitzentechnologien und hochwertigen Technologiegütern<br />

weiter zurück. Lediglich der<br />

Teilbereich Automobilindustrie sei noch stark<br />

und würde zu einer positiven Bilanz beitragen.<br />

Angesichts des starken Euros und der<br />

zunehmenden Absatzprobleme von VW und<br />

Audi auf dem nordamerikanischen Markt ist<br />

es aber fraglich, ob diese Position noch lange<br />

anhalten kann. Der DIW-Report fordert daher<br />

dringend wettbewerbsfähige Alternativen<br />

zum Automobilbau.<br />

Eine eindeutige Absage erteilt der Report<br />

der Vorstellung, dass die Industrie weitere<br />

Arbeitsplätze in Deutschland schaffen<br />

könne. Die Beschäftigtenzahl im produzierenden<br />

Gewerbe (ohne Baugewerbe) ist kontinuierlich<br />

rückläufig und lag 2003 noch knapp<br />

über 8 Millionen. Nach der DIW-Studie beschäftigt<br />

die Datenverarbeitung rund 6 Millionen<br />

Arbeitnehmer und wird zusammen mit<br />

der Finanz- und Gesundheitsbranche am ehesten<br />

einen Beschäftigungsaufbau ermögli-<br />

chen. Damit verbunden ist aber eine höhere<br />

spezifische Nachfrage nach höherwertigen<br />

Qualifikationen. Die Verfasser der Studie<br />

schließen daraus, dass die Anforderungen an<br />

eine adäquate Bildungs- und Qualifizierungspolitik<br />

zunehmen.<br />

„Was sich aus dem DIW-Report wieder<br />

einmal abzeichnet ist ein Strukturproblem<br />

der deutschen Wirtschaft. Zu lange hat man<br />

sich gerade im internationalen Handel auf<br />

den Export von Industrieerzeugnissen gestützt“,<br />

kritisiert Udo Nadolski, Geschäftsführer<br />

von Harvey Nash, einem Beratungsunternehmen<br />

für Personal-, IT- und Engineering<br />

Services. Der Wandel vom Produktionsstandort<br />

zum Dienstleistungs- und Finanzstandort<br />

laufe hingegen viel zu langsam, besonders<br />

unter Berücksichtigung des rapide zunehmenden<br />

Drucks von Nearshore- und Offshore-Anbietern.<br />

Dazu reiche aber eine Reform der Bildungspolitik,<br />

wie sie Forschungsministerin<br />

Edelgard Bulmahn aus dem Ergebnis der Studie<br />

ableitet, nicht aus.<br />

Dienstleistungsunternehmen, die<br />

transnational arbeiten und internationale<br />

Kunden bedienen, mahnen ein generelles<br />

Umdenken an. „Die Deutschen sind zu stark<br />

auf Sicherheit und Kontinuität aus, nicht so<br />

sehr auf Neues und Veränderung. Die veränderten<br />

weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen<br />

erfordern aber Flexibilität und Kreativität,<br />

den Mut zu neuen Wegen“, so die Erfahrung<br />

von Nadolski, dessen Beratungsunternehmen<br />

in Personalfragen international<br />

operiert. Deutsche Bildungspolitik und deutsche<br />

Unternehmen seien immer noch viel zu<br />

sehr auf technisches Wissen fokussiert und<br />

vernachlässigten Prozesskenntnisse. „Wir<br />

brauchen eine breitere Kompetenz, die nicht<br />

auf Verwaltung und technische Abarbeitung<br />

von Bestehendem ausgerichtet ist, sondern<br />

die Methoden und Instrumente beherrscht,<br />

um neue Märkte und neue Lösungen zu entwickeln“,<br />

fügt Nadolski im Hinblick auf die<br />

Bildungs- und Qualifizierungspolitik hinzu.<br />

+++<br />

Virtueller Größenwahn<br />

–<br />

Accenture und die<br />

„Wertschöpfungsrevolution“<br />

Bonn/Nürnberg – Die Accenture-Manager<br />

Thomas Köhler und Stephan Scholtissek<br />

haben große Pläne mit der öffentlichen<br />

Hand. Sie proklamieren in einem neuen Fachbuch<br />

nichts geringeres als die „dritte Revolution<br />

der Wertschöpfung“(erschienen im Econ-<br />

Verlag). Und zwar durch eine neue, radikale<br />

Form des Outsourcings. Spürbare Effizienzsteigerungen<br />

könnten nur erreicht werden,<br />

wenn die Erfahrungen aus der Fertigung auf<br />

firmeninterne Dienstleistungsprozesse erweitert<br />

würden. Business Process Outsourcing<br />

(BPO) heißt das im Fachjargon. Großkonzerne<br />

nutzen so genannte Innovationspartnerschaften,<br />

indem sie Co-Kompetenzen mit spezialisierten<br />

Unternehmensberatungen aufbauen,<br />

die dann gesamte Kerngeschäftsfunktionen<br />

übernehmen. Das könnten, so die Analyse<br />

der Buchautoren, natürlich nur die ganz<br />

großen Beratungsunternehmen bieten: Zu besichtigen<br />

beim „Vorzeigeprojekt“ von Accenture,<br />

dem virtuellen Arbeitsmarkt der Bundesagentur<br />

für Arbeit (BA), das von dem BA-<br />

Vizechef Heinrich Alt als das „größte informationstechnologische<br />

Projekt“ der Republik<br />

gepriesen wurde. Warum für die Technikrevolution<br />

Mehrkosten in Höhe von 100 Millionen<br />

Euro entstehen, zählt wahrscheinlich für den<br />

BA-Cybermanager Alt zu den ungelösten<br />

Welträtseln seiner Beamtenkarriere. Denn die<br />

von Accenture ausgerufene Wertschöpfungsrevolution<br />

kostet eigentlich nichts. „Unsere Berechnungen<br />

zeigen: Von jedem Euro, den die<br />

Mittelstandsmeldungen + Mittelstandsmeldungen + Mittel


criticón 181 – Frühling 2004 Mittelstandsmeldungen 41<br />

tandsmeldungen + Mittelstandsmeldungen + Mittelstandsm<br />

deutsche Wirtschaft, Bund und Länder für<br />

Dienstleistungs- und Verwaltungsfunktionen<br />

ausgeben, könnten rein rechnerisch 11,6<br />

Cent eingespart werden. Insgesamt entspricht<br />

dies rund 40 Milliarden Euro, ein Potenzial,<br />

das wir als ‚Bruttowertschöpfungsreserve’ bezeichnen“.<br />

So steht es in dem Revolutionsbuch<br />

von Köhler und Scholtissek. Das Ganze<br />

geht sogar noch einen Schritt weiter und<br />

wird die angespannte Stimmung auf den Fluren<br />

der BA-Vorstandsetage sichtlich entspannen.<br />

Der Innovationspartner finanziert die<br />

BPO-Projekte vorab mit eigenen Mitteln, die<br />

er dann im Laufe des Projekts durch Einsparungen<br />

und Effizienzsteigerung wieder hereinholen<br />

müsse. So lautet die Accenture-<br />

Theorie. Die Praxis beschert den virtuellen<br />

Arbeitsmarktarchitekten leider einen handfesten<br />

Skandal. Das Outsourcing-Mantra der<br />

großen Beratungshäuser erweist sich als teure<br />

Luftnummer.<br />

Dass die großen Beratungsunternehmen<br />

wie Accenture, Roland Berger oder<br />

McKinsey sich mittlerweile auf Behörden und<br />

Verbände konzentrieren, ist nach Auffassung<br />

des Düsseldorfer Publizisten Rainer Steppan<br />

kein Zufall. Viele Konzerne hätten sich in<br />

den vergangenen Jahren sämtliche Consultingmoden<br />

gefallen lassen und Strategien gewechselt<br />

wie Unterwäsche. Mittlerweile sei in<br />

der Privatwirtschaft eine regelrechte Berater-<br />

allergie entstanden und Budgets für die klassische<br />

Beratung würden radikal gekürzt. „Also<br />

weichen die Berater auf die öffentliche<br />

Hand aus“, so Steppan. Der schlanke Staat<br />

sei immer noch viel zu fett und schreie geradezu<br />

nach strategisch verordneten Diäten.<br />

„Der öffentliche Sektor hat sich zu einem<br />

attraktiven Markt für die Branche entwickelt,<br />

den die Großen des Geschäfts nun<br />

unter sich aufzuteilen gedenken“, kritisiert<br />

Steppan. Er warnt die Verantwortlichen des<br />

Öffentlichen Dienstes, in eine ähnliche Consultinghörigkeit<br />

zu fallen, wie die Top-Manager<br />

der freien Wirtschaft. „Der Bevölkerung<br />

ist nicht klar, dass jedes der anstehenden politischen<br />

Vorhaben ebenso scheitern kann wie<br />

die Transformationsprozesse der Privatwirtschaft.“<br />

An den tiefgreifenden Reformen, die<br />

auf den deutschen Staat und seine Verwaltungen<br />

zukommen, wollen die Berater genauso<br />

kräftig verdienen wie an der Neuausrichtung<br />

fast aller größeren Konzerne in den<br />

1990er Jahren.<br />

„Es darf nicht sein, dass die Beamten<br />

hilflos mit den Achseln zucken und die Berater<br />

mit geldschweren Taschen von dannen<br />

ziehen, wenn ein öffentliches Projekt im Chaos<br />

endet“, moniert Steppan. Er ermahnt die<br />

Behörden, bei Ausschreibungen sorgfältiger<br />

vorzugehen. Es gäbe eine Vielzahl von kleine-<br />

ren und spezialisierten Consultingfirmen, die<br />

weitaus bessere Leistungen als die Marktführer<br />

erbringen. „Außerdem bieten sie“, unterstreicht<br />

Steppan, „gute Arbeit zu attraktiven<br />

Preisen“.<br />

Für die FAZ-Redakteurin Claudia Bröll<br />

gibt es neben der sinnlosen Verschwendung<br />

von Steuergeldern für die virtuellen Spielchen<br />

der Nürnberger Mammutbehörde auch<br />

noch eine ordnungspolitische Schieflage. Das<br />

Skandalöse an der neuen Affäre der „Agentur“<br />

sei das Projekt selbst. „Mit Hilfe von<br />

zwangsweise erhobenen Beitragsgeldern<br />

dringt eine Behörde in einen gut funktionierenden<br />

Markt ein, auf dem sich Online-Stellenbörsen,<br />

Zeitungen, Zeitschriften und private<br />

Personaldienstleister einen regen Wettbewerb<br />

lieferten. Die ‚Agentur’ verdoppelt<br />

nicht nur Strukturen, die schon längst existieren<br />

und verpulvert hierfür Millionen an<br />

Beitragsgeldern. Unter dem Deckmäntelchen<br />

der Arbeitsmarktpolitik macht sie auch noch<br />

den privaten Anbietern Konkurrenz und verdrängt<br />

sie vom Markt“. So läuft es halt, wenn<br />

der Staat in seiner Planungshysterie alles unter<br />

seine Fittiche nehmen will und dafür<br />

auch noch größenwahnsinnige Beratungsfirmen<br />

als Erfüllungsgehilfen einsetzt.<br />

Mittelstandsmeldungen + Mittelstandsmeldungen + Mittel


42 Bourdeaux - Wein oder Mythos criticón 181 – Frühling 2004<br />

Bordeaux – Wein und Mythos<br />

Die Hafenstadt Bordeaux liegt an der<br />

Garonne und zählt ca. 650.000 Einwohner. Einige<br />

Kilometer nördlich von Bordeaux vereinen<br />

sich Garonne und Dordogne zur Gironde,<br />

die in den Atlantik mündet. Bordeaux ist die<br />

größte Weinbauregion Frankreichs und repräsentiert<br />

mehr Anbaufläche als die gesamte<br />

Rebfläche Deutschlands. Historisch betrachtet<br />

wurde früher mehr Weißwein als Rotwein erzeugt,<br />

dieses kehrte sich in den letzten Jahrzehnten<br />

um.<br />

Klassische Bordeaux-Rotweine sind<br />

Cuvees aus Cabernet Sauvignon, Merlot, Cabernet<br />

Franc und Petit Verdot.<br />

Bei Weißweinen findet man die Sorten<br />

Sauvignon Blanc, den Semillon und Muscadelle.<br />

Insbesondere werden die Weißweintrauben<br />

für den berühmten Süßwein, den Sauternes<br />

und Barsac verwendet.<br />

Mit Bordeaux verbindet man in erster<br />

Linie kräftige, gut strukturierte und füllige<br />

Rotweine mit entsprechender Lagerfähigkeit.<br />

Das Lagerpotenzial kann bis zu 40 Jahren reichen.<br />

Bordeaux-Liebhaber sollten sich gezielt<br />

durch die verschiedenen Appellationen<br />

von Pomerol und St. Emilion bis hin zu Graves<br />

und Medoc trinken, um ihren persönlichen<br />

Stil zu finden. Von einem opulenten Pomerol,<br />

über einen mineralischen nach Tabak<br />

und Kaffee duftenden Graves bis hin zu einem<br />

maskulinen, strengen, tiefgründigen<br />

Pauillac sowie einem filigranen, eleganten<br />

Margaux ergeben sich unabhängig vom Chateau<br />

– und davon gibt es im Bordeaux unzählige<br />

–, regional unterschiedliche Charaktere,<br />

deren Vorzüge man selbst entdecken sollte.<br />

Für Namen wie Cheval Blanc, Chateau<br />

Palmer, Mouton Rothschild, Chateau Margaux,<br />

Lafite Rotschild, Chateau Haut-Brion oder<br />

Chateau Latour geben Kenner ein Vermögen<br />

aus, um bestimmte Jahrgänge im Keller zu<br />

wissen. Zumeist sind diese Weine limitiert<br />

und nur über Subskriptionen (Zuteilungen)<br />

zu ergattern.<br />

HARRY POTTER<br />

GUT ODER BÖSE<br />

Die V. Potterwelle rollt über unsere junge Generation<br />

hinweg. Allenthalben helle Begeisterung. Dabei wäre<br />

kritisches Hinterfragen dringend geboten. Harry Potter<br />

- ein globales Langzeitprojekt - zerstört nämlich das<br />

Unterscheidungsvermögen zwischen Gut und Böse und<br />

reißt die Hemmschwelle zur Magie ein. Die bekannte<br />

Soziologin, Schriftstellerin und Mutter von drei Kindern,<br />

Gabriele Kuby, liefert in diesem Buch eine präzise<br />

Analyse, wie dies geschieht. Ein Denkanstoß für alle,<br />

die sich von einer Massenhysterie nicht manipulieren<br />

lassen wollen und Verantwortung für die nächste<br />

Generation tragen - für Eltern, Lehrer und Erzieher. Das<br />

Buch enthält eine ausführliche, kommentierte Inhaltsangabe von Band<br />

V. Ein mutiges Buch, das sich quer zum Zeitgeist stellt!<br />

GABRIELE KUBY: HARRY POTTER - GUT ODER BÖSE<br />

160 Seiten, 7,80 €, ISBN 3-928929-54-2<br />

Fe-Medienverlag,<br />

Fr.-Wirth-Str. 4,<br />

88353 Kisslegg, Tel. 07563-92006, Fax: 3381<br />

Verwirrend ist nach wie vor die Klassifizierung<br />

aus dem Jahre 1855, die auf den<br />

Auftrag von Napoleon III zurückzuführen ist.<br />

Er forderte eine Klassifikation für die Weine<br />

der Weltausstellung im selbigen Jahr. Ob 1 er<br />

Cru, zweit oder dritt Gewächs, heute wird<br />

diese Klassifizierung grundsätzlich in Frage<br />

gestellt.<br />

Die Entwicklung in der Önologie und<br />

auch der Wechsel des Kellermeisters haben<br />

auf das Niveau der Weine großen Einfluss genommen,<br />

so dass auch von der Klassifizierung<br />

abgeleitet die niederen Gewächse hervorragende<br />

Qualitäten bringen können.<br />

Achten Sie, egal zu welchem Wein Sie<br />

tendieren, auf die Bezeichnung „Mise en bouteilles<br />

au Chateau“ oder „Mise du Chateau“,<br />

welche für die großen und klassifizierten Gewächse<br />

gilt, die auf dem Weingut selbst in<br />

Flaschen gefüllt werden.<br />

Peter Dostmann<br />

Die Autorin:<br />

Gabriele Kuby ist Soziologin,<br />

Schriftstellerin und<br />

Mutter von drei Kindern.<br />

Sie ist Autorin des Bestsellers<br />

Mein Weg zu Ma-<br />

ria - Von der Kraft des lebendigen<br />

Glaubens. Darin<br />

beschreibt sie ihren<br />

Weg der Umkehr von der<br />

Studentenbewegung<br />

über Esoterik und Psychologie<br />

zum katholischen<br />

Glauben.


criticón 181 – Frühling 2004 von Felix Dirsch 43<br />

Konservativer<br />

Skeptiker<br />

von Felix Dirsch<br />

zwischen<br />

Herkunft<br />

und Zukunft<br />

Nein, ein unverdaulicher und schwer<br />

verständlicher Denker ist er nicht. Daran<br />

ändert auch so manches Wortungetüm<br />

nichts („Inkompetenzkompensationskompetenz“),<br />

das sich in seinen Schriften findet.<br />

Hat der Leser erst einmal den Sinn und den<br />

Inhalt derartiger Formulierungskünste eruiert<br />

und sie gekonnt dechiffriert, so ist seine<br />

Befriedigung darüber um so größer und<br />

er schickt sich an, den Autor zu bewundern,<br />

den er zuvor insgeheim verdammt hat.<br />

Die Rede ist von <strong>Odo</strong> <strong>Marquard</strong>, einem<br />

unverwechselbaren Urgestein in der<br />

philosophischen Landschaft der Gegenwart.<br />

Wie Sokrates sieht er den Defekt in größerem<br />

Maße als die Vollkommenheit, die ohnehin<br />

nur selten anzutreffen ist. Beim Men-<br />

Autorenporträt <strong>Odo</strong> <strong>Marquard</strong><br />

schen sowieso. Das Nichtwissen des Griechen<br />

ist bei dem Philosophen aus der hessischen<br />

Stadt Gießen Inkompetenz. Sie muss<br />

nicht nur gewusst, sondern kompensiert<br />

werden. In diesem Ausgleich liegt die eigentliche<br />

Kompetenz. Es handelt sich dabei<br />

also eher um eine minimalistische Fähigkeit.<br />

Manchem erscheint dies als wenig, ja zu wenig.<br />

Aber muss der menschliche Lebensentwurf<br />

darin liegen, maximalistische Forderungen<br />

und Zielsetzungen zu vertreten oder<br />

anzustreben? <strong>Marquard</strong> verneint dies. Als<br />

bekennender Skeptiker gibt er den<br />

grundsätzlichen Anspruch auf, dass Entscheidungen<br />

von einem sicheren Wissen geleitet<br />

sein müssen; es genüge vielmehr, dass<br />

unsere Handlungen auf wahrscheinlichen<br />

Überlegungen beruhen.<br />

Eine solche Perspektive rückt notwendigerweise<br />

den Menschen in den Mittelpunkt<br />

der Betrachtungen, besonders die<br />

conditio humana. So schwer diese auch zu<br />

bestimmen ist: Die Grenzen menschlichen<br />

Daseins sind evident. Die Geburtenrate dieses<br />

Lebewesens liegt bei hundert Prozent,<br />

ebenso die Höhe seiner Mortalität, wie der<br />

nüchterne Skeptiker feststellt. Dies mag banal<br />

klingen, kann aber zum Ausgangspunkt<br />

einer plausiblen philosophischen Anthropologie<br />

werden, die die Grundsätze der „minima<br />

moralia“ beachtet und dabei hilft, die<br />

Eigenarten der menschlichen Sitten und<br />

Verhaltensweisen, so wie sie sind, also eben<br />

ohne vorgefasste Theorie, herauszufinden.<br />

Wer den Menschen auf diese Weise zum Gegenstand<br />

seiner Erörterungen macht und


44 Konservativer Skeptiker criticón 181 – Frühling 2004<br />

sich somit an die Vorgehensweise der abendländischen<br />

Tradition der Moralistik („mores“:<br />

„Sitten, Anstand“) anlehnt, tut gut<br />

daran, seine Person nicht hinter den eigenen<br />

Vorstellungen zu verstecken.<br />

<strong>Odo</strong> <strong>Marquard</strong> hat daher, was nahe<br />

liegt, sein Leben in einigen seiner Aufsätze<br />

bereitwillig Revue passieren lassen. 1928 im<br />

Pommerschen Stolp geboren, konnte seine<br />

Perspektive schon altersspezifisch kaum<br />

eine andere als die der „skeptischen Generation“<br />

(Helmut Schelsky) sein. Schon in<br />

frühester Jugend lernte er massive politische<br />

Indoktrination auf einer Internatsschule<br />

kennen, weiterhin erfuhr er die tristen<br />

Seiten des jugendlichen Soldatendaseins<br />

(sowie der Kriegsgefangenschaft) als<br />

auch den Schmerz des Verlusts der Heimat.<br />

Übertriebener Optimismus war bereits aufgrund<br />

der frühen Biographie kaum angebracht.<br />

Wende zum Besseren<br />

Der numerus-clausus-bedingte<br />

Zufall bewirkte aber eine unübersehbare<br />

Wende zum Besseren. Nach einem „Schippsemester“,<br />

das dem jungen <strong>Marquard</strong> die<br />

Grundlagen des Bauarbeiterdaseins auf allzu<br />

praktische Weise vermittelte, schrieb er<br />

sich an der Universität Münster ein und<br />

fand dort die lebenslang anhaltende intellektuelle<br />

Prägung. Er verdankte sie fast ausschließlich<br />

einem akademischen Lehrer: Joachim<br />

Ritter. Dabei ging es jedoch nicht nur<br />

um die Anregungen durch einen Universitätsprofessor,<br />

sondern um das geistige Klima<br />

des um ihn herum versammelten Kreises.<br />

Die so genannte „Münstersche Invasion“<br />

machte früh von sich reden. Bald entstanden<br />

beträchtliche Gerüchte über diese Zirkel,<br />

ebenso über das von Ritter geleitete<br />

„Collegium Philosophicum“, in dem Carl<br />

Schmitt seine legendenumwobenen Auftritte<br />

hatte und ausnahmsweise keine „Gespräche<br />

in der Sicherheit des Schweigens“ führte.<br />

Bereits die Heterogenität des<br />

Schülerkreises von Ritter verdeutlicht die<br />

hohe Integrationsfähigkeit und Ausstrahlung<br />

des anerkannten Aristoteles- und Hegelforschers<br />

sowie Ästhetik-Kenners: Wer<br />

könnte sich die Philosophie- und Geistesgeschichte<br />

der Bundesrepublik Deutschlands<br />

seit Mitte der sechziger Jahre ohne Namen<br />

wie <strong>Hermann</strong> Lübbe, Robert Spaemann, Günter<br />

Rohrmoser, Bernhard Willms, Karlfried<br />

Gründer, Günter Bien, Ernst-Wolfgang<br />

Böckenförde, Reinhart K. Maurer oder <strong>Odo</strong><br />

<strong>Marquard</strong> vorstellen? Während mancher Phi-<br />

losoph viel veröffentlicht, aber kaum gelesen<br />

wird, verhält es sich bei Ritter umgekehrt:<br />

Er publizierte aufgrund seiner vielen<br />

Verpflichtungen in der Hochschulverwaltung<br />

sowie wegen der zeitraubenden Vorbereitungen<br />

des ‚Historischen Wörterbuchs der Philosophie‘<br />

(in seiner späteren Zeit) nur relativ<br />

wenige Schriften. Diese fanden aber um so<br />

zahlreichere Rezeptoren.<br />

Gehörte wie <strong>Marquard</strong> zum universitären Kreis der<br />

Ritter-Schule: der große Gegenwartsphilosoph<br />

<strong>Hermann</strong> Lübbe<br />

Was lernten die Angehörigen der<br />

Ritter-Schule? <strong>Hermann</strong> Lübbe brachte den<br />

quintessentiellen Lehrinhalt mit prägnanten<br />

Begriffen auf den Punkt: Es handelte sich<br />

um hochreflektierte Formen von „Antikulturkritik“<br />

oder, positiv ausgedrückt, es wurden<br />

„Lebenstatsachen“ vermittelt. Der Meister<br />

machte das zum Thema seiner Lehrveranstaltungen,<br />

was das Leben der allermeisten<br />

Menschen nachhaltig prägt, ohne<br />

üblicherweise zum Gegenstand des Nachdenkens<br />

zu werden: die vielfältigen Formen der<br />

bürgerlichen Lebensart und Weltanschauung<br />

unter Einschluss ihrer komplexen rechtlichen,<br />

politischen und religiösen Voraussetzungen.<br />

Dass diese Themen das akademische<br />

Publikum nicht zu Beifallsstürmen hinreißen,<br />

ändert nichts an deren fortdauernd<br />

gültiger Relevanz. Dagegen erscheint der<br />

seinerzeit heftig umstrittene Verzicht auf<br />

die Kritik an verfallsgeschichtlichen Kehren<br />

oder an der angeblichen „Verhexung“ der<br />

Moderne durch die anrüchige „Tauschäquivalenz“<br />

aus der Retrospektive überaus plausibel.<br />

Derartige Exaltationen des Denkens,<br />

wie sie von den Antipoden Heidegger und<br />

Adorno vorgetragen wurden, faszinierten in<br />

ihrem eigenartigen Duktus nur kurzzeitig.<br />

Sie thematisierten eher das Außerordentliche<br />

als das Ordentliche, eher die Ausnahme<br />

als die Regel, das Ideale mehr als die Realität,<br />

was durchaus auch als Flucht vom Nahen<br />

in das Ferne gedeutet werden kann.<br />

Einfluss auf den Meister<br />

Auffallend am Lehrer-Schüler-Verhältnis<br />

der Ritter-Schule ist vor allem die<br />

Tatsache, dass der Ältere auf die Jüngeren<br />

hörte. Nicht die vielfältigen Einflüsse, die<br />

Ritter auf die wichtigsten <strong>Marquard</strong>-Themen<br />

(Kompensationsthese, Ästhetiktheorie, Entzweiung<br />

von Herkunft und Zukunft in der<br />

Moderne etc.) ausübte, verdienen besonders<br />

betont zu werden, da sie eher zum Alltag<br />

eines solchen universitären Kreises gehören;<br />

vielmehr ließ sich auch der Schulgründer<br />

anregen: Das führte sogar dazu, dass man<br />

<strong>Marquard</strong> unterstellte, er habe die Kompensationstheorie<br />

dem Meister in den Mund gelegt.<br />

Da der Lehrer einmal eine Zeit lang<br />

in der Türkei weilte, erwarb <strong>Marquard</strong> 1954<br />

bei einem anderen Großen der zeitgenössischen<br />

Philosophie den Doktorgrad: Der angehende<br />

Skeptiker promovierte bei dem bekennenden<br />

Katholiken und Heidegger-<br />

Schüler Max Müller, ohne von dessen Lehrinhalten<br />

viel zu übernehmen. Das Thema<br />

der Arbeit lautete: ,Skeptische Methode im<br />

Hinblick auf Kant‘.<br />

Viele Themen, die <strong>Marquard</strong> im Laufe<br />

der folgenden Jahrzehnte im Rahmen seiner<br />

akademischen Tätigkeit weiterverfolgt hat,<br />

finden sich bereits ansatzweise in dieser<br />

frühen Studie. Dazu zählt etwa die von Hegel<br />

besonders herausgearbeitete Dichotomie<br />

von Herkunft und Zukunft, aus der sowohl<br />

Fortschritts- wie auch Bewahrungsphilosophie<br />

hervorgehen. Ebenso ist das Interesse<br />

an Endlichkeits- und Geschichtsphilosophie<br />

wie an der Ästhetik erkennbar. Im Mittelpunkt<br />

der Arbeit steht jedoch eine Interpretation<br />

Kants, der quasi gegen eine eindeutige<br />

(„fundamentalistische“) Deutung in<br />

Schutz genommen wird. In dieser offenen,<br />

unentschiedenen Hermeneutik bewertet<br />

<strong>Marquard</strong> Kant als Kant und nicht als Fortschrittsphilosophen<br />

(wie Georg Lukács) oder<br />

als Bewahrungsphilosophen (wie Gerhard<br />

Krüger). Der junge Doktorand überträgt seine<br />

Leidenschaft an der Urteilsenthaltsamkeit<br />

auf die Transzendentalphilosophie. Wer<br />

dem Königsberger weder das „Heil“ in der


criticón 181 – Frühling 2004 von Felix Dirsch 45<br />

„klassenlosen Gesellschaft“ noch im „Reich<br />

Gottes“ zuschreibt, braucht sich von ihm<br />

auch nicht enttäuscht abzuwenden und ihn,<br />

direkt oder indirekt, zum Verräter an der eigenen,<br />

der richtigen, Position stempeln. Im<br />

Gegensatz zu seinen beiden genannten prominenten<br />

Interpretationsvorläufern verrät<br />

die Haltung <strong>Marquard</strong>s einen klaren Hang<br />

zur „Entrüstungsabstinenz“. Nachträglich<br />

kann man von einer beachtlichen Leistung<br />

sprechen, wenngleich der Autor vielleicht<br />

manchem Leser noch zu sehr mit Begrifflichkeiten<br />

wie „Kontrollvernunft“, „Tota-<br />

litätsvernunft“ oder „Ding-an-sich-<br />

Vernunft“ hantieren dürfte.<br />

Lebensthema<br />

Obwohl bereits der junge<br />

Philosoph den Ausspruch Senecas<br />

„das Leben ist kurz“ kennt, gehört<br />

es sich für einen Verteidiger der Lebensüblichkeiten,<br />

die akademischen<br />

Gepflogenheiten so weit wie möglich<br />

zu respektieren: „vita brevis“, aber<br />

„habilitatio longa“. Erst 1987 wird<br />

veröffentlicht, was <strong>Marquard</strong> ein<br />

Vierteljahrhundert vorher zu Papier<br />

brachte: Thema des zweiten Buches<br />

ist die Behandlung der Psychoanalyse<br />

als philosophisches Problem. Bereits der<br />

Anfang der Studie spezifiziert mit der An-<br />

nahme des „Surrogates“ des Ästhetischen<br />

ein wichtiges Thema des Erstlingswerkes. Als<br />

Ausgangspunkt seiner Betrachtungen wählt<br />

er einen Satz von Ritter: „Die Verdrängung<br />

fundamentaler Lebensbezüge des Menschen<br />

durch die Versachlichungen der modernen<br />

Welt erzwingt als Ersatzbildung die ästhetische<br />

Subjektivität“. Noch Jahrzehnte später<br />

ruft diese Perspektive, wenngleich im allgemeineren<br />

Rahmen der Frage nach der Relevanz<br />

der Geisteswissenschaften, Debatten<br />

hervor.<br />

Es ist sicherlich nicht untertrieben,<br />

wenn man in diesem Zusammenhang<br />

von einem Lebensthema spricht. Worum<br />

geht es bei diesen Kontroversen?<br />

Spätestens seit Galileo Galileis Versuch,<br />

die Natur ausschließlich mathematisch<br />

zu erklären, wird, zumindest<br />

aus der Retrospektive, ein methodischer<br />

Umbruch erkennbar:<br />

Die notwendigerweise methodisch-experimentelleingeschränkte<br />

Zugangsweise, die darüber<br />

hinaus abstrakt und jederzeit<br />

sowie an jedem Ort wiederholbar<br />

sein muss, ist gezwungen,<br />

kulturelle und geschichtliche<br />

Traditionen soweit wie möglich<br />

auszublenden. Dies bringt einen unübersehbaren<br />

Identitätsverlust, ein Vakuum, mit<br />

sich, das im historischen Kontext auf unterschiedliche<br />

Weise versucht wurde zu füllen.<br />

<strong>Marquard</strong> geht in diesem Kontext, was eher<br />

überrascht, davon aus, dass die Geisteswissenschaften,<br />

entgegen einer weit verbreiteten<br />

Annahme, jünger als die Naturwissenschaften<br />

sind und eine kompensatorische<br />

Rolle einnehmen. Sie sollen Identität stiften,<br />

denn die Naturwissenschaften machen<br />

die Menschen in ihrer jeweiligen Funktion<br />

austauschbar. <strong>Marquard</strong> hat wie Lübbe auf<br />

die orientierungsstiftende Bedeutung der<br />

Geisteswissenschaften hingewiesen. Die<br />

nicht wenigen Kritiker der Kompensationsthese<br />

weisen darauf hin, dass mit dieser<br />

Deutung eine Abwertung verbunden ist, weil<br />

es diesem Wissenschaftszweig dann nur<br />

noch um die Reaktion, die Antwort, gehen<br />

müsste, nicht mehr um die primäre Gestaltung<br />

einer Handlung oder Situation. Revolu-<br />

tionsbefürworter oder –planer können eine<br />

solche Interpretation, was einleuchtend<br />

ist, nicht nachvollziehen.<br />

In der Habilitationsschrift hat <strong>Marquard</strong><br />

vor dem Hintergrund dieser erkenntnisleitenden<br />

Fragestellung die Konvergenz<br />

von transzendentalphilosophischer<br />

Naturphilosophie und Freuds Psychoanalyse<br />

herausgearbeitet. In der<br />

habilitationsadäquat schwierigen Sprache<br />

lautet diese Sichtweise: „Freuds Psychoana-


46 Konservativer Skeptiker criticón 181 – Frühling 2004<br />

lyse wiederholt zentrale Thesen des ‚Depotenzierungsdenkens’<br />

der transzendentalphilosophischen<br />

Naturphilosophie - unter den<br />

Bedingungen der Naturentzauberung“.<br />

Berufung<br />

Nach laufbahnentsprechender<br />

Tätigkeit als Privatdozent und einem eher<br />

kurzen Zwischenspiel als Studiendirektor erfolgte<br />

bereits 1965 die Berufung nach<br />

Gießen, wo <strong>Marquard</strong> Kollege von <strong>Hans</strong> Blumenberg<br />

wird. Entgegen einer eigenen, ironisch<br />

gemeinten Bemerkung bleibt er auch<br />

nach 1968 mehr ordentlicher als ‚unordentlicher’<br />

Professor. Apropos „1968“: <strong>Marquard</strong><br />

wäre nicht <strong>Marquard</strong>, wenn er nicht auch<br />

die erst später so genannte 68er-Bewegung<br />

treffend einordnen könnte: Der Nichtwiderstand<br />

von 1933 gegen die Tyrannei wurde<br />

eine Generation später durch den Widerstand<br />

gegen die Nichttyrannei, also die<br />

Bundesrepublik, nachgeholt - eine Deutung,<br />

die zumindest einen Teil der damit einhergehenden<br />

Skurrilitäten erklärt. <strong>Marquard</strong><br />

hat neben seiner Lehrtätigkeit auch eine<br />

Reihe von wichtigen Ämtern und Mitgliedschaften<br />

inne gehabt, so u.a. zeitweise die<br />

Präsidentschaft der Allgemeinen Gesellschaft<br />

für Philosophie in Deutschland und die Ordentliche<br />

Mitgliedschaft der Deutschen Akademie<br />

für Sprache und Dichtung.<br />

Überblickt man die jahrzehntelange<br />

Lehrtätigkeit (bis zur Emeritierung in den<br />

neunziger Jahren), so fällt die erstaunliche<br />

thematische Kontinuität des Philosophen<br />

auf. Die „Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie“,<br />

so der Titel einer Aufsatzsammlung<br />

aus den siebziger Jahren,<br />

aber auch die kritische Haltung gegenüber<br />

der Metaphysik bleiben. Anders als in einer<br />

eigenen, humorvollen Bemerkung ausgesagt,<br />

hat nicht nur <strong>Marquard</strong>s Bauch, sondern<br />

auch sein Werk einen Ansatz: Er ergibt sich<br />

aus der Zugehörigkeit zu einer breiten, epochenübergreifenden<br />

philosophischen Traditionslinie<br />

skeptischen Denkens. Diese reicht<br />

von der Antike (Pyrrhon von Elis, Sextus<br />

Empiricus) über die frühneuzeitliche Moralistik<br />

(Balthasar Gracián, Montaigne etc.) und<br />

Hume zu Nietzsche, bis hin zu den Usualisten<br />

der Ritter-Schule oder einem herausragenden<br />

angelsächsischen Politiktheoretiker<br />

wie Michael Oakeshott (,Zuversicht und<br />

Skepsis‘).<br />

Vertreter des Habituellen<br />

<strong>Marquard</strong> hat auf die Aktualität<br />

dieses skeptischen Gedankengutes immer<br />

wieder insistiert. In seinen vieldiskutierten,<br />

im Reclam-Verlag erschienenen Aufsatzbänden<br />

aus den achtziger und neunziger Jahren<br />

(,Apologie des Zufälligen‘, ,Abschied vom<br />

Prinzipiellen‘, ,Skepsis und Zustimmung‘)<br />

versucht der Verfasser, seinen Ansatz zu<br />

konkretisieren. Als Vertreter des Habituellen<br />

ist für ihn der Mensch stets mehr durch seine<br />

Gewohnheiten als durch Abweichungen<br />

davon gekennzeichnet, mehr durch das Zufällige<br />

als durch das Geplante.<br />

<strong>Marquard</strong> wird wohl die Möglichkeiten<br />

von Veränderungen nicht unterschätzen.<br />

Er sieht sie aber, relativ betrachtet zum<br />

Vorhandenen, immer als den Teil des<br />

menschlichen Potenzials, der (auch quantitativ,<br />

gemessen an den menschlichen Gesamthandlungen)<br />

geringer zu bewerten ist<br />

als die Üblichkeiten; denn an Totalrevisionen<br />

hindert uns unsere geringe Lebenszeit.<br />

Veränderungen setzten daher die Basis des<br />

Bestehenden voraus. Dies sei anhand eines<br />

einleuchtenden Beispiels begründet: Selbst<br />

die meisten finanziell gut ausgestatteten<br />

Forschungsunternehmen in den Geisteswissenschaften<br />

können selten mehr als 5 Prozent<br />

dem vorhandenen Wissen hinzufügen.<br />

Auch der herausragende Wissenschaftler<br />

weiß, dass er als Zwerg auf den Schultern<br />

von Riesen steht.<br />

Eine umfangreichere Gruppe von<br />

Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen,<br />

von der lediglich Stephen Jay<br />

Gould (Paläontologie), Jacques Monod (Bio-


criticón 181 – Frühling 2004 von Felix Dirsch 47<br />

logie), Anton Zeilinger (Quantenphysik)<br />

oder Richard Rorty (Philosophie) genannt<br />

seien, betont besonders die Rolle der Kontingenz<br />

im menschlichen Leben wie in der<br />

Geschichte. Sie arbeitet, wie <strong>Marquard</strong>, in<br />

unterschiedlichen Argumentationszusammenhängen<br />

die „Illusion Fortschritt“<br />

(Gould) heraus und begründet damit zumindest<br />

indirekt skeptische Vorstellungen gegenüber<br />

einem Modell vom linearen Fortschritt,<br />

wie sie etwa ein moralistischer Autor<br />

wie Balthasar Gracián schon im 17. Jahrhundert<br />

geäußert hat: „Immer war sie (die<br />

Welt, F. D.) schon, wie sie ist, so werden sie<br />

alle vorfinden, und so werden sie alle wieder<br />

verlassen.“<br />

Im Kontext seiner skeptischen Gedankengänge<br />

spielt auch das „Lob des Polytheismus“<br />

und der „Polymythie“ eine<br />

nicht zu unterschätzende Rolle. Der postmoderne<br />

Anstrich ist dabei unverkennbar. <strong>Marquard</strong><br />

hat eine ganz und gar unemphatische<br />

Vorstellung von „Mythos“. In Anlehnung an<br />

Wilhelm Schapp und <strong>Hermann</strong> Lübbe versteht<br />

er darunter die Verstrickung des Menschen<br />

in unterschiedliche Geschichten. Lebenslang<br />

wird dieser von Erzählungen begleitet,<br />

vom Märchenbuch bis zu den vielfältigen<br />

Formen des Klatschs, des Vortrages<br />

oder der Standpauke des Ehepartners.<br />

Ohne Geschichten können Menschen<br />

nicht leben. Gerade das aber scheint gewisse<br />

nachholende Aufklärer zu stören - vielleicht<br />

deshalb, weil diese Perspektive eher banal<br />

anmutet. Geschichten sind ebenso zahlreich<br />

wie „aufklärungsresistent“ (<strong>Hermann</strong> Lübbe).<br />

Da die Geschichte aus zahlreichen solcher<br />

Erzählungen besteht, lässt sich kein<br />

Ziel der Historie ermitteln. Die Kritik sowohl<br />

an der „Monomythie“ als auch am Monotheismus,<br />

der in traditionell religiösen, aber<br />

auch in modern-ideologischen Varianten<br />

auftreten kann, teilt <strong>Marquard</strong> mit einer<br />

Reihe angesehener Wissenschaftler, von denen<br />

jüngst besonders Jan Assmann Aufsehen<br />

erregte. Letztlich werden von diesem<br />

Verdikt die großen Einheitsphilosophien,<br />

von Platon bis Habermas, getroffen. Der<br />

„Polytheist“ hat mehr Wahlmöglichkeiten<br />

als seine Gegner und braucht sich keiner<br />

Weltanschauung, Philosophie oder sonstigen<br />

Meinung vollständig hinzugeben. Die Gewalten<br />

sind für ihn geteilt, was für alle gesellschaftlichen<br />

Bereiche gilt.<br />

Apologie des Bürgers<br />

<strong>Marquard</strong> hat die daraus resultierenden<br />

Folgen in unterschiedlichen Kontex-<br />

ten erörtert. Seine Apologie des Bürgers (in<br />

der Nachfolge Ritters) hat in dieser Ansicht<br />

wesentliche Wurzeln. Die bürgerliche Lebensform<br />

erscheint weder als Fisch noch als<br />

Fleisch. Gerade deshalb mutet sie wenig aufregend<br />

an. Konsequent ist, dass die Liste ihrer<br />

Verächter lang ist. Der ganze „philosophische<br />

Extremismus zwischen den Weltkriegen“<br />

(Norbert Bolz) und dessen etwas weniger<br />

extreme bundesrepublikanische Erben,<br />

die den „Spätkapitalismus“ ins Blickfeld<br />

nehmen, zählen dazu. Was <strong>Marquard</strong> am<br />

„Bürger“ verteidigt, ist die Tatsache, dass er<br />

eine vielfältige politische, gesellschaftliche<br />

und ökonomische Kultur hervorbringt und<br />

verteidigt, die eine Fülle von Möglichkeiten<br />

eröffnet. Nicht jeder kann sie nutzen. Aber<br />

auch diese Option (ob gewollt oder nicht)<br />

wird nicht bestraft. Die Bürgerlichkeit ist<br />

für <strong>Marquard</strong> binär codiert: Sie umfasst immer<br />

Einheitlichkeit und Vielfältigkeit - im<br />

Gegensatz zu den großen Monologen der<br />

Utopien und totalitären Bestrebungen.<br />

Ein anderer thematischer Strang, den<br />

er seit seinen Erstlingsschriften weiter verfolgte,<br />

befasst sich mit den philosophiegeschichtlichen<br />

Entwicklungen in der zweiten<br />

Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ästhetik, Anthropologie<br />

und die Geschichtsphilosophie<br />

setzen sich vor dem Hintergrund weitreichender<br />

geistiger und kultureller Veränderungen<br />

durch. Ihre zunehmende Etablierung<br />

im philosophischen Diskurs der Zeit impliziert<br />

das Bestreben des Menschen, einen<br />

Selbststand zu finden, den er in früheren<br />

Epochen, aufgrund der Konkurrenz mit dem<br />

Göttlichen, nicht besaß.<br />

Man kann aus diesen Tendenzen,<br />

ebenso aus den Anfängen der Religionsphilosophie<br />

im frühen 19. Jahrhundert, Emanzipationsbestrebungen,<br />

aber auch die Suche<br />

nach Entlastung herauslesen: Gott fällt als<br />

Instanz, die gerechtfertigt werden muss, zunehmend<br />

aus. An seine Stelle rückt der<br />

Mensch, der deshalb aber auch immer mehr<br />

sein Handeln legitimieren muss. Schnell<br />

sitzt er auf der (nicht nur philosophischen!)<br />

Anklagebank. Es bedarf daher einer Möglichkeit,<br />

den Menschen selbst zu enttribunalisieren.<br />

<strong>Marquard</strong> hat mit diesen Gedankengängen<br />

auch die Kehrseite dessen aufgezeigt,<br />

was gern ohne nähere Umstände als<br />

Befreiung ausgegeben wird. Die moderne,<br />

nüchterne Rationalität führt notwendig zur<br />

„Entzauberung“ der Welt. Was braucht man<br />

deshalb als Entlastung? Es entsteht die<br />

Ästhetik, die Mittel zur Wiederverzauberung<br />

an die Hand geben soll. Was gern als Aktion<br />

begriffen wird, entpuppt sich bei näherem<br />

Hinsehen als Antwort. Er gibt auf diese Weise<br />

eine eigenartige, aber nichtsdestoweniger<br />

faszinierende philosophische Erklärung der<br />

von einem Historiker als „Sattelzeit“ bezeichneten<br />

Epoche.<br />

<strong>Marquard</strong> hat neben diesen selbstständigen<br />

philosophiegeschichtlichen Deutungen<br />

auch seine kulturphilosophischen<br />

Vorstellungen offen ausgesprochen. Er nennt<br />

sich einen „Modernitätstraditionalisten“. Damit<br />

ist mehr als ein bloßes Wortspiel gemeint.<br />

Hinter diesem Ausdruck finden sich<br />

die für den Menschen wesentlichen „Zeit-<br />

Verhältnisse“ (<strong>Hermann</strong> Lübbe). Nicht zufällig<br />

ist er auch mit diesen Ansichten im Gegenwartsdiskurs<br />

von maßgeblicher Seite rezipiert.<br />

Man lese lediglich das Vorwort des<br />

einflussreichen, auf mehrere Bände angelegten<br />

Werkes von Henning Ottmann über die<br />

,Geschichte des politischen Denkens‘ von<br />

den Griechen bis zur Gegenwart.<br />

„Modernitätstraditionalist“<br />

Was ist unter einem „Modernitätstraditionalisten“<br />

zu verstehen? Jede Moderne<br />

wird einmal zur Tradition, wie auch umgekehrt<br />

mancherlei Tradition wieder modern<br />

werden kann. Der Mensch braucht beides,<br />

Zukunft wie Herkunft, Fortschritt wie Tradition.<br />

Vielerlei Arten von Moderne wollen ihre<br />

Modernität bewahren. Wie erreichen sie<br />

das? Ein Beispiel hierfür ist die bleibend<br />

einflussreiche Literatur um 1900. Die Werke<br />

von Schriftstellern wie Thomas Mann, Hugo<br />

von Hofmannsthal oder Rainer Maria Rilke<br />

mutieren zur Klassizität. Das Wort „klassische<br />

Moderne“ soll das Altern jener Bücher<br />

verhindern und die bleibende Aktualität<br />

dieser Bestände sichern.<br />

Man kann diese Zusammenhänge<br />

auch im erweiterten Kontext der europäischen<br />

Geschichte aufzeigen: Ein grundlegendes<br />

Lebensgefühl der Moderne lautet: Die<br />

Moderne ist zu wenig modern. Politische<br />

Modernität, zu einem wesentlichen Teil in<br />

den neuzeitlichen Revolutionen verwirklicht,<br />

wurde oft durch die Hypermoderne<br />

desavouiert. Auf die bürgerliche Revolution<br />

in Frankreich folgte die Zeit der Jakobinerherrschaft.<br />

1789 wurde von 1793 überholt.<br />

Napoleons Kaiserkrönung endlich wollte die<br />

Errungenschaften der Umwälzungen verstetigen.<br />

Strukturanalogien in einem anderen<br />

sozialen Umfeld bot das frühe 20. Jahrhundert<br />

in Russland. Der Terror der Bolschewiki<br />

wollte die Revolution der Menschewiki an<br />

Radikalität überholen. Auch hier kommt es


48 Konservativer Skeptiker criticón 181 – Frühling 2004<br />

zu einem lang dauernden Versuch der Revolutionsbewahrung.<br />

Am Ende der sowjetischen<br />

Herrschaft steht in einer radikalen<br />

Dialektik von Fortschritt und Fortschrittskonservierung<br />

in Permanenz die Gerontokratie.<br />

Die Rezipienten das „Modernitätskonservatismus“<br />

(Ottmann) sehen diesen<br />

Begriff wenig spektakulär. Sie wollen aus<br />

der Geschichte des politischen Denkens die<br />

Voraussetzungen der Freiheit eruieren, da<br />

diese sich nicht selbst begründet.<br />

Zukunft braucht Herkunft<br />

Die letzten gut 20 Jahre haben aus<br />

dem Skeptiker folgerichtig einen Konservativen<br />

gemacht. Diese Bezeichnung hat für<br />

<strong>Marquard</strong> nichts mit einer doktrinären Auffassung<br />

zu tun. Er weiß, dass jedes Bestehende<br />

und jede Tradition irgendwann einmal<br />

zum Neuesten gehört hat. Ebenso ist ihm<br />

die Notwendigkeit der Wandlungsbeschleunigung<br />

bekannt, die jedoch vom Menschen als<br />

„Wesen der Langsamkeit“ bewältigt werden<br />

muss. Somit ist die Wirklichkeit häufig, bevor<br />

sie angeeignet werden kann, schon wieder<br />

Nichtwirklichkeit, was für <strong>Marquard</strong><br />

nichts anderes bedeutet als den Hinweis auf<br />

die Gefahren der Desorientierung. Der Fortschritt<br />

bringt eine “tachogene Weltfremdheit“<br />

mit sich.<br />

Schon das Kind muss damit fertig<br />

werden, wobei es sich bei der Bewältigung<br />

leichter tut: Es nimmt seinen Teddy mit, um<br />

von gestern über heute nach morgen zu<br />

kommen. Derartige Erörterungen sind alles<br />

andere als weltfremd oder abstrakt. Der<br />

Käufer teurer Software – und wer ist das<br />

heute nicht? – kann die leidvolle Erfahrung<br />

machen, dass das imprägnierte Datum einer<br />

Neuerscheinung letztlich schon wieder sein<br />

Verfallsdatum angibt.<br />

Für <strong>Marquard</strong> stellt sich nun aber<br />

in diesem Zusammenhang die Frage: Wie<br />

reagiert der alte Adam auf diese neuen Herausforderungen?<br />

Er will Entlastung und entwickelt<br />

entsprechende Strategien. Die Informationsüberflutung<br />

fördert die Zunahme<br />

von Sekundär- statt Primärerfahrung. Oralität<br />

ersetzt Textualität. Man lässt sich einfach<br />

erzählen, welche neue Literatur erschienen<br />

ist. Man reist zu Tagungen, um zu<br />

hören, was man nicht mehr lesen kann. Das<br />

Mittelbare substituiert immer mehr das Unmittelbare.<br />

Es entsteht eine breite Kultur<br />

des „Stattdessen“ – und <strong>Marquard</strong> ist mutig<br />

genug, die Konsequenzen daraus zu ziehen<br />

und die Illusion der absoluten Vervollkommnungsfähigkeit<br />

des Menschen aufzugeben!<br />

Für ihn gilt unbestritten: „Zukunft<br />

braucht Herkunft!“ Dieses Motto (überliefert<br />

durch <strong>Marquard</strong>s Doktorvater Max Müller!)<br />

stammt auch aus dem Mund Martin Heideggers,<br />

der es dann aussprach, wenn er nach<br />

ausgedehnten Wanderungen eine Kapelle betrat,<br />

um sich mit Weihwasser zu bekreuzigen,<br />

obwohl er den überlieferten Glauben<br />

schon lange vorher abgelegt hatte. Das Wissen<br />

um seine Sterblichkeit wirft den Menschen<br />

immer auf seine Herkunft zurück, da<br />

die Kontingenz seines Daseins nirgendwo so<br />

offenkundig wird wie am Anfang und (durch<br />

seine Kenntnis vorweggenommen!) am<br />

Schluss seines Lebens.<br />

Humorvoller „Geheimtipp“<br />

deutscher Philosophie<br />

Was ist über das „<strong>Marquard</strong>-Gespräch“<br />

der Gegenwart festzustellen? Es<br />

muss sich um einen bedeutenden Autor<br />

handeln, wenn Intellektuelle unterschiedlicher<br />

Couleur die Relevanz seines philosophischen<br />

Gedankengutes für einen zeitgemäßen,<br />

zukunftsfähigen Konservatismus<br />

hervorheben. So hat sich eine Gruppe jüngerer<br />

Sterne am Philosophenhimmel dafür ausgesprochen,<br />

– exemplarisch seien hier<br />

Volker Steenblock und <strong>Marquard</strong>s Schüler<br />

Franz-Josef Wetz genannt – lieber <strong>Marquard</strong><br />

und Lübbe als die früher hymnisch verehrten<br />

Habermas, Apel oder Popper zu rezipieren.<br />

Leider ist die Endlichkeit in Leben<br />

und Werk derzeit nicht nur ein theoretisches<br />

Thema des vielfach geehrten Philosophen.<br />

Vor einigen Jahren erlitt <strong>Marquard</strong> einen<br />

Schlaganfall. Seitdem befindet er sich<br />

in der Genesungsphase, die von gelegentlichen<br />

Vorträgen unterbrochen wird.<br />

Ein Aspekt darf bei einem <strong>Marquard</strong>-Porträt<br />

nicht unerwähnt bleiben: der<br />

besondere Grund, warum er als (nicht mehr<br />

neuer!) Geheimtipp der deutschen Philosophie<br />

gilt. Gewiss gibt es in Deutschland viele<br />

kluge Köpfe auch in diesem Bereich. Aber<br />

es existiert kein Vertreter dieser Disziplin<br />

(hier ist der sonst verpönte Superlativ ausnahmsweise<br />

angebracht!), der auch nur<br />

annähernd so humorvoll schreibt wie <strong>Marquard</strong>.<br />

Egal, ob es sich um die Begründung<br />

handelt, warum und wie er zum Langschläfer<br />

wurde oder um die Zurückweisung von<br />

Habermas’ Einwänden bei gleichzeitiger Beschreibung<br />

seines eigenen Ansatzes als „ohne-ihn-Philosophie“<br />

(gemeint ist mit „ihn“<br />

Habermas selbst!); egal, ob es um das Glück<br />

des seit einigen Jahren altersbedingt wiedererlangten<br />

Status des (allerdings gut dotierten!)<br />

„Privatdozenten“ geht oder die Ironisierung<br />

der Düsseldorfer kapitolinischen<br />

Jense (gemeint ist Walter Jens!) in Anspielung<br />

auf die kapitolinischen Gänse: <strong>Marquard</strong><br />

ist in besonderer Weise ein Lesevergnügen<br />

und steht darin Vicco von Bülow,<br />

besser als Loriot bekannt, auf den er zu<br />

dessen siebzigsten Geburtstag eine Laudatio<br />

verfasste, in nichts nach.<br />

<strong>Marquard</strong>-Mini-Bibliographie zu Maxi-Themen:<br />

Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1973<br />

Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart (Reclam) 1981<br />

Apologie des Zufälligen, Stuttgart (Reclam) 1986<br />

Aesthetica und Anaesthetica, München (Fink) 1989<br />

Skepsis und Zustimmung, Stuttgart (Reclam) 1994<br />

Glück im Unglück, München (Fink) 1995<br />

Philosophie des Stattdessen, Stuttgart (Reclam) 2000<br />

Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays, Stuttgart (Reclam) 2003


criticón 181 – Frühling 2004 Jahresregister 2003 49<br />

criticón criticón 33. Jahrgang – 2003 – Nr. 177-180<br />

AUFSÄTZE:<br />

• BAADER, Roland:<br />

Papiergeldzauber<br />

und die Verirrungen<br />

der „Gesellschaftsingenieure“;<br />

180, 19<br />

• BAADER, Roland:<br />

Voodoo-Ökonomie;<br />

178/179, 24<br />

• BRAUN, Isabel:<br />

Herbststaffel der<br />

„Zeitgespräche mit<br />

Prominenten“ 2003:<br />

Wie kommt<br />

Deutschland aus der<br />

Krise?;<br />

180, 27<br />

• BÜHLER, Bernd<br />

Oliver:<br />

Deutschland und<br />

Europa – Wegweiser<br />

für die Zukunft?;<br />

178/179, 43<br />

• GÄRTNER, Edgar:<br />

Windräder, Demokratie<br />

und Wirtschaftskrieg;<br />

178/179, 51<br />

• GEPPERT,<br />

Dominik:<br />

Die Thatcher-Revolution.<br />

Vorbild für<br />

Deutschland?;<br />

180, 12<br />

• HAMER, Eberhard:<br />

Was machen wir,<br />

wenn die Krise<br />

kommt?;<br />

177, 34<br />

• HANKEL, Wilhelm:<br />

Warum die „Agenda<br />

2010“ zu kurz<br />

greift. Ein Fünf-<br />

Punkte Programm<br />

zur Überwindung<br />

der deutschen<br />

Krankheit;<br />

178/179, 27<br />

• HÖFER, Max:<br />

Keine Angst vor Eigenvorsorge;<br />

178/179, 37<br />

• HORX, Matthias:<br />

Der Mittelstand<br />

muss raus aus der<br />

Mitte;<br />

177, 32<br />

• LANGE, Ansgar:<br />

„Amerika ist überall“;<br />

177, 22<br />

• LANGE, Ansgar:<br />

Konservativ 2003.<br />

Ein Plädoyer für das<br />

Ende bürgerlicher<br />

Feigheit;<br />

178/179, 53<br />

• LANGE, Ansgar:<br />

Ein Leben wider den<br />

Zeitgeist. Nachruf<br />

auf Armin Mohler;<br />

178/179, 72<br />

• LINDENBERG,<br />

Andreas:<br />

Was kommt nach<br />

der New Economy?;<br />

178/179, 49<br />

• MATTHES, Axel:<br />

Gehorsame und<br />

Wagnisse IX;<br />

177, 46<br />

• MATTHES, Axel:<br />

Gehorsame und<br />

Wagnisse X;<br />

178/179, 69<br />

• MAXEINER, Dirk<br />

und Michael Miersch:<br />

Deutschland allein<br />

zuhaus’,<br />

178/179, 47<br />

• MIRBACH, Horst:<br />

Der Fall Babcock<br />

Borsig. „Rheinische<br />

Verstrickungen“ und<br />

die Moral der Manager;<br />

177, 20<br />

• MIRBACH, Horst:<br />

Deutschland im<br />

Dickicht von Regelungen<br />

und Gehorsamsverlangen.<br />

Ein<br />

Plädoyer für mehr<br />

Grundgesetztreue<br />

von Politik und Justiz;<br />

1778/179, 31<br />

• MIRBACH, Horst:<br />

Nachhaltige Berufsbildung.<br />

Konzept<br />

für eine Neuordnung<br />

der Berufsbildung;<br />

180, 34<br />

• MÖLLER, Horst:<br />

Vergeudung von<br />

Steuergeldern in<br />

Milliardenhöhe für<br />

Umschulungsmaßnahmen;<br />

180, 37<br />

• OHOVEN, Mario:<br />

Reformen dulden<br />

keinen Aufschub.<br />

Flexibilisierung des<br />

Arbeitsmarktes und<br />

Umbau des Sozialsystems<br />

als Wachstumsmotoren<br />

für<br />

den Mittelstand;<br />

178/179, 35<br />

• RADNITZKY,<br />

Gerard:<br />

Arbeits-„Markt“ und<br />

Gewerkschaft;<br />

177, 25<br />

• SCHÖN, Max:<br />

Für mehr privates<br />

Bildungsunternehmertum<br />

in Deutschland!;<br />

178/179, 40<br />

• SOHN, Gunnar:<br />

Countdown für das<br />

DSD-Müllmonopol.<br />

Wirtschaft und Kartellamt<br />

wollen mehr<br />

Wettbewerb;<br />

177, 40<br />

• SOHN, Gunnar:<br />

Nachfragekartell des<br />

Grünen Punktes<br />

gerät ins Wanken;<br />

180, 39<br />

• SOHN, Gunnar:<br />

wolfcraft-Modell für<br />

eine Soziale Betriebswirtschaft;<br />

180, 30<br />

• WARRAQ, Ibn:<br />

Warum ich kein<br />

Muslim bin (exklusiver<br />

Vorabdruck);<br />

178/179, 67<br />

• WOLFF, Robert:<br />

Freiheit, soziale Sicherheit<br />

und Wohlstand<br />

– bald nur<br />

noch eine Utopie;<br />

177, 31<br />

PORTRÄTS:<br />

• HERMANN LÜBBE:<br />

Konservativer Denker<br />

der Zivilisationsdynamik<br />

(Felix<br />

Dirsch);<br />

178/179, 61<br />

• MARIO OHOVEN:<br />

Die Stimme des Mittelstandes<br />

(Gunnar<br />

Sohn);<br />

177, 29<br />

• LUDWIG VON<br />

MISES:<br />

Leidenschaftlicher<br />

Denker gegen den<br />

allmächtigen Staat.<br />

Zum 30. Todestag<br />

Ludwig von Mises’<br />

(Guido Hülsmann);<br />

180, 23<br />

INTERVIEWS:<br />

• HARBULOT, Christian:<br />

Informationen<br />

als Waffe. Mit List<br />

und Tücke gegen<br />

die europäische<br />

„Schafsethik“;<br />

177, 15<br />

• HELLWIG, Martin:<br />

Dirigistisches Überwachungsdenken<br />

behindert Konkurrenz<br />

des Grünen<br />

Punktes;<br />

178/179, 57<br />

• RAFFELHÜSCHEN,<br />

Bernd: „Wir müssen<br />

jetzt handeln“;<br />

178/179, 38<br />

• STARBATTY, Joachim:<br />

Das Maultaschenprinzip<br />

und<br />

die Logik der Umverteilung.<br />

„Agenda<br />

2010 nur eine Notoperation“;<br />

178/179, 17<br />

BUCHBE-<br />

SPRECHUNGEN:<br />

• BERNHOLZ, Peter:<br />

Monetary Regimes<br />

and Inflation. History,<br />

Economis and<br />

Political Relationships<br />

(Gerard Radnitzky);<br />

180, 52<br />

• BUCKLEY, William<br />

F. Jr.:<br />

Getting it Right. A<br />

Novel (Till Kinzel);<br />

178/179, 75<br />

• COLE, Benjamin<br />

Mark:<br />

Die Rattenfänger<br />

der Wall Street -<br />

Wie Analysten die<br />

Börsenwelt manipulieren<br />

(Gunnar<br />

Sohn);<br />

178/179, 78<br />

• CULIANU,<br />

Ioan Petru:<br />

Eros und Magie in<br />

der Renaissance (Till<br />

Kinzel);<br />

177, 53


50 Jahresregister 2003 criticón 181 – Frühling 2004<br />

• Educating the Prince.<br />

Essays in Honor<br />

of Harvey Mansfield.<br />

Hg. von Mark Blitz<br />

und William Kristol<br />

(Till Kinzel);<br />

180, 56<br />

• FUKUYAMA,<br />

Francis:<br />

Das Ende des Menschen<br />

(Edgar Gärtner);<br />

177, 54<br />

• GAULAND,<br />

Alexander:<br />

Anleitung zum Konservativsein.<br />

Zur Geschichte<br />

eines Wortes<br />

(Ansgar Lange);<br />

177, 54<br />

• GEPPERT,<br />

Dominik:<br />

Die Ära Adenauer<br />

(Ansgar Lange);<br />

180, 48<br />

• GNOLI, Antonio<br />

und Franco Volpi:<br />

Die kommenden Titanen.<br />

Gespräche mit<br />

Ernst Jünger (Volker<br />

Strebel);<br />

180, 58<br />

• HENNECKE,<br />

<strong>Hans</strong> Jörg:<br />

Die dritte Republik.<br />

Aufbruch und<br />

Ernüchterung (Ansgar<br />

Lange);<br />

180, 48<br />

• HOMES,<br />

Alexander Markus:<br />

Von der Mutter missbraucht<br />

(Karin<br />

Jäckel);<br />

178/179, 76<br />

• JÄGER, Wolfgang:<br />

Wer regiert die Deutschen?Innenansichten<br />

der Parteiendemokratie<br />

(Ansgar<br />

Lange);<br />

180, 48<br />

• LANGGUTH, Gerd:<br />

Mythos `68. Die Gewaltphilosophie<br />

von<br />

Rudi Dutschke (Felix<br />

Dirsch);<br />

177, 51<br />

• NAWRATIL, Heinz:<br />

Der Kult mit der<br />

Schuld. Geschichte<br />

im Unterbewusstsein<br />

(Holger von Dobeneck);<br />

177, 55<br />

• ROTHER, Andreas:<br />

Unternehmensphilosophie<br />

in Textbausteinen<br />

(Ansgar Lange);<br />

180, 53<br />

• SCHRÖDER,<br />

Joachim:<br />

Die U-Boote des Kaisers<br />

(Astrid Mannes);<br />

177, 58<br />

• STEPPAN, Rainer:<br />

Versager im Dreiteiler<br />

– Wie Unternehmensberater<br />

die Wirtschaft<br />

ruinieren<br />

(Gunnar Sohn);<br />

180, 54<br />

• STÖVER, Bernd:<br />

Die Bundesrepublik<br />

Deutschland (Ansgar<br />

Lange);<br />

180, 48<br />

• ULFKOTTE, Udo:<br />

Der Krieg in unseren<br />

Städten. Wie radikale<br />

Islamisten Deutschland<br />

unterwandern<br />

(Holger von Dobeneck);<br />

178/179, 78<br />

• WEICK, Karl E. und<br />

Kathleen M. Sutcliffe:<br />

Das Unerwartete managen.<br />

Wie Unternehmen<br />

aus Extremsituationen<br />

lernen<br />

(Gunnar Sohn);<br />

177, 57<br />

KOLUMNEN,<br />

GLOSSEN<br />

• BOUILLON, Hardy:<br />

Der Wettbewerb als<br />

Befreiungsinstrument;<br />

178/179, 8<br />

• BOUILLON, Hardy:<br />

Glaubenskriege;<br />

177, 5<br />

• CONAN, Friedrich:<br />

Emails vom Tage, 2.<br />

Folge;<br />

177, 12<br />

• CONAN, Friedrich:<br />

Emails vom Tage, 3.<br />

Folge;<br />

178/179, 15<br />

• CONAN, Friedrich:<br />

Emails vom Tage, 4.<br />

Folge;<br />

180, 46<br />

• CRITILOS REISEN.<br />

Denkwerkstätten<br />

groß und klein (Caspar<br />

von Schrenck-<br />

Notzing);<br />

177, 39<br />

• DOSTMANN, Peter:<br />

Spritzig;<br />

178/179, 73<br />

• DOSTMANN, Peter:<br />

Wein macht Sinn;<br />

177, 45<br />

• GLOGOWSKI,<br />

Erhard:<br />

Klugheitslehre für<br />

Manager. Gracíán und<br />

die Kunst der Karriereplanung;<br />

178/179, 5<br />

• HÜLSMANN,<br />

Guido: Stabilität á la<br />

européenne;<br />

180, 5<br />

• HÜLSMANN,<br />

Guido:<br />

Der Staat muss<br />

schrumpfen, damit<br />

die Bürgergesellschaft<br />

wächst!;<br />

178/179, 4<br />

• LINDENBERG,<br />

Andreas:<br />

Aus der Traum ...;<br />

177, 9<br />

• MAXEINER, Dirk<br />

und Michael Miersch:<br />

Deutscher Volkssport<br />

„Amerikabashing“;<br />

180, 6<br />

• RADDATZ,<br />

<strong>Hans</strong>-Peter:<br />

EccE! Blick auf die<br />

Zeit;<br />

177, 27<br />

• RADDATZ,<br />

<strong>Hans</strong>-Peter:<br />

EccE! Blick auf die<br />

Zeit;<br />

178/179, 60<br />

• RADDATZ,<br />

<strong>Hans</strong>-Peter:<br />

EccE! Blick auf die<br />

Zeit;<br />

180, 33<br />

• RADNITZKY,<br />

Gerard:<br />

Freitod und letzte<br />

Hilfe als philosophisches<br />

Problem;<br />

180, 7<br />

• RUDORF, Reginald:<br />

Der Antiamerikanismus;<br />

177, 7<br />

• SCHNEIDER,<br />

Andreas:<br />

Der Nationalismus<br />

der Linken und das<br />

historische Versagen<br />

der Rechten.<br />

Protagonisten und<br />

Choreographie;<br />

178/179, 10<br />

• SCHÖNING, Falk:<br />

Die Friedens-Tauben;<br />

177, 6<br />

• SCHÖNING, Falk:<br />

Reden wir nicht über<br />

Deutschland. Handeln<br />

wir;<br />

178/179, 9<br />

• SOHN, Gunnar:<br />

Der Irakkrieg und<br />

das folgenlose<br />

Empörungsgelaber<br />

der Medienmaschine;<br />

177, 4<br />

• SOHN, Gunnar:<br />

Hayek, Thatcher und<br />

die Malaise der Konsensdemokratie;<br />

178/179, 6<br />

• SOHN, Gunnar:<br />

Tarifkartell ruiniert<br />

Deutschland;<br />

180, 4<br />

MITTELSTANDS-<br />

MELDUNGEN<br />

• Basel II und die<br />

Bedeutung des Geomarketings.<br />

Der Nutzen<br />

digitaler Landkarten<br />

für Vertrieb<br />

und Marketing;<br />

177, 37<br />

• Bundesrat sieht<br />

Wettbewerbsnachteile<br />

für das deutsche Direktmarketing;<br />

178/179, 56<br />

• Creditreform: Neue<br />

Rekordmarke bei Insolvenzen;<br />

180, 42<br />

• Deutschland<br />

braucht Impulse für<br />

neues Unternehmertum<br />

– „Small-Business-Act“<br />

auf gesamten<br />

Mittelstand ausdehnen;<br />

177, 37<br />

• Die Grenzen der<br />

traditionellen BWL<br />

und der Wert des<br />

Kunden;<br />

180, 43<br />

• Die missachtete<br />

Macht. Mittelstand<br />

im Machtstrudel des<br />

Staates und der<br />

Großkonzerne;<br />

180, 42<br />

• Expertenstreit:<br />

Outsourcing und das<br />

Ende des schlanken<br />

Betriebes;<br />

180, 44<br />

• Gesetzgebung bei<br />

werblichen Telefonanrufen;<br />

178/179, 56<br />

• Interim Manager<br />

stärker gefragt. Manager<br />

auf Zeit nicht<br />

nur „Feuerwehrleute“;<br />

177, 38<br />

• Mikromarketing<br />

statt Massenvermarktung.<br />

Neue Spielregeln<br />

des Wirtschaftslebens;<br />

178/179, 56<br />

• Zwangsmitgliedschaft<br />

verstößt gegen<br />

EU-Recht. Italien<br />

vom EuGH wegen<br />

Handelskammer-<br />

Zwang verurteilt;<br />

177, 38


criticón 181 – Frühling 2004 Neues aus der Bücherwelt 51<br />

Allahs Schleier<br />

<strong>Hans</strong>-Peter Raddatz:<br />

Allahs Schleier – Die Frau im Kampf<br />

der Kulturen<br />

München:<br />

Herbig-Verlag 2004<br />

472 Seiten<br />

34,90 Euro<br />

ISBN 3-7766-2366-7<br />

Der Islamwissenschaftler <strong>Hans</strong>-Peter<br />

Raddatz hat nun den letzten Band seiner Islam-Trilogie<br />

vorgelegt. Nach ‚Von Gott zu Allah?’<br />

und ‚Von Allah zum Terror?’ beschäftigt<br />

er sich in ‚Allahs Schleier – Die Frau im<br />

Kampf der Kulturen’, ebenso umfassend wie<br />

in den beiden anderen Bänden, mit Fragen<br />

der Macht und Gewalt, hier speziell im Hinblick<br />

auf die Frau, die im Westen und Islam<br />

unterschiedlich beantwortet werden.<br />

Da die Geschlechterdifferenz eine<br />

überpolitische Menschheitsfrage ist, spannt<br />

der Autor einen weiten Bogen von der mythischen<br />

Urtrennung bis zum modernen Geschlechtskonsumismus.<br />

Wenngleich er damit<br />

ein enormes intellektuelles Wagnis eingeht,<br />

gelingt es ihm – um das wesentliche Ergebnis<br />

vorwegzunehmen – eine doppelte Einsicht zu<br />

Ein gar nicht so überraschendes<br />

Resultat interkultureller Toleranz:<br />

die Frau als Vehikel<br />

für den männlich<br />

dominierten „Dialog<br />

mit dem Islam“<br />

öffnen. In über weite Strecken geradezu fesselnder<br />

Weise wird dem Leser die Zeitlosigkeit<br />

geschlechtsspezifischer Weltbilder und<br />

zum anderen die offenbar kaum veränderbare<br />

Verbindung zwischen Macht und Masse, Elite<br />

und Volk, sowie – männlicher – Kultur und –<br />

weiblicher – Natur vorgestellt.<br />

Ob in prähistorischen Urhorden, ob in<br />

vorchristlichen bzw. vorislamischen Kulturen<br />

oder ob im Christentum oder Islam selbst –<br />

immer formieren sich männliche Priesteroder<br />

Führungseliten, die rigoros drei Bereiche<br />

besetzen und „verwalten“: das jeweils<br />

machtspendende Gottesbild, den materiellen<br />

Besitz und die weibliche Sexualität. Dabei erfahren<br />

wir allerdings, dass sich im indo-iranischen<br />

und mesopotamischen Kulturkreis zwei<br />

offenbar unterschiedlich formgebende Frauenbilder<br />

entfalteten. Ersterer beruhte auf der<br />

Landwirtschaft und erkannte die Erlösung im<br />

Geiste sowie die Frau eher als Individuum in<br />

der Einehe, während man sich im nomadischen<br />

Stammland des Orients im genealogischen<br />

Fortleben erlöst sah und dabei die Frau<br />

als polygames Teil eines biologischen Kollektivs<br />

zu befruchten hatte.<br />

Auch wenn man einzelnen Wertungen<br />

vielleicht nicht zustimmen mag, zeigt Rad-<br />

datz insgesamt überzeugend, wie sich diese<br />

Kulturwurzeln im Christentum und Islam<br />

fortsetzten und heute mit der – männlich dominierten<br />

– Ideologie eines islamisch besetzten<br />

Multikulturalismus zu einem beklemmend<br />

biologistischen Machtglauben verbinden.<br />

Denn wie der Autor detailliert nachweist, hat<br />

sich der „neue“ Islam unserer Zeit nicht sehr<br />

weit von seiner „alten“, historischen Version,<br />

seinem politischen Herrschaftsideal und repressiven<br />

Frauenbild entfernt.<br />

Indem sich nun allerdings der Westen<br />

mit ungehemmter Zuwanderung und einem<br />

einseitigen „Dialog“ immer weiter den Forderungen<br />

nach Moscheebau, Muezzinruf, Islamunterricht<br />

etc. öffnete, schreitet die authentische<br />

Installation des islamischen Rechtssystems<br />

(Scharia) voran. Er gibt zugleich Elemente<br />

preis, die einst die eigene Kultur<br />

entscheidend prägten: die christlich-humanistische<br />

Individualität, die wissenschaftliche<br />

Objektivität und damit auch die Grundrechte<br />

der Demokratie.<br />

Aus diesem Verlust, der ganz wesentlich<br />

auch durch die bewusstseinsverändernde<br />

Wirkung der modernen Bilderwelt verstärkt<br />

wird, entwickelt Raddatz die These von der<br />

„dritten Ideologie“ des Proislamismus – nach


52 Neues aus der Bücherwelt criticón 181 – Frühling 2004<br />

Sozialismus und Faschismus. Mit einer Fülle<br />

erstaunlicher Beispiele verdeutlicht er die<br />

gnostische, d.h. überpolitische, quasi-religiöse<br />

Dimension dieser Ideologie, die er durch<br />

überzeugende Argumente untermauert. Sowohl<br />

die Kulturkritik als auch die Totalitarismusforschung<br />

und nicht zuletzt die zeitgenössische<br />

Soziologie sind sich in der Beurteilung<br />

des Phänomens einig. Aus einer diktierten<br />

Toleranz für ein politreligiöses System<br />

wie den Islam, der selbst keine nichtislamischen<br />

Systeme toleriert, entwickelt sich in<br />

Europa – zu Lasten aller Frauen – eine Strömung,<br />

die schon jetzt islamische Gewalt<br />

rechtfertigt. Die Öffentlichkeit soll mit der<br />

Doktrin „Islamismus ist nicht gleich Islam“<br />

an der Erkenntnis gehindert werden, dass es<br />

ersteren ohne letzteren nicht geben kann.<br />

Inzwischen entsendet das deutsche<br />

Außenministerium Vertreter zu Konferenzen<br />

mit Terroristen der Hisbollah im Libanon,<br />

lehnt der Leiter des öffentlich finanzierten<br />

Deutschen Orient-Instituts die Reziprozität<br />

westlicher Toleranz für die islamischen Länder<br />

als „Menschenrechtsfundamentalismus“<br />

ab, wertet die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung<br />

die türkisch-radikale Milli<br />

Görüsh, die vom Verfassungsschutz als staatsgefährdend<br />

eingestuft wird, zu einer Gruppe<br />

auf, die „deutliche Tendenzen zu demokratischer<br />

Differenzierung“ entwickelt.<br />

Raddatz’ neues Buch analysiert ein<br />

komplexes Geschehen nachvollziehbar, nämlich<br />

die Entwicklung der westlichen Neo-Islamisten,<br />

zu einer „Elite“, der das Mehrheitsinteresse<br />

gleichgültig ist. Wenn auch zukünftig<br />

islamische Gewalt verständnisvoll interpretiert<br />

und dem Islam keine Forderungen auf<br />

Geltung der Universalen Menschenrechte „zugemutet“<br />

werden, dann müssen wir uns<br />

tatsächlich auf einen „Kampf der Kulturen“<br />

einrichten. Die Debatte um das Kopftuch wird<br />

dabei eine der harmloseren Facetten sein,<br />

wenngleich sie offenbar geeignet ist, den<br />

Kreis zum Mythischen zu schließen: die Besetzung<br />

des Weiblichen durch den männlichen<br />

Machtanspruch, der sich seit Urzeiten<br />

die passenden Gottesbilder selbst schmiedete,<br />

also immer „religionsfrei“ war. Dieses Buch ist<br />

ein großartiges Plädoyer für die Humanität,<br />

es fordert die Gleichberechtigung der Geschlechter,<br />

die Trennung von Staat und Moschee,<br />

somit den Verzicht des Islam auf die<br />

Scharia, ein menschenverachtendes System,<br />

in dem es auch im 21. Jahrhundert noch Körperstrafen<br />

bis hin zur Steinigung gibt und<br />

das Verlassen der Religion verfolgt wird. Es<br />

wendet sich gegen die Macht des Menschen<br />

über den Menschen und ist ein Bekenntnis<br />

zur Demokratie und eine Warnung hinter die<br />

Aufklärung zurückzufallen.<br />

Gerechtigkeit<br />

Caroline David<br />

Der Politikphilosoph Anthony de Jasay<br />

analysiert einen vielschichtigen Begriff<br />

Anthony de Jasay: Justice and its<br />

Surroundings<br />

Indianapolis: Liberty Fund 2002<br />

Pb., 321 Seiten<br />

ISBN 0865979774<br />

Der Autor ist ein ungarischer Aristokrat,<br />

der in Australien Ökonomie studierte,<br />

dann an der Oxford Universität lehrte – was<br />

heißt, dass er direkt aus der fernen Provinz<br />

(man denke an Oscar Wilde’s ‚This world, the<br />

next world, or Australia’) direkt ins „Allerheiligste“<br />

kam –, später Investmentbanker wurde<br />

(da er meinte: „Von einem Professorengehalt<br />

könne er nicht leben“) und schließlich<br />

sich als Privatgelehrter etablierte. Meines Erachtens<br />

ist er der interessanteste Politikphilosoph<br />

des 20. Jahrhunderts. Trotz einer Anzahl<br />

von Büchern ist er keinesfalls allgemein<br />

bekannt, sondern besonders im deutschen<br />

Sprachbereich eher ein Geheimtipp. Wenn ich<br />

ihn mittels einer Etikette charakterisieren<br />

sollte, würde ich „libertarian conventionalist“<br />

wählen: ein Ökonom der Österreichischen<br />

Schule der Ökonomie, jedoch (im Gegensatz<br />

zum Apriorismus der Mises-Anhänger)<br />

mit einer soliden Erkenntnistheorie gestützt<br />

auf David Hume. „Libertarian“, da er<br />

davon ausgeht, dass das Individuum im Prinzip<br />

frei ist, eine bestimmte Handlung auszuführen,<br />

solange es keine gültigen Einwände<br />

gegen diese Art von Handlung gibt, und dass<br />

es der Gegenredner ist, also derjenige, der behauptet,<br />

es gäbe gültige Einwände, der die<br />

Beweislast trägt. „Konventionalist“ in dem<br />

Sinn, dass er eine Sozialordnung, die auf der<br />

Vertragskonvention und Reputation (begründetem<br />

Vertrauen) aufbaut – „Ordered Anarchy“<br />

–, für eine mögliche und attraktive Alternative<br />

zum Staat hält. Jasays Logik ist<br />

einwandfrei, sein Stil meisterhaft.<br />

Der vorliegende Band ist klar strukturiert<br />

und der Titel sagt genau worum es geht.<br />

Die zentralen Essays, die sich mit Gerechtigkeit<br />

befassen, sind umgeben von Essays, welche<br />

die Umwelt von Gerechtigkeit untersuchen,<br />

Topoi die sich bei Diskussionen über<br />

Gerechtigkeit aufdrängen und oft mit Gerech-


criticón 181 – Frühling 2004 Neues aus der Bücherwelt 53<br />

tigkeitsproblemen konfundiert werden. So behandelt<br />

der erste Teil, ‚The Needless State’<br />

den Staat; der zweite Teil befasst sich mit der<br />

Umverteilung und führt damit zum dritten,<br />

dem zentralen Teil mit dem Essay, ‚Justice’.<br />

Ihm folgt der vierte Teil, ‚Socialism’ und der<br />

fünfte ‚Freedom’.<br />

Philosophische Diskussion<br />

Der zentrale Essay gibt eine Explikation<br />

des Begriffs ‚Gerechtigkeit’: Der vieldeutige<br />

und vage Begriff der Umgangssprache und<br />

der Politik soll in bestimmten Bereichen, vor<br />

allem in der politischen Philosophie, durch<br />

einen Begriff ersetzt werden, der ein besseres<br />

intellektuelles Instrument ist. Der umgangssprachliche<br />

Gebrauch von „Gerechtigkeit“ ist<br />

ein Musterbeispiel für den politischen Gebrauch<br />

der Sprache. Er ist so konfus, dass eine<br />

Analyse dieses Begriffs, (des „Explikandums“<br />

wie man es in der Philosophie nennt)<br />

nichts bringen würde. Deshalb nimmt Jasay<br />

die philosophische Diskussion zum Ausgangspunkt.<br />

Den Kern bilden zwei Prinzipien: das<br />

aristotelische „Suum cuique tribuere“ und<br />

„Gleiche Fälle gleich behandeln!“ Das Prinzip<br />

„Jedem nach seinem Verdienst“ wird evoziert,<br />

wenn wir fragen: „Verdient er, was er verdient?“<br />

(Does he deserve what he earns?).<br />

Das Prädikat „x ist gerecht / ungerecht“ wird<br />

ausgesagt von individuellen Handlungen. Die<br />

Verbindung von Handlung und Folgen (Belohnung<br />

oder Sanktionen), von Handlungsfreiheit<br />

und Verantwortung, steht im Vordergrund.<br />

Das Individuum ist verantwortlich für<br />

seine Taten. Der Blick richtet sich also<br />

hauptsächlich in die Vergangenheit.<br />

Suggestivdefinitionen<br />

Das zweite Prinzip führt zur Frage:<br />

was macht zwei Fälle „gleich“? Es wird gezeigt,<br />

dass das Problem darin besteht, die<br />

Kriterien dafür zu legitimieren, dass zwei Fälle<br />

in relevanter Hinsicht gleich sind. Dass<br />

dieses zweite Prinzip für rationale Erwartungen<br />

und Stabilität einer Gesellschaft unentbehrlich<br />

ist, leuchtet sofort ein. Das dem<br />

zentralen Essay vorausgehende Kapitel befasst<br />

sich mit den Verschmutzungen der intellektuellen<br />

Umwelt von „Gerechtigkeit“, mit<br />

Suggestivdefinitionen des Ausdrucks ‚gerecht’.<br />

Vor allem folgende Versuche sind en vogue:<br />

Gerechtigkeit als „Fairness“ (John Rawls), Gerechtigkeit<br />

als Unabweisbarkeit (non-rejectability,<br />

T. M. Scanlon), Gerechtigkeit als Unparteilichkeit<br />

(impartiality, Brian Barry). Allen<br />

ist gemeinsam, dass Gerechtigkeit expliziert<br />

wird als etwas anderes als Gerechtigkeit.<br />

Besonders Rawls’ Theorie erfreut sich großer<br />

Beliebtheit, sogar bei Ökonomen. Warum? Ihr<br />

substantieller Gehalt entspricht dem sozialdemokratischen<br />

Klima (bzw. in den USA dem<br />

amerikanischen Liberalismus – „east-coast“<br />

order „big-government liberals“). An dieser<br />

Stelle greift der Begriff „Gerechtigkeit“ in die<br />

soziale Umwelt ein. Der Ausdruck ‚gerecht’<br />

wird nun ausgesagt, nicht mehr von Handlungen,<br />

sondern von Zuständen. Damit wird<br />

ein völlig anderer Begriff als der ursprüngliche<br />

Begriff der Handlungsgerechtigkeit unterschoben.<br />

Ein bestimmter Zustand einer Gesellschaft<br />

wird als „ungerecht“ bezeichnet,<br />

weil er einem bestimmten, vorgefassten normativen<br />

Ideal nicht entspricht. Der Blick<br />

richtet sich also auf die Zukunft: welchen Zustand<br />

„solidarische“ Gutmenschen herbeiführen<br />

wollen .Die Behauptung, dass dies<br />

im Namen der Gerechtigkeit geschehe, dient<br />

dann dazu, die Forderung nach Veränderungen<br />

zu begründen.<br />

Im Namen der Gerechtigkeit?<br />

Leute, die ihr vorgefasstes Ideal<br />

durchsetzen wollen, können jetzt ihre Aktion<br />

als Beseitigung von Ungerechtigkeiten kamouflieren,<br />

sich als Moralapostel „outen“,<br />

anstatt offen zu erklären, dass sie ihren Willen<br />

anderen aufzwingen wollen. Sie dürfen<br />

nebenher sogar hoffen, die „Akzeptanz“ dieser<br />

anderen zu den sie benachteiligenden Änderungen<br />

zu gewinnen, wenn sie behaupten,<br />

dies geschehe im Namen der Gerechtigkeit.<br />

Mit einer auf dieser holistischen Gerechtigkeitsinterpretation<br />

basierenden Rhetorik wird<br />

die umverteilende Staatstätigkeit als Mittel,<br />

um „Ungerechtigkeiten“ zu beseitigen, dargestellt.<br />

„Ungerechtigkeiten“ zu finden, kostet<br />

den Politikern wenig Mühe. Mit dem Arsenal<br />

an „Ungerechtigkeiten“ befasst sich Kapitel<br />

6, ‚A stocktaking of perversities’. Zu den Perversitäten<br />

gehört auch die Idee eines „Market<br />

Socialism“, einer „sozialistischen Marktwirtschaft“<br />

(Kapitel 14). Die Interventionen des<br />

Staates, die vorgeblich der Beseitigung von<br />

Ungerechtigkeiten dienen, haben meistens<br />

keine guten Folgen. So führen Maßnahmen,<br />

deren erklärte Absicht es ist, Trittbrettfahren<br />

zu verunmöglichen, oft nicht zur Verringerung<br />

des Trittbrettfahrens, sondern im Gegenteil<br />

zu mehr Zwang und auch dazu, an<br />

Stelle der Individuen, die freiwillig beigetragen<br />

haben, nunmehr die Rollen von Trittbrettfahrern<br />

und „Dummen“ durch staatlichen<br />

Zwang festzulegen. Besonders deutlich<br />

ist das in der Demokratie, wo die Majorität,<br />

die Mitglieder der Verliererkoalition dazu<br />

zwingt, Vorhaben mitzufinanzieren, die sie<br />

selbst für wünschenswert hält (Kapitel 2 ‚Taxpayers,<br />

suckers, and free riders’). Der Zusam-<br />

menhang zwischen Trittbrettfahren und dem<br />

Gefangenendilemma liegt auf der Hand. Jasay<br />

zeigt, dass nicht nur bei einem Zweipersonenspiel,<br />

sondern auch bei Mehrpersonenspielen,<br />

der Staat keine notwendige Bedingung<br />

dafür ist, dass eine kooperative Lösung<br />

des Dilemmas zustande kommen kann (Kapitel<br />

3, ‚Prisoners’ Dilemma and the Theory of<br />

the State’). Das ist höchst relevant für das<br />

Problem der so genannten öffentlichen (steuerfinanzierten)<br />

Güter. (Es wäre lohnend, diese<br />

Problematik in Bezug auf die laufende Debatte<br />

um Denkmäler als öffentlicher Güter<br />

[oder öffentliche Übel] durchzuspielen:<br />

Mahnmale für Holocaust, Mahnmale für Vertreibung,<br />

für dieses und Jenes – was man<br />

hier privatisieren, dem Markt überlassen<br />

könnte und sollte, anstatt dem Bürger<br />

zwangsweise Geld aus der Tasche zu ziehen.)<br />

Worthülsen<br />

Die zeitgenössische politische Rhetorik<br />

quasselt oft von „sozialer Gerechtigkeit“,<br />

ohne zu fragen, was macht eine bestimmte<br />

Art von Gerechtigkeit sozial? Gibt es auch eine<br />

Gerechtigkeit, die nicht-sozial ist? Was<br />

macht die so genannte „soziale Gerechtigkeit“<br />

überhaupt zu einer Abart von Gerechtigkeit?<br />

Der Ausdruck erweist sich als Leerformel;<br />

ideologische Pfadfinder beeilen sich,<br />

die Worthülse mit Inhalt ihres Geschmacks zu<br />

füllen. Die modernen Prokrustes und die Robin<br />

Hoods sind hier in ihrem Element, denn<br />

sie wissen, was „gerecht“ ist. Man hört Politiker<br />

sogar von einer „Gerechtigkeitslücke“ faseln.<br />

Soeben forderte der Verdi-Vorsitzende<br />

öffentliche Investitionen auf der Basis einer<br />

„gerechten“ Besteuerung. Kurz, in der pseudomoralischen<br />

Machtpolitik ist „Gerechtigkeit“<br />

ein wichtiges Instrument. Das gilt insbesondere<br />

für die Sozialdemokraten in allen<br />

Parteien. Jasays Buch kann allen denen helfen,<br />

die auf diesem Gebiet klar denken wollen.<br />

Gerard Radnitzky<br />

www.radnitzky.de


54 Neues aus der Bücherwelt criticón 181 – Frühling 2004<br />

Die Vertreibung<br />

aus dem Zeitschriftenparadies<br />

<strong>Hans</strong>-Christof Kraus (Hg.): Konservative<br />

Zeitschriften zwischen Kaiserreich<br />

und Diktatur. Fünf Fallstudien (Studien<br />

und Texte zur Erforschung des Konservatismus,<br />

Band 4). Berlin: Duncker & Humblot<br />

2003, 190 Seiten, 58,- Euro,<br />

ISBN 3-428-11037-4.<br />

Der verstorbene Politikwissenschaftler Theodor<br />

Eschenburg hat die Jahre 1945 bis 1949<br />

als die „Blüteperiode der Zeitschriften“ bezeichnet.<br />

Nach der geistigen Öde des „tausendjährigen<br />

Reiches“ hatten viele Menschen<br />

Hunger nach neuen Ideen. Papier und Bücher<br />

waren knapp. Daher griffen die Leute lieber<br />

zur Zeitschrift. Ungefähr 150 bis 250 kulturpolitische<br />

Zeitschriften existierten bald nach<br />

Kriegsende. Millionen von Exemplaren gingen<br />

durch die Hände einzelner Leser oder ganzer<br />

Lesezirkel. Heutzutage bringt es ein Periodikum<br />

vom Rang des Merkur vielleicht noch auf<br />

3.000 bis 4.000 Exemplare.<br />

Wenn man zu dem Schluss kommt,<br />

dass es heute kaum noch anspruchsvolle kulturpolitische<br />

Zeitschriften gibt, da ihr Geschäft<br />

von den großflächigen Feuilletons der<br />

FAZ und der SZ besorgt wird und viele nicht<br />

mehr bereit sind, längere Zeitschriftentexte<br />

zu lesen, so darf man sich getrost mit historischem<br />

Interesse der Zeitschriftenforschung<br />

zuwenden. In der jüngsten Zeit sind drei interessante<br />

Publikationen über verschiedene<br />

Zeitschriften erschienen, die zwischen Kaiserreich<br />

und Bundesrepublik erschienen sind.<br />

Dieser Sammelband bietet viele Vorteile.<br />

Die seriöse Förderstiftung Konservative<br />

Bildung und Forschung des ehemaligen criticón-Herausgebers<br />

Caspar von Schrenck-Notzing<br />

hat in <strong>Hans</strong>-Christof Kraus einen ausgewiesenen<br />

Kenner des deutschen Konservatismus<br />

als Herausgeber gewonnen. Die übrigen<br />

Autoren (Felix Dirsch, Dieter J. Weiß, Karlheinz<br />

Weißmann und Guido Müller) bringen<br />

neben viel Sympathie für konservatives Ge-<br />

dankengut auch die Fähigkeit mit, Verirrungen<br />

des deutschen Konservatismus z. B. in<br />

der anbrechenden Nazi-Zeit kritisch zu beleuchten.<br />

Alle Aufsätze basieren auf gründlicher<br />

Recherche und stellen wichtige Presseerzeugnisse<br />

wie die Süddeutschen Monatshefte<br />

(Kraus steuert hierzu einen exzellenten Beitrag<br />

bei), das Hochland (der Beitrag von Felix<br />

Dirsch ist äußerst fundiert, leider aber auch<br />

nicht unbedingt „eingängig“ geschrieben),<br />

die Historisch-politischen Blätter und die Gelben<br />

Hefte (Dieter J. Weiß), das Gewissen und<br />

der Ring (Weißmanns Aufsatz ist neben<br />

demjenigen von Kraus der beste dieses Bandes)<br />

und die Europäische Revue (Guido Müller)<br />

dar.<br />

Hier kann nicht auf alle Beiträge eingegangen<br />

werden. Eines machen die Autoren<br />

jedenfalls auf sachlich-nüchterne und umsichtig<br />

argumentierende Art und Weise deutlich:<br />

Moralische Verurteilungen mancher konservativer<br />

Positionen in der Zeit zwischen


criticón 181 – Frühling 2004 Neues aus der Bücherwelt 55<br />

Kaiserreich und „Drittem Reich“ mit dem moralischen<br />

Pathos der bundesrepublikanischen<br />

Wohlstandszöglinge stehen uns nicht zu.<br />

Kraus macht diesen Ansatz in seinem klugen<br />

Vorwort deutlich: Die Ideen und Gedanken<br />

der fünf Fallbeispiele kulturpolitischer Zeitschriften<br />

sind „Reaktionen auf jene säkulare<br />

Krise, die durch den Ersten Weltkrieg in Europa<br />

und besonders im durch den Versailler Vertrag<br />

schwer gedemütigten Deutschland ausgelöst<br />

worden war“.<br />

Moralische und politische Blindheit<br />

fand sich auch zur Genüge auf der linken Seite,<br />

wofür die linksradikale Weltbühne nach<br />

dem Tode Siegfried Jacobsohns ein Beleg ist:<br />

„Dieses philokommunistische Organ hat, indem<br />

es seine eigenen infantilen Ressentiments<br />

(‘Soldaten sind Mörder’) wöchentlich<br />

mit großer Vehemenz publizierte und damit<br />

die entsprechend vehementen Gegenressentiments<br />

mobilisierte, beträchtlich zum Siege<br />

Hitlers beigetragen. Das gilt zumal für ihre<br />

Haltung nach dem Tode des klugen Siegfried<br />

Jacobsohns (1926), an dessen Stelle Carl v.<br />

Ossietzky trat(...), der nicht begriff, was unter<br />

seiner Verantwortung getrieben wurde,<br />

wie sehr diese Art des Kampfes gegen Hitler<br />

dessen Machtergreifung gerade förderte.“<br />

(Winfried Martini)<br />

Seinen Aufsatz über die Süddeutschen<br />

Monatshefte (1904-1936) stellt Kraus unter<br />

die bezeichnende Überschrift ‚Kulturkonservatismus<br />

und Dolchstoßlegende’. Er weist überzeugend<br />

nach, dass sich das zeitweilig sehr<br />

einflussreiche Organ bis Mitte der 20er Jahre<br />

vor allem mit der Frage nach der Schuld am<br />

Kriegsausbruch und den eigentlichen Ursachen<br />

des deutschen Zusammenbruchs im November<br />

1918 beschäftigte. In einem sehr traditionellen<br />

Sinne konservativ-national orientiert,<br />

trat die Zeitschrift nach 1918 für die<br />

Wiederherstellung des Kaiserreiches ein.<br />

Felix Dirsch bescheinigt dem katholischen<br />

Hochland, dass es für den Ausbruch aus<br />

dem katholischen Getto eintrat. Seit Mitte<br />

des 19. Jahrhunderts war katholische Literatur<br />

im deutschen Sprachraum fast ausschließlich<br />

von einem geschlossenen katholischen<br />

Milieu beachtete Unterhaltungs- und Tendenzliteratur.<br />

In der Weimarer Republik entsprach<br />

die Haltung des Hochland derjenigen<br />

des Mehrheitskatholizismus: Carl Muths Zeitschrift<br />

stellte sich zwar auf den Boden der<br />

Republik, trat aber nicht offensiv für sie ein.<br />

Insgesamt betrachtet bedeutete Hitlers<br />

„Machtergreifung“ das Aus oder die geistige<br />

Gleichschaltung der hier untersuchten<br />

Periodika. Auch auf dem Zeitschriftensektor<br />

versetzte Adolf Hitlers nationaler Sozialismus<br />

dem Konservatismus einen Todesstoß, von<br />

dem er sich nach 1945 nie wieder richtig erholen<br />

sollte.<br />

Diese These lässt sich auch durch Michel<br />

Grunewalds vorzüglichen Zeitschriftenband<br />

bestätigen:<br />

Michel Grunewald/<strong>Hans</strong> Manfred<br />

Bock (Hrsg.): Der Europadiskurs in den<br />

deutschen Zeitschriften (1945-1955).<br />

Bern-Berlin-Brüssel-F.a.M.-New York, Oxford-Wien:<br />

Peter Lang Verlag 2001, 472<br />

Seiten, 78,10 Euro, ISBN 3-906758-26-5.<br />

Die meisten der in diesem Sammelband<br />

vorgestellten Zeitschriften hatten ein<br />

eher linkes oder liberales Profil. Die Autoren<br />

halten sich glücklicher Weise nicht an die<br />

Vorgabe, sich auf die Wiedergabe des Europadiskurses<br />

zu beschränken. Der Leser erhält<br />

ebenfalls wichtige Basisinformationen über<br />

die Herausgeber und Autoren sowie die generelle<br />

politische Linie so bedeutender Zeitschriften<br />

wie Aufbau, Ost und West, Der Ruf,<br />

Die Wandlung, Merkur, Die Gegenwart, Frankfurter<br />

Hefte, Der Monat, Neues Abendland<br />

usw.<br />

Zunächst ein paar Anmerkungen zu<br />

den konservativen Blättern. Der Merkur ist<br />

eines der wenigen Organe, das seit den Tagen<br />

der frühen Nachkriegszeit bis heute überlebt<br />

hat. In einem recht kritisch angelegten Beitrag<br />

bescheinigt <strong>Hans</strong> Manfred Bock den Merkur-Autoren<br />

„hohes wissenschaftliches oder<br />

publizistisches Prestige und konservative<br />

Wertorientierung“. Für die geistesaristokratische<br />

Linie des von <strong>Hans</strong> Paeschke herausgegebenen<br />

Merkur stehen u. a. folgende Namen<br />

renommierter Schriftsteller und Publizisten:<br />

Wilhelm E. Süskind, Dolf Sternberger, Helmut<br />

Schelsky, Michael Freund, Ernst Forsthoff,<br />

<strong>Hans</strong> Egon Holthusen. Bock bemängelt allerdings,<br />

dass die Zeitschrift kaum „Vertretern<br />

des parteiendemokratischen Staates“ Platz<br />

geboten habe, dafür aber so genannten „Repräsentanten<br />

der Fundamentalkritik an der<br />

Demokratie wie Winfried Martini und Armin<br />

Mohler“: „Von den führenden Politikern der<br />

frühen Bundesrepublik kam nicht einer in<br />

den Heften des Merkur zu Worte.“ Hierzu<br />

ließe sich anmerken, dass der Stil eines Martini<br />

oder Mohler sicher um einiges brillanter<br />

ausfiel als die gestanzte Prosa unserer bundesrepublikanischen<br />

Berufspolitiker. Bocks<br />

Beitrag über den Merkur gehört, auch wenn<br />

man seine Kritik an der eher konservativen<br />

Ausrichtung der Zeitschrift nicht teilt, zu den<br />

besten und kenntnisreichsten dieses Bandes.<br />

Er sieht den Merkur vor allem in der Tradition<br />

der Europäischen Revue, die (siehe oben) Guido<br />

Müller für den von <strong>Hans</strong>-Christof Kraus<br />

herausgegebenen Zeitschriftenband porträtiert<br />

hat.<br />

Bedenklicher war wohl eher die geistige<br />

Haltung des Neuen Abendlandes. Als ideologische<br />

Pfeiler macht die Historikerin Vanessa<br />

Plichta, welche diese Variante des süddeutschen<br />

Katholizismus porträtiert, Rechristianisierungspläne<br />

und Antikommunismus aus.<br />

Der Nationalsozialismus wurde mit Verweis<br />

auf den Abfall von Gott als eine Art europäisches<br />

Phänomen entsorgt. Gottlosigkeit erkannte<br />

das Neue Abendland sowohl im Nationalsozialismus<br />

als auch im Kommunismus, so<br />

dass „Vergangenheitsbewältigung“ nicht hoch<br />

im Kurs stand. Es galt ja, gegen den gottlosen<br />

Kollektivismus im Osten zu kämpfen. Es<br />

gab Verbindungen zwischen „Neuem Abendland“<br />

und „Abendländischer Akademie“, zu<br />

der prominente C-Politiker wie Richard Jaeger,<br />

Alois Hundhammer, Heinrich von Brentano,<br />

<strong>Hans</strong>-Joachim von Merkatz oder auch Otto<br />

von Habsburg gehörten. Für das Neue<br />

Abendland schrieben u. a. Reinhold Schneider,<br />

Werner Bergengruen, Erik von Kuehnelt-<br />

Leddhin, Erich Franzel und Franz Herre. Vorbilder<br />

waren die autoritären Systeme der iberischen<br />

Halbinsel (Franco und Salazar). Allen<br />

Ernstes sprach man sich für ein europäisches<br />

Kaisertum aus, welches dem Abbau des Nationalismus<br />

dienen könne.<br />

Sehr interessant sind auch die Aufsätze<br />

über den Monat (Thomas Keller) und die<br />

Frankfurter Hefte (Michel Grunewald). Den<br />

Monat auf seine CIA-Finanzierung zu reduzieren,<br />

ist einfach lächerlich. Vielmehr schafften<br />

es so unterschiedliche Autoren wie Melvin<br />

Lasky, Raymond Aron, Arthur Koestler, Richard<br />

Löwenthal, Willy Brandt, Wilhelm Röpke,<br />

Carlo Schmid sowie namhafte ausländische<br />

Schriftsteller bzw. ehemalige deutsche Emigranten,<br />

dem westlichen Deutschland den<br />

Anschluss an die (westliche) Moderne zu ermöglichen.<br />

Im Monat wurde die Literatur und<br />

Ideenwelt wieder zugänglich, die der Autor<br />

von ‚Mein Kampf’ und seine geistlosen Satrapen<br />

für zwölf Jahre in den Giftschrank gesperrt<br />

hatten.<br />

Einen besonders interessanten Forschungsgegenstand<br />

stellen die von Eugen Kogon<br />

und Walter Dirks zwischen 1946 und<br />

1984 herausgegebenen Frankfurter Hefte dar,<br />

die von Anfang an mit großer Überzeugungskraft<br />

für den europäischen Gedanken stritten<br />

und jeglichem Nationalismus eine klare Absa-


56 Neues aus der Bücherwelt criticón 181 – Frühling 2004<br />

ge erteilten. Kogon und Dirks lehnten ähnlich<br />

vehement die konservative Abendlandideologie<br />

wie den Nationalismus der deutschen<br />

Sozialdemokratie unter Kurt Schumacher<br />

ab. Ihre damals vielleicht noch vertretbaren<br />

Vorstellungen von einem Europa als<br />

„Dritte Kraft“ zwischen Ost und West präsentieren<br />

heutzutage ja wieder Konservative wie<br />

Alexander Gauland, die es im Jahr 2003 eigentlich<br />

besser wissen müssten. Angesichts<br />

der wahllosen Aufnahme neuer Mitglieder in<br />

die EU ist fraglich, ob die damaligen Visionen<br />

eines Eugen Kogon nicht immer mehr zur<br />

Utopie werden.<br />

Der junge Publizist und Autor Marko<br />

Martin hat jüngst den Versuch unternommen,<br />

dem Monat Gerechtigkeit widerfahren zu lassen<br />

und ihn erneut ins öffentliche Bewusstsein<br />

zu rücken:<br />

Marko Martin, „Eine Zeitschrift gegen<br />

das Vergessen“. Bundesrepublikanische<br />

Traditionen und Umbrüche im Spiegel<br />

der Kulturzeitschrift Der Monat, F. a.<br />

M.-Berlin-Bern-Brüssel-New York-Oxford-<br />

Wien: Peter Lang Verlag 2003, 106 Seiten,<br />

23,- Euro, ISBN 3-631-51105-1<br />

Zweifelsohne kann Martin gut schreiben<br />

und weiß viel Interessantes über den Monat<br />

zu berichten, nicht zuletzt deshalb, da er<br />

wohl in intensivem Kontakt zu Melvin Lasky,<br />

dem ersten Herausgeber der Zeitschrift und<br />

Organisator des „Kongresses für kulturelle<br />

Freiheit“, stand. Wir wissen nun, dass der<br />

Monat in seiner Glanzzeit den ideologischen<br />

Mief aus der bundesrepublikanischen Geisteswelt<br />

vertrieben hat. Wir erfahren, dass dieses<br />

Blatt mehrheitlich nicht von finsteren Reaktionären<br />

gemacht wurde, die ihre Schecks<br />

von amerikanischen Regierungsbehörden bezogen.<br />

Wir vermissen schmerzlich, dass es eine<br />

ähnlich niveauvolle und mit internationa-<br />

Die Gazelle jagen<br />

Was kleine und mittlere Unternehmen brauchen,<br />

um es mit den Großen aufzunehmen<br />

Stahl, Heinz K. und <strong>Hans</strong> H. Hinterhuber<br />

(Hrsg.):<br />

Erfolgreich im Schatten der Großen<br />

Berlin: Erich Schmidt Verlag 2003<br />

342 Seiten<br />

58,- Euro<br />

ISBN 350307451 1<br />

Die meisten kleinen und mittleren Unternehmen<br />

haben es schwer, Großkonzernen<br />

die Stirn zu bieten. Die beiden an der Universität<br />

Innsbruck tätigen Professoren <strong>Hans</strong> Hinterhuber<br />

und Heinz Stahl proklamieren in<br />

ihrem neuen Fachbuch ‚Erfolgreich im Schatten<br />

der Großen’ einige „Wettbewerbsvorteile<br />

für kleine und mittlere Unternehmen“. Und<br />

zwar aus unterschiedlichen Perspektiven: aus<br />

der Sicht des Unternehmertums, Managers und<br />

Mitarbeiters. Zwischen dem Unternehmer und<br />

dem Manager bestünden allgemeine Unterschiede.<br />

Der Unternehmer handle eher intuitiv<br />

und sei risikobereiter, der Manager hingegen<br />

sei realitätsnah und vorsichtiger. Kleinere und<br />

mittlere Unternehmen bräuchten Führungskräfte,<br />

die beide Typen in sich vereinen.<br />

Die Autoren zeigen auf, wie wichtig<br />

die Kooperationsfähigkeit in und von kleinen<br />

Unternehmen ist und welche Barrieren dabei<br />

zu überwinden sind. Ein Lösungsansatz liegt<br />

im systematischen Coaching – eine spezielle<br />

Beratungsmethode –, mit dem das menschliche<br />

Miteinander in kleinen und mittleren Unternehmen<br />

verbessert werden kann. Es wird<br />

außerdem die Einbettung in internationale<br />

Wertschöpfungsnetzwerke illustriert. Dabei gilt<br />

es, die unternehmerische Rente und den Produktionswert<br />

zwischen den verschiedenen Teilnehmern<br />

am Netzwerk aufzuteilen.<br />

Was Großkonzerne hemmt, sind Bürokratie<br />

und hierarchische Strukturen: Bei<br />

len Autoren bestückte Zeitschrift wie den Monat<br />

in Deutschland nicht mehr gibt. Aber wir<br />

stellen auch fest, dass die deutschen Lektoren<br />

ausgestorben sind. An zwei Stellen liest<br />

man das Wort „Provinienz“, der Monroe-Gatte<br />

Arthur Miller wird zum Erotiker Henry Miller,<br />

Hegel und Fichte werden für den Nationalsozialismus<br />

verantwortlich gemacht und und<br />

und. Das Buch ist voller Rechtschreibfehler,<br />

so dass es ein wenig an eine unkorrigierte<br />

Seminararbeit erinnert. Und irgendwann<br />

nervt es auch, dass Martin seinen Liberalismus<br />

wie eine Monstranz vor sich herträgt.<br />

Marko Martin muss aufpassen, sonst endet er<br />

noch wie die Dogmatiker des westlichen Liberalismus<br />

Hannes Stein und Richard Herzinger,<br />

die nur ein Thema kennen und sich selbst für<br />

völlig ideologiefrei halten.<br />

Ansgar Lange<br />

großen Konzernen gibt es starre Mechanismen,<br />

zum Beispiel bei der Preiskalkulation. Da tut<br />

man sich sehr schwer, wie auch mit einer<br />

schnellen Entscheidung. Heute muss man als<br />

Dienstleister in der Lage sein, kurzfristig zu<br />

handeln. Im Konzern benötigt man hierfür<br />

zeitweise vier oder fünf Abteilungen.<br />

Dass David sich gegen Goliath wirksam<br />

zu behaupten lernt, ist das Anliegen der<br />

Buchautoren Stahl und Hinterhuber. Für die<br />

Unternehmer, die im Schatten der Großen erfolgreich<br />

sind, gilt nach ihrer Ansicht immer<br />

noch ein altpersischer Spruch: „Nicht jeder,<br />

der sich bemüht, kann eine Gazelle erjagen.<br />

Wer eine Gazelle erjagt, der hat sich sicher<br />

bemüht".<br />

Peter Schäfer


criticón 181 – Frühling 2004 Neues aus der Bücherwelt 57<br />

Noch vor dem Zweiten Weltkrieg wendet<br />

sich Gerhard Nebel, geboren im Jahre<br />

1903, an den renommierten Autor Ernst Jünger,<br />

um dessen Meinung über seinen „Versuch<br />

über Ernst Jünger“ einzuholen, der<br />

1939 in dem Essayband ‚Feuer und Wasser‘<br />

erscheinen sollte. Unmissverständlich gibt<br />

der promovierte Altphilologe Nebel seine Verehrung<br />

gegenüber dem acht Jahre älteren<br />

Jünger zu erkennen, die sich im Laufe der<br />

folgenden Jahrzehnte in neuen Formulierungen<br />

wiederholen wird. Vor dem politischen<br />

Hintergrund in Deutschland gewinnt Nebels<br />

Bekenntnis vom Juni 1939 an zusätzlicher<br />

Brisanz: „Ihr Denken hat die erstaunliche Eigenschaft,<br />

entbindend zu sein. Es stammt aus<br />

dem Wohlwollen und nicht aus der Herrschsucht“.<br />

Gerhard Nebels feuriges Temperament<br />

droht ihm in den kommenden Jahren manches<br />

Mal durchzugehen. Bereits während der<br />

NS-Zeit hatte ihm ein Artikel in der Neuen<br />

Rundschau nicht nur Ärger, sondern auch seine<br />

Versetzung als Bausoldat auf eine britische<br />

Kanalinsel eingebracht. Freilich, als es 1951<br />

zum Bruch zwischen Jünger und Nebel gekommen<br />

war, der fast zehn Jahre anhalten<br />

sollte, berichtete Jünger über Nebels lautstarkes<br />

und undiplomatisches Gebaren bereits<br />

während der Pariser Zeit, als beide an den legendären<br />

Georgs-Runden um <strong>Hans</strong> Speidel,<br />

den Stabschef beim Militärbefehlshaber im<br />

besetzten Frankreich teilgenommen hatten.<br />

Und bereits 1940 hatte sich Ernst Jünger gezwungen<br />

gesehen, Nebel zur Mäßigung zu raten,<br />

da ihm über Dritte Nebels unvorsichtige<br />

Äußerungen zugetragen worden waren. Die<br />

auch inhaltlich intensivste Phase dieses<br />

Briefwechsels liegt in den Jahren zwischen<br />

1945 und 1950. Der Krieg war verloren, die<br />

NS-Herrschaft zerschlagen und eine Besat-<br />

Mediterranes<br />

und Nebelbänke<br />

Ernst Jünger – Gerhard Nebel „Briefe<br />

1938-1974“<br />

Herausgegeben, kommentiert und<br />

mit einem Nachwort versehen von Ulrich<br />

Fröschle und Michael Neumann<br />

Stuttgart: Klett-Cotta Verlag 2003<br />

989 Seiten<br />

49,- Euro<br />

ISBN 3608936262<br />

zungsverwaltung hatte unter anderem auch<br />

Ernst Jünger ein Publikationsverbot verhängt,<br />

das erst 1949 aufgehoben worden war.<br />

Es waren schwere Jahre, die nicht zuletzt<br />

auch von massiven materiellen Mängeln gekennzeichnet<br />

waren. Jünger und Nebel waren<br />

sich einig, dass nach Jahren der „Despotie“<br />

die Zeit einer „Nach-Despotie“ angebrochen<br />

ist. Jünger, der sich von den Nazis nicht<br />

ideologisch einverleiben ließ, wollte auch einer<br />

neuen Herrschaft nicht zu Kreuze kriechen.<br />

In diesem Zusammenhang ist eine Episode<br />

bezeichnend, die <strong>Hans</strong> Mayer in seinen<br />

‚Erinnerungen an eine Deutsche Demokratische<br />

Republik‘ – ‚Der Turm von Babel‘ – schildert.<br />

1950 war er in der DDR mit dem umstrittenen<br />

sowjetischen Schriftsteller Ilja Ehrenburg<br />

zusammengetroffen. Ehrenburg vermied<br />

demonstrativ ein Gespräch über<br />

DDR-Schriftsteller, die er nicht zuletzt aufgrund<br />

deren ideologischer Hörigkeit nicht zu<br />

schätzen schien: „Der einzige deutsche Autor,<br />

nach welchem er sich interessiert erkundigte,<br />

war Ernst Jünger“.<br />

Der Briefwechsel streift neben politischer<br />

Polemik immer wieder die Erinnerung<br />

an den Süden. Gemeinsame Reisen werden<br />

geplant, aber nicht verwirklicht. Nebel berichtet<br />

über seine Vortragsreisen und schlaglichtartig<br />

zeichnen sich Intrigen ab, die nicht<br />

zuletzt im Zusammenspiel mit Jüngers jungem<br />

Sekretarius Armin Mohler stattfinden.<br />

Spätestens an dieser Stelle erweist es sich als<br />

Glücksfall, dass die beiden Herausgeber mit<br />

einem soliden Anmerkungsapparat aufwarten.<br />

Zu den aufschlussreichsten Passagen<br />

gehören sicher Ernst Jüngers wiederholte<br />

Hinweise und Erinnerungen an die Vorgänge<br />

des Attentats auf Hitler vom 20. Juli 1944.<br />

So mancher Maulheld, der selbst in unserer<br />

Zeit noch von Verrätern faselt, sollte Ernst<br />

Jüngers Ausführungen lesen, die auch aus<br />

der Distanz der Jahre von emotionaler Aufwühlung<br />

gekennzeichnet sind. Ein Zustand,<br />

der Jünger ansonsten eher fremd war: „Ich<br />

hege zwar vor diesen Männern, die ich zum<br />

großen Teil persönlich kannte, die höchste<br />

Achtung und habe nicht davor zurückgeschreckt,<br />

mich zu gefährden, indem ich ihnen<br />

meine Friedensschrift als außenpolitische<br />

Mitgift zur Verfügung stellte, obwohl ich ihre<br />

Konzeptionen nicht geteilt habe“.<br />

Ernst Jünger macht seit dem 19. Jahrhundert<br />

gesellschaftlich-politische Entwicklungen<br />

aus, die sich dem Angriff auf den geistigen<br />

Menschen verschrieben haben. Das 20.<br />

Jahrhunderte steigerte sich im sprichwörtlich<br />

totalitärem Sinne: „Man muss ebenso unterscheiden<br />

zwischen den Russen und dem Kommunismus,<br />

wie das zwischen den Deutschen<br />

und dem Nationalsozialismus nötig war“. Das<br />

Leben unter der Tyrannis sowie die Frage<br />

nach der Rettung der nationalen Identität<br />

sind nicht die einzigen leidvoll erfahrenen<br />

Berührungspunkte dieser beiden Länder.<br />

Womöglich rührt von daher das ungewöhnliche<br />

Interesse an den Schriften Ernst Jüngers,<br />

das sich im heutigen Russland feststellen lässt.<br />

Volker Strebel


58 Neues aus der Bücherwelt criticón 181 – Frühling 2004<br />

Der Sieger<br />

schreibt<br />

die Geschichte<br />

Hartmuth Becker/Felix Dirsch/Stefan<br />

Winckler (Hrsg.):<br />

Die 68er und ihre Gegner.<br />

Der Widerstand gegen die Kulturrevolution.<br />

Graz: Leopold Stocker 2003<br />

252 Seiten<br />

19,90 Euro<br />

ISBN 3-7020-1005-X<br />

Eigentlich fällt einem zu 1968 nichts<br />

mehr ein. Mit Argumenten ist den ehemaligen<br />

Protestlern, die heute nicht nur Müll und<br />

politische Gesinnungen fein säuberlich trennen,<br />

sondern auch in höchsten Staatsämtern<br />

sitzen, sowieso nicht beizukommen. Sie haben<br />

dieses Land an die Wand gefahren. Politik,<br />

Wirtschaft, Kultur, Bildung, gesellschaftliche<br />

Umgangsformen haben die Rebellen von<br />

einst in weiten Teilen korrumpiert. Darüber<br />

muss man nicht lamentieren. Es gilt, die Lage<br />

nüchtern zu erkennen. Und es bleibt ein<br />

Trost: Auch für die Alt-68er ergibt sich bald<br />

die biologische Lösung in Form von üppigen<br />

Altersversorgungen, die sich diese so geschickte<br />

sowie charakter- und verantwortungslose<br />

Generation gesichert hat. Die ergrauten<br />

und arrivierten Ideologen von 1968<br />

können nicht mehr zur Verantwortung gezogen<br />

werden. Man sollte ihnen allerdings auch<br />

keine Kränze flechten, beispielsweise in der<br />

würdelosen Form, wie die immer noch latent<br />

autoritätshörigen Deutschen den gutmensch-<br />

lichen Herrenmenschen aus dem Auswärtigen<br />

Amt regelmäßig zum beliebtesten deutschen<br />

Politiker küren.<br />

Die ehemaligen 68er haben ihre Geschichte<br />

weitestgehend selbst geschrieben.<br />

Sie haben ohne große Gegenwehr der oft<br />

aufgeschreckt und feige agierenden deutschen<br />

Bürgerlichen und Konservativen die<br />

„Deutungshoheit und Interpretationsmacht<br />

über das damalige Geschehen“ (Rudolf Wassermann)<br />

vollends behauptet. Sie sind die<br />

Sieger der Geschichte, die ihr Schlafmittel<br />

nicht zuletzt in die öffentlich alimentierten<br />

Rundfunk- und Fernsehanstalten gespritzt<br />

haben. An diesem Tatbestand wird auch der<br />

jüngste Sammelband über die 68er und ihre<br />

Gegner nichts ändern. Er ist im dezidiert<br />

konservativen Grazer Leopold Stocker Verlag<br />

erschienen, was befürchten lässt, dass er sowieso<br />

– gleichsam zur eigenen Bestätigung –<br />

nur von den Eingeweihten gelesen werden<br />

wird. Der Mühe der noch relativ jungen Herausgeber<br />

Hartmuth Becker, Felix Dirsch und<br />

Stefan Winckler muss man Respekt zollen.<br />

Insbesondere Till Kinzels Aufsatz über den<br />

‚Bund Freiheit der Wissenschaft’ und Hartmuth<br />

Beckers Porträt des ‚Hessischen Elternvereins’,<br />

der gegen die totalitäre hessische<br />

Schulpolitik der 70er Jahre vorging, sind<br />

äußerst aufschlussreich. Andere Beiträge enttäuschen.<br />

Felix Dirsch weiß nichts Neues zu<br />

berichten über konservative Zeitschriften, die<br />

mutig gegen die Ideen von 1968 zu Felde zogen.<br />

Stefan Winckler reiht Zitat an Zitat, um<br />

die Haltung der Tageszeitung Die Welt ge-<br />

genüber den protestierenden Studenten zu<br />

erforschen. In dieser Zitat-Wüste bleibt die<br />

Analyse auf der Strecke.<br />

Recht ergiebig fällt das Gespräch mit<br />

<strong>Hermann</strong> Lübbe aus, auch wenn man kein<br />

Freund seiner sprachlichen Manierismen ist:<br />

„Die Sozialdemokratie galt als sozial- und bildungspolitisch<br />

bei Fälligkeiten von unzweifelbarer<br />

Dringlichkeit engagiert.“ Gestelzte<br />

Sprache scheint kein Privileg von Habermas &<br />

Co., sondern eher ein Markenzeichen deutscher<br />

Professoren zu sein. Selbst ein kleiner<br />

Redakteur des Trostberger Tagblattes würde<br />

vor einem solchen Satz zurückschrecken. Zur<br />

Bestätigung ein zweiter Lübbe-Satz: „Es lag<br />

in den Konsequenzen meiner universitären<br />

Profession, dass ich in der Sozialdemokratie<br />

primär bildungspolitisch tätig gewesen bin.“<br />

Könnte man nicht einfach folgendes sagen:<br />

„Aufgrund meiner Erfahrungen als Professor<br />

habe ich mich innerhalb der SPD vor allem<br />

bildungspolitisch engagiert.“ Der hier vorgestellte<br />

Sammelband hat also einige starke,<br />

aber auch viele schwache Seiten. Letztlich<br />

bleibt er zu theoretisch (Beitrag von Ulrich E.<br />

Zellenberg) oder geizt mit Tiefgang und Analyse<br />

(Beiträge von Dirsch und Winckler). Die<br />

Gesprächspartner (<strong>Hermann</strong> Lübbe, Klaus<br />

Motschmann, Fritz Schenk) sind alle um die<br />

70 Jahre alt. Was sagen jüngere Intellektuelle<br />

über 1968? Gibt es heute geistige Erben sowohl<br />

der 68er als auch ihrer ideologischen<br />

Gegner?<br />

Ansgar Lange


criticón<br />

Das Blaue Brett<br />

Semantik<br />

Der doppelte Lomborg<br />

Manchmal geht es schnell. Vergangenes<br />

Jahr hat eine „Kommission gegen<br />

wissenschaftliche Unredlichkeit“ dem dänischen<br />

Statistikprofessor Bjørn Lomborg<br />

vorgeworfen, mit seinem Buches ‚Apokalypse<br />

No!’ gegen die Standards guter wissenschaftlicher<br />

Praxis verstoßen zu haben.<br />

Jetzt stellte das dänische Wissen-<br />

Licht aus, Spott an, endlich: Der<br />

Forschungsreaktor FRM II in Garching bei<br />

München hat am 2. März die ersten Neutronen<br />

erzeugt. Wir gratulieren. Vorausgegangen<br />

war ein über zehn Jahre langer<br />

bürokratischer Hindernislauf. Besonders<br />

die Grünen haben sich um das Auftürmen<br />

schaftsministerium klar, dass diese Verdächtigungen<br />

jeder Grundlage entbehren.<br />

Die Kommission hatte Anschuldigungen<br />

erklärter Lomborg-Gegner aus einem<br />

höchst polemischen Artikel des Scientific<br />

American ungeprüft übernommen. In<br />

Deutschland wurde der Freispruch recht<br />

unterschiedlich vermeldet. Die Financial<br />

stets neuer Hindernisse verdient gemacht.<br />

Originellster Einwand von Gegnern: In<br />

Garching bestrahlte Krebspatienten könnten<br />

auf der Rückfahrt zum Krankenhaus<br />

auf den umliegenden Feldern Pipi machen.<br />

Eine Verstrahlung der Umwelt sei<br />

somit nicht auszuschließen.<br />

Times titelte: „Apokalypse der Selbstgewissen“.<br />

In der Süddeutschen Zeitung hieß<br />

es dagegen: „Im Zwielicht – von Skandal<br />

zu Skandal: Der dänische Ökologe Lomborg.“<br />

Da weiß man doch, was man an<br />

seiner Süddeutschen hat.<br />

Quellen: FTD und SZ vom 19.12.2003<br />

John Lawrence Daly 1943 – 2004<br />

Nachruf<br />

Der Zweifel ist das methodische<br />

Prinzip der gesamten Wissenschaft. Auch<br />

die zahlreichen Hypothesen zum Klimawandel<br />

müssen sich dem Feuer der Kritik<br />

stellen, sonst sind sie nichts wert. Leider<br />

wird diese Aufgabe von der etablierten<br />

Klima-Wissenschaft nur selten wahrgenommen,<br />

statt dessen beschwört sie einen<br />

so genannten Konsens in Sachen Klimakatastrophe.<br />

Auch ist es zu einer häufigen<br />

Übung geworden, skeptische Stimmen<br />

moralisch oder persönlich zu<br />

desavouieren. Der Autodidakt John Daly<br />

begann 1995 mit seiner Webpage "Still<br />

Waiting for Greenhouse" gegen diese politisch<br />

korrekte Wissenschaft zu rebellieren.<br />

Mit untrüglichem Gespür für Widersprüche<br />

und Plausibilitäten schuf er im<br />

Internet das, was man im besten Sinne<br />

als Gegenöffentlichkeit bezeichnen könnte.<br />

Der Einzelkämpfer Daly hatte das subversive<br />

Potenzial des Internet für diesen<br />

Zweck frühzeitig erkannt, seine Seite<br />

wurde millionenfach angeklickt. Von seinem<br />

kleinen Büro in Tasmanien aus<br />

brachte er mit bescheidensten finanziel-<br />

Wissenschaft<br />

Forschen wieder erlaubt<br />

len Mitteln die milliardenschwere PR-Maschinerie<br />

der staatlich geförderten Katastrophen-Industrie<br />

in Verlegenheit. John<br />

Daly erlag am 29. Januar 2004 einem<br />

Herzinfarkt. Er hat einen festen Platz in<br />

unserer Hall of Fame für couragierte und<br />

skeptische Menschen. Seine Website wird<br />

von seiner Tochter und Freunden weitergeführt.<br />

Link: www.john-daly.com<br />

Quelle: TU-München Pressemitteilung<br />

vom 2.03.04<br />

Aus: Michael Miersch und Dirk Maxeiner:<br />

Die Frohe Botschaft! Nr. 21,<br />

www.maxeiner-miersch.de

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