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Beide. - FAZ.net

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Es hätte ein friedliches Fest werden können.<br />

Wenn die Axt nicht gewesen wäre. Die Nicolles sind<br />

eine <strong>net</strong>te amerikanische Patchworkfamilie aus Washington.<br />

An Weihnachten kommen immer alle zusammen:<br />

der Vater, ein ehemaliger Schreiner und jetzt<br />

in Rente, seine zweite Frau Diane, eine Grundschullehrerin,<br />

die drei Söhne aus erster Ehe, die beiden<br />

Töchter aus der zweiten. Und Malachai (sprich: Mala-kei).<br />

Mit fünf ist er der Nachzügler der Truppe; der,<br />

mit dem keiner mehr gerech<strong>net</strong> hatte und der nun mit<br />

seiner vorlauten Art alle auf Trab hält. Unterm Christbaum<br />

entdeckt der Junge ein Feuerwehrmann-Set mit<br />

allem Drum und Dran: ein kleiner Plastikhelm, Handschuhe,<br />

ein Löschschlauch. Und die Axt. Die meisten<br />

Kinder hätten nun Feuerwehr gespielt, ein bisschen<br />

Tatütata und vielleicht mit dem Schlauch das Sofa bespritzt.<br />

Weil in Malachai eine Künstlerseele schlummert<br />

– Damon Lindelof, der Schöpfer der Fernsehserie<br />

„Lost“ und Drehbuchautor des Blockbusters „Prometheus“,<br />

wird später über den Jungen sagen, er sei<br />

ein Genie –, ist die Axt nicht irgendein Utensil für Feuerwehrleute.<br />

Sondern das ultimative Instrument zur<br />

Verbrechensbekämpfung.<br />

„Komm, wir spielen Axe Cop!“, sagt Malachai<br />

zu Ethan. Ethan, 29, ist der Lieblingsbruder des Jungen,<br />

denn er ist Comic-Zeichner.<br />

Er erfindet Geschichten, zum<br />

Beispiel die von Chumble Spuzz,<br />

zwei Chaoten, die auf der Kirmes<br />

ein Schwein gewinnen, das vom<br />

Teufel besessen ist. Der junge<br />

Mann ist außerdem ein erfahrener<br />

Partner, wenn es darum geht,<br />

sich gemeinsam Fantasiewelten<br />

zu erschaffen. Deshalb sagt<br />

Ethan sofort das Richtige: „Axe<br />

Cop, okay. Und wer bin ich?“ Malachai zieht eine Melodica<br />

aus einer Spielzeugkiste und drückt sie dem<br />

Bruder in die Hand.<br />

„Was soll das sein?“<br />

„Eine Flöte“, sagt Malachai.<br />

„Also bin ich Flute Cop.“<br />

„Genau.“<br />

„Und was machen wir jetzt?“<br />

„Na, wir gehen an die Arbeit. Wir haben Monster<br />

zu killen.“<br />

Das war vor drei Jahren. Seitdem ist in den Geschichten<br />

des Axtpolizisten und seiner Helfer – Flöten-Cop,<br />

Baby Man und Sockarang, ein Socken<br />

schleudernder Catcher – jede Menge Monsterblut geflossen.<br />

Jedenfalls im Inter<strong>net</strong> und auf dem Papier. Die<br />

Abenteuer, die sich Malachai ausdenkt und die von<br />

Ethan gezeich<strong>net</strong> werden, haben sich zu einem der erfolgreichsten<br />

Independent-Comics der letzten Jahre<br />

entwickelt, sind sowohl Web-Phänomen als auch Verkaufsschlager<br />

für den Dark-Horse-Verlag, der die Geschichten<br />

als Paperback veröffentlicht.<br />

Spätestens, als der britische Schauspieler Simon<br />

Pegg, Star aus „Mission: Impossible III“, seine hun-<br />

www.jailers.de<br />

derttausend Twitter-Anhänger mit „Read ‚Axe<br />

Cop‘!“-Aufrufen überraschte, gab es kein Halten<br />

mehr. 30.000 Facebook-Anfragen quasi über Nacht,<br />

ebenso viele Follower bei Twitter und eine Website,<br />

die den Ansturm erst einmal nicht verkraften konnte.<br />

Nach drei Folgen brach kurzzeitig der Server zusammen.<br />

Wenn man Ethan Nicolle darauf anspricht, dann<br />

nuschelt er ins Telefon, als mache ihn das alles verlegen.<br />

Man sieht ihn förmlich vor sich, wie er am Zeichentisch<br />

sitzt, ein pummeliger Nerd, der Vollbart<br />

trägt und mit Bandnamen bedruckte T-Shirts.<br />

Nein, das Ganze sei überhaupt nicht geplant gewesen,<br />

sagt er mit breitem Westküstenakzent. Er habe<br />

die ersten Storys aus Spaß für die Familie gezeich<strong>net</strong><br />

und dann auf Facebook gepostet. Aber dann setzte das<br />

ein, worauf alle, die im Netz auf eigene Rechnung<br />

Kunst veröffentlichen, hoffen: der virale Effekt. Einer<br />

sendet einen Link weiter an den nächsten und immer<br />

so fort, und schließlich lesen 30.000 am Tag Geschichten<br />

über einen Polizisten, der kosmische Superschurken<br />

jagt, Mädchen doof findet und am Tag nur zwei<br />

Minuten schläft. „Die meisten Polizisten arbeiten entweder<br />

nachts oder tagsüber“, heißt es in einer Geschichte.<br />

„Ich bin ein glücklicher Cop. Ich arbeite rund<br />

um die Uhr.“ Für Ethan ist „Axe Cop“ mehr als ein<br />

Achtungserfolg: Es ist die Chance, in einem sehr harten<br />

Geschäft den Lebensunterhalt<br />

zu sichern. Er hat nicht studiert,<br />

„war auch nicht nötig“, sagt er<br />

fast patzig, „in der Szene gibt es<br />

viele, die an Kunstschulen ausgebildet<br />

werden und trotzdem<br />

scheitern.“<br />

Die, die es nach oben schaffen,<br />

das sind die Zeichner von DC<br />

und Marvel, den beiden großen<br />

Comic-Konzernen. Sie erhalten<br />

stattliche Honorare, müssen aber ihre Rechte vollständig<br />

an den Auftraggeber abtreten. Dabei geht es um<br />

horrende Summen: Die Branche boomt, der digitale<br />

Markt ist regelrecht explodiert. Die Umsätze von ComiXology,<br />

der größten Plattform für Online-Comics,<br />

liegen im ersten Quartal 2012 um 450 Prozent höher<br />

als im letzten Jahr – zwischen Januar und April haben<br />

Abonnenten mehr als 15 Millionen Comics heruntergeladen.<br />

Zur selben Zeit gingen in Amerika rund 24<br />

Millionen Comic-Bücher über den Ladentisch.<br />

Weil Ethan die Rechte nicht an einen Verlag verkauft,<br />

kann sich „Axe Cop“ in eine Goldgrube verwandeln.<br />

Das heißt aber auch: mehr Arbeit, vor allem<br />

für Malachai. Um mittlerweile drei Comic-Bände zu<br />

füllen und eine gefräßige Web-Gemeinde mit immer<br />

neuen Episoden zu versorgen, reichen Telefonate<br />

nicht mehr aus. Ethan, der in Los Angeles lebt, macht<br />

nun regelmäßig mehrwöchige Besuche bei seinem<br />

kleinen Bruder, und im September wird Malachai einen<br />

Monat in Kalifornien verbringen.<br />

Dann werden sie sich wieder in Ethans geparktes<br />

Auto setzen und Verbrecherjagd spielen: Malachai auf<br />

dem Fahrersitz, sein Bruder als Kopilot, das Armatu-<br />

H O C H S C H U L<br />

A N Z E I G E R 21<br />

oben: vollkommen hacke: das brüderpaar ethan<br />

und malachai nicolles. unten: der eine redet, der<br />

andere schreibt mit – so entsteht der comic.

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