Belarus- - Internationales Bildungs
Belarus- - Internationales Bildungs
Belarus- - Internationales Bildungs
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
K 46699, Nr. 43<br />
IBB<br />
<strong>Internationales</strong><br />
<strong>Bildungs</strong>- und<br />
Begegnungswerk<br />
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
in dieser Ausgabe der <strong>Belarus</strong>-<br />
Perspektiven begeben wir uns<br />
gemeinsam mit Ihnen auf Reisen<br />
- mit Außenminister Martynow<br />
nach Brüssel, mit Wladimir Makej<br />
zum Minsk Forum, mit „Tschernobyl-Kindern“<br />
auf Erholungsfahrt<br />
nach Deutschland.<br />
Etwa vierhundert Teilnehmer<br />
kamen beim diesjährigen Minsk<br />
Forum zusammen. Mit dabei<br />
war diesmal auch der Leiter der<br />
belarussischen Präsidialadministration,<br />
Wladimir Makej. Ob er<br />
eine frohe Botschaft für die Teilnehmer<br />
hatte, lesen Sie auf Seite<br />
2. Um Dialog ging es auch der<br />
Europäischen Delegation, die im<br />
November nach Minsk gereist war,<br />
um sich mit Staats- und Oppositionsvertretern<br />
zu treffen (Seite 4).<br />
Zuvor, am 13. Oktober, hatte die<br />
Europäische Union das Einreiseverbot<br />
für Präsident Lukaschenko<br />
und 36 weitere hochrangige<br />
Staatsbeamte zumindest bis April<br />
aufgehoben (Seite 5). Ein erster<br />
Schritt zu einem diplomatischen<br />
Durchbruch?<br />
Viele Experten fragen sich heute,<br />
was eigentlich aus der belarussischen<br />
Opposition werden soll,<br />
wenn sich der Westen nun direkt<br />
mit der belarussischen Regierung<br />
unterhält. Quo vadis, belarussische<br />
Opposition fragt auch Walerij<br />
Dorochin auf Seite 7. Die einen<br />
dürfen also wieder reisen, die an-<br />
Winter 2009<br />
<strong>Belarus</strong>-<br />
Perspektiven<br />
deren müssen dieses Jahr vielleicht<br />
ganz zu Hause bleiben. Über den<br />
Erlass 555 und die Folgen für die<br />
Erholungsreisen der sogenannten<br />
„Tschernobyl-Kinder“ berichtet<br />
Marina Rachlej auf Seite 6.<br />
Auch der lybische Revolutionsführer<br />
Muammar al-Gaddafi ist gerne<br />
unterwegs und machte im November<br />
einen Abstecher nach Minsk.<br />
Allerdings scheint Gaddafi eher<br />
Individualreisen im traditionellen<br />
Beduinenzelt zu bevorzugen (Seite<br />
6). Aber nicht nur Beduinen reisen<br />
durch Europa. Auch engagierte<br />
junge <strong>Belarus</strong>sen machten sich auf<br />
zum Praktikum ins Europäische<br />
Ausland. Ihre Mikro-Projekte, die<br />
vom Förderprogramm BelaPlus<br />
gefördert wurden, verwirklichten<br />
sie dann allerdings zu Hause (Seite<br />
26).<br />
Allen, die unterwegs sind, sei nicht<br />
nur eine schöne Reise, sondern<br />
auch ein glückliches Eintreffen<br />
am Bestimmungsort gewünscht.<br />
Ob die EU und der belarussische<br />
Staat im Frühjahr wirklich beim<br />
Dialog ankommen und ob die<br />
Sanktionen gegen Präsident Lukaschenko<br />
und weitere Vertreter des<br />
belarussischen Staates aufgehoben<br />
werden, erfahren Sie dann in unserer<br />
nächsten Ausgabe.<br />
Ihre Redaktion<br />
In dieser Ausgabe Seite<br />
Außenpolitik<br />
„Wandel scheint möglich“ 2<br />
Hausaufgaben gemacht? 4<br />
Geopolitische Spielwiese 4<br />
Lukaschenko nach Europa 5<br />
Kinderreisen ade? 6<br />
Revolution in Minsk? 6<br />
innenpolitik<br />
Und die Opposition? 7<br />
Staatliche Zivilgesellschaft 9<br />
Die Korruption frisst ihre Kinder 10<br />
Pressefreiheit privjet? 11<br />
Wirtschaft<br />
Ziel: Investitionsparadies 12<br />
IWF stellt Bedingungen 13<br />
Saure Milchkombinate 14<br />
Selbständige bald flüssig 14<br />
Große Steuerreform 15<br />
Blumenbusiness trocknet aus 15<br />
nGOs & Gesellschaft<br />
Neues Holocaustgedenken 18<br />
„Wendepunkt in staatlicher Sicht“ 19<br />
Nachruf Dr. Eberhard Heyken 20<br />
Nachruf Dr. Heinz Timmermann 21<br />
„Keine Alternative zum Dialog“ 22<br />
Networking online 22<br />
Nachruf Wassilij Nesterenko 23<br />
<strong>Belarus</strong>sische Journalisten on tour 23<br />
„Keine einfachen Lösungen“ 24<br />
Partnerschaftskonferenz 25<br />
Kreative BelaPlussen 26<br />
Pause von Radioaktivität 27<br />
„Tschernobylkinder“ 28<br />
Publikationen<br />
Krieg ohne Zensur 28<br />
Datschen: Wirtschaft oder Kultur? 29<br />
Zwischen Planung und Anarchie 29<br />
Kultur & Wissenschaft<br />
Eine Woche Deutschland 30<br />
Marilyn Monroe in Minsk 31<br />
Chronologie 16<br />
Impressum 12<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Nr. 43
Außenpolitik Außenpolitik<br />
„Wandel scheint möglich“<br />
(dorothea Wolf, Minsk) Vom 13. bis 15. november fand das Minsk Forum Xi statt, veranstaltet von der<br />
stiftung Wissenschaft und Politik sowie der deutsch-belarussischen Gesellschaft. dieses Jahr war das<br />
Forum nicht nur wesentlich internationaler, sondern konnte auch hochrangige staatsvertreter wie Wladimir<br />
Makej begrüßen, den Leiter der belarussischen Präsidialadministration. Wie stehen die Chancen für<br />
den dialog?<br />
Gut 400 Teilnehmer fanden sich<br />
in der IBB Minsk und der belarussischen<br />
staatlichen Wirtschaftsuniversität<br />
ein, lauschten den<br />
Panels und beteiligten sich an<br />
Arbeitsgruppen zu Außenpolitik,<br />
Wirtschaft und Gesellschaft. Das<br />
übergreifende Thema der Konferenz<br />
lautete „Nachbarschaft und<br />
Sicherheit: Perspektiven für <strong>Belarus</strong><br />
in Europa“. Der Vorsitzende<br />
des Minsk Forums Rainer Lindner<br />
unterstrich in seinem Grußwort,<br />
dass das elfte Forum zeitgleich<br />
zu zwei großen Krisen stattfinde:<br />
einerseits „unter dem Eindruck<br />
des Fünftagekriegs in Georgien,<br />
der die sicherheitspolitische Instabilität<br />
im Nachbarschaftsraum<br />
zwischen der EU und Russland<br />
verdeutlicht hat“, zum anderen<br />
während der aktuellen Finanzkrise,<br />
„die sich zu einer Wirtschaftskrise<br />
ausgewachsen hat und bei<br />
der kein Ende abzusehen ist“.<br />
Auch wenn die Beziehungen zwischen<br />
Deutschland und <strong>Belarus</strong><br />
sowie <strong>Belarus</strong> und der EU noch<br />
weit von einer Normalisierung<br />
entfernt seien, so fand Lindner<br />
doch: „Wandel scheint möglich“.<br />
Das fand auch Außenminister<br />
Frank-Walter Steinmeier, der in<br />
seinem verlesenen Grußwort die<br />
Bedeutung des Dialogs für Wandel<br />
in Europa unterstrich. Die EU, so<br />
Steinmeier, werde nach der Freilassung<br />
der letzten international<br />
anerkannten politischen Gefangenen<br />
auch auf politischer Ebene<br />
diesen Dialog fortsetzen. Viel stehe<br />
noch bevor: „Die Parlamentswahlen<br />
vergangenen September<br />
haben die von der EU und der<br />
OSZE in sie gesetzten Hoffnungen<br />
nicht erfüllt“, schrieb Steinmeier<br />
den Staatsvertretern ins Buch. Es<br />
gebe aber durchaus Signale aus<br />
der belarussischen Führung, das<br />
Wahlrecht zu reformieren. Auch in<br />
Man spricht miteinander: Der Leiter der Präsidialadministration Wladimir Makej<br />
(links) im Gespräch mit Rainer Lindner und dem Deutschen Botschafter Gebhardt<br />
Weiss. Foto: Minsk Forum<br />
der Pressefreiheit „sind konkrete<br />
Fortschritte nötig und auch möglich“.<br />
Wladimir Makej, Leiter der<br />
Präsidialadministration der Republik<br />
<strong>Belarus</strong>, drängte in seinem<br />
Vortrag beim Eröffnungspodium<br />
darauf, effektive Instrumente der<br />
Zusammenarbeit zu entwickeln.<br />
So nannte der Leiter der belarussischen<br />
Präsidialadministration<br />
es ökonomisch zweckmäßig für<br />
<strong>Belarus</strong>, sowohl mit seinen Nachbarn<br />
im Westen wie auch mit der<br />
Russischen Föderation Handel<br />
zu treiben. Im politischen Bereich<br />
sprach Makej offen Probleme in<br />
den Beziehungen zur EU an: Die<br />
Union habe vor einigen Jahren<br />
einen entscheidenden Fehler gemacht,<br />
als sie „das europäische<br />
Haus verschlossen“ habe. Den<br />
belarussischen Bürgern den Markt<br />
der EU vorzuenthalten, nannte er<br />
einen „gewissen Egoismus der<br />
EU“. Denn das Wichtigste, so Makej,<br />
sei der einfache Mensch.<br />
Trotz aller Skepsis gegenüber<br />
der Annäherung zwischen EU<br />
und <strong>Belarus</strong> in offiziellen Panel-<br />
Diskussionen zeigte sich doch<br />
in Kaffeepausen oder bei den<br />
abendlichen Empfängen, dass die<br />
Zeichen auf Dialog stehen. „Die<br />
Stimmung beim Forum ist sehr<br />
gut. Die Möglichkeit für Veränderungen<br />
liegt wie Tauwetter in der<br />
Luft“, so Galina Weremejtschik,<br />
Expertin im Koordinationsbüro<br />
des Förderprogramms <strong>Belarus</strong>.<br />
Zu dieser guten Stimmung trugen<br />
sicherlich auch die politischen<br />
Rahmenbedingungen bei, unter<br />
denen das Forum in diesem Jahr<br />
stattfand. Als Reaktion auf die<br />
Freilassung von international<br />
anerkannten politischen Gefangenen<br />
in <strong>Belarus</strong> hatte die EU ihr<br />
Einreiseverbot gegen 37 hochge-<br />
stellte belarussische Beamte für<br />
sechs Monate ausgesetzt. Jean-Eric<br />
Holzapfel, Chargé d’affaires der<br />
Repräsentanz der EU-Kommission<br />
in <strong>Belarus</strong>, nannte dies ein „Fenster<br />
der Möglichkeiten“, das genutzt<br />
werden müsse. Holzapfel verwies<br />
aber auch auf die konkreten<br />
Forderungen der EU, angefangen<br />
bei der Medienfreiheit, über die<br />
Erleichterung der Bedingungen<br />
der NGO-Arbeit bis hin zur Versammlungsfreiheit.<br />
„Auch wenn<br />
es keine politischen Gefangenen<br />
gibt, wissen wir doch von den Problemen“,<br />
betonte Holzapfel.<br />
Um die Bedingungen der journalistischen<br />
Arbeit und die Freiheit<br />
der Medien drehte sich auch vieles<br />
in der letzten Sitzung der Arbeitsgruppe<br />
„Gesellschaft“ zum Thema<br />
„Informationsräume in <strong>Belarus</strong>“.<br />
Elfie Siegel, freiberufliche Journalistin<br />
und frühere Moskau-Korrespondentin<br />
der Frankfurter Allgemeinen<br />
Zeitung, betonte zwar,<br />
dass man die Situation der Medien<br />
in <strong>Belarus</strong> nicht so losgelöst von<br />
der im Westen sehen sollte, wo es<br />
auch zunehmend Probleme mit<br />
der Pressefreiheit gebe. Allerdings<br />
verwies sie auf den Index von<br />
„Reporter ohne Grenzen“, der die<br />
Ukraine von 2005 auf 2008 um<br />
zwei dutzend Plätze besser bewertete,<br />
gleichzeitig aber <strong>Belarus</strong> und<br />
Russland um ein paar Plätze nach<br />
unten versetzte. Konkret rutschte<br />
<strong>Belarus</strong> im Index von Platz 152<br />
auf Platz 154 ab – in die unmittelbare<br />
Gesellschaft von Somalia,<br />
Jemen und Syrien. Dieses düstere<br />
Bild bestätigte Schanna Litwina<br />
vom <strong>Belarus</strong>sischen Journalistenverband.<br />
Akkreditierungs- oder<br />
Quellenprobleme erschwerten<br />
es belarussischen Journalisten,<br />
nach internationalen Normen<br />
und Standards zu arbeiten. Außerdem<br />
würde tagtäglich Druck<br />
auf Redaktionen ausgeübt, so<br />
Litwina, die dem Publikum zum<br />
Beweis einige Dokumente vorlas.<br />
Ins Kreuzfeuer der Kritik geriet<br />
auch das im Februar 2009 in Kraft<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43<br />
Unzufrieden mit der Pressefreiheit: Andrej Dynko, stellvertretender Chefredakteur<br />
von „Nascha Niwa“, und die Vorsitzende des Journalistenverbands Schanna Litwina.<br />
Foto: Minsk Forum<br />
tretende neue Mediengesetz der<br />
Republik <strong>Belarus</strong>. Andrej Dynko,<br />
stellvertretender Chefredakteur<br />
der unabhängigen Zeitung „Nascha<br />
Niwa“ und Moderator der<br />
Diskussionsrunde, bedauerte, dass<br />
man im Bereich Journalismus zwar<br />
über, aber nicht miteinander rede:<br />
„Bei der Arbeitsgruppe Wirtschaft<br />
sind staatliche Vertreter dabei, hier<br />
in der Arbeitsgruppe Gesellschaft<br />
nicht“. Dennoch zogen auch in<br />
dieser Gruppe die Teilnehmer<br />
der Podiumsdiskussion verhalten<br />
optimistische Schlüsse. Durch<br />
Kooperationen mit dem Westen,<br />
wie bei der Ausbildung junger<br />
Journalisten und mit der „Politik<br />
der kleinen Schritte“ könnten<br />
auch hier nach und nach Veränderungen<br />
erreicht werden, meinten<br />
die Experten.<br />
Der Wille zu Veränderungen war<br />
auch in den anderen Arbeitsgruppen<br />
spürbar. Hans-Dieter Lucas,<br />
Beauftragter für Osteuropa, Zentralasien<br />
und Kaukasus des Auswärtigen<br />
Amtes, stimmte vielen<br />
Kollegen bei, dass die „Zeichen<br />
wirklich auf Wandel stehen“ und<br />
man sich auf eine Normalisierung<br />
mit <strong>Belarus</strong> einlassen solle: „Die<br />
strategische Zielsetzung muss<br />
sein, dass <strong>Belarus</strong> voll in die Europäische<br />
Nachbarschaftspolitik<br />
und die Östliche Partnerschaft<br />
eingebunden wird“. Denis Sidorenko,<br />
Leiter der Abteilung für<br />
die OSZE und den Europarat beim<br />
belarussischen Außenministerium,<br />
plädierte gar für eine juristische<br />
Erneuerung der Beziehungen<br />
zur EU.<br />
Auch der Vorsitzende des Minsk<br />
Forum, Rainer Lindner, zog eine<br />
positive Bilanz: „Wir begegnen<br />
uns heute auf einer anderen Ebene.<br />
Die Gespräche der letzten<br />
zwei Tage haben dies gezeigt.<br />
Die nächsten fünf bis sechs Monate<br />
müssen von beiden Seiten,<br />
auch der EU, genutzt werden für<br />
konkrete Schritte“. Ziel müsse<br />
dabei eine Normalisierung der<br />
Beziehungen sein. Lindner zählte<br />
hierzu auch die im Verlaufe des<br />
Forums oft genannten „Schritte<br />
oder Möglichkeiten für <strong>Belarus</strong>“<br />
auf, unter anderem die Verbesserung<br />
der Medienfreiheit, der<br />
Versammlunsfreiheit sowie des<br />
Wahlrechts. Es bleibt abzuwarten,<br />
ob wirklich, wie sich Wladimir<br />
Makej gewünscht hatte „nicht nur<br />
Licht, sondern auch ein Ende des<br />
Tunnels“ abzusehen sein wird.
Außenpolitik Außenpolitik<br />
Hausaufgaben gemacht?<br />
(Pauljuk bykowskij, Minsk) Anfang november besuchte eine delegation der europäischen Kommission<br />
(eK) Minsk. unter Leitung von Hugues Mingarelli, dem stellvertretenden Generaldirektor für Außenbeziehungen,<br />
traf sie sich sowohl mit hochgestellten staats- als auch mit Oppositionsvertretern.<br />
Auf offizieller Seite wurden die<br />
europäischen Beamten hochrangig<br />
empfangen: Zunächst in der<br />
Präsidialadministration, dann im<br />
Ministerrat und schließlich im<br />
Außenministerium. Altbekannt<br />
war die Einigkeit über eine Zusammenarbeit<br />
in den Bereichen<br />
Energiesicherheit, Transit und<br />
Zollfragen. Neu war zumindest<br />
die Idee, <strong>Belarus</strong> in die „Technical<br />
Assistance Information Exchange<br />
Unit“ aufzunehmen, ein EU-Instrument,<br />
das Hilfe dabei gewährt,<br />
Gesetze an EU-Recht anzugleichen.<br />
Ob <strong>Belarus</strong> dies wirklich<br />
will, blieb offen. Klar war jedoch,<br />
dass beide Seiten eine Vertiefung<br />
des Dialogs anstreben.<br />
Auf Oppositionsseite hieß die<br />
Koalition „Vereinte Demokratische<br />
Kräfte“ (VDK) die hohen<br />
Gäste willkommen. Ausgerechnet<br />
bei diesem Treffen betonte<br />
Delegationschef Mingarelli, dass<br />
die EU sich in den Beziehungen<br />
mit <strong>Belarus</strong> einen „totalen Neuanfang“<br />
wünsche. Dem hätten<br />
Außenminister Martynow und<br />
die stellvertretende Chefin der<br />
Präsidialadministration, Natallja<br />
Petkewitsch, zugestimmt, so<br />
Mingarelli. So viel traute Einigkeit<br />
dürfte den Oppositionellen kaum<br />
geschmeckt haben – dennoch ließ<br />
sich der VDK-Vorsitzende Anatolij<br />
Lebedko nichts davon anmerken<br />
und erklärte, er habe bekommen,<br />
was er wollte: „Die Kommission<br />
hat alle unsere Forderungen positiv<br />
aufgenommen“, so Lebedko,<br />
„außerdem wird sie Alexander Lukaschenko<br />
auf unseren Vorschlag<br />
hin anbieten, ein Moratorium auf<br />
politische Repressionen zu verhängen.“<br />
Nach wie vor stellt die EU Forderungen<br />
für einen Dialog. Fünf<br />
Kriterien hat sie <strong>Belarus</strong> aufgegeben.<br />
Der EK-Vertreter in Minsk,<br />
Jean-Eric Holzapfel, brachte diese<br />
beim Minsk Forum auf den Punkt:<br />
1) keine politischen Gefangenen,<br />
2) Garantie der Meinungs- und<br />
Pressefreiheit, 3) Fortsetzung<br />
des Dialogs mit der OSZE über<br />
eine Reform der belarussischen<br />
Wahlgesetzgebung, 4) keine Ver-<br />
Geopolitische Spielwiese<br />
Das <strong>Belarus</strong>sische Institut für<br />
Strategische Forschung (BISI) hatte<br />
sich mit seiner Tagung „<strong>Belarus</strong>:<br />
Raum für Veränderung schaffen“<br />
eine anspruchsvolle Aufgabe gestellt.<br />
Tatsächlich kamen die Diskussionen<br />
zu dem Ergebnis, dass<br />
sich seit dem georgisch-russischen<br />
Krieg die Konstellation völlig<br />
verändert habe. Während vor<br />
dem Krieg vor allem die Auseinandersetzung<br />
zwischen Präsident<br />
und Opposition im Vordergrund<br />
gestanden habe, stehe <strong>Belarus</strong> nun<br />
vor einer komplizierten geopolitischen<br />
Situation, in der sowohl<br />
West als auch Ost das Land auf<br />
ihre Seite ziehen wollten. Dabei<br />
habe das Lukaschenko-Regime<br />
die „Fähigkeit zu begrenzten<br />
Kompromissen“ bewiesen, stellte<br />
Witalij Silitzkij fest, der Direktor<br />
des BISI. Schließlich beginne das<br />
Regime nicht nur mit der Privatisierung<br />
von Staatseigentum,<br />
sondern schwäche teilweise auch<br />
seine Kontrolle über die Zivilgesellschaft<br />
ab. Allerdings hat das<br />
schlechterung des rechtlichen<br />
Status‘ von NGOs, 5) Garantie der<br />
Versammlungsfreiheit. Nach Worten<br />
von Holzapfel ersetzen diese<br />
fünf Punkte nicht das vor zwei<br />
Jahren aufgestellte 12-Punkte-<br />
Programm mit Forderungen der<br />
EU an <strong>Belarus</strong>. Es handele sich<br />
lediglich um eine Prioritätenliste,<br />
deren Erfüllung notwendig sei,<br />
um das Dialogfenster weiter offen<br />
zu halten.<br />
Auf die Perspektiven der Annäherung<br />
angesprochen, äußerte sich<br />
Hugues Mingarelli vorsichtig: „In<br />
den kommenden sechs Monaten<br />
wollen wir ständig den Dialog<br />
mit der belarussischen Staatsführung<br />
suchen, um Fragen der<br />
Entwicklung des NGO-Sektors,<br />
der Wahl- und der Arbeitsschutzgesetzgebung<br />
zu besprechen“,<br />
so der Chef der EK-Delegation.<br />
Indes sagte Vizepremier Andrej<br />
Kobjakow, <strong>Belarus</strong> erkenne zwar<br />
die Notwendigkeit, an den „Hausaufgaben“<br />
der EU zu arbeiten,<br />
„erwartet jedoch auch adäquate<br />
Schritte von Seiten der EU“.<br />
(Alexander sawitzkij, Kiew/Ms) Mitte november trafen sich in Kiew die belarussischen big brains der<br />
politischen Analyse und zerbrachen sich den Kopf darüber, wie europa mit belarus umgehen sollte.<br />
Problem des Machterhalts für<br />
Lukaschenko nun an Komplexität<br />
gewonnen, fand der Analyst<br />
Leonid Maltzew: „Es gibt noch<br />
keinen vollwertigen Dialog mit<br />
dem Westen und noch keinen vollwertigen<br />
Bruch mit Russland. Die<br />
Schwierigkeit der Situation besteht<br />
darin, den Dialog auf den Weg zu<br />
bringen und gleichzeitig einigermaßen<br />
normale Beziehungen zu<br />
Russland zu bewahren.“<br />
Dieser Beitrag wurde von der Deutschen<br />
Welle am 12.11.2008 gesendet.<br />
Lukaschenko nach Europa<br />
Jahrelang war Alexander Lukaschenko<br />
Persona non grata in<br />
Europa – nun könnte der belarussische<br />
Präsident bald wieder<br />
in Skiurlaub nach Österreich<br />
fahren. Zumindest die laufende<br />
Skisaison kann Lukaschenko noch<br />
mitnehmen, denn bis April kann<br />
er definitiv in die EU einreisen.<br />
Auch auf Ministerialebene scheint<br />
die Eiszeit mit der EU vorbei:<br />
Erstmals seit drei Jahren traf sich<br />
die außenpolitische Trojka der<br />
EU – Bernard Kouchner als Außenminister<br />
des Ratsvorsitzenden<br />
Frankreich, die Kommissarin für<br />
Außenbeziehungen und europäische<br />
Nachbarschaftspolitik<br />
Benita Ferrero-Waldner sowie der<br />
Repräsentant für Außen- und Sicherheitspolitik<br />
Javier Solana – mit<br />
dem belarussischen Außenminister<br />
Sergej Martynow. Offenbar<br />
wurde man sich bei dem Gespräch<br />
einig, denn danach verkündete der<br />
Rat seine Entscheidung über die<br />
vorübergehende Aufhebung der<br />
Sanktionen.<br />
Lediglich fünf Beamte dürfen nach<br />
wie vor nicht auf EU-Territorium<br />
einreisen: vier, die in das Verschwinden<br />
von Regimegegnern<br />
zwischen 1999 und 2000 verwickelt<br />
sein sollen, sowie die Leiterin der<br />
Zentralen Wahlkommission Lidija<br />
Jermoschina, die für die letzten,<br />
von der OSZE nicht anerkannten<br />
Parlamentswahlen verantwortlich<br />
zeichnete. Außerdem hält es Brüssel<br />
nach wie vor für sinnvoll, mit<br />
der Einfrierung der Konten der<br />
41 Staatsbediensteten zu drohen<br />
– falls diese Konten auf EU-Boden<br />
gefunden werden sollten. Werden<br />
sie aber nicht, meinen die Beamten<br />
und ihr oberster Vertreter, Staatschef<br />
Lukaschenko. Lukaschenko<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43<br />
(Pauljuk bykowskij, Minsk) Am 13. Oktober entschlossen sich die eu-Außenminister in Luxemburg, die<br />
einreiseverbote für Präsident Lukaschenko und 36 weitere hochgestellte belarussische beamte für eine<br />
Probezeit von einem halben Jahr aufzuheben. stehen Minsk und brüssel vor einem durchbruch in ihren<br />
beziehungen?<br />
hatte bereits vor Jahren ironisch<br />
verkündet, er werde all sein Geld,<br />
das in der EU auftauche, dem Finder<br />
schenken.<br />
Derweil hatte das aktuelle süße<br />
EU-Geschenk durchaus einen<br />
bitteren Nachgeschmack. Denn<br />
wenn die Staatselite auch in der<br />
kommenden Urlaubssaison 2009<br />
nach Paris und London fliegen<br />
will, müssen im April alle EU-Außenminister<br />
geschlossen für eine<br />
Aufhebung der Sanktionen stimmen.<br />
Benita Ferrero-Waldner unterstrich,<br />
die EU behalte sich „eine<br />
uneingeschränkte Wiederaufnahme<br />
der Sanktionen vor“, falls<br />
<strong>Belarus</strong> die Menschenrechte nicht<br />
achte. Das belarussische Volk,<br />
so Ferrero-Waldner, „steht vor<br />
einer historischen Entscheidung:<br />
entweder in Richtung Demokratie<br />
zu schreiten oder in Richtung der<br />
politischen Stagnation“.<br />
Davon wollte Alexander Lukaschenko<br />
im Oktober noch nichts<br />
wissen. „Alle Hindernisse für den<br />
Dialog mit der EU sind aufgehoben“<br />
verkündete der Präsident<br />
bei der Kranzniederlegung am<br />
Mahnmal für die Opfer des Minsker<br />
Ghettos am 20. Oktober (siehe<br />
Seite 18). Zufrieden lobte Lukaschenko<br />
seine Brüsseler Kollegen:<br />
„Dieser Schritt ist ihnen sicher<br />
nicht leicht gefallen, schließlich<br />
handelt es sich um 27 Staaten. Ich<br />
denke, unsere Beziehungen zur<br />
EU haben sehr gute Perspektiven“,<br />
betonte der Staatschef. Offenbar<br />
liegt Lukaschenko richtig, denn<br />
inzwischen hat sich die EU auch<br />
dazu durchgerungen, über wirtschaftlich<br />
vorteilhafte Angebote<br />
für <strong>Belarus</strong> nachzudenken. Zum<br />
Beispiel schlug das Europäische<br />
Parlament dem EU-Ministerrat<br />
vor, <strong>Belarus</strong> unter Umständen<br />
in das Programm Östliche Partnerschaft<br />
mit aufzunehmen, was<br />
für belarussische Firmen einen<br />
erleichterten Zugang zum attraktiven<br />
EU-Markt bedeuten könnte.<br />
Die USA indes halten sich im<br />
Vergleich zu ihren europäischen<br />
Partnern bisher zurück. Man plane<br />
keine vergleichbaren Schritte,<br />
unterstrich der Deputy Assistant<br />
Secretary für Russland, Ukraine<br />
und <strong>Belarus</strong> des US-Außenministers,<br />
David Merkel, am 21. Oktober<br />
in einem Reuters-Interview. Allerdings<br />
hatten die USA nach der<br />
Freilassung politischer Gefangener<br />
Anfang September einen Teil ihrer<br />
Wirtschaftssanktionen aufgehoben.<br />
Nun können amerikanische<br />
Firmen zumindest im nächsten<br />
halben Jahr in <strong>Belarus</strong> Ölprodukte,<br />
Farben und Glasfasern kaufen.<br />
Gleichzeitig liegen die Aktiva<br />
des Ölkonzerns „Belneftechim“<br />
in den USA nach wie vor auf Eis.<br />
Washington erwarte, so Merkel,<br />
„anderen bedeutsame Schritte<br />
im Bereich der Menschenrechte<br />
oder der Zivilgesellschaft“, um<br />
die Sanktionen aufzuheben. Dass<br />
auch die EU mittelfristig auf eine<br />
Verbesserung in diesen Bereichen<br />
hofft, machten die Vertreter der<br />
EU-Kommission bei ihrem Besuch<br />
in Minsk klar (Seite 4). In Brüssel<br />
und Washington ist man offenbar<br />
der Meinung, dass nun Minsk<br />
am Zug sei. Sollte die EU mit der<br />
belarussischen Staatsführung<br />
zufrieden sein, könnte Präsident<br />
Lukaschenko sich nicht nur auf<br />
eine schöne Skisaison freuen. Er<br />
wäre eventuell auch beim nächsten<br />
EU-Ratsgipfel in Prag mit dabei.
Außenpolitik Innenpolitik<br />
Kinderreisen ade?<br />
(Marina rachlej, Minsk) im August beschloss die 16-jährige belarussin Tatjana Kosyro, bei ihrer Gastfamilie<br />
in den usA zu bleiben, zu der sie seit neun Jahren über ein Tschernobyl-Programm reiste. das war<br />
der zweite skandal dieser Art, nachdem vor zwei Jahren das 10-jährige Waisenkind Viktoria Moroz nicht<br />
aus italien zurück wollte. ein skandal zu viel, meinte Präsident Lukaschenko und legte per erlass alle<br />
Kinderreisen auf eis. Wie geht es weiter?<br />
Um sich vor weiteren bösen Überraschungen<br />
zu schützen, hat der<br />
belarussische Staat nun eine klare<br />
Bedingung an Kindererholungsreisen<br />
geknüpft: Zwischen <strong>Belarus</strong><br />
und dem Zielland muss es ein<br />
entsprechendes bilaterales Abkommen<br />
geben, das die Sicherheit<br />
der Kinder sowie ihre rechtzeitige<br />
Rückkehr garantiert und das Reisealter<br />
auf 7 bis 14 Jahre beschränkt.<br />
Zudem soll es den Kindern nur<br />
erlaubt sein, dreimal in das gleiche<br />
Land zu fahren.<br />
Ein Schlag für Gastfamilien in aller<br />
Welt, die jedes Jahr über 30.000<br />
belarussische Kinder zu Erholungsurlauben<br />
bei sich aufnehmen,<br />
denn bisher hat nur Italien<br />
ein solches Abkommen unterzeichnet,<br />
Irland steht kurz davor.<br />
Deutsche NGOs laden vor allem<br />
„Tschernobyl-Kinder“ ein, NGOs<br />
aus den USA oder Italien vor<br />
allem belarussische Waisenkinder.<br />
Nun liegen auch die Fahrten nach<br />
Deutschland vorerst auf Eis, Ausnahme<br />
sind Aufenthalte zwischen<br />
Revolution in Minsk?<br />
dem 20. Dezember und dem 20.<br />
Januar. Ein Weihnachtsgeschenk,<br />
das die stellvertretende Leiterin<br />
der Präsidialadministration, Natallja<br />
Petkewitsch, als großzügige<br />
Geste an die EU bezeichnete.<br />
Nach dem 20. Januar kommt allerdings<br />
das böse Erwachen, denn<br />
20 Länder haben bisher noch kein<br />
Abkommen unterschrieben. Und<br />
selbst bei zügigen Verhandlungen<br />
und schneller Unterzeichnung<br />
kann nicht davon ausgegangen<br />
werden, dass die Kinderreisen<br />
2009 in vollem Umfang stattfinden<br />
können. Minsk besteht jedoch auf<br />
den Verträgen, weil man fürchtet,<br />
dass sich sonst Fälle wie mit<br />
Kosyro oder Moroz wiederholen.<br />
Außerdem, so der belarussische<br />
Politologe Jurij Tschausow, sei<br />
man in Minsk gewohnt, mit Beamten<br />
zu kommunizieren, und<br />
nicht mit NGO-Vertretern. Doch<br />
die Kindererholung wird in erster<br />
Linie von kleinen und mittelgroßen<br />
NGOs praktiziert. „Es werden<br />
sich wohl kaum alle europäischen<br />
Regierungen dazu bereit erklären,<br />
die Verantwortung für diese Kinderreisen<br />
zu übernehmen“, so der<br />
Experte.<br />
Bereits 2004 hatte Präsident Lukaschenko<br />
einen Sturm der Entrüstung<br />
ausgelöst mit seiner Forderung,<br />
die Zahl der Erholungsaufenthalte<br />
belarussischer Kinder<br />
radikal abzusenken, da sie „vom<br />
Kapitalismus verdorben“ würden.<br />
Das Ausland sei der Staatsmacht<br />
jedoch suspekt, so der belarussische<br />
Politologe Walerij Karbalewitsch,<br />
denn „die Kinder erzählen<br />
natürlich, wie die Leute da im<br />
Westen leben. Und dass <strong>Belarus</strong><br />
nicht ganz so wundervoll ist, wie<br />
es uns das Staatsfernsehen glauben<br />
macht“. Doch offenbar ist nicht<br />
alles Gold, was glänzt: Tatjana Kosyro<br />
zumindest, die zwei Wochen<br />
lang die belarussische Diplomatie<br />
mit ihren Ausreisewünschen in<br />
Atem gehalten hatte, überlegte es<br />
sich noch einmal und kehrte aus<br />
den USA nach <strong>Belarus</strong> zurück. Sie<br />
habe ihre Großmutter vermisst,<br />
erklärte die 16-Jährige.<br />
(Marina Rachlej, Minsk) Anfang November kam der lybische Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi nach<br />
Minsk. Sein traditionelles Beduinenzelt schlug der inoffizielle Staatschef neben Lukaschenkos Residenz<br />
in Saslawl auf. Konnte Gadaffi den Geist der Revolution nach <strong>Belarus</strong> tragen?<br />
„Bruder!“, begrüsste Alexander<br />
Lukaschenko seinen lybischen Kollegen<br />
überschwenglich, „Freund!“,<br />
erwiderte ebenso glücklich Gaddafi.<br />
„Treffen eines ehemaligen<br />
Diktators mit einem ehemaligen<br />
Terroristen“, gifteten internationale<br />
Medien. Ob Brüder oder<br />
Diktatoren, die beiden Staatschefs<br />
wollten bei ihrem Treffen<br />
unter sich bleiben. Still und leise<br />
besprachen sie Dinge, von denen<br />
vermutet wird, es handele sich<br />
vor allem um Verteidigungsfragen<br />
und Waffengeschäfte. Vor<br />
den Fernsehkameras beteuerten<br />
Lukaschenko und Gaddafi dann,<br />
wie wichtig ihnen eine multipolare<br />
Welt sei, und – selbstverständlich<br />
– die bilateralen Beziehungen zwischen<br />
<strong>Belarus</strong> und Lybien. Beide<br />
zelebrierten vor allem die hohe<br />
Kunst der diplomatischen Höflichkeitsfloskeln:<br />
„Wir wissen, wie<br />
schwer es ist, völlig unberechtigte<br />
internationale Sanktionen zu ertragen“,<br />
versicherte Lukaschenko.<br />
„Wir schätzen Ihre Prinzipientreue<br />
und Standhaftigkeit“, lobte Gaddafi.<br />
Offiziell unterzeichneten<br />
die Staatschefs einige bilaterale<br />
Abkommen, unter anderem zur<br />
Zusammenarbeit in Steuerfragen<br />
und im Medienbereich. Die Revolution<br />
blieb aus.<br />
Und die Opposition?<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43<br />
(Walerij dorochin, Minsk) Mit der Annäherung zwischen belarus und der eu stellt sich die Frage, was<br />
eigentlich aus der belarussischen Opposition werden soll. Wir baten den Chefredakteur des unabhängigen<br />
internet-nachrichtenportals telegraph.by, Walerij dorochin, um eine Analyse.<br />
Eigentlich hat die belarussische<br />
Opposition ja ihren festen Platz<br />
in <strong>Belarus</strong>. Wie der aussieht,<br />
verrät uns Volkes Sprache. Wagt<br />
man es, ältere Menschen darauf<br />
hinzuweisen, dass ihre 100-Euro-<br />
Rente eigentlich kaum zum Leben<br />
reicht, schallt es einem giftig „Oppositioneller!“<br />
entgegen. Wenn<br />
Journalisten aus kritischen – also<br />
„oppositionellen“ – Medien einen<br />
Staatsbeamten um einen Kommentar<br />
bitten, wird dieser sicherheitshalber<br />
„Nein!“ bellen oder bei<br />
mindestens drei höher stehenden<br />
Instanzen um Erlaubnis fragen.<br />
In der U-Bahn schimpft das Volk<br />
regelmäßig über Oppositionelle,<br />
die sich dem Westen verkauft<br />
hätten und nun „gemütlich auf<br />
ihren großen Datschen sitzen und<br />
Schaschlik grillen“. Ich fürchte,<br />
bald werden sich <strong>Belarus</strong>sen im<br />
Streit mit dem vernichtenden<br />
Urteil „Selber Oppositioneller!“<br />
niederschreien.<br />
Das alles mag daran liegen, dass<br />
„Oppositioneller“ für die meisten<br />
<strong>Belarus</strong>sen ein relativ abstrakter<br />
Begriff ist, der inzwischen soviel<br />
wie „Saboteur“ oder „Miesmacher“<br />
bedeutet. Und in dieser Rolle<br />
ist die Opposition genau so zu<br />
einer Konstante des belarussischen<br />
Systems geworden wie ihr Widersacher,<br />
der ewige Präsident.<br />
Während sich Lukaschenko bereits<br />
beachtliche 15 Jahre auf seine<br />
Machtvertikale verlassen kann, hat<br />
die Opposition ihre eigene Stabilität<br />
entwickelt, fern jeder politischen<br />
Entscheidungsgewalt. Ihre<br />
Führer sind in Initiativlosigkeit<br />
erstarrt und haben aufgehört, als<br />
politische Subjekte zu existieren.<br />
Stattdessen führen sie von Zeit<br />
zu Zeit Protestmärsche durch, zu<br />
denen immer weniger Menschen<br />
kommen, und fahren regelmäßig<br />
nach Europa, um „über die Situation<br />
in <strong>Belarus</strong> zu informieren“.<br />
OPPOsiTiOneLLe<br />
nOMenKLATur<br />
Offenbar haben die erklärten<br />
Feinde des Präsidenten sich ein<br />
Beispiel an den Staatsbeamten<br />
genommen, die wie durch Zauberhand<br />
in Parlamente im ganzen<br />
Land gewählt werden, und halten<br />
sich einfach an ihren „Big Spender“.<br />
Was dem Apparatschik der<br />
Präsident, ist dem Oppositionellen<br />
der westliche Sponsor. Also verfassen<br />
die großen oppositionellen<br />
Denker viele schlaue Konzepte<br />
zur Zukunft und Entwicklung<br />
des Landes, schicken sie an europäische<br />
Insitutionen, organisieren<br />
seltene und relativ sinnlose<br />
Demonstrationen – mit einem<br />
Wort, leben ihr relativ friedliches<br />
Oppositionsleben vor sich hin<br />
und warten auf Finanzierung von<br />
außen.<br />
Dabei haben die vorhersehbar<br />
erfolglosen Forderungen der Opposition<br />
nach Demokratie und<br />
Reformen über die Jahre eine geradezu<br />
selbstironische Ritualität angenommen.<br />
Denn mit jedem neuen<br />
Flugblatt, das in Parteizentralen<br />
vor sich dahinvegetiert, mit jeder<br />
neuen politischen Kampagne und<br />
ihren Losungen, die zum Wähler<br />
nicht durchdringen, bestätigt das<br />
oppositionelle Establishment sein<br />
abgrundtief schlechtes Image<br />
beim Volk. Ach ja, das Volk. Das<br />
bekommt seine oppositionellen<br />
Gönner nur kurz vor Wahltagen<br />
oder an großen Feiertagen zu<br />
Gesicht, weil die Opposition die<br />
restlichen 350 Tage im Jahr mit sich<br />
selbst beschäftigt ist.<br />
Denn tagein, tagaus, Jahr um Jahr<br />
der gleich sinnlose Protest – das<br />
geht selbst alteingesessenen Parteiveteranen<br />
auf die Nerven. Also<br />
streiten sie sich um ihre realpolitisch<br />
fragwürdigen Vollmachten<br />
– zum Beispiel darüber, wer zum<br />
nächsten EU-Gipfel reisen darf.<br />
Nur einige Episoden aus der<br />
filmfreifen belarussischen Oppositiongeschichte<br />
der letzten zwei<br />
Jahre: Alexander Milinkewitsch,<br />
bis zu den Präsidentschaftswahlen<br />
2006 von der Opposition als Leitfigur<br />
präsentiert, fällt kurz nach<br />
den Wahlen in Ungnade. Seine<br />
Gegner diskreditieren ihn öffentlich<br />
und zerstören erfolgreich<br />
zwei Jahre intensiver politischer<br />
PR-Arbeit. Alexander Kosulin,<br />
der Lukaschenko-Widersacher<br />
mit dem eisernen Willen und<br />
den finanzstarken Freunden in<br />
Russland, wird kurz vor seiner<br />
Entlassung aus dem Gefängnis<br />
von seinen sozialdemokratischen<br />
Parteifeinden seines Postens als<br />
Parteivorsitzender enthoben. Aber<br />
auch andere Parteien haben hohen<br />
Unterhaltungswert. Zum Beispiel<br />
die Grande Dame der oppositionellen<br />
Parteienlandschaft, die<br />
nationalpatriotische <strong>Belarus</strong>sische<br />
Volksfront. Vor einem Jahr versuchte<br />
die BNF, einen neuen<br />
Vorsitzenden zu wählen, und zerbrach<br />
beinahe an innerparteilichen<br />
Grabenkämfen. Zum Schluss entließ<br />
sie mit Schimpf und Schande<br />
ihren stellvertretenden Vorsitzenden<br />
und Nachwuchspolitiker<br />
Alexej Michalewitsch, weil er es<br />
gewagt hatte, die Parteilinie in<br />
einer Zeitung zu kritisieren. Und<br />
die Kommunisten sind seit Jahren<br />
auf Selbstfindungspfaden unterwegs<br />
und versuchen verzweifelt,<br />
zu Sozialisten zu werden. Solch<br />
„oppositionelles Gewurschtel“,<br />
um es mit den Worten von Präsident<br />
Lukaschenko zu sagen, ist<br />
wohl kaum geeignet, die unterirdisch<br />
schlechten Umfragewerte
Innenpolitik Innenpolitik<br />
Da war‘s vorbei mit der Einheit: Ex-Präsidentschaftskandidat Alexander Milinkewitsch<br />
(r.) und Anatolij Lebedko von der Vereinten Bürgerpartei geben im Februar<br />
2007 den Zerfall ihres oppositionellen Bündnisses bekannt. Foto: ucpp.org<br />
der Opposition aufzupolieren.<br />
Offenbar kümmert das die betroffenen<br />
Parteiführer auch herzlich<br />
wenig. Am liebsten hätten sie die<br />
letzten Parlamentswahlen einfach<br />
boykottiert, wenn nicht Europäer<br />
und Amerikaner für diesen Fall<br />
damit gedroht hätten, ihre Unterstützung<br />
einzustellen. Also gingen<br />
die oppositionellen Kandidaten<br />
aufs staatliche Schaffot. Denn<br />
Lukaschenko übte zwar wie versprochen<br />
keinen Druck auf sie aus,<br />
gönnte ihnen aber auch keinen<br />
einzigen Parlamentssitz.<br />
der ObersTe<br />
OPPOsiTiOneLLe<br />
Lukaschenko benutzt die Opposition<br />
sowieso seit Jahren als<br />
Sandsack für seine rhetorischen<br />
Faustschläge. Immer wieder tönte<br />
der Staatschef auf allen Kanälen,<br />
er kenne keine Opposition, nur<br />
„Spinner, die sich dem Westen<br />
verkauft haben“. Doch seit Europa<br />
mit dem Dialog winkt, hat auch<br />
Lukaschenko seine Rhetorik dem<br />
Tauwetter angepasst. Eigentlich,<br />
meinte der Präsident im Oktober,<br />
sei er ja der oberste Oppositionelle<br />
des Landes. „Vor ihnen steht ein<br />
ehemaliger Oppositioneller, ein<br />
konstruktiver Opppositioneller,<br />
der nicht von oben zum Präsidenten<br />
ernannt wurde“. Deshalb<br />
macht sich Lukaschenko offenbar<br />
auch väterliche Sorgen um seine<br />
politischen Gegner, ist aber geduldig:<br />
„Es braucht Zeit, bevor in<br />
<strong>Belarus</strong> eine normale Opposition<br />
entsteht. Keine amerikanische,<br />
deutsche, englische, sondern eine<br />
patriotische Opposition, die den<br />
Willen des Volkes vertritt“, findet<br />
der Präsident. Selbst mit solchen<br />
Attributen scheint sich die „unpatriotische“<br />
Opposition abgefunden<br />
zu haben und bietet dem<br />
Präsidenten inzwischen sogar ihre<br />
Dienste an: Am 19. Dezember erklärte<br />
Alexander Milinkewitsch,<br />
er schließe eine Zusammenarbeit<br />
zwischen Opposition und Staatsmacht<br />
vor dem Hintergrund der<br />
Annäherung an die EU nicht aus.<br />
Milinkewitschs oppositionsinterner<br />
Gegenspieler Anatolij Lebedko<br />
geht sogar noch weiter und erklärt<br />
sich bereit, das Joch der politischen<br />
Verantwortung auf sich<br />
zu nehmen. „Ich finde, das ist eine<br />
ehrliche und verantwortungsvolle<br />
Position“, so der 47-Jährige, der bei<br />
Lukaschenkos erstem Wahlerfolg<br />
1994 noch zum Team der „jungen<br />
Wilden“ des frischgebackenen<br />
Präsidenten gehörte. „Wir haben<br />
genug Erfahrung bei der Schaffung<br />
von Programmen, dem Verfassen<br />
von Konzepten, Gesetzesvorlagen<br />
– und heute erklären wir, dass<br />
wir es für möglich halten, das Geschriebene<br />
Wirklichkeit werden<br />
zu lassen.“ Zweifellos muss man<br />
Lebedko Recht geben. Wenn die<br />
Opposition zu etwas in der Lage<br />
ist, dann ist es das Verfassen von<br />
Konzepten. Allerdings glauben<br />
die Oppositionsführer wohl kaum<br />
ernsthaft daran, dass sie ihr Erzfeind<br />
bald zu Ministern macht.<br />
Vermutlich haben sie, genau wie<br />
vor den Parlamentswahlen, eine<br />
„Empfehlung“ aus Brüssel und<br />
Washington bekommen, sich doch<br />
konstruktiv einzubringen.<br />
AusWeGLOse siTuATiOn<br />
Eine traurige Situation für <strong>Belarus</strong>:<br />
Die Menschen sind in einem<br />
System stecken geblieben, das<br />
während Lukaschenkos Regierungszeit<br />
aufgebaut wurde, und<br />
niemand ist in der Lage, einen<br />
Systemwechsel zu initiieren. Dabei<br />
sind die <strong>Belarus</strong>sen durchaus, wie<br />
jedes Volk, potenziell zu Veränderungen<br />
bereit, können dieses<br />
Potenzial jedoch nicht bei Wahlen<br />
realisieren. Es bleibt die Hoffnung<br />
auf eine Selbstreform des Systems<br />
oder eine neue politische Kraft. Die<br />
Opposition, die sich mit ihrer Außenseiterrolle<br />
längst abgefunden<br />
hat, scheidet als Hoffnungsträger<br />
aus. Auch in Europa scheint man<br />
inzwischen begriffen zu haben,<br />
dass in einer solchen Situation<br />
nur das Regime selbst Reformen<br />
initiieren kann. Die Opposition<br />
wird dennoch weiterexistieren,<br />
auch wenn ihre Finanzierungsquellen<br />
aus dem Westen weniger<br />
energisch sprudeln, und sie wird<br />
sich unter dem Druck der jungen<br />
Parteibasis und der Brüsseler Politikstrategen<br />
reformieren müssen.<br />
Das alles braucht Zeit. Mehr als die<br />
zwei Jahre bis zur nächsten Präsidentschaftswahl<br />
2011. Bis dahin<br />
wird die Opposition der abstrakte<br />
Versager und Miesmacher in den<br />
Köpfen der <strong>Belarus</strong>sen bleiben.<br />
Staatliche Zivilgesellschaft<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43<br />
(Pauljuk bykowskij, Minsk/Ms) 350 delegierte aus allen belarussischen regionen strömten ende Oktober<br />
nach Minsk in den Palast der republik zum ersten Kongress der „belaja rus”. die staatstreue nGO gab<br />
sich ein Programm — und kündigte an, staatsorgane kontrollieren zu wollen.<br />
Woher der Wind bei der Belaja Rus<br />
weht, war spätestens klar, als ihr<br />
Vorsitzender, <strong>Bildungs</strong>minister<br />
Radkow, das neue Programm vorstellte.<br />
Darin heißt es: „Die Zeit hat<br />
bewiesen, dass der historische Weg<br />
des belarussischen Volkes richtig<br />
war.“ Es folgt eine Aufzählung der<br />
bahnbrechenden Erfolge im Wirtschafts-<br />
und Sozialbereich. Und,<br />
wenig überraschend, der Garant<br />
des Erfolgs: „All dies wurde Realität<br />
unter Führung des allgemein<br />
anerkannten nationalen Führers,<br />
des Präsidenten Alexander Grigorewitsch<br />
Lukaschenko.“<br />
Vermutlich, da sind sich die Beobachter<br />
weitestgehend einig,<br />
hat der so gelobte die Bewegung<br />
nicht selber initiiert. Zwar wird<br />
der Belaja Rus allenthalben staatliche<br />
Unterstützung zuteil, großkalibrige<br />
rethorische Hilfe vom<br />
Staatsoberhaupt persönlich gab es<br />
jedoch nicht. Dennoch weiß man<br />
bei der vor einem Jahr gegründeten<br />
Belaja Rus, wie wichtig der<br />
Präsident für das Land ist.<br />
Man wolle, „den präsidialen Kurs<br />
nicht korrigieren, sondern kommentieren“,<br />
stellte denn auch der<br />
<strong>Bildungs</strong>minister und Vorsitzende<br />
Radkow klar. Um die angestrebte<br />
„Verbesserung der Lebensqualität<br />
und die Errichtungen eines Staates<br />
für das Volk“ zu erreichen, sei<br />
jedoch „die Unterstützung von<br />
zivilgesellschaftlichen Organisation“<br />
unabdingbar, so der Chef der<br />
Belaja Rus, und genau da docke<br />
seine Organisation an. Soziale<br />
Projekte, Gesundheitsaufklärung,<br />
öffentliche Kontrolle staatlicher<br />
Institutionen – das sind seit dem<br />
druckfrischen Programm die<br />
wichtigsten Tätigkeitsfelder der<br />
Belaja Rus. „Überlebenswichtig“<br />
ist dabei, so die rethorisch versierten<br />
Autoren des Papiers, „die<br />
Erhaltung der Geschlossenheit<br />
und Einheit des belarussischen<br />
Volkes“.<br />
Ein hehres Ziel. Und die Belaja<br />
Rus ist auf dem besten Weg dorthin,<br />
wussten Delegierte aus dem<br />
Minsker Gebiet zu berichten: 2008<br />
hatten tausende Mitglieder sich<br />
an der Erntekampagne beteiligt,<br />
die Jugend über Gesundheitsgefahren<br />
aufgeklärt und Veteranen<br />
ihre Wohnungen renoviert. Besonders<br />
aktiv beteiligten sich die<br />
Idealisten der Belaja Rus bei den<br />
Parlamentswahlen im Herbst.<br />
Etwa 10.000 Mitglieder waren als<br />
Wahlbeobachter tätig, machten<br />
Wahlkampf für Staatskandidaten<br />
– oder ließen sich gleich in eines<br />
der beiden Parlamente wählen.<br />
Fast die Hälfte der Abgeordneten<br />
des belarussischen Unterhauses,<br />
verkündete Radkow stolz, seien<br />
Mitglieder der Organisation, im<br />
politisch weniger bedeutsamen<br />
Oberhaus seien es immerhin ein<br />
Drittel. Nun plant die Organisation<br />
die nächsten Schritte: Von „patriotischen,<br />
kulturellen, <strong>Bildungs</strong>- und<br />
Sportveranstaltungen“ ist da die<br />
Rede, es soll öffentliche Empfangszimmer<br />
geben, in denen sich Bürger<br />
über staatliche Organisationen<br />
beschweren können, und, last but<br />
not least, sollen die Bürger bei Seminaren,<br />
Konferenzen und anderen<br />
Veranstaltungen „Fragen der<br />
Entwicklung des belarussischen<br />
Staates und der Gesellschaft“<br />
diskutieren. Besonders die öffentlichen<br />
Empfangszimmer werden<br />
wohl die gesamte logistische Aufmerksamkeit<br />
der Organisation<br />
fordern, denn es brauche dafür<br />
nicht nur Büros, sondern auch andere<br />
Gelder für laufende Kosten,<br />
so die Redner warnend. Das ist es<br />
der Belaja Rus aber offenbar wert,<br />
denn im kommenden Jahr sollen<br />
fast die gesamten Mitgliedsbei-<br />
träge für Volkes Kummerkasten<br />
verwendet werden.<br />
Böse Zungen indes reden seit<br />
Monaten von einer „staatlich initiierten<br />
und abgesegneten Zivilgesellschaft“<br />
und weisen darauf<br />
hin, dass die Belaja Rus angeblich<br />
in Staatsbetrieben Bürger zur Mitgliedschaft<br />
zwinge. Über 80.000<br />
Mitglieder in einem Jahr – das<br />
sei verdächtig viel in verdächtig<br />
wenig Zeit, finden die Kritiker.<br />
<strong>Bildungs</strong>minister Radkow hielt<br />
dagegen: „Wir bemühen uns, das<br />
Freiwilligkeitsprinzip bei der Mitgliedschaft<br />
streng zu befolgen.“<br />
Obwohl „natürlich die Arbeit für<br />
uns neu war und es sicherlich einige<br />
Fehler gab.“<br />
Dass auf dem Kongress traute<br />
Einigkeit herrschte, zeigte das<br />
selbst für belarussische Verhältnisse<br />
rekordverdächtige Abstimmungsergebnis:<br />
100 Prozent der<br />
Delegierten stimmten für das neue<br />
Programm. Dann gab es doch noch<br />
eine Überraschung, wenn auch<br />
positiver Art:<br />
Ewgenij Gontscharenko, Vertreter<br />
der Belaja-Rus-Niederlassung in<br />
Logojsk, setzte eine Programmänderung<br />
durch. Wo vorher nur von<br />
„gesellschaftlicher Einheit“ die<br />
Rede war, steht nun deutlicher, die<br />
Belaja Rus solle eine „Organisation<br />
des Zusammenschlusses“ werden.<br />
Gontscharenko selbst meinte dazu:<br />
„Unser Ziel ist es, in Zukunft<br />
eine starke politische Partei zu<br />
gründen, die unsere Aufgaben<br />
bewältigen kann.“ Ein Mitglied<br />
des Präsidiums räumt ein, dies sei<br />
durchaus eine Option: „Wenn die<br />
Wahlgesetzgebung geändert wird<br />
und Parteilisten ermöglicht werden,<br />
werden wir natürlich über<br />
eine Parteigründung reden.“
Innenpolitik Innenpolitik<br />
Die Korruption frisst ihre Kinder<br />
(Alexander dautin, Minsk) eine neue Welle von Korruptionsenthüllungen ist über belarus hinweggerollt.<br />
Opfer des rundumschlags Alexander Lukaschenkos waren dieses Mal hochrangige Mitarbeiter des innenministeriums<br />
und der staatsanwaltschaft. es bestehen allerdings unter unabhängigen experten arge<br />
Zweifel daran, ob es im ergebnis der säuberungen weniger korrupte beamte im Lande geben wird.<br />
Die monatliche Sitzung zur Korruptionsbekämpfung<br />
beim Präsidenten<br />
schlug im November<br />
letzten Jahres wie eine Bombe ein.<br />
„Zehn hochrangige Beamte des<br />
Innenministeriums haben illegal<br />
Grundstücke im Minsker Gebiet<br />
gekauft”, verkündete Lukaschenko<br />
seinen Untergebenen. „Sie bauten<br />
darauf, im Schein einer nicht<br />
existierenden Baugenossenschaft,<br />
zwei- bis dreistöckige Gebäude.“<br />
Die eigentlichen Hüter des Rechts<br />
hätten, so der Präsident, für die<br />
Grundstücke lächerliche 25 000<br />
<strong>Belarus</strong>sische Rubel gezahlt, also<br />
in etwa 10 Euro.<br />
Die Aufdeckung der Fälle im<br />
Innenministerium war allerdings<br />
nur die erste Säuberungsaktion<br />
von Korruptionsexperte Lukaschenko,<br />
der seine politische Karriere<br />
1994 mit einer Antikorruptionskampagne<br />
begonnen hatte.<br />
Offenbar besann sich der Präsident<br />
seiner Qualitäten: Er ließ gleich<br />
zwei hochgestellte Vertreter der<br />
Staatsanwaltschaft anklagen.<br />
Insbesondere der Staatsanwalt<br />
des Minsker Gebietes Michail<br />
Snegir hatte seinen Präsidenten<br />
mehr als enttäuscht. Im Mai 2007<br />
erwarb Snegir im Zentrum der<br />
belarussischen Hauptstadt eine<br />
5-Zimmer-Wohnung mit mehr als<br />
200 m 2 Fläche und einer Tiefgarage.<br />
„Woher,“ fragte Lukaschenko<br />
erbost, „hat ein Staatsanwalt Geld<br />
für solchen Luxus? Und wie konnte<br />
sich Snegir die Wohnung zum<br />
Vorzugspreis von 72 000 Dollar beschaffen,<br />
wo doch der Marktpreis<br />
bei einer halben Million liegt?“<br />
Die Antwort ist so schwer nicht.<br />
Snegir, von Berufs wegen ein äu-<br />
ßerst fähiger Jurist, deichselte seine<br />
Transaktion schlichtweg so, dass<br />
sie legal aussah. Zu diesem Zweck<br />
unterschrieb der Staatsanwalt eine<br />
gefälschte Zusatzvereinbarung<br />
zum Verkaufsvertrag, in der eine<br />
andere Kaufsumme angegeben<br />
wird, umgerechnet etwa 248 000.<br />
Dollar. Bis hierhin war alles perfekt<br />
geplant gewesen, doch dann<br />
tauchte ein unterwartetes Problem<br />
auf: Die Wohnung war eigentlich<br />
gar nicht zu verkaufen, denn in ihr<br />
wohnte ein Mitarbeiter, der einen<br />
Mietvertrag bis 2024 besaß. Snegir<br />
wollte natürlich nicht zwanzig<br />
Jahre auf sein erfuchstes Eigentum<br />
warten. Die Sache ging vor<br />
Gericht. „Was glauben Sie, wie die<br />
zuständigen Richter entschieden?“<br />
fragte Lukaschenko empört in<br />
die Beamtenrunde. „Sie sprachen<br />
ihr Vorgehen telefonisch ab – mit<br />
Snegir!“ Der widerspenstige Mieter<br />
wurde für den „eigenwilligen<br />
Umbau der Wohnung“ bestraft. Er<br />
gab jedoch nicht auf und wandte<br />
sich insgesamt achtmal mit Beschwerden<br />
über Snegir an den<br />
Generalstaatsanwalt.<br />
„Und was passierte? Keine Antwort!“<br />
- schimpfte Lukaschenko<br />
weiter. „Denn alle Dokumente<br />
gingen über den Schreibtisch des<br />
stellvertretenden Generalstaatsanwalt<br />
Nikolaj Kuprijanow, der<br />
mit Snegir ein freundschaftliches<br />
Verhältnis pflegt.“<br />
„Mich empört die wachsende<br />
Korruption unter jenen, die sie<br />
eigentlich bekämpfen sollten“, erklärte<br />
Lukaschenko abschließend<br />
uns ließ durchblicken, dass die<br />
Karrieren der ertappten Beamten<br />
damit beendet seien. Dennoch sei<br />
dies nur die Spitze des Eisbergs ge-<br />
wesen. Im Bereich der staatlichen<br />
Verwaltung habe es allein in den<br />
ersten zehn Monaten des letzten<br />
Jahres 347 Fälle von Verbrechen im<br />
Zusammenhang mit Korruption<br />
gegeben, darunter 104 von Mitarbeitern<br />
der Abteilung für Inneres,<br />
der Staatssicherheit, der Steuerpolizei,<br />
des Verteidigungsministeriums,<br />
des Staatlichen Grenz- und<br />
des Staatlichen Zollausschusses.<br />
„Und das sind nur die Fälle, die<br />
aufgedeckt wurden“ – gab Lukaschenko<br />
zu bedenken. Vermutlich<br />
hat der Präsident recht, und die<br />
Dunkelziffer ist deutlich höher.<br />
<strong>Belarus</strong>sische Rechtsexperten zumindest<br />
gehen davon aus, dass<br />
nur 30 Prozent der Korruptionsfälle<br />
aufgedeckt wurden. Was tun?<br />
Hinter vorgehaltener Hand kritisieren<br />
Experten, es gebe viel zu<br />
viele Beamte mit weitreichenden<br />
Vollmachten, die weder durch die<br />
Zivilgesellschaft noch durch die<br />
Öffentlichkeit kontrolliert würden.<br />
Korruption, so die Kritik, sei<br />
also nicht das Vergehen einiger<br />
Übeltäter, sondern die Krankheit<br />
eines ganzen Systems. Das sieht<br />
Jurij Schadobin, Staatssekretär des<br />
belarussischen Sicherheitsrates,<br />
naturgemäß anders. Nachdem<br />
internationale Organisationen ein<br />
im Vergleich zu anderen Ländern<br />
relativ hohes Korruptionsniveau<br />
in <strong>Belarus</strong> festgestellt hatten, erwiderte<br />
Schadobin: „Diese Einschätzung<br />
kommt nicht von uns, sie<br />
kommt von internationalen Organisationen.“<br />
Allerdings blieb Schadobin<br />
eine Erklärung schuldig,<br />
warum internationale Vergleiche<br />
nicht objektiver sein sollten als die<br />
Einschätzungen der betroffenen<br />
Regierungen.<br />
Pressefreiheit privjet?<br />
(Jakob Hut, berlin) der belarussische staat geht einen weiteren schritt auf die eu zu und nimmt die staatskritischen<br />
Zeitungen „nascha niwa“ und „narodnaja Wolja“ nach dreijähriger Abstinenz wieder in sein<br />
Vertriebs- und Kiosksystem auf. Andere kritische Zeitungen haben weniger Glück.<br />
Am 21. November bekam Andrej<br />
Dynko, graue Eminenz und zweiter<br />
Chefredakteur von Nascha<br />
Niwa, einen Anruf von Wsewolod<br />
Jantschewskij, Chefideologe der<br />
Präsidialadministration. Jener<br />
verkündete die frohe Botschaft:<br />
Es gebe „die Möglichkeit, das Zustellungsproblem<br />
zu lösen“. Dynko,<br />
für seine reserviert-ironische<br />
Art bekannt, mag innerlich einen<br />
Hüpfer bis zur Decke gemacht<br />
haben. Denn was Jantschewskij<br />
sagt, kommt von weiter oben, und<br />
was von weiter oben kommt, ist in<br />
<strong>Belarus</strong> Gesetz. Und tatsächlich<br />
konnten zwei Wochen später die<br />
ersten Leser „ihre“ Zeitung an<br />
Minsker Zeitungskiosken kaufen.<br />
Die staatlichen Kioske lassen es<br />
zwar ruhig angehen und bestellen<br />
lediglich 1400 Exemplare pro<br />
Woche, so dass Nascha Niwa am<br />
Erscheinungstag immer sofort<br />
ausverkauft ist. Doch dieses Problem<br />
hat nicht nur das Intellektuellenblatt,<br />
ähnlich geht es auch<br />
der Einfache-Leute-Tageszeitung<br />
Narodnaja Wolja. 2500 Exemplare<br />
gingen pro Tag an die belarussischen<br />
Kioske – und waren ebenfalls<br />
sofort ausverkauft.<br />
Deshalb wirbt die stellvertretende<br />
Chefredakteurin von Narodnaja<br />
Wolja, Swetlana Kalinkina, auch<br />
um Abonnenten: „Ein Abonnement<br />
ist der sicherste Weg, die<br />
Zeitung zu bekommen“. Ob die<br />
Leser reagieren, ist ungewiss, denn<br />
in <strong>Belarus</strong> ist ein Zeitungsabonnement<br />
teurer als die Kioskvariante.<br />
Werbekampagnen wollen<br />
die beiden jahrelang gebeutelten<br />
Zeitungen nicht machen. Allerdings<br />
entschloss sich die Redaktion<br />
von Nascha Niwa zu einem<br />
historischen Schritt. Seit November<br />
erscheint die Zeitung in der<br />
staatlichen Rechtschreibvariante,<br />
nicht mehr in der inoffiziellen,<br />
lediglich von Intellektuellen benutzten<br />
„Taraschkewitza“. Man<br />
wolle neue Leser gewinnen, so die<br />
Redaktion in ihrem Brief an die Leserschaft,<br />
denn „die unabhängige<br />
Zivilgesellschaft darf sich nicht<br />
isolieren“.<br />
Bei allen Problemen ist die Auferstehung<br />
der beiden Granden der<br />
unabhängigen Presse politisch<br />
gesehen eine Sensation. Drei Jahre<br />
hatten die beiden Zeitungen im<br />
Quasi-Untergrund existiert, die<br />
Narodnaja Wolja wurde gar in<br />
Russland gedruckt und heimlich<br />
über die offene Grenze gebracht.<br />
Nun kann die einzige regimekritische<br />
Tageszeitung wieder im<br />
staatlichen <strong>Belarus</strong>sischen Druckhaus<br />
von den Druckmaschinen<br />
laufen. Eine schöne Geste, fand<br />
denn auch Jacek Protasewicz, Chef<br />
der Delegation des EU-Parlaments<br />
für Beziehungen zu <strong>Belarus</strong>: „Das<br />
ist ein sehr wichtiges Signal aus<br />
Minsk. Es zeigt, dass die Regierung<br />
die Beziehungen zur EU ernsthaft<br />
verbessern will.“ Allerdings, so<br />
Protasewicz, warte man jetzt noch<br />
auf die Erfüllung der anderen<br />
Bedingungen, die die EU für eine<br />
Aufhebung der Sanktionen gegen<br />
<strong>Belarus</strong> gestellt habe – unter anderem<br />
zur Versammlungsfreiheit<br />
und zur Wahlgesetzgebung.<br />
Dass es mit der Pressefreiheit auch<br />
weiterhin nicht zum allerbesten<br />
steht, zeigt die Tatsache, dass Narodnaja<br />
Wolja und Nascha Niwa<br />
nur die Spitze des Eisberges sind.<br />
15 Zeitungen können nach wie<br />
vor nicht über den staatlichen<br />
Vertriebsmonopolisten zu ihren<br />
Lesern gelangen, wie der <strong>Belarus</strong>sische<br />
Journalistenverband erklärt.<br />
Darunter auch die Tageszeitung<br />
„Genosse“ der oppositionellen<br />
Partei der <strong>Belarus</strong>sischen Kommunisten,<br />
deren Chefredakteur<br />
Sergej Woznjak erst kurz vor dem<br />
Minsk Forum eine Absage erhalten<br />
hatte. „Irgendwelche Angebote haben<br />
wir bisher nicht bekommen“,<br />
meint Woznjak verbittert.<br />
„Endlich wieder überall zu kaufen!“ Der stellvertretende Vorsitzende der <strong>Belarus</strong>sischen<br />
Volksfront Viktor Iwaschkewitsch (rechts) und ein junger Leser mit ihrer<br />
Wochenzeitung Nascha Niwa Foto: Radio Free Liberty<br />
10 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 11
Wirtschaft Wirtschaft<br />
Ziel: Investitionsparadies<br />
(natallja Hlebus, London) 370 Teilnehmer aus über 30 Ländern kamen ende november zum belarussischen<br />
investitionsforum nach London, um sich über das investitionsklima und dessen Zukunft auszutauschen.<br />
Wie stehen die Chancen auf einen investitionsschub, was tut belarus dafür und wer will investieren?<br />
Auf diese und andere Fragen stand im exklusivinterview der belarussische botschafter in deutschland,<br />
Wladimir skworzow, rede und Antwort.<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven: Wladimir Nikolajewitsch,<br />
warum ausgerechnet<br />
London?<br />
Wladimir Skworzow: Natürlich<br />
ist unsere Wahl nicht zufällig auf<br />
London gefallen – immerhin ist<br />
die Stadt eines der europäischen<br />
Finanzzentren, wo viele wichtige<br />
Kontakte entstehen. Deshalb ist<br />
auch Premierminister Sergej Sidorskij<br />
extra aus Minsk angereist.<br />
Als belarussischer Botschafter in<br />
Deutschland haben Sie sicher ein<br />
besonderes Auge auf deutsche Firmen<br />
gehabt. Waren viele hier?<br />
Sehr viele – darunter große Namen<br />
wie die Robert Bosch GmbH<br />
und die Deutsche Bank. Großes<br />
Interesse zeigten auch Energiefirmen<br />
und die Anwaltskanzlei<br />
Arzinger und Partner, aber auch<br />
spezialisierte Produzenten wie die<br />
Claas GmbH, die unter anderem<br />
Mähdrescher herstellt. Kurz, es<br />
waren interessierte Investoren<br />
und Businesspartner aus allen<br />
Bereichen vertreten, die im Panel<br />
über Erfahrungen mit dem belarussischen<br />
Markt diskutierten und<br />
in Kleingruppen die Perspektiven<br />
der Zusammenarbeit mit belarussischen<br />
Partnern besprachen.<br />
impressum:<br />
redaktionsadresse:<br />
IBB gGmbH, <strong>Belarus</strong>-Perspektiven,<br />
Bornstr. 66, 44145 Dortmund,<br />
0231-952096-0, Fax: 0231-521233,<br />
E-Mail: info@ibb-d.de,<br />
Website: www.ibb-d.de<br />
Herausgeber:<br />
Peter Junge-Wentrup, <strong>Internationales</strong><br />
<strong>Bildungs</strong>- und Begegnungswerk gGmbH<br />
Dortmund<br />
redaktion:<br />
Martin Schön, Berlin,<br />
Wladimir Skworzow, Botschafter der<br />
Republik <strong>Belarus</strong> in der Bundesrepublik<br />
Deutschland Foto: Hlebus<br />
Was war das Hauptziel der Veranstaltung?<br />
Wir wollten ausländischen Geschäftsleuten<br />
zeigen, welches<br />
reale Investitionspotential <strong>Belarus</strong><br />
hat, welche Bedingungen hier für<br />
Geschäfte herrschen, und was<br />
sich im letzten Jahr alles getan<br />
hat. Die Teilnehmer konnten sich<br />
sozusagen aus erster Hand davon<br />
überzeugen, welches Tempo die<br />
Wirtschaftsreformen in unserem<br />
Land angenommen haben. Nicht<br />
umsonst hat die Staatsführung<br />
das ehrgeizige Ziel ausgegeben, in<br />
absehbarer Zukunft zu den dreißig<br />
Ländern in der Welt zu gehören,<br />
Sabrina Bobowski, Berlin<br />
Dr. Edith Spielhagen, Berlin,<br />
Nadine Lashuk, Minsk,<br />
Kai-Uwe Dosch, Hamm<br />
druck:<br />
Montania Druck, Dortmund<br />
Gekennzeichnete Artikel entsprechen<br />
nicht unbedingt der Meinung der Redaktion.<br />
Leserbriefe an <strong>Belarus</strong>Perspektiven@<br />
gmail.com<br />
Einzelpreis: 4,00 Euro, Jahresabonnement<br />
incl. Versand: 15,00 Euro.<br />
in denen die besten Investitionsbedingungen<br />
herrschen.<br />
Gibt es denn schon konkrete Investitionsprojekte?<br />
Wir haben unseren potentiellen<br />
Partnern beim Forum über 70<br />
Projekte präsentiert, darunter die<br />
geplante Produktion von Bussen<br />
in den Minsker Automobilwerken<br />
oder den Bau von Wasserwerken<br />
an den Flüssen Westdwina<br />
und Dnjepr. Allein die Zahl der<br />
Projekte zeigt, wie offen unsere<br />
Wirtschaft ist.<br />
Was hat <strong>Belarus</strong> potentiellen Investoren<br />
außer Stabilität zu bieten?<br />
Seine einzigartige Brückenfunktion<br />
zwischen Ost und West. In<br />
diesem Zusammenhang wartete<br />
das Transportministerium gleich<br />
mit zwei großen Investitionsprojekten<br />
auf – neben dem Ausbau<br />
der Flugzeugstaffel der staatlichen<br />
Fluggesellschaft „Belavia“ steht<br />
auch die Schaffung einer eigenen<br />
belarussischen Flotte von Handelsschiffen<br />
auf dem Programm.<br />
Welche Form des Investments empfiehlt<br />
sich denn in <strong>Belarus</strong>?<br />
Alle Formen von Investitionen<br />
lassen sich in <strong>Belarus</strong> praktizieren<br />
– von Kreditvergabe über Direktinvestitionen<br />
bis zur Schaffung<br />
von Joint-Ventures. Ein Patentrezept<br />
gibt es nicht – was für den<br />
einen Investor ideal ist, passt dem<br />
anderen weniger. Die Teilnehmer<br />
des Forums diskutierten deshalb<br />
offen über verschiedene Varianten<br />
des Investments.<br />
Herr Botschafter, wir danken Ihnen<br />
für dieses Gespräch.<br />
IWF stellt Bedingungen<br />
(Alexander dautin, Minsk) Anfang Januar war die sensation perfekt: 2,5 Milliarden dollar leiht der iWF<br />
belarus für zwei Jahre. die Finanzkrise zieht solche Kreise, dass sich selbst belarus zu schritten entschied<br />
die noch vor einem Jahr undenkbar schienen. noch während der Verhandlungen klopften bereits die<br />
ersten Gläubiger in Minsk an.<br />
2 Mrd. Dollar erhoffte sich die<br />
Minsker Regierung durch den<br />
Internationalen Währungsfond<br />
(IWF). Doch offenbar saß in<br />
Washington das Geld nicht ganz<br />
so locker wie in Moskau, wo<br />
Minsk regelmäßig Milliarden zu<br />
konkurrenzlos günstigen Konditionen<br />
ohne jegliche wirtschaftspolitischen<br />
Auflagen bekam. Die<br />
erste Gesprächsrunde zwischen<br />
der belarussischen Delegation und<br />
dem IWF endete im November<br />
ohne Ergebnis. Seither zogen sich<br />
die Verhandlungen weiter hin. Das<br />
belarussische Innenministerium<br />
behauptete selbstsicher, man sei<br />
sich im Prinzip einig. Lediglich<br />
die „technischen Details konkreter<br />
politischer Maßnahmen“ müssten<br />
„spezifiziert werden“.<br />
Minsk hatte nicht zu viel versprochen.<br />
Im Dezember fand eine<br />
zweite Verhandlungsrunde statt,<br />
die die Medien mit bislang nie<br />
dagewesener Aufmerksamkeit<br />
verfolgten. Sogar das amerikanische<br />
Wall Street Journal wollte<br />
wissen, ob man sich denn bald<br />
einig werde. Alexander Lukaschenko<br />
gab dem Flaggschiff der<br />
amerkanischen Wirtschaftspresse<br />
daraufhin ein Interview. Der IWF,<br />
so Lukaschenko „hat uns einen<br />
Verweis erteilt, da wir inmitten der<br />
Krisensituation die Gehälter erhöht<br />
haben“. Der Präsident stand<br />
jedoch zu der Lohnerhöhung im<br />
November, eine in liberalen IWF-<br />
Kreisen traditionell unpopuläre<br />
Maßnahme: „Besonders reich sind<br />
unsere Leute ja nicht. Eine kleine<br />
Lohnerhöhung wie diese fällt<br />
kaum ins Gewicht.“ Zwar stimmte<br />
Lukaschenko den Experten des<br />
IWF grundsätzlich zu, dass „man<br />
in Krisensituation die Löhne nicht<br />
erhöht.“ Eine Rücknahme der<br />
Entscheidung, fand der Präsident,<br />
stehe jedoch nicht zur Debatte. Sie<br />
sei „noch vor der Ausbreitung der<br />
Finanzkrise in Europa und Amerika<br />
getroffen“ worden.<br />
Ob es das Staatsoberhaupt mit seiner<br />
kategorischen Absage ernst gemeint<br />
hatte, darf getrost bezweifelt<br />
werden. Tatsächlich beeilte sich die<br />
belarussische Regierung, es dem<br />
IWF doch recht zu machen und<br />
legte kurz darauf ihre Verordnung<br />
Nr. 1818 vor, die die Senkungen<br />
des Tariflohns von 91.000 auf<br />
77.000 <strong>Belarus</strong>sische Rubel (BR)<br />
für die erste Lohngruppe vorsieht.<br />
Dementsprechend sanken die im<br />
November gerade erst erhöhten<br />
Beamtenlöhne und kehrten praktisch<br />
auf das Ausgangsniveau vom<br />
Oktober zurück, das bei 73.000 BR<br />
gelegen hatte. Der belarussische<br />
Wirtschaftsminister Andrej Tur<br />
begründete dies auch sofort mit<br />
der Finanzkrise. Der Konjunkturabschwung,<br />
so Tur, sei für die<br />
belarussische Exportwirtschaft ein<br />
herber Schlag, der zur Senkung der<br />
Steuereinnahmen geführt habe.<br />
Das neue wirtschaftspolitische<br />
Regierungsziel laute deshalb, „die<br />
stabile Wirtschaftsentwicklung<br />
aufrecht zu erhalten, möglicherweise<br />
in einem weniger rasanten<br />
Tempo, jedoch ohne Rezession.”<br />
Anfang Dezember legte Präsident<br />
Lukaschenko nach. Beim Treffen<br />
mit Premier Sidorskij und Nationalbankchef<br />
Pjotr Prakapowitsch<br />
forderte der Präsident, dass „die<br />
gesamte Regierung zu einem Handelsministerium“<br />
werden müsse.<br />
Offenbar ging der Staat auch in<br />
anderen Fragen auf den IWF zu.<br />
Der Fonds hatte vorgeschlagen,<br />
staatliche Förderungsprogramme<br />
zusammenzukürzen. Daraufhin<br />
verkündete Premier Sidorskij, dass<br />
die staatlichen Ausgaben um 5<br />
Bio.BR (ungefähr 2,3 Mrd. Dollar)<br />
schrumpfen sollten – das wären<br />
ungefähr 12 % der Staatsausgaben.<br />
Lukaschenko stimmte dem zu und<br />
bekräftigte, einzig die Ausgaben<br />
im Gesundheitsweisen sollten auf<br />
dem bisherigen Niveau bleiben.<br />
Auf die <strong>Belarus</strong>sen kommen wohl<br />
demnächst zudem höhere Lebenshaltungskosten<br />
zu, denn der IWF<br />
hatte gefordert, die Tarife für kommunale<br />
Leistungen anzuheben.<br />
Lukaschenko gab sich auch hier<br />
einsichtig und erklärte im Wall<br />
Street Journal, dass „weniger als<br />
die Hälfte der Bevölkerung für<br />
kommunale Leistungen zahlt, dem<br />
Rest erweisen wir Zuwendungen...<br />
Allmählich kommen auch wir,<br />
so wie Sie in Amerika, zu dem<br />
Schluss, dass die Bevölkerung zu<br />
100 % für kommunale Leistungen<br />
selbst aufkommen muss.“<br />
Kredite aufnehmen ist schön – sie<br />
zurückzahlen weniger, wie <strong>Belarus</strong><br />
schon bald feststellen wird.<br />
Denn der erste Zahltag rückt bedrohlich<br />
näher: Die belarussischen<br />
Auslandsschulden des Landes<br />
betrugen im ersten Halbjahr 2008<br />
14,1 Mrd. Dollar, davon haben<br />
66 % kurze Laufzeiten. 2 Mrd.<br />
Dollar sind Staatsanleihen, der Anteil<br />
der Banken beträgt ungefähr<br />
3 Mrd. Dollar. Der fehlende Betrag<br />
sind Schulden von Unternehmen.<br />
Damit hat nicht nur der Staat<br />
ein Problem, in Zeiten sinkender<br />
Steuereinnahmen seine Schulden<br />
zurückzuzahlen, sondern auch<br />
die verschuldeten Privat- und<br />
Staatsunternehmen, deren Absätze<br />
wegen des weltweiten Konjunkturabschwungs<br />
einbrechen werden.<br />
Experten prognostizieren deshalb,<br />
dass die noch vor kurzem aufgenommenen<br />
Kredite vor allem<br />
in den Unternehmen für Kopfschmerzen<br />
sorgen werden.<br />
1 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 1
Wirtschaft Wirtschaft<br />
Saure Milchkombinate<br />
(Alexander dautin, Minsk) die staatliche russische Landwirtschaftskontrolle unterzog im Herbst belarussische<br />
Lebensmittelfirmen einer umfassenden Prüfung. Das niederschmetternde Ergebnis: Milch und<br />
Käse in 20 belarussischen Kombinaten erfüllen nicht russische Qualitätsstandards. die belarussische seite<br />
wittert ein Politikum.<br />
Zumal es die russischen Käse- und<br />
Milchinspektoren nicht bei der<br />
punktuellen Kritik beließen, sondern<br />
gleich zum Rundumschlag<br />
ausholten. Das belarussische Kontrollsystem,<br />
so die Spezialisten<br />
aus Moskau, könne grundsätzlich<br />
keine ungefährliche Lebensmittelproduktion<br />
garantieren.<br />
Warum die Russen trotzdem 135<br />
von 141 überprüften Firmen ihr<br />
OK gaben, blieb ihr Geheimnis.<br />
Vielleicht steht es um die belarussische<br />
Landwirtschaft doch ja<br />
nicht so schlecht, und Russland<br />
wollte lediglich die belarussischen<br />
Produzenten in ihrem Exporteifer<br />
dämpfen. Denn <strong>Belarus</strong> produziert<br />
jährlich 6,8 Millionen Tonnen<br />
Milch, von denen der Binnenmarkt<br />
nur 3 Millionen aufnimmt, und<br />
ist deshalb auf den Export von<br />
Milchprodukten angewiesen. Das<br />
bestätigt auch der Wirtschaftsexperte<br />
Leonid Sajko, der die dominante<br />
Stellung des russischen<br />
Absatzmarkts unterstreicht: „Wir<br />
verkaufen heute 95 Prozent unserer<br />
Milch und 80 Prozent des<br />
Fleischs nach Russland“, so Sajko.<br />
Mit anderen Worten: <strong>Belarus</strong>sische<br />
Fabrikanten sind abhängig von<br />
russischen Abnehmern. Europa<br />
bleibt den belarussischen Milchproduzenten<br />
indes verschlossen,<br />
da nur 2 Prozent der Milch den<br />
strengen europäischen Qualitätsstandards<br />
gerecht werden und<br />
belarussische Milch zudem teurer<br />
ist als europäische.<br />
Abhängigkeit macht nervös. Deshalb<br />
brach die wichtigste Hygieneexpertin<br />
und stellvertretende<br />
Gesundheitsministerin Walentina<br />
Katschan persönlich eine Lanze für<br />
belarussische Bauernhöfe. „Wenn<br />
die russischen Kontrolleure Recht<br />
hätten mit ihrem Negativurteil,<br />
würden doch in <strong>Belarus</strong> die Erkrankungen<br />
in Folge von niedriger<br />
Lebensmittelqualität zunehmen.<br />
Sie nehmen aber ab! Zum Beispiel<br />
hat es 2008 über 56 Prozent weni-<br />
Selbständige bald flüssig<br />
ger Fälle von bakterieller Darminfektion<br />
gegeben als im letzten<br />
Jahr. Diese Entscheidung riecht<br />
nach Politik“, erklärte Katschan<br />
und meinte damit wohl, dass die<br />
Russen ihren eigenen Binnenmarkt<br />
vor billiger belarussischer Konkurrenz<br />
schützen wollen.<br />
An den Kontrollstandards könne<br />
es jedenfalls nicht liegen, findet<br />
die belarussische staatliche Kontrollbehörde.<br />
Deren Vertreter<br />
Walerij Koreschkow erklärte, dass<br />
die Qualität „nach internationalen<br />
Standards“ überprüft würde. Wie<br />
dem auch sei, wer Recht hat, ist<br />
in der harten Welt der Wirtschaft<br />
meistens egal, denn die Bedingungen<br />
stellt derjenige, der die<br />
bessere Position hat. Das sind<br />
zweifellos die russischen Milchkäufer.<br />
Also werden die belarussischen<br />
Milchfabriken sich entweder<br />
neue Absatzmärkte suchen<br />
müssen – oder den Forderungen<br />
der Kontrolleure nachgeben.<br />
(Andrej Alexandrowitsch, Minsk) im Oktober eröffnete in Minsk die erste belarussische bank für Kleinunternehmer<br />
(BBMB), finanziert von großen westlichen Kreditinstituten. Ziel sind 10 bis 15 Prozent<br />
Marktanteil.<br />
Unter den Gründern der Bank<br />
sind sowohl die deutsche Commerzbank<br />
und die amerikanische<br />
ShoreBank International als auch<br />
staatliche Förderbanken wie die<br />
Kreditanstalt für Wiederaufbau<br />
und die Europäische Bank für Wiederaufbau<br />
und Entwicklung. Das<br />
relativ bescheidene Zielsegment<br />
am Markt von 10 bis 15 Prozent<br />
hält der frischgebackene Leiter<br />
der Bank, Defdariani Sejt, für realistisch:<br />
„Es gibt bereits größere<br />
Banken mit einem besseren Filialnetz<br />
in <strong>Belarus</strong>“, so Sejt. „Dennoch<br />
können wir die Konkurrenz<br />
beleben und für Innovationen auf<br />
dem Markt sorgen.“ Als potenzielle<br />
Klienten macht er sowohl<br />
Selbständige als auch Kleinunternehmer<br />
aus, die zehn und mehr<br />
Angestellte haben. Etwa 10.000<br />
Euro soll die durchschnittliche<br />
Kreditsumme betragen, ein Minimalkredit<br />
beträgt bescheidene 500<br />
Euro. Neben den 7 Millionen Euro<br />
Eigenkapital soll die BBMB in den<br />
nächsten zwei Jahren etwa 5 Millionen<br />
Euro an Investitionsgeldern<br />
von ihren Aktionären bekommen.<br />
Eine solide Basis in Zeiten von<br />
kreditunwilligen Großbanken,<br />
die durch die Finanzkrise gebeutelt<br />
sind. Vielleicht profitiert die<br />
BBMB ja auch von der Vorsicht der<br />
Konkurrenz und kann sich einen<br />
höheren Marktanteil erkämpfen<br />
als die bisher geplanten 10 bis 15<br />
Prozent.<br />
Große Steuerreform<br />
(Alexander dautin, Minsk) Wovon die FdP in deutschland seit Jahrzehnten träumt – die belarussische<br />
regierung hat es innerhalb kürzester Zeit wahr werden lassen. Ab 2009 zahlen alle steuerzahler eine einheitliche<br />
einkommenssteuer von zwölf Prozent. doch wer sind die Gewinner der reform?<br />
Momentan führen Erwerbstätige<br />
in <strong>Belarus</strong> nach einer progressiven<br />
Einkommenssteuerskala zwischen<br />
9 und 36 Prozent ihres Einkommens<br />
an den Staat ab. Durch die<br />
Reform werden die Steuerzahler<br />
um für belarussische Verhältnisse<br />
beeindruckende 670 Millionen<br />
Euro entlastet, was etwa 1,3 Prozent<br />
des BIP entspricht.<br />
Experten in Wirtschaftskreisen<br />
aller Couleur sind sich im Prinzip<br />
einig, dass die Reform eine gute<br />
Idee ist: Geringerer Verwaltungsaufwand<br />
und geringere Steuerbelastung<br />
schaden wohl kaum<br />
Staat, Wirtschaft und Kaufkraft.<br />
Fragt sich nur, wer genau von<br />
der Reform profitiert. Der Leiter<br />
des Wirtschafts-Thinktanks<br />
„Strategija“ und erklärte Liberale<br />
Leonid Sajko findet es verdächtig,<br />
wie schnell die Reform durchgepeitscht<br />
wurde. „Zehn Jahre“, so<br />
Sajko, „redeten wir auf Regierung<br />
und Abgeordnete ein und erklärten<br />
ihnen, dass ein progressives<br />
Steuersystem ein Anachronismus<br />
ist. Zehn Jahre keine Reaktion<br />
– und nun ging alles blitzschnell.<br />
Das ist keine Reform für Studenten,<br />
Straßenkehrer und Krankenschwestern,<br />
sie hilft der Nomenklatur<br />
und all jenen, die sich am<br />
Straatstrog sattfressen dürfen“.<br />
Der Experte rechnet vor, dass vor<br />
allem die bisher relativ hoch besteuerten<br />
großen Einkommen nun<br />
deutlich weniger besteuert werden<br />
– für einen Geringverdiener<br />
steige die Steuer sogar von neun<br />
auf zwölf Prozent. Unternehmer<br />
Blumenbusiness trocknet aus<br />
indes, so Sajko, hätten wenig<br />
von der Reform, da sie nach wie<br />
vor 36 Prozent an Sozialsteuern<br />
zu zahlen hätten. Und hier sind<br />
Steuersenkungen wohl kaum zu<br />
erwarten, weil Rentenexperten bereits<br />
heute eine Unterfinanzierung<br />
des Systems bei einer sich verformenden<br />
Alterspyramide beklagen.<br />
Als sicher kann indes gelten, dass<br />
die Regierung das neue Loch im<br />
Budget wird stopfen wollen. Es<br />
stellt sich also die Frage nach den<br />
Verlierern der Reform. Hoch im<br />
Kurs stehen die Kleinen und Mittleren<br />
Unternehmen, die der Staat<br />
regelmäßig bei Finanzengpässen<br />
anzapft. Im schlimmsten Fall<br />
könnte die Große Steuerreform<br />
somit zu einer Umverteilung von<br />
Geringerverdienern und Mittelstand<br />
nach oben führen.<br />
(sergej Glagoljew, Minsk) im Herbst herrschte in belarussischen blumengeschäften gähnende Leere. nun<br />
sind rosen, Tulpen und nelken wiedergekehrt – doch für wie lange?<br />
<strong>Belarus</strong>sische Frauen sind verrückt<br />
nach Blumen, weshalb an Feiertagen<br />
tausende Männer mit Rosensträußen<br />
durch Minsker Straßen<br />
ziehen. Im Oktober war Schluss<br />
mit Bunt: Zuerst verschwanden<br />
die Sträuße von den Straßen, dann<br />
einige Geschäfte, und am Ende boten<br />
die übriggebliebenen Händler<br />
wie zum Hohn nur ein paar welke<br />
Exemplare niederer Qualität an.<br />
Was war geschehen?<br />
Die belarussische Regierung hatte<br />
die Anordnung Nr. 183 in Kraft<br />
gesetzt. Darin wurde Importeuren<br />
untersagt, mehr als 60 Prozent ihres<br />
Einkaufspreises als Gewinn zu<br />
verbuchen. Was für Autohändler<br />
und Handy-Läden in Ordnung<br />
sein mag, ist für die belarussischen<br />
Blumenverkäufer kein Zustand:<br />
Kleine Blumenhändler kaufen<br />
in den Niederlanden in der Regel<br />
etwa 2000 Rosen ein, bis zu<br />
anderthalb Euro das Stück. 10<br />
Prozent des Selbstkostenpreises<br />
gehen an die Steuerbehörde, 80<br />
Prozent müssen die Händler in<br />
Minsk für einen Minikiosk von<br />
4,5 Quadratmetern an Miete und<br />
Gehältern zahlen. Und last but not<br />
least gehen 30 Prozent der empfindlichen<br />
Ware beim Transport<br />
nach <strong>Belarus</strong> kaputt. Damit sich<br />
das Geschäft also lohnt, schlugen<br />
die Blumenverkäufer bisher 120<br />
Prozent auf den Einkaufspreis auf.<br />
Die Regierung fand nun, dass es<br />
auch 60 Prozent täten.<br />
Trotz allem gelang es den belarussischen<br />
Unternehmern – wie<br />
so oft – auch bei der Blumenkrise,<br />
die staatlichen Auflagen kreativ<br />
zu meistern. Einige stellten auf<br />
qualitativ niedere, aber günstigere<br />
belarussische Blumen um,<br />
andere fanden sich entweder mit<br />
geringeren Gewinnen ab oder<br />
fälschten gleich ihre Bücher. Damit<br />
erstrahlten die belarussischen Blumengeschäfte<br />
vor Neujahr wieder<br />
in alter Pracht, und am Abend des<br />
31. Dezember konnte man wieder<br />
tausende Männer beobachten, die<br />
üppige Blumensträuße durch die<br />
Menschenmengen bugsierten. Wie<br />
lange der Blumenfrieden jedoch<br />
vorhält, hängt wohl davon ab, wie<br />
sich der Markt weiter entwickelt.<br />
Denn eins ist sicher: Die Profitmarge<br />
der Blumenhändler ist weitaus<br />
weniger komfortabel als noch vor<br />
drei Monaten.<br />
1 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 1
Chronologie<br />
Chronologie von 06.10.2008 bis 11.01.2009<br />
6.-12. Oktober<br />
Der russische Premierminister<br />
Wladimir Putin trifft sich in Minsk<br />
mit Alexander Lukaschenko. Es<br />
geht um Stabilisierungskredite<br />
sowie andere Zahlungsvorgänge.<br />
Der OSZE-Vorsitzende und finnische<br />
Außenminister Alexander<br />
Stubb trifft sich in Minsk mit<br />
seinem belarussischen Kollegen<br />
Sergej Martynow.<br />
Artur Finkewitsch, der stellvertretende<br />
Vorsitzende der oppositionellen<br />
Jugendorganisation „Junge<br />
Front“, muss nach einem Kampf<br />
um die Führung zurücktreten.<br />
In Moskau treffen sich Vertreter<br />
des russischen und belarussischen<br />
Verteidigungsministeriums zur<br />
gemeinsamen Sitzung.<br />
Kristiina Ojuland, stellvertretende<br />
estnische Parlamentssprecherin,<br />
erhält kein Visum für <strong>Belarus</strong>. Die<br />
Politikerin wollte sich mit Oppositionsvertretern<br />
treffen.<br />
Das Europäische Parlament schlägt<br />
in einer Resolution zu <strong>Belarus</strong> vor,<br />
eine „Road Map“ für den Dialog<br />
zu erarbeiten und die Sanktionen<br />
probeweise aufzuheben.<br />
Alexander Lukaschenko trifft in<br />
Bischkek, Kirgisien, zu Sitzungen<br />
der GUS und der Eurasischen<br />
Wirtschaftsgemeinschaft über die<br />
Finanzkrise ein.<br />
13.-19. Oktober<br />
Die EU-Außenminister heben in<br />
Luxemburg die Einreiseverbote<br />
gegen 37 belarussische Beamte,<br />
darunter Präsident Lukaschenko,<br />
für ein halbes Jahr auf.<br />
Der belarussische Außenminister<br />
Sergej Martynow trifft sich<br />
in Luxemburg mit Javier Solana,<br />
Benita Ferrero-Waldner und Alexander<br />
Stubb.<br />
Die lettische Firma „Bioplast“<br />
plant den Bau eines Windparks in<br />
<strong>Belarus</strong> mit vierzehn Anlagen.<br />
Der belarussische Wirtschaftsminister<br />
Nikolaj Sajtschenko sieht<br />
<strong>Belarus</strong> nur durch teurere Kredite<br />
von der Finanzkrise betroffen.<br />
Im Bundestag treffen sich Experten<br />
zum Fachgespräch „<strong>Belarus</strong> nach<br />
den Wahlen“. Vier belarussische<br />
Menschenrechtler bekommen kein<br />
deutsches Visum.<br />
20.-26. Oktober<br />
Gazprom-Sprecher Stanislaw<br />
Zygankow erklärt, der Fall des Ölpreises<br />
führe im zweiten Halbjahr<br />
2009 auch zu geringeren Gaspreisen<br />
für Partner wie <strong>Belarus</strong>.<br />
Alexej II., Oberhaupt der Russisch-<br />
Orthodoxen Kirche, besucht Minsk<br />
zum 1020-jährigen Jubiläum der<br />
Christianisierung und trifft auch<br />
Präsident Lukaschenko.<br />
Nach Angaben des belarussischen<br />
Statistikkomitees betrug das<br />
Durchschnittsgehalt in <strong>Belarus</strong><br />
im September etwa 320 Euro.<br />
Der stellvertretende tschechische<br />
Außenminister Tomas Pojar trifft<br />
zum ersten bilateralen ministeriellen<br />
Dialog seit sechs Jahren in<br />
Minsk ein.<br />
EU-Generalsekretär Javier Solana<br />
hält es für verfrüht, über die Absenkung<br />
von Visagebühren für<br />
<strong>Belarus</strong>sen zu reden.<br />
Die regierungstreue Organisation<br />
„Belaja Rus“ hält ihre erste Mitgliederversammlung<br />
in Minsk ab.<br />
Präsident Lukaschenko trifft sich<br />
in Moskau mit seinem russischen<br />
Kollegen Dmitrij Medwedjew.<br />
Themen sind vor allem der Gaspreis<br />
und die Finanzkrise.<br />
27. Oktober – 2. november<br />
Das neugewählte belarussische<br />
Parlament konstituiert sich und<br />
wählt Wladimir Andrejtschenko,<br />
Ex-Governeur des Witebsker Gebiets,<br />
zum Sprecher.<br />
Die <strong>Belarus</strong>sische Volksfront feiert<br />
ihr 20-jähriges Jubiläum.<br />
Präsident Lukaschenko fordert<br />
von Russland finanzielle Unterstützung<br />
für politische Loyalität.<br />
Präsident Lukaschenko besetzt<br />
vier Posten in den Streitkräften<br />
sowie dem KGB neu.<br />
Der Außenminister von Nicaragua,<br />
Samuel Santos Lopez, trifft in<br />
Minsk Präsident Lukaschenko.<br />
Der lybische Revolutionsführer<br />
Muammar al-Gaddafi trifft sich<br />
in Minsk mit Präsident Lukaschenko.<br />
3.-9. november<br />
Eine Delegation der Europäischen<br />
Kommission trifft in Minsk zu<br />
Gesprächen über einen möglichen<br />
Dialog ein.<br />
Die Organisation des Vertrags für<br />
Kollektive Sicherheit hat einen<br />
Vertrag über eine gemeinsame<br />
Luftabwehr erarbeitet.<br />
Russische Lebensmittelkontrolleure<br />
verbieten belarusssischen<br />
Firmen Milchprodukte wegen Gesundheitsgefahr<br />
zu importieren.<br />
Nach offiziellen Angaben hat der<br />
Export von <strong>Belarus</strong> in die Ukraine<br />
während der ersten zehn Monate<br />
des Jahres um knapp 100 Prozent<br />
auf über vier Milliarden Dollar<br />
zugenommen.<br />
In einer Umfrage sehen sich 92 Prozent<br />
der belarussischen Manager<br />
von der Finanzkrise betroffen.<br />
10.-16. november<br />
In Minsk trifft sich der stellvertretende<br />
polnische Außenminister<br />
Jan Borkowski mit seinem<br />
belarussischen Kollegen Walerij<br />
Woronetzkij.<br />
Präsident Lukaschenko entlässt<br />
den stellvertretenden Generalstaatsanwalt<br />
Kuprianowitsch<br />
sowie seinen Minsker Kollegen<br />
Snegir wegen Korruption.<br />
Das Industriewachstum in <strong>Belarus</strong><br />
betrug in den ersten zehn Monaten<br />
des Jahres über 13 Prozent – der<br />
höchste Wert in der GUS, wie deren<br />
Statistikkomitee mitteilt.<br />
In Minsk wird für etwa 8000 Euro<br />
das erste belarussische Null-Energie-Haus<br />
gebaut und eingeweiht.<br />
Alexander Lukaschenko erklärt,<br />
<strong>Belarus</strong> werde „sobald möglich”<br />
moderne russische „Iskander“-<br />
Luftabwehrraketen stationieren.<br />
Robert Wood, Vertreter der US-<br />
Regierung, kritisiert dies.<br />
17.-23. november<br />
In London eröffnet Premierminister<br />
Sidorskij das belarussische<br />
Investitionsforum und trifft sich<br />
mit britischen Parlamentariern.<br />
Das belarussische Außenministerium<br />
gestattet der Friedrich-Ebert-<br />
Stiftung, ihre Arbeit in <strong>Belarus</strong><br />
wieder aufzunehmen.<br />
Die internationale Arbeitsorganisation<br />
stellt fest, dass <strong>Belarus</strong> nach<br />
wie vor die Gewerkschaftsfreiheit<br />
verletze.<br />
24.-30. november<br />
Hans-Jochen Schmidt, Chef der<br />
OSZE-Mission in <strong>Belarus</strong>, kritisiert,<br />
das neue Gesetz über die<br />
Massenmedien entspräche nicht<br />
den Standards der Organisation.<br />
In Brüssel findet die dritte Runde<br />
der belarussisch-europäischen<br />
Gespräche zur Zusammenarbeit<br />
im Energiebereich statt.<br />
Nach unabhängigen Umfragen<br />
des NISIPI würden bei einer Präsidentschaftswahl<br />
über 40 Prozent<br />
der <strong>Belarus</strong>sen für Alexander Lukaschenko<br />
stimmen.<br />
Premier Sidorskij fliegt nach Moskau<br />
zu Gesprächen mit Bürgermeister<br />
Jurij Luschkow.<br />
Die belarussisch-deutsche Arbeitsgruppe<br />
für Handel und Investitionen<br />
trifft sich in Berlin. Thema<br />
ist vor allem die Zertifizierung<br />
belarussischer Waren.<br />
1.-7. dezember<br />
<strong>Belarus</strong> bittet um eine Verschiebung<br />
der geplanten Sitzung des<br />
belarussisch-russischen Unionsstaatsrats,<br />
da über einige Fragen<br />
Uneinigkeit besteht.<br />
Das Europäische Parlament erklärt<br />
zur Östlichen Partnerschaft,<br />
<strong>Belarus</strong> könnte in das Programm<br />
einbezogen werden, wenn sich die<br />
Menschenrechtslage verbessere.<br />
Benzin und Diesel werden an belarussischen<br />
Tankstellen um zehn<br />
Prozent billiger.<br />
Außenminister Martynow kritisiert<br />
beim OSZE-Treffen in Helsinki,<br />
die Organisation sei nicht in<br />
der Lage, reale Bedrohungen wie<br />
Terrorismus abzuwehren.<br />
8.-14. dezember<br />
Abchasien und Süd-Ossetien<br />
beantragen beim belarussischen<br />
Parlament ihre Anerkennung.<br />
Der iranische Außenminister<br />
Manutschehr Mottaki trifft sich in<br />
Minsk mit seinem Kollegen Sergej<br />
Martynow.<br />
Das belarussische Wirtschaftsministerium<br />
bereitet die schrittweise<br />
Liberalisierung der Wirtschaft für<br />
Anfang 2009 vor.<br />
NATO-Vertreter Robert Simmons<br />
erklärt in Minsk, die Allianz könne<br />
versuchen, ihre Beziehungen zu<br />
<strong>Belarus</strong> wieder zu aktivieren.<br />
Premier Sidorskij und sein russischer<br />
Kollege Putin besprechen<br />
bei einem Treffen Fragen der wirtschaftlichen<br />
Zusammenarbeit.<br />
15.-21. dezember<br />
Das belarussische Justizministerium<br />
registriert die oppositionelle<br />
NGO „Für die Freiheit“ von Alexander<br />
Milinkewitsch. Javier Solana<br />
begrüßt dies.<br />
Der Beauftragte der Europäischen<br />
Kommission für <strong>Belarus</strong>, José Manuel<br />
Pinto Teixeira,, unterschreibt<br />
in Minsk einen Vertrag über Zusammenarbeit.<br />
Alexander Lukaschenko hebt<br />
die Ausreisebeschränkungen für<br />
belarussische Kinder über die<br />
Feiertage auf.<br />
Chronologie<br />
Ex-Präsidentschaftskandidat Alexander<br />
Kosulin tritt aus der Sozialdemokratischen<br />
Partei aus, die ihn<br />
als Vorsitzenden abgewählt hat.<br />
22.-28. dezember<br />
Die Präsidenten Lukaschenko und<br />
Medwedjew einigen sich in Moskau<br />
auf den Gaspreis 2009.<br />
Nigel Gould-Davies, britischer<br />
Botschafter in Minsk, erklärt die<br />
Beziehungen seines Landes mit<br />
<strong>Belarus</strong> 2008 für klar verbessert.<br />
Präsident Lukaschenko genehmigt,<br />
wie von Unternehmern gefordert,<br />
Steuerrabatte für private<br />
Importunternehmen, die Anfang<br />
2009 auslaufen sollten.<br />
Das belarussische Atomkraftwerk<br />
wird von „Rusatom“ aus Russland<br />
gebaut, erklärt ein Sprecher des<br />
belarussischen Katastrophenschutzministeriums.<br />
29. dezember – 4. Januar<br />
Präsident Lukaschenko erklärt<br />
zu Neujahr, <strong>Belarus</strong> werde die<br />
Finanzkrise bewältigen.<br />
Die Nationalbank wertet den <strong>Belarus</strong>sischen<br />
Rubel um 20 Prozent<br />
ab. An Wechselstuben herrscht<br />
großer Andrang.<br />
Die Oppositionskoalition VDK<br />
will 2009 versuchen, die Wahlgesetzgebung<br />
zu ändern, erklärt<br />
der stellvertretende Vorsitzende<br />
Anatolij Lebedko.<br />
5.-11. Januar<br />
Präsident Lukaschenko befördert<br />
Natallja Petkewitsch von der einfachen<br />
zur ersten Stellvertreterin<br />
der Präsidialadministration.<br />
Gazprom erhöht zum zweiten Mal<br />
seit Neujahr die Gaslieferungen<br />
durch <strong>Belarus</strong> für den Europäischen<br />
Markt. Grund ist der Lieferstreit<br />
mit der Ukraine.<br />
Die Leitung für die Reform von<br />
Staatseigentum lässt verlauten,<br />
dass 2009 200 Firmen in Aktiengesellschaften<br />
umgewandelt werden<br />
sollen, 130 sollen privatisiert<br />
werden.<br />
1 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 1
NGOs & Gesellschaft<br />
Neues Holocaustgedenken in <strong>Belarus</strong><br />
(SB) Im Oktober fanden die Gedenkfeierlichkeiten zum 65. Jahrestag der Auflösung des Minsker Ghettos<br />
statt. im beisein von Vertretern der städte Köln, bonn, düsseldorf, dortmund, siegen und berlin trauerten<br />
deutsche und belarussen gemeinsam um die Opfer des Holocaust. Präsident Lukaschenko betonte in seiner<br />
rede vor allem die rolle der jüdischen bevölkerung für die belarussische Widerstandsbewegung.<br />
Alexander Lukaschenko eröffnete<br />
die Trauerfeierlichkeiten zum 65.<br />
Jahrestag der Auflösung des Ghettos<br />
an der Minsker Gedenkstätte<br />
Jama mit berührenden und versöhnlichen<br />
Worten. In seiner Rede<br />
wies er auf die herausragende<br />
Rolle der jüdischen Bevölkerung in<br />
der belarussischen Widerstandsbewegung<br />
hin. Viele Juden hätten<br />
sich den Partisanen angeschlossen<br />
und Seite an Seite mit den <strong>Belarus</strong>sen<br />
gekämpft. Sie hätten, so der<br />
Präsident, „eine besondere Seite<br />
in der Geschichte unseres Volkskampfes<br />
geschrieben“.<br />
Zu den Trauerfeierlichkeiten waren<br />
auch viele Zeitzeugen aus dem<br />
Ausland gekommen. Zum Beispiel<br />
Tamara Resnik, die aus Israel anreiste:<br />
„Die traurigen Ereignisse<br />
werden für immer in unseren Herzen<br />
bleiben. Dass jetzt in Minsk<br />
Gedenkfeiern stattfinden, freut<br />
uns aber sehr, denn es zeigt, dass<br />
den <strong>Belarus</strong>sen das Schicksal der<br />
jüdischen Bevölkerung am Herzen<br />
liegt.“Auch Leonid Lewin, Träger<br />
des Bundesverdienstkreuzes und<br />
Präsident des Verbandes Jüdischer<br />
Gemeinden in <strong>Belarus</strong>, machte auf<br />
die Wichtigkeit des Holocaustgedenkens<br />
in <strong>Belarus</strong> aufmerksam:<br />
„Die Aufarbeitung der Geschichte<br />
und die Hilfe, die wir dabei aus<br />
Deutschland erfahren, ist sehr<br />
wichtig für uns“. In seiner Ansprache<br />
vor rund 1200 Trauergästen<br />
hob Lewin auch die Rolle jener<br />
<strong>Belarus</strong>sen hervor, die unter Einsatz<br />
ihres eigenen Lebens Juden<br />
vor dem Tod bewahrt hatten.<br />
Peter Junge-Wentrup, Geschäftsführer<br />
des Internationalen <strong>Bildungs</strong>-<br />
und Begegnungswerks<br />
(IBB) hatte die deutsche Beteiligung<br />
an den Gedenkstunden<br />
maßgeblich mit beeinflusst und<br />
sieht in den Gedenkfeierlichkeiten<br />
ein Novum innerhalb der belarussischen<br />
Erinnerungskultur: „In der<br />
Vergangenheit konzentrierte sich<br />
die offizielle Erinnerungskultur<br />
auf Kriegsveteranen und Partisanen,<br />
aber niemand gedachte der<br />
Opfer in der Zivilbevölkerung<br />
und der zu Tausenden ermordeten<br />
jüdischen Mitbürger.“<br />
Insgesamt nahmen an den Feierlichkeiten<br />
rund 100 deutsche<br />
Gäste teil. Auch Bundesminister<br />
a.D. Manfred Stolpe, der auf<br />
Einladung des IBB Dortmund gekommen<br />
war, hob die Bedeutung<br />
der Erinnerung an Vergangenes<br />
hervor: „Sich zu erinnern und zu<br />
gedenken ist der beste Schutz gegen<br />
Vergessen und Verdrängen.<br />
Nur wer sich der Vergangenheit<br />
bewusst ist, kann auch die Zukunft<br />
gestalten.“<br />
Die Städte Bonn, Köln, der Rhein-<br />
Sieg-Kreis sowie Mitglieder und<br />
Förderer der Gedenkstätte Bonn<br />
stifteten einen Gedenkstein für<br />
die verschleppten und ermordeten<br />
Juden aus den Orten des<br />
Rheinlandes. „Der Gedenkstein ist<br />
ein Zeichen dafür, dass die Opfer<br />
der Shoah nicht vergessen sind.<br />
Er zeigt, dass wir das ehrende<br />
Andenken an sie bewahren möchten“,<br />
betonte das Kölner Ratsmitglied<br />
Peter Sörries. Der Bonner<br />
Bürgermeister, Helmut Joisten,<br />
bekräftigte: „Es ist der Stadt Bonn<br />
ein Bedürfnis, den Gedenkstein als<br />
Mahnmal zu übergeben, damit das<br />
unermessliche Leid, das den Opfern<br />
der Nationalsozialisten zugefügt<br />
wurde, nicht vergessen wird.<br />
Wir sehen die Städtepartnerschaft,<br />
die die Stadt Bonn mit Minsk verbindet,<br />
als wichtigen Beitrag, um<br />
unsere gemeinsame Zukunft zu<br />
gestalten.“ Die Städte Hamburg,<br />
Düsseldorf und Bremen hatten<br />
bereits zu früheren Zeitpunkten<br />
Gedenksteine zur Erinnerung an<br />
die Zwangsdeportierten aus ihren<br />
Städten aufgestellt.<br />
Ein weiteres Gesprächsthema<br />
während der Gedenkfeierlichkeiten<br />
war die geplante Errichtung<br />
einer Gedenkstätte für das Vernichtungslager<br />
Maly Trostenez,<br />
das in Bezug auf die Opferzahlen<br />
das viertgrößte Lager Europas<br />
war. Präsident Lukaschenko bekundete<br />
seine Unterstützung für<br />
eine zukünftige Gedenkstätte in<br />
Trostenez: „Wir haben beschlossen,<br />
eine majästetische Gedenkstätte<br />
in Trostenez zu errichten. Ich<br />
bin sicher, an ihrem Bau werden<br />
nicht nur <strong>Belarus</strong>sen, sondern<br />
auch Freiwillige aus der ganzen<br />
Welt teilnehmen. Alle, denen der<br />
Humanismus etwas bedeutet, die<br />
sich echte Antifaschisten nennen.<br />
Das wird ein wirkliches gesamteuropäisches<br />
Denkmal sein.“ Auch<br />
die Stadt Köln will sich an den<br />
Arbeiten für die Gedenkstätte beteiligen,<br />
erste Kooperationsansätze<br />
besprach die deutsche Delegation<br />
mit der Minsker Stadtverwaltung.<br />
Insgesamt boten die Gedenkfeierlichkeiten<br />
nicht nur eine neue<br />
Form des Gedenkens über den<br />
Holocaust in <strong>Belarus</strong>, sondern<br />
auch einige vielversprechende<br />
Perspektiven für die deutschbelarussische<br />
Zusammenarbeit<br />
und die Hoffnung auf die lang<br />
erwartete Errichtung der Gedenkstätte<br />
Trostenez. Ob diese wirklich<br />
ein „gesamteuropäisches“ Projekt<br />
wird, ist noch ungewiss. Sicher<br />
ist, dass die Verantwortlichen auf<br />
beiden Seiten eine gemeinsame<br />
Sprache sprechen. Und das ist<br />
schon sehr viel.<br />
„Wendepunkt der staatlichen Sicht“<br />
NGOs & Gesellschaft<br />
Am Gedenken zum 65. Jahrestag der Auflösung des Minsker Ghettos war auch Leonid Lewin, Vorsitzender<br />
des Verbands der Jüdischen Gemeinden in belarus und Gedenkstättenarchitekt, beteiligt. Warum die<br />
Gedenkfeierlichkeiten einen Wendepunkt in der staatlichen erinnerungskultur bringen und was sich in<br />
den deutsch-belarussischen beziehungen noch verändern muss, erklärt Lewin im exklusivinterview.<br />
BP: Herr Lewin, bei den Gedenkfeierlichkeiten<br />
waren auch viele Vertreter<br />
aus deutschen Städten, deren Bürger<br />
unter den Nationalsozialisten daran<br />
beteiligt waren, Juden nach Minsk zu<br />
verschleppen. Wie wichtig war für Sie<br />
die Anwesenheit der deutschen Delegation<br />
bei den Feierlichkeiten?<br />
Lewin: Wissen Sie, früher wurden<br />
die Deutschen als Feinde<br />
betrachtet – aber seitdem ist viel<br />
Zeit vergangen. Das Bewusstsein<br />
der Menschen hat sich verändert.<br />
Wir betrachten die Deutschen als<br />
unsere Freunde, denen wir die<br />
Vergangenheit verziehen haben.<br />
Außerdem sind die heutigen Deutschen<br />
doch nicht jene, die damals<br />
Verbrechen begangen haben. Aus<br />
Deutschland kam der Aufbruch<br />
zum gegenseitigen Verständnis<br />
und zur Versöhnung. Die Anwesenheit<br />
der deutschen Delegation<br />
bei den Trauerfeierlichkeiten in<br />
Minsk war für uns sehr wichtig<br />
und hat uns sehr berührt. Die<br />
Deutschen, vor allem die Vertreter<br />
des IBB, sind bei diesem Anlass für<br />
uns zu Partnern geworden. Die<br />
Deutschen sind hierbei keinesfalls<br />
Statisten. Sie sind unsere Partner<br />
bei dieser Gedenkfeier, aber auch<br />
die Partner unserer Stadt und unseres<br />
Staates.<br />
Wie hat sich die belarussische Erinnerungskultur<br />
Ihres Erachtens nach dem<br />
Zerfall der Sowjetunion verändert?<br />
Ich hatte kürzlich Gelegenheit mir<br />
über Erinnerungskultur ausführlicher<br />
Gedanken zu machen. Für<br />
die Deutschen ist es beispielsweise<br />
selbstverständlich, die sowjetischen<br />
Kriegsgräber in Deutschland<br />
zu pflegen. Diese Art von<br />
Erinnerungskultur fehlt uns, und<br />
wir sollten uns darum bemühen,<br />
von anderen zu lernen. Die Sowjet-<br />
macht hat diesen Teil der Erinnerungskultur<br />
unterdrückt und alles<br />
von uns abgetrennt, was mit den<br />
Deutschen zu tun hatte, so dass<br />
mehrere Generationen mit Vorurteilen<br />
gegen Deutsche erzogen<br />
wurden. Es hieß, die Deutschen<br />
seien unsere Feinde, und damit<br />
war das Thema erledigt. Heutzutage<br />
ist die Erinnerungskultur in<br />
erster Linie darauf gerichtet, das<br />
Verschwinden der Erinnerung an<br />
den Faschismus zu verhindern.<br />
Einige Vertreter der Jüdischen Gemeinden<br />
in <strong>Belarus</strong> bemängeln, dass<br />
die belarussische Regierung in ihrer<br />
Erinnerungskultur dem Gedenken<br />
an den Holocaust nicht genügend<br />
Raum einräumen würde. Bei den<br />
Feierlichkeiten im Oktober hat Präsident<br />
Lukaschenko eine Rede gehalten.<br />
Hat sich das staatliche Verhältnis zu<br />
diesem Thema verändert?<br />
Zweifellos markiert der 65. Jahrestag<br />
der Auflösung des Ghettos<br />
einen Wendepunkt der staatlichen<br />
Sicht auf den Holocaust. Ehrlich<br />
gesagt hat es so etwas bei uns<br />
früher einfach nicht gegeben. Und<br />
jetzt, da der Präsident die besondere<br />
Rolle der Juden in der Widerstandsbewegung<br />
angesprochen<br />
hat, ist dies auch auf der staatlichen<br />
Führungsebene angekommen.<br />
Die Regierung hat alles dafür<br />
getan, diese Gedenktage auf dem<br />
höchsten Niveau abzuhalten.<br />
Warum verzögert sich die Errichtung<br />
eines Denkmals am Ort des ehemaligen<br />
Todeslagers Trostenez noch?<br />
Vor dem Krieg gab es an dieser<br />
Stelle ein KGB-Lager. Das wollte<br />
man vertuschen und bemühte<br />
sich zudem, die Opferzahl der<br />
sowjetischen Verbrechen um ein<br />
Vielfaches zu verkleinern. Nach<br />
dem Krieg wurde dort eine Müllhalde<br />
errichtet, was moralisch sehr<br />
problematisch ist. Noch in den<br />
60er und 70er Jahren gab es ein<br />
paar Bemühungen, ein Denkmal<br />
zu errichten. Schließlich wurde<br />
ein Obelisk errichtet, aber dieser<br />
kleine Gedenkstein steht nicht<br />
einmal am genauen Ort der Tragödie.<br />
Nun haben sich die Zeiten<br />
geändert, es wurde eine Trostenez-<br />
Gesellschaft gegründet, deren<br />
Mitgliedern das Schicksal von<br />
Trostenz nicht gleichgültig ist. Wir<br />
stehen schon in den Startlöchern.<br />
Das Wesentliche ist jetzt eine Finanzierung<br />
zu finden und dann einen<br />
Wettbewerb auszuschreiben,<br />
damit Trostenez ein einzigartiges<br />
Mahnmal in Europa werden kann.<br />
Schließlich ist es in Bezug auf die<br />
Opferzahlen das viertgrößte Lager<br />
Europas.<br />
In den deutsch-belarussischen Beziehungen<br />
wird viel für die Versöhnung<br />
getan. Was fehlt noch?<br />
Mir ist klar, dass man nicht jeden<br />
Tag mit solchen Gedenkfeierlichkeiten<br />
füllen kann. Aber das<br />
Problem liegt darin, dass unsere<br />
Bevölkerung sehr wenig darüber<br />
weiß, was auf der Ebene der<br />
deutsch-belarussischen Beziehungen<br />
passiert. Wenn jemand<br />
aber schlecht informiert ist, dann<br />
hat er automatisch den Eindruck,<br />
dass sich nichts tut. Weiterhin<br />
scheint mir, dass die Erinnerungskultur<br />
auf beiden Seiten auf höheren<br />
staatlichen Ebenen behandelt<br />
werden sollte. Politik und<br />
Wirtschaft ändern sich außerdem<br />
schnell, aber Kunst und Kultur<br />
bleiben und können uns helfen,<br />
einander näher zu kommen. So<br />
kann der kulturelle Dialog dazu<br />
beitragen, dass wir einander besser<br />
verstehen lernen.<br />
1 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 1
NGOs & Gesellschaft<br />
Nachruf Dr. Eberhard Heyken<br />
* 23. AuGusT 1935 - † 15. deZeMber 2008<br />
(Peter Junge-Wentrup, Thomas<br />
Nawrath, Prof. Dr. Gerhard Simon)<br />
Wir trauern um einen Freund. Am<br />
15. Dezember 2008 verstarb völlig<br />
überraschend Botschafter a. D. Dr.<br />
Eberhard Heyken im Alter von 73<br />
Jahren. Diese Mitteilung hat uns<br />
erschüttert und traurig gestimmt.<br />
Nun möchten wir uns von diesem<br />
engagierten Menschen auf gebührende<br />
Weise verabschieden.<br />
Ruhig und besonnen im Auftreten,<br />
dabei freundlich und offenherzig,<br />
so ist Eberhard Heyken vielen<br />
Menschen begegnet während<br />
seiner fast 40-jährigen Tätigkeit<br />
als Diplomat zwischen Kalkutta,<br />
Moskau, Washington, Kiew und<br />
Wien. Besonders verbunden war<br />
er der Sowjetunion und ihren<br />
Nachfolgestaaten; arbeitete er<br />
doch zweieinhalb Jahrzehnte in<br />
Moskau, Kiew und Minsk sowie<br />
im Sowjetunion-Referat des Auswärtigen<br />
Amtes. Auch im wohlverdienten<br />
Ruhestand, den er mit<br />
seiner Ehefrau Roswitha in Bonn<br />
verlebte, blieb Dr. Heyken „seinen“<br />
<strong>Belarus</strong>sen und Ukrainern<br />
weiter verbunden.<br />
So erinnert sich Professor Gerhard<br />
Simon (Pulheim): „Eberhard Heyken<br />
suchte den Kontakt zu den<br />
Osteuropa-Wissenschaftlern. Er<br />
konnte Fragen stellen und zuhören.<br />
Er war in der Lage, Zweifel<br />
zu äußern auch an der Politik, die<br />
er selbst zu verantworten hatte,<br />
und war rastlos in der Aufnahme<br />
von allem, was um ihn herum vor<br />
sich ging; stets mit Notizbuch und<br />
Stift bewaffnet, damit nur nichts<br />
verloren ging. Eberhard Heyken<br />
ging auf Menschen zu, selbst dann,<br />
wenn sie ganz anders waren als er.<br />
Oft habe ich seine Bescheidenheit<br />
bewundert, zum Beispiel als er sich<br />
nicht scheute, noch im Ruhestand<br />
an Sprachkursen des Ukrainicums<br />
teilzunehmen. Eberhard Heyken<br />
war nicht nur verbindlich, sondern<br />
gewinnend offen. Auch in schwierigen<br />
Situationen diskutierte er<br />
ohne zu lamentieren, immer den<br />
Blick nach vorn gerichtet. Es ist<br />
schwer vorzustellen, wie wir jetzt<br />
ohne ihn auskommen sollen.“<br />
Fast zwei Jahrzehnte pflegte Dr.<br />
Heyken enge Verbindungen mit<br />
dem Internationalen <strong>Bildungs</strong>-<br />
und Begegnungswerk (IBB) in<br />
Dortmund. IBB-Geschäftsführer<br />
Peter Junge-Wentrup erinnert<br />
sich: „Die intensive und fruchtbringende<br />
Beziehung begann im<br />
Juni 1991, als Eberhard Heyken<br />
als Gesandter der Deutschen Botschaft<br />
an der Grundsteinlegung<br />
der Internationalen <strong>Bildungs</strong>- und<br />
Begegnungsstätte Minsk teilnahm.<br />
Unsere Zusammenarbeit intensivierte<br />
sich, als er im Jahr 2002/03<br />
noch einmal aus dem Ruhestand<br />
zurück kam und die Leitung des<br />
OSZE-Büros in Minsk übernahm.<br />
In diesen zwei Jahren erlebte Eberhard<br />
Heyken die IBB-Arbeit direkt<br />
und knüpfte Kontakte zu zahlreichen<br />
Initiativen und Bürgerbewegungen.<br />
2003 wurde Eberhard<br />
Heyken auch Mitglied unseres Kuratoriums.<br />
Vor zwei Jahren regte<br />
er an, die Netzwerke von NGOs<br />
um eine ukrainische Dimension<br />
zu erweitern. Aus dieser Idee<br />
entstand das Partnerschaftsprogramm<br />
Ukraine. Eberhard Heyken<br />
war ein wichtiger Motor für<br />
das Programm, er hat gut beraten<br />
und viele Türen geöffnet; er war<br />
ein ausgesprochener Freund der<br />
Menschen in der Ukraine.“<br />
Überhaupt die Ukraine: Hier<br />
kämpfte der damalige Botschafter<br />
Eberhard Heyken (1996-2000) unermüdlich<br />
und letztlich erfolgreich<br />
für die Rückgabe des Kirchengebäudes<br />
und des Besitzes der<br />
deutschen lutherischen Gemeinde<br />
St. Katharina in Kiew. Bis heute<br />
ist die Kirchgemeinde Eberhard<br />
Heyken für seine uneigennützige<br />
Hilfe dankbar.<br />
Im Jahre 1998 besuchte Bundespräsident<br />
Roman Herzog die Ukraine.<br />
Botschafter Heyken öffnete ihm<br />
und den mitgereisten Wirtschaftsvertretern<br />
die Augen: Er warb<br />
dafür, dass gerade Deutschland<br />
ein elementares Interesse an Demokratie<br />
und wirtschaftlicher Prosperität<br />
in der Ukraine, aber auch<br />
an der Stärkung ihrer damals noch<br />
unscheinbaren Zivilgesellschaft<br />
habe. Innerhalb weniger Monate<br />
schlug diese Initiative Wurzeln:<br />
Unterstützt von den Fachleuten<br />
des Auswärtigen Amtes und der<br />
finanziellen Hilfe namhafter deutscher<br />
Firmen wurde am 5. Februar<br />
1999 in Bonn das Deutsch-Ukrainische<br />
Forum gegründet. Von<br />
Beginn an war Eberhard Heyken<br />
Mitglied des Vereinsvorstandes<br />
und seither ein engagierter Ideengeber,<br />
sachkundiger Berater und<br />
wenn nötig auch diplomatischer<br />
Unterhändler des Forums.<br />
Besondere Bedeutung maß Eberhard<br />
Heyken in seinem Wirken<br />
den persönlichen Begegnungen<br />
der Menschen bei. Er regte Städtepartnerschaften<br />
und Schülerreisen<br />
an, warb für den Austausch von<br />
Studenten und Wissenschaftlern,<br />
für politische und wirtschaftliche<br />
Kontakte. Gleichzeitig engagierte<br />
sich Eberhard Heyken auch<br />
für zahlreiche Hilfsprojekte von<br />
Deutschland nach <strong>Belarus</strong> und<br />
in die Ukraine. Manchmal wusste<br />
er mit einem Anruf in Berlin,<br />
Minsk oder Kiew Hindernisse aus<br />
dem Weg zu räumen, damit die<br />
dringend benötigten Hilfsgüter<br />
unbeschadet eintrafen. Ihm lagen<br />
die Menschen am Herzen. Und<br />
deshalb werden ihn so viele Menschen<br />
vermissen.<br />
Doch Eberhard Heyken hat uns ein<br />
Erbe hinterlassen, ein Vermächtnis.<br />
Seine tätige Nächstenliebe,<br />
sein praktiziertes Christsein, seine<br />
Hilfsbereitschaft ohne Beachtung<br />
von Position und Herkunft – das<br />
sollte uns Vorbild sein. Und so<br />
wollen wir uns dafür einsetzen,<br />
Nachruf Dr. Heinz Timmermann<br />
ein Freund der MensCHen in OsTeurOPA isT GesTOrben<br />
(Dr. Dieter Bach, Peter Junge-<br />
Wentrup) Wir trauern um einen<br />
Freund. Heinz Timmermann verstarb<br />
am 23.12.2008 nach kurzer<br />
Krankheit in seiner Heimatstadt<br />
Köln. Im Oktober 2008 konnte er<br />
seinen 70. Geburtstag auch mit<br />
Freunden aus Osteuropa feiern.<br />
Sein Tod hat uns völlig überrascht<br />
und erschüttert.<br />
Heinz Timmermann hat sich sein<br />
Leben lang mit den Ländern der<br />
ehemaligen Sowjetunion befasst –<br />
analytische Schärfe und ein breites<br />
Hindergrundwissen zeichneten<br />
seine Arbeiten aus. Dabei blieb<br />
es jedoch nicht: Er suchte nach<br />
Perspektiven in der Überwindung<br />
des Ost-West-Konfrontation und<br />
in der Gestaltung der Transformationsprozesse<br />
in Osteuropa.<br />
Heinz Timmermann ging es nicht<br />
um theoretische Modelle; er suchte<br />
vielmehr den Kontakt zu verschiedenen<br />
Akteuren der Politik, der<br />
Gesellschaft und den Menschen<br />
in Russland, <strong>Belarus</strong> und der<br />
Ukraine. Ihm waren dabei die<br />
Kontakte zu zivilgesellschaftlichen<br />
Initiativen wichtig. Er gründete<br />
deshalb Anfang der 90er Jahre die<br />
Mülheimer Initiative mit, die sich<br />
das Motto setzte „Von der Feindschaft<br />
zur Partnerschaft, von der<br />
Partnerschaft zur Freundschaft“.<br />
Dieter Bach, ehemaliger Leiter<br />
der Evangelischen Akademie<br />
Mülheim erinnert sich: „Er erwies<br />
sich als treuer und verlässlicher<br />
Freund. Er hielt Distanz zum<br />
politischen Tagesgeschäft. Hohe<br />
Sachkenntnis und die klare Analysen<br />
machten Heinz Timmermann<br />
zu einem unverzichtbaren Partner.<br />
Keine Schritte tat ich, ohne vorher<br />
seine Meinung zu hören und sie<br />
in den Planungen mit zu berücksichtigen.“<br />
Heinz Timmermann war mit seinen<br />
Analysen unmittelbar an der<br />
Gestaltung der Osteuropapolitik<br />
der Bundesregierung beteiligt und<br />
dies nicht nur in seiner beruflichen<br />
Funktion als Direktor der Abteilung<br />
für Russland und <strong>Belarus</strong> bei<br />
der Stiftung Wissenschaft und Politik.<br />
Seine Strategien, sowohl mit<br />
den Zivilgesellschaften in diesen<br />
Ländern zusammenzuarbeiten wie<br />
auch die Dialoge mit politischen<br />
Entscheidungsträgern zu suchen,<br />
zeigten praktische Wege auf.<br />
Heinz Timmermann hat die Arbeit<br />
des IBB Dortmund seit der<br />
Eröffnung der Internationalen <strong>Bildungs</strong>-<br />
und Begegnungsstätte „Johannes<br />
Rau“ Minsk aktiv begleitet.<br />
An vielen Partnerschaftskonferenzen<br />
war er mit Vorträgen beteiligt<br />
und er suchte den Dialog mit<br />
Partnern aus Osteuropa. Peter Junge-Wentrup,<br />
Geschäftsführer der<br />
IBB gGmbH Dortmund, schreibt:<br />
„Heinz Timmermann zeigte seit<br />
Dr. Heinz<br />
Timmermann †<br />
NGOs & Gesellschaft<br />
Eberhard Heyken nachzueifern<br />
– in seiner Menschenliebe, die sich<br />
auch aus seinem Gottvertrauen<br />
speiste.<br />
Beginn unserer Zusammenarbeit<br />
im Jahr 1994 ein großes Interesse<br />
an der Entwicklung der Zivilgesellschaften<br />
in Osteuropa und an zivilgesellschaftlichen<br />
Kooperationen.<br />
Gesellschaftlicher Wandel könne<br />
nur mit gewachsenen Zivilgesellschaften<br />
gestaltet werden. Er hatte<br />
die einmalige Gabe, die Analyse<br />
gesellschaftlicher Prozesse, die<br />
Vision von einem Gesamteuropa<br />
und die Entwicklung von Strategien<br />
zusammenzudenken. Heinz<br />
Timmermann war sowohl in der<br />
Wissenschaft wie auch in der Politik<br />
und bei den gesellschaftlichen<br />
Initiativen zu Hause – er hat viele<br />
Türen geöffnet.“<br />
In Gesprächen standen immer<br />
die Argumente im Mittelpunkt.<br />
Heinz Timmermann war ein bescheidener<br />
Mann, der Spaß an der<br />
Diskussion und dem Austausch<br />
hatte; er hinterlässt eine große<br />
Lücke, wo heute unklar ist, wie<br />
sie geschlossen werden kann. Es<br />
überwiegt jedoch die Dankbarkeit,<br />
Vision und Projekte gemeinsam<br />
entwickelt zu haben.<br />
0 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 1<br />
Foto: privat
NGOs & Gesellschaft<br />
„Keine Alternative zum Dialog“<br />
(Ms) schanna Litwina ist neue Trägerin des Menschenrechtspreises der Friedrich-ebert-stiftung. die<br />
Vorsitzende des unabhängigen belarussischen Journalistenverbands bekam die Auszeichnung im dezember<br />
in berlin verliehen. Litwina und brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck kritisierten<br />
in ihren reden einschränkungen der Pressefreiheit in belarus, ließen jedoch auch hoffnungsvolle Töne<br />
anklingen.<br />
Anke Fuchs, Vorsitzende der<br />
Friedrich-Ebert-Stiftung, lobte<br />
vor etwa 300 geladenen Gästen<br />
Litwina für ihren „ununterbrochenen<br />
Einsatz“ für die Rechte von<br />
Journalisten in <strong>Belarus</strong> und ihre<br />
„herausragende Dialogfähigkeit“.<br />
Tatsächlich hat die Journalistin<br />
in ihrer über 30-jährigen Berufslaufbahn<br />
sowohl für staatliche als<br />
auch für staatskritische Medien<br />
gearbeitet und sich so einen tiefen<br />
Einblick in die medialen Strukturen<br />
des Landes verschafft. Nachdem<br />
Litwina 1995 beim staatlichen<br />
Radiokanal entlassen worden war,<br />
wurde sie Direktorin der belarussischen<br />
Sektion von Radio Free<br />
Liberty. Im gleichen Jahr wurde<br />
sie auch zur Vorsitzenden des<br />
neu gegründeten <strong>Belarus</strong>sischen<br />
Journalistenverbands gewählt.<br />
Bereits 2004 zeichnete sie das Europäische<br />
Parlament für ihr Engagement<br />
mit dem Sacharow-Preis<br />
für Menschenrechte aus. Heute<br />
hat Litwinas Journalistenverband<br />
1200 Mitglieder.<br />
Auch Brandenburgs Ministerpräsident<br />
Matthias Platzeck war voll<br />
des Lobs für die Preisträgerin.<br />
Besonders stellte er ihren „beharrlichen<br />
Willen zur friedlichen<br />
Veränderung“ heraus und betonte,<br />
wie wichtig ihre Arbeit für<br />
die Rechte von Journalisten sei,<br />
denn, so zitierte Platzeck den verstorbenen<br />
Ex-Bundespräsidenten<br />
Johannes Rau, „Demokratie bedeutet<br />
mehr als nur die Herrschaft<br />
der Mehrheit“. Platzeck teilte mit<br />
dem Auditorium seine Eindrücke<br />
aus <strong>Belarus</strong>, das er erst vor kurzem<br />
besucht hatte, und ließ Hoffnung<br />
aufkeimen: „Die Dinge beginnen,<br />
sich zu ändern“, erklärte der Ministerpräsident<br />
mit Blick auf die<br />
Annäherung zwischen Minsk und<br />
Brüssel.<br />
Dann war die Reihe an der Preis-<br />
Networking online –<br />
Initiativen besser vernetzen<br />
(SB) Im Frühjahr 2009 soll das dreisprachige<br />
Internetportal www.<br />
Ost-West-Initiativen.de online<br />
gehen. Mehr als 600 deutsch-belarussische<br />
Partnerschaftsprojekte<br />
werden seit 2002 mit einem Förderprogramm<br />
durch die Bundesregierung<br />
gefördert. Mittelfristig wird<br />
auch für die Ukraine ein Partnerschaftsprogramm<br />
angestrebt, um<br />
die über 350 deutsch-ukrainischen<br />
Initiativen zu unterstützen. Das<br />
geplante Portal soll nun deutsche,<br />
belarussische und ukrainische Initiativen<br />
und zivilgesellschaftliche<br />
Akteure aus Bildung, Sozialem,<br />
Umwelt und Energie sowie regionaler<br />
Entwicklung miteinander<br />
vernetzen. Die Initiativen können<br />
sich auf dem Portal vorstellen<br />
und ihre fachlichen Kompetenzen<br />
austauschen. Ein weiterer Schritt<br />
zu einer deutsch-belarussischukrainischen<br />
Zusammenarbeit ist<br />
die im April 2009 stattfindende<br />
Partnerschaftskonferenz, zu der<br />
nun erstmals belarussische und<br />
ukrainische Initiativen gemeinsam<br />
nach Deutschland kommen.<br />
trägerin selbst. Litwina war sichtlich<br />
bewegt von den warmen<br />
Worten, unterstrich jedoch in ihrer<br />
Rede, wie schwer journalistische<br />
Arbeit nach wie vor in <strong>Belarus</strong><br />
sei. Drei zentrale Hindernisse für<br />
journalistisches Arbeiten nannte<br />
Litwina: Die Akkreditierung, die<br />
durch das neue Mediengesetz zu<br />
einem staatlichen Kontrollinstrument<br />
werde, die ökonomische<br />
Diskriminierung durch den Druck<br />
auf Werbepartner und Sponsoren<br />
alternativer Medien sowie den<br />
Zugang zum staatlichen Vertriebssystem,<br />
der etwa zehn Zeitungen<br />
verwehrt bleibe. Allerdings betonte<br />
die Preisträgerin, dass sich<br />
der Staat ein wenig auf die Medien<br />
und die EU zubewegt habe, denn<br />
seit kurzem seien zwei oppositionelle<br />
Zeitungen, die Tageszeitung<br />
„Narodnaja Wolja“ sowie die intellektuelle<br />
Wochenzeitung „Nascha<br />
Niwa“, wieder frei verkäuflich.<br />
Außerdem seien die Strafverfahren<br />
gegen mehrere belarussische Journalisten<br />
eingestellt worden, die<br />
im März wegen der Mitarbeit bei<br />
polnischen Medien festgenommen<br />
worden waren. Überhaupt stellte<br />
Litwina fest, dass trotz aller negativer<br />
Momente die belarussische<br />
Staatsmacht erkennen lasse, dass<br />
sie sich an die Europäische Union<br />
annähern wolle - eventuell auch in<br />
Menschenrechtsfragen. Als Indiz<br />
dafür erwähnte Litwina den Auftritt<br />
des Chefs der belarussischen<br />
Präsidialadministration, Wladimir<br />
Makej, beim diesjährigen Minsk<br />
Forum. Makej, fand Litwina, habe<br />
„taktvoll und intelligent“ gesprochen.<br />
Dies lasse hoffen. Denn, wie<br />
Schanna Litwina bekräftigte: „Es<br />
gibt einfach keine Alternative zum<br />
Dialog“.<br />
Nachruf Wassilij Nesterenko<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43<br />
NGOs & Gesellschaft<br />
(Achim riemann, Hannover) Am 25. August 2008 verstarb Professor Wassilij borisowitsch nesterenko<br />
im Alter von 74 Jahren. sein Tod ist ein großer Verlust für die Menschen in belarus, insbesondere in den<br />
strahlenbelasteten Gebieten. ihren belangen galt sein unermüdlicher einsatz.<br />
Als es 1986 in Tschernobyl zum<br />
Reaktorunglück kam, war Professor<br />
Nesterenko Direktor des<br />
Instituts für Nuklearenergie der<br />
belarussischen Akademie der<br />
Wissenschaften. Nach der Katastrophe<br />
erkannte er vor Ort schnell<br />
die Dimensionen der Verstrahlung<br />
und kämpfte für einen größeren<br />
Schutz der Menschen - weitgehend<br />
erfolglos.<br />
Sein Engagement gegen die Verharmlosung<br />
der atomaren Katastrophe<br />
hat er ab 1992 außerhalb der<br />
staatlichen Strukturen fortgesetzt<br />
und das Institut für Strahlensicherheit<br />
BELRAD gegründet, in dessen<br />
Rahmen er die Menschen vor Ort<br />
zum Umgang mit der Strahlengefahr<br />
beriet und Strahlenmessungen<br />
durchführte. Es waren<br />
nicht nur seine wissenschaftliche<br />
Kompetenz und sein beharrliches<br />
Wirken, die Wassilij Nesterenko<br />
zu einer herausragenden Persönlichkeit<br />
machten. Er verstand es<br />
auch, neben dem Tagesgeschäft<br />
im Institut und seiner Forschung,<br />
mit Herzlichkeit und Offenheit<br />
besonders auf junge Menschen<br />
zuzugehen. Es war immer wieder<br />
ein Erlebnis, ihn bei seinen<br />
Vorträgen in deutschen Schulen<br />
zu begleiten und zu erleben, mit<br />
welcher Hingabe er den Kindern<br />
und Jugendlichen seine Arbeit erklärte.<br />
Dabei war er sich nicht zu<br />
schade, einer Zehntklässlerin zwei<br />
Stunden für ein Referat Rede und<br />
Antwort zu stehen. Anschließend<br />
lud er sie noch für ein Praktikum<br />
zu sich nach Minsk ein. Es sind<br />
auch diese kleinen Geschichten,<br />
<strong>Belarus</strong>sische Journalisten on tour<br />
die uns im Gedächtnis bleiben und<br />
das Bild von Wassilij Nesterenko<br />
prägen.<br />
Sein Sohn Dr. Alexej Nesterenko<br />
hat die Leitung des Instituts für<br />
Strahlensicherheit übernommen.<br />
Es liegt an uns, BELRAD weiterhin<br />
zu unterstützen, damit die<br />
wichtige Arbeit von Professor Nesterenko<br />
fortgesetzt werden kann.<br />
Professor Nesterenko hat uns im<br />
vergangenen Jahr seine ereignisreiche<br />
Lebensgeschichte erzählt.<br />
Daraus haben wir eine sechzigminütige<br />
Hör-CD produziert, die<br />
Sie bei JANUN e.V. zum Preis von<br />
6 Euro bestellen oder auf unserer<br />
Homepage anhören können.<br />
buero@janun-hannover.de, www.ostwestbruecke.de<br />
(nathalie Haußner, dortmund) Zehn belarussische Journalisten waren im november auf recherchereise<br />
durch europa. bei ihrer viertägigen Fahrt besuchten sie unter anderem berlin, Paris, brüssel und die niederlande.<br />
Themen wie „alternative energien“, „deutsch-belarussische beziehungen“ oder „Organisation<br />
und Abläufe der eu“ standen auf der Tagesordnung. die reise soll ein kleiner schritt zu einer differenzierten<br />
berichterstattung in belarus sein.<br />
Elena Pankratowa war vor zwanzig<br />
Jahren das letzte Mal in Berlin.<br />
Weil sie neben den deutsch-belarussischen<br />
Beziehungen auch das<br />
Thema „20 Jahre Mauerfall“ interessiert,<br />
ließ es sich die Radiojournalistin<br />
nicht nehmen direkt aus<br />
Berlin zu berichten. „Für mich sind<br />
meine Sendeberichte ein Stück<br />
Geschichte, weil ich mit Leuten<br />
sprechen kann, die damals Geschichte<br />
gemacht haben“, erzählt<br />
sie begeistert.<br />
Die belarussischen Journalisten<br />
trafen auf hochkarätige Gesprächspartner<br />
aus Politik, Wirtschaft<br />
und Verwaltung. So vermittelte<br />
der CDU-Abgeordnete Werner<br />
Jostmeier einen Einblick in seine<br />
Aufgaben als Landtagsabgeordneter.<br />
Die Landesvorsitzende von<br />
Bündnis 90/Die Grünen, Daniela<br />
Schneckenburger, diskutierte in<br />
den Räumen des IBB Dortmund<br />
mit Alla Mocholowa, politische<br />
Korrespondentin der Zeitung Swiasda<br />
in Minsk, über mögliche und<br />
sinnvolle Schritte zur Einführung<br />
von erneuerbaren Energien in<br />
<strong>Belarus</strong>. Die Landeswahlleiterin<br />
Nordrhein-Westfalens, Helga<br />
Block, informierte die Chefredakteurin<br />
der Grodenskaja Prawda,<br />
Elena Beresnewa, über die Organisation<br />
von Wahlen.<br />
Organisiert wurde die Recherchereise<br />
vom IBB Dortmund und der<br />
IBB Minsk, die auch eine Medienakademie<br />
betreibt. Für finanzielle<br />
Förderung sorgten die OSZE und<br />
das niederländische Außenministerium.<br />
Peter Junge-Wentrup,<br />
Geschäftsführer der IBB gGmbH,<br />
betont die Wichtigkeit der Reise:<br />
„In der belarussischen Gesellschaft<br />
herrschen ebenso wie bei uns auch<br />
recht stereotype Vorstellungen<br />
über das Leben in Deutschland,<br />
Frankreich und in den Niederlanden.<br />
Die Recherchereise ist ein<br />
Mosaikstein auf dem Weg zu einer<br />
differenzierteren Berichterstattung<br />
über die Nachbarn in Europa.“
NGOs & Gesellschaft<br />
„Keine einfachen Lösungen“<br />
seit vielen Jahren setzen sich deutsche initiativen für Menschen mit behinderung in belarus ein. Für die<br />
finanzielle Förderung solcher Projekte sorgten unter anderem das Förderprogramm <strong>Belarus</strong> und das Kontaktprogramm<br />
der deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (dGO). beim Verein Kanikuli engagieren sich<br />
ehemalige Freiwillige noch viele Jahre nach ihrem Aufenthalt für belarussen mit behinderung. Wir baten<br />
evelyn Funke, erste Vorsitzende bei Kanikuli e.V., von der Arbeit des jungen Vereins zu berichten.<br />
Von außen sieht das Gebäude ganz<br />
freundlich aus – bunt getünchte<br />
Wände, ein großer Vorgarten mit<br />
viel Grün und Bänken. Doch je näher<br />
man kommt, desto deutlicher<br />
ist zu erkennen, was das für ein<br />
Ort ist. Die Balkone sind vergittert.<br />
Rollstuhlfahrer legen die wenigen<br />
Meter bis zum nächsten Bordstein<br />
zurück und kehren wieder um.<br />
Andere laufen ihre Runden in<br />
einem „Laufstall“, der von hohen<br />
Mauern umgeben ist. Vor den Türen<br />
sitzen Menschen im Schatten,<br />
die an ihre Stühle gefesselt und<br />
nicht vollständig bekleidet sind.<br />
Hier verbringen sie ihre langen<br />
Tage, deren Rhythmus von schnellen<br />
Mahlzeiten bestimmt wird.<br />
Es ist ein Heim für Menschen mit<br />
Behinderung in Minsk, ein „psycho-neurologisches<br />
Internat“. Drei<br />
davon gibt es in der Hauptstadt,<br />
zwei für Erwachsene und eines<br />
für Kinder. Hier leben insgesamt<br />
an die 2000 Menschen auf engstem<br />
Raum, unter oft sehr schwierigen<br />
Bedingungen.<br />
Seit vielen Jahren engagieren sich<br />
deutsche und andere ausländische<br />
Initiativen für Menschen mit Behinderung<br />
in <strong>Belarus</strong>. Unter anderem<br />
leisten jedes Jahr etwa zehn<br />
junge Deutsche ihren Zivildienst<br />
oder ein Freiwilliges Soziales Jahr<br />
in Minsk und bekommen dabei<br />
intensive Einblicke in die Situation<br />
der Menschen mit Behinderung.<br />
Einblicke, die zu Resignation führen<br />
können, denn die Probleme<br />
Teilnehmer eines Ferienlagers im Sommer 2008 Fotos: Olga Martynenko<br />
sind zahlreich und es gibt keine<br />
einfachen Lösungen. Andererseits<br />
halten viele ehemalige Freiwillige<br />
noch lange nach ihrem einjährigen<br />
Aufenthalt den Kontakt und<br />
setzen sich auch von Deutschland<br />
aus weiterhin für Menschen mit<br />
Behinderung in <strong>Belarus</strong> ein.<br />
Ein Beispiel dafür ist der Verein<br />
Kanikuli e.V., der 2006 von sieben<br />
ehemaligen Freiwilligen in Berlin<br />
gegründet wurde und inzwischen<br />
auf 33 Mitglieder angewachsen<br />
ist. Seit seiner Gründung veranstaltet<br />
Kanikuli e.V. jedes Jahr<br />
Sommerfreizeiten für Kinder und<br />
Erwachsene aus den Minsker Heimen.<br />
In einer schönen Umgebung<br />
am Minsker Meer erholen sich die<br />
Teilnehmer, betreut von deutschen<br />
und belarussischen Ehrenamtlichen,<br />
sieben bis zehn Tage lang<br />
von ihrem anstrengenden Heim-<br />
Alltag. Während die Kinder sich in<br />
der Zeit am liebsten am See oder<br />
im Planschbecken austoben, genießen<br />
die erwachsenen Teilnehmer<br />
eher die Ruhe und die Freiheit<br />
eines solchen Ferienlagers.<br />
Die Erinnerung an ein solches<br />
Ferienlager bleibt allen Beteiligten<br />
lange Zeit erhalten, und doch<br />
kann es nur einen kleinen Beitrag<br />
zur Verbesserung der Situation<br />
von Menschen mit Behinderung<br />
leisten. Um mehr Nachhaltigkeit<br />
zu erreichen, organisierte Kanikuli<br />
e.V. im November 2008 erstmals<br />
einen Austausch für belarussische<br />
Fachkräfte der Behinderten-Arbeit<br />
nach Deutschland, der vom Kontaktprogramm<br />
<strong>Belarus</strong> der Robert-<br />
Bosch-Stiftung gefördert wurde.<br />
Eingeladen wurden sowohl Pädagogen<br />
und Therapeuten aus den<br />
Heimen als auch Mitglieder der<br />
belarussischen Nicht-Regierungs-<br />
Organisation „Verschiedene-Gleiche“,<br />
die sich vor allem für die<br />
Integration von Menschen mit Behinderung<br />
in die belarussische Gesellschaft<br />
einsetzt. Zwei Wochen<br />
lang lernten die neun Teilnehmer<br />
verschiedene Organisationen im<br />
Raum Bremen kennen und hospitierten<br />
in Wohn-Einrichtungen<br />
für Menschen mit Behinderung.<br />
Simon Stephan, Organisator des<br />
Austauschs, erzählt: „Die Teilnehmer<br />
aus <strong>Belarus</strong> waren nur<br />
zwei Wochen bei uns, haben aber<br />
trotzdem sehr intensive Eindrücke<br />
gesammelt. Uns allen ist wieder<br />
deutlich geworden, dass sich die<br />
Behindertenarbeit hier so fundamental<br />
von der Arbeit in <strong>Belarus</strong><br />
unterscheidet.“ Langfristig, so<br />
Simon Stephan weiter, sei eine<br />
Weiterbildung von Fachkräften<br />
einer der wichtigsten Ansätze, um<br />
etwas an der prekären Situation<br />
von Menschen mit Behinderung<br />
in <strong>Belarus</strong> zu ändern.<br />
So sollen im nächsten Jahr zum<br />
ersten Mal belarussische Ehrenamtliche<br />
zu Teamern ausgebildet<br />
werden. Im Sommer 2009 werden<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43<br />
NGOs & Gesellschaft<br />
So machen Sommerferien Kindern und Erwachsenen Spaß...<br />
Partnerschaftskonferenz in Geseke<br />
JeTZT AnMeLden ZuM AusTAusCH MiT deuTsCHen, uKrAinern und beLArussen<br />
Vom 24. bis 26. April ist es soweit:<br />
Die zweite trinationale Partnerschaftskonferenz<br />
eröffnet in<br />
Geseke (Westfalen) ihre Pforten.<br />
Etwa 500 engagierte Teilnehmer<br />
aus Deutschland, der Ukraine<br />
und <strong>Belarus</strong> versammeln sich<br />
unter dem Motto „Projekte in<br />
Partnerschaften entwickeln”. Fast<br />
zwanzig Jahre arbeiten Initiativen<br />
aus Deutschland, der Ukraine und<br />
<strong>Belarus</strong> zusammen – und ebenso<br />
lange gibt es deutsch-belarussische<br />
Partnerschaftskonferenzen.<br />
Was wurde bisher erreicht? Wie<br />
geht es weiter? Was können wir<br />
gemeinsam besser machen? In<br />
Arbeitsgruppen zu Jugend- und<br />
Erwachsenenbildung, Sozialer Ar-<br />
sie dann eine<br />
der beiden Ferienfreizeiten<br />
für Menschen<br />
mit Behinderungen<br />
leiten.<br />
Und auch der<br />
Austausch mit<br />
F a c h k r ä f t e n<br />
a u s B r e m e n<br />
soll seine Fortsetzung<br />
finden:<br />
Im Frühjahr ist<br />
ein Gegen-Besuch<br />
in Minsk<br />
geplant.<br />
Weitere Informationen:www.kanikuli-ev.de<br />
Spendenkonto Kanikuli<br />
e.V., Kontoinhaber:<br />
Kanikuli<br />
e.V., Kontonummer:<br />
4018459600,<br />
BLZ: 430 609 67 bei<br />
der GLS Gemeinschaftsbank<br />
SpenderInnen, die<br />
eine Spendenquittung<br />
wünschen,<br />
g e b e n b e i d e r<br />
Überweisung bitte<br />
ihre Adresse an.<br />
beit und Energieeffizienz/Nachhaltiger<br />
Entwicklung werden wir<br />
diskutieren und gemeinsam neue<br />
Ideen entwickeln. Ein wichtiges<br />
Thema wird dabei auch die Frage<br />
sein, wie die Tschernobyl-Arbeit in<br />
Zukunft aussehen kann. Kontakte<br />
knüpfen, Projekte entwickeln und<br />
Ideen austauschen – dafür ist die<br />
Partnerschaftskonferenz ein einmaliges<br />
Forum. Aber nicht nur<br />
das: Die Partnerschaftskonferenz<br />
bietet außerdem Gelegenheit,<br />
hochgestellte Politiker aus allen<br />
drei Ländern zu erleben, die im<br />
Panel zu zivilgesellschaftlichem<br />
Engagement im Kontext politischer<br />
Beziehungen diskutieren<br />
werden.<br />
Unsere ukrainischen und belarussischen<br />
Partner sind auf der<br />
Konferenz auch dieses Jahr wieder<br />
unsere Gäste: Wir können die Kosten<br />
für Anreise und Konferenzteilnahme<br />
übernehmen. Geplant ist,<br />
dass die Initiativen vom 21. bis<br />
24. bei ihren deutschen Partnern<br />
zu Gast sind, das gemeinsame<br />
Programm beginnt dann am 24.<br />
April nachmittags.<br />
Programm und Anmeldeformular unter<br />
www.ibb-d.de/veranstaltungen_u_reisen.html<br />
Es laden ein: IBB Dortmund, IBB „Johannes<br />
Rau“ Minsk, Evangelische Akademie<br />
Villigst, Deutsch-Ukrainisches<br />
Netzwerk Kiew
NGOs & Gesellschaft<br />
Kreative BelaPlussen<br />
FörderunG Für KuLTurPrOJeKTe JunGer beLArussen MiT beLAPLus<br />
das internationale Programm belaPlus förderte zwischen Februar und november 2008 Projektideen junger<br />
belarussen. Zivilgesellschaftliche Kulturprojekte sollten Gegenpole zum grauen Alltag schaffen. so<br />
entstanden beispielsweise Poetry slams, Theaterworkshops oder Filmvorführungen in der belarussischen<br />
Provinz. Wir baten Christian starke (Kultur Aktiv e.V. dresden) von seinem Projekt zu berichten.<br />
Lohnt sich zivilgesellschaftliches<br />
Engagement in <strong>Belarus</strong>? Kann ich<br />
dadurch ganz konkret meinen<br />
Alltag und mein Lebensumfeld<br />
aktiv mitgestalten? Gibt es Möglichkeiten,<br />
mir dazu Erfahrungen<br />
aus dem Ausland zu holen?<br />
Trotz vieler Schwierigkeiten im<br />
Alltag ist kreative Eigeninitiative<br />
junger Menschen in <strong>Belarus</strong> möglich<br />
und auf jeden Fall auch nötig.<br />
Mit dem zivilgesellschaftlichen<br />
Programm BelaPlus soll erreicht<br />
werden, dass junge Menschen in<br />
<strong>Belarus</strong> die anfangs gestellten Fragen<br />
begeistert mit „Ja“ beantworten<br />
können. Die Programmkoordinatoren<br />
aus Deutschland (Kultur<br />
Aktiv), Polen (Initiative Wolna<br />
Bialorus) und <strong>Belarus</strong> (Initiative<br />
Dritter Weg) wollen mit BelaPlus<br />
zeigen, wie man kreativen Ideen<br />
in Form von Mikroprojekten vor<br />
Ort eine eigene Perspektive geben<br />
kann. Wichtig ist dabei, dass die<br />
Ideen direkt an den Lebensumständen<br />
der jungen Menschen<br />
ansetzen – an ihren Problemen,<br />
Wünschen und Hoffnungen.<br />
Dazu wurden belarussische Jugendliche<br />
im Alter von 18 bis 27<br />
Jahren zwischen Februar und<br />
November 2008 in einem mehrstufigen<br />
Programm gefördert.<br />
Forumtheater-Workshop in Minsk<br />
Die Jugendlichen bewarben sich<br />
mit ihren Ideen bis Mitte März,<br />
präsentierten diese dann auf zwei<br />
Seminaren im April, um anschließend<br />
für die weitere Teilnahme<br />
ausgewählt zu werden. Die Kriterien<br />
für die Aufnahme waren<br />
vor allem Kreativität, aber auch<br />
Realisierbarkeit in <strong>Belarus</strong>, verfügbare<br />
Ressourcen, Know-how und<br />
eine gute Netzwerkanbindung.<br />
Mit dabei waren junge Menschen<br />
aus Minsk, Brest, Pinsk, Baranowitschi,<br />
Mogiljow, Witebsk und<br />
Nowopolotzk.<br />
Im Juli begann die konkrete Förderung<br />
für die 15 Teilnehmer<br />
zunächst mit einer Woche Intensivtraining<br />
in Projektmanagement,<br />
Kommunikation und Medien.<br />
Nach nochmaliger Auswahl reisten<br />
die besten acht Teilnehmer<br />
dann für zwei bis vier Wochen<br />
zum Kurzpraktikum ins europäische<br />
Ausland. Die belarussischen<br />
Jugendlichen arbeiteten bei zivilgesellschaftlichen<br />
Organisationen<br />
in Polen, Deutschland und der<br />
Slowakei und sammelten dabei<br />
wichtige Erfahrungen. Nastja<br />
zum Beispiel absolvierte ihr Praktikum<br />
bei der NGO „Sektor3“ in<br />
Wrocław, Sergeij war Praktikant<br />
bei Kultur Aktiv in Dresden.<br />
Ausgestattet mit<br />
einem kleinen<br />
Startkapital von<br />
300 € konnten<br />
die so Geförderten<br />
dann mit<br />
der Umsetzung<br />
ihrer Projekte<br />
b e g i n n e n . S o<br />
entstanden beispielsweise<br />
ein<br />
Diskussionsclub<br />
zu kritischen<br />
Menschenrechtsthemen, eine<br />
Filmvorführreihe in kleineren<br />
belarussischen Städten, Forumtheaterworkshops,<br />
ein Wettbewerb zu<br />
Innovationen bei Kommunikationsmedien<br />
oder Lesungen. Besonders<br />
beliebt waren Poetry Slams,<br />
die in <strong>Belarus</strong> noch weitestgehend<br />
unbekannt sind. Junge, talentierte,<br />
aber noch unbeachtete Nachwuchsautoren<br />
trugen in einer Minsker<br />
Fabrikhalle bei Lichteffekten und<br />
musikalischer Begleitung ihre<br />
Werke vor. Die Aktionen wurden<br />
dabei von den Programmkoordinatoren<br />
vor Ort begleitet und<br />
unterstützt. Die frischgebackenen<br />
Organisatoren werden nach Ende<br />
des Programms sehr motiviert ihre<br />
Aktionen fortsetzen - insofern war<br />
BelaPlus ein erster Anstoß zu weiterem<br />
aktivem Handeln.<br />
BelaPlus war 2008 bereits in die<br />
zweite Runde gegangen. Schon<br />
2007 hatten Vertreter der NGOs<br />
eine 19-tägige Seminarreise durch<br />
sechs belarussische Städte unternommen<br />
und dabei Workshops<br />
mit insgesamt über 100 belarussischen<br />
Jugendlichen durchgeführt.<br />
Einige Teilnehmer von<br />
damals waren auch 2008 wieder<br />
dabei. Für 2009 planen die Koordinatoren<br />
ein Folgeprojekt, das<br />
wieder Wissen und Motivation<br />
zu aktivem zivilgesellschaftlichem<br />
Handeln an junge Menschen in<br />
<strong>Belarus</strong> weitergeben möchte. Denn<br />
auch für <strong>Belarus</strong> gilt: Passivität<br />
bringt nichts – denkt und handelt<br />
aktiv, kreativ und positiv! Das will<br />
BelaPlus vermitteln - und dafür<br />
steht auch das Plus im Namen.<br />
belaplus@kulturaktiv.org. BelaPlus wird<br />
gefördert durch Robert-Bosch-Stiftung,<br />
Stefan-Batory-Stiftung und German Marshall<br />
Fund of The United States.<br />
Pause von Radioaktivität<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43<br />
NGOs & Gesellschaft<br />
nach dem erlass des dekrets 555 durch den belarussischen Präsidenten scheint nun unklar, ob 2009<br />
überhaupt belarussische Kinder zur erholung nach deutschland kommen. Warum die erholungsreisen<br />
weiterhin aktuell und wichtig sind, erfahren sie von ursula Timm, Mitglied bei der initiative „Ferien für<br />
Kinder von Tschernobyl e.V.“ in rostock.<br />
Ein Junge läuft mit einem kleinen<br />
Flugzeug in der Hand über eine<br />
Blumenwiese, im Hintergrund<br />
droht eine seltsame Wolke. Der<br />
schwerstbehinderte Grischa Mosol<br />
aus Minsk malte dieses Bild<br />
zehn Jahre nach Tschernobyl für<br />
eine Ausstellung in Paris. Grischa<br />
war als kleines Kind am 26. April<br />
1986 zu Besuch bei seinen Großeltern,<br />
deren Dorf in der Nähe von<br />
Tschernobyl lag. Im Rückblick<br />
weiß er, dass er wie Millionen<br />
Menschen zu den Opfern von<br />
Tschernobyl gehört.<br />
Seit 1991 setzt sich der Verein „Ferien<br />
für Kinder von Tschernobyl“<br />
in Rostock dafür ein, dass sich vier<br />
Wochen lang Kinder und Mütter<br />
aus verstrahlten Ortschaften in<br />
<strong>Belarus</strong> an unserer Ostseeküste<br />
erholen können. Dabei sind auch<br />
zehn hörgeschädigte Kinder, die<br />
von einem Hörgerätezentrum in<br />
Rostock mit neuen Hörgeräten<br />
versorgt werden.<br />
Das weite grüne Gelände am<br />
Schullandheim „Zum Riedensee“<br />
in Kägsdorf bei Kühlungsborn<br />
mit dem Blick über das Kornfeld<br />
zum Meer bietet fast paradiesische<br />
Möglichkeiten zur Erholung und<br />
zur Beschäftigung. Eine vierwöchige<br />
Ruhepause von der Radioaktivität<br />
bewirkt Wunder. Sie<br />
verändert die Kinder und schenkt<br />
ihnen und ihren Familien neuen<br />
Lebensmut und Hoffnung.<br />
In jedem Jahr stellen wir uns die<br />
Frage: Wird unsere Hilfe noch<br />
gebraucht? Doch Erzählungen,<br />
Berichte und meine persönlichen<br />
Eindrücke von den Dörfern in<br />
<strong>Belarus</strong> lassen unsere Fragen<br />
schnell verstummen. Die Lehrerin<br />
Ludmila Gluschkowitschi erzählt<br />
beispielsweise: „Unser Dorf mit<br />
Grischas Bild<br />
3000 Einwohnern liegt an der<br />
ukrainischen Grenze in der Nähe<br />
des Atomkraftwerks. Hier wohnen<br />
viele junge Mütter. Jede Mutter<br />
träumt von gesunden und glücklichen<br />
Kindern. Als Lehrerin erlebe<br />
ich, dass unsere Kinder schnell<br />
ermüden. Viele haben oft Kopfschmerzen.<br />
Die Zahl der Kinder<br />
mit kranken Schilddrüsen wächst.<br />
Es ist schwer, wenn ein Kind krank<br />
ist und du nicht helfen kannst. Du<br />
kannst nur zu Gott beten.“<br />
Auch die Lehrerin Valentina aus<br />
Petschauka macht auf die Wichtigkeit<br />
der Reisen aufmerksam:„In<br />
unserer Schule lernen 250 Schüler<br />
aus vier Dörfern. Alle Dörfer liegen<br />
auf verseuchtem Territorium. Nur<br />
19 % der Kinder sind gesund. Alle<br />
haben ein schwaches Immunsystem.<br />
Die Folgen von Tschernobyl<br />
sind unsere ständigen Begleiter.<br />
Unsere Familien sind es, die den<br />
Preis für den Einsatz der Atomenergie<br />
schon heute bezahlen. Wir<br />
sind dankbar für die Erholung<br />
an der Ostsseeküste und für die<br />
Fürsorge, die unseren Kindern<br />
entgegengebracht wird.“<br />
In den vergangenen 18 Jahren<br />
kamen weit über 1000 Kinder und<br />
viele Mütter zu uns. Ein großer<br />
Freundes- und Spenderkreis trägt<br />
unser Projekt. Unser Verein in<br />
Rostock ist stolz darauf, dass er<br />
ein Teil der Tschernobylbewegung<br />
ist, dass wir zusammen mit<br />
der Stiftung „Den Kindern von<br />
Tschernobyl“ in Minsk und der<br />
Bundesarbeitsgemeinschaft in<br />
Münster über die Kinder Brücken<br />
der Verständigung zwischen Ost<br />
und West bauen dürfen.<br />
So gibt es keinen Grund, die<br />
mühsam aufgebauten Brücken<br />
abzubrechen. Wir appellieren an<br />
die Verantwortung unserer Politiker<br />
und rechnen fest damit, dass<br />
auch im Sommer 2009 unser Erholungsprogramm<br />
für 90 Personen<br />
durchgeführt werden kann.
NGOs & Gesellschaft / Publikationen<br />
„Tschernobylkinder“ unter Hausarrest?<br />
(SB) Im Oktober verabschiedete<br />
der belarussische Präsident den<br />
Erlass 555, der in Zukunft die Erholungsreisen<br />
der so genannten<br />
„Tschernobylkinder“ nur dann<br />
zulässt, wenn zwischen dem Gastland<br />
und <strong>Belarus</strong> ein staatliches<br />
Abkommen besteht, das vor allem<br />
die zeitige Rückkehr des Kindes<br />
garantiert. Die belarussische Botschaft<br />
begründet den Erlass mit<br />
der „rechtswidrigen Nichtrückkehr“<br />
der belarussischen Mädchen<br />
Tatjana Kosyro und Viktoria Moroz<br />
(siehe auch Seite 6) und sieht<br />
ihn auf die „Sicherung der Rechte<br />
und Interessen der belarussischen<br />
Kinder gerichtet“. Die deutschen<br />
Tschernobyl-Initiativen, die insgesamt<br />
allein in den vergangenen 15<br />
Jahren rund 170.000 Kindern einen<br />
Erholungsurlaub in Deutschland<br />
Krieg ohne Zensur<br />
ermöglichten, reagierten auf den<br />
Erlass recht unterschiedlich. Burkhard<br />
Homeyer, Vorsitzender<br />
der Bundesarbeitsgemeinschaft<br />
„Den Kindern von Tschernobyl<br />
in Deutschland“ beispielsweise<br />
sieht in dem Akt des Präsidenten<br />
vor allem den Versuch, sowohl<br />
belarussische als auch deutsche<br />
zivilgesellschaftliche Initiativen<br />
staatlich zu kontrollieren. Auch<br />
lasse das Vorgehen der belarussischen<br />
Reagierung darauf schließen,<br />
dass das Thema „Tschernobyl“<br />
aus der öffentlichen Debatte<br />
ausgeschlossen werden solle.<br />
Andere Initiativen bemühen sich<br />
indes um Optimismus: „Ich bin<br />
zuversichtlich, dass wir keine<br />
Schwierigkeiten mit der Einreise<br />
der Kinder bekommen werden“,<br />
erklärt Joachim Bauer, Vorsitzen-<br />
der der Initiative „Tschernobyl-<br />
Kinder“ aus Lohmar. Auch die<br />
Tschernobyl-Hilfe im Kirchenkreis<br />
Buxtehude bleibt optimistisch:<br />
„Wir haben Ähnliches zuletzt<br />
vor zwei Jahren erlebt. Deswegen<br />
warten wir ab und bereiten unsere<br />
Ferienaktion für diesen Sommer<br />
wie gewohnt vor“, so Marion und<br />
Hans-Otto Gade. Das Dekret des<br />
belarussischen Präsidenten hat<br />
zwar viele Initiativen verunsichert,<br />
dennoch setzen diese die Organisation<br />
der Erholungsaufenthalte<br />
für das Jahr 2009 erst einmal fort.<br />
Einen überraschenden Vorteil<br />
scheint der Erlass 555 dennoch<br />
zu haben: Entgegen aller Befürchtungen<br />
ist die öffentliche Debatte<br />
über Tschernobyl zumindest kurzzeitig<br />
wieder entfacht.<br />
Die belarussischen Grenzbehörden konfiszierten Ende November zehn Exemplare des belarussischen<br />
Kulturmagazins „Arche“, die für polnische Abonnenten bestimmt waren. der KGb, um eine expertise<br />
gebeten, bewertete die Ausgabe als „extremistisch“ und beantragte deren Vernichtung vor Gericht. Wir<br />
baten Matthias battis aus Warschau um eine rezension der verdächtigen Ausgabe.<br />
(Matthias Battis, Warschau) „Wie<br />
wenig wissen <strong>Belarus</strong>sen im<br />
Schnitt über jene Ereignisse, denen<br />
in <strong>Belarus</strong> Tausende Bücher,<br />
Fernsehsendungen und Artikel<br />
gewidmet sind!“ So klingen die<br />
einleitenden Worte der Arche-<br />
Ausgabe vom Mai 2008, veröffentlicht<br />
in dem Monat, an dem<br />
<strong>Belarus</strong> zeremoniell den „Tag des<br />
Sieges“ begeht. Schon das Titelblatt<br />
der Ausgabe passt nicht in<br />
die postsowjetische Partisanenkampf-Mythologie.<br />
Es zeigt Minsk<br />
1943, eine Gruppe belarussischer<br />
Kinder, die Hakenkreuzflaggen<br />
schwenken. Die Botschaft ist klar:<br />
weniger sowjetische Klischees,<br />
mehr Inhalt.<br />
Leitartikel ist Ian Kershaws „The<br />
Führer-Myth“. In belarussischer<br />
Übersetzung heißt es univer-<br />
seller: „Der Mythos des starken<br />
Anführers“. Nicht der einzige<br />
vielversprechende Titel: „Märchen<br />
für Patrioten“, „Der große<br />
Vaterländische Krieg und nationale<br />
Identität in <strong>Belarus</strong>“, „Antisemitismus<br />
in der sowjetischen<br />
Partisanenbewegung (in <strong>Belarus</strong>)<br />
1941-1944“ - um nur einige Artikel<br />
zu nennen, die diese Ausgabe<br />
lesenswert machen.<br />
Wie die Redaktion selbst schreibt,<br />
geht es um „Ereignisse, Phänomene<br />
und Personen, zu denen in<br />
offiziellen [belarussischen] Lehrbüchern<br />
nichts zu finden ist“. Es<br />
geht also um eine unabhängige,<br />
möglichst wissenschaftliche Perspektive<br />
auf die Totalitarismus-<br />
Geschichte des 20. Jahrhunderts,<br />
um eine Perspektive, die jegliche<br />
politisch motivierte Instrumenta-<br />
lisierung und Mythologisierung<br />
der Vergangenheit ablehnt.<br />
„Eine selektive Gedächtniskultur<br />
ist schädlich. Nur das Aufdecken<br />
der Themen, welche die ideologischen<br />
Spürhunde der Zensur<br />
[zurzeit] hüten, ermöglicht das<br />
Entstehen einer Kultur, die immun<br />
ist gegen den Nationalsozialismus<br />
und ähnliche menschenverachtende<br />
politische Systeme.”<br />
Man könnte das sicher gelassener<br />
ausdrücken. Und einige der (vorsichtigen)<br />
Nazi-<strong>Belarus</strong>-Parallelen<br />
gelten in Deutschland zu Recht<br />
als überzogen. Dass das staatliche<br />
Propaganda-Monopol für Wissenschaftler<br />
und Publizisten dennoch<br />
bitterer Ernst ist, zeigte das Aufsehen,<br />
das „Arche“ mit seiner neuen<br />
Ausgabe bei Grenzberhörden und<br />
KGB erregte.<br />
Datschen: Wirtschaft oder Kultur?<br />
(Robert Werner, Berlin) In seiner<br />
Dissertation beschäftigt sich der<br />
Agraringenieur Johannes Thiele<br />
mit der Bedeutung der belarussischen<br />
Datschenwirtschaft für die<br />
„Ernährungs-, Gesundheits- und<br />
soziokulturelle Situation der Großstadtbevölkerung“<br />
in <strong>Belarus</strong>. In<br />
Deutschland ist die Datscha schon<br />
längst zum Mythos verkommen<br />
und diejenigen, die ihre Sommerwochenenden<br />
in Parzellen unter<br />
Autobahnbrücken oder Zugstrecken<br />
verbringen, werden zumeist<br />
nur müde belächelt. In <strong>Belarus</strong><br />
bedeutet Datscha allerdings Subsistenzwirtschaft,<br />
und die ist für<br />
den einfachen Menschen immer<br />
noch eine der wenigen Möglichkeiten,<br />
sich mit gesunden Lebensmitteln<br />
zu versorgen und trotz<br />
geringer Löhne wirtschaftlich zu<br />
überleben.<br />
Die kulturelle Bedeutung des Datschenlebens<br />
und die systemstabilisierende<br />
Wirkung der Selbstver-<br />
Zwischen Planung und Anarchie<br />
(Astrid Sahm, Minsk) Dass Minsk<br />
die Musterstadt des Sozialismus<br />
gewesen sei, ist für <strong>Belarus</strong>-Interessierte<br />
seit dem Erscheinen von<br />
Artur Klinaus „Sonnenstadt der<br />
Träume“ eine vertraute These.<br />
Das Buch von Thomas Bohn stellt<br />
jedoch wesentlich mehr als die<br />
Bestätigung dieses eingängigen<br />
Mythos dar. Denn obwohl die<br />
Stadt Minsk aufgrund ihrer fast<br />
vollständigen Zerstörung während<br />
des Zweiten Weltkrieges<br />
besonders geeignet war, um die<br />
Idealvorstellungen einer sozialistischen<br />
Stadt Realität werden zu<br />
lassen, scheiterte dieses Projekt<br />
bereits auf der Planungsebene.<br />
Die für den Generalplan von Minsk<br />
Zuständigen führten in den ersten<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43<br />
sorgung in der UdSSR sind ausgiebig<br />
erforscht worden. Nicht so die<br />
postsowjetische Datschenkultur.<br />
Auch führen die belarussischen<br />
Behörden keine Statistiken über<br />
den Output der Kleingartenanlagen.<br />
Es ist Thiele deshalb hoch<br />
anzurechnen, dass er diese Lücke<br />
durch schriftliche Befragungen,<br />
Expertengespräche, teilnehmende<br />
Beobachtung und die Auswertung<br />
von Sekundärquellen ein Stück<br />
weit gefüllt hat. Außer auf die<br />
wirtschaftliche Bedeutung des<br />
Datschenlebens geht Thiele in seiner<br />
Arbeit aber auch auf kulturelle,<br />
politische und soziokulturelle<br />
Aspekte ein. Gerade dank seiner<br />
persönlichen Erfahrungen im<br />
Land und der Verwendung von<br />
„harten“ Daten und „weichen“<br />
Wissen gelingt es ihm, ein lebensnahes<br />
Bild des Datschenlebens in<br />
<strong>Belarus</strong> zu zeichnen.<br />
Abschließend hebt Thiele hervor,<br />
dass die Datschen noch immer<br />
zehn Jahren nach Kriegsende vor<br />
dem Hintergrund der Ablösung<br />
des Stalinismus heftige Auseinandersetzungen<br />
darüber, ob die<br />
Stadt vorrangig als Wirtschafts-<br />
oder als Lebensraum dienen, ob<br />
die Schönheit der Fassade oder<br />
der Komfort in den Wohnungen<br />
den Vorrang haben und ob dabei<br />
der Klassizismus oder der Konstruktivismus<br />
als Vorbild dienen<br />
solle. Dabei wurden willkürlich<br />
Kiew, Leningrad oder Moskau als<br />
Orientierungsmodell für Minsk<br />
gewählt. Während alle diese Städte<br />
jedoch ein eindeutiges Zentrum<br />
aufweisen, stellt das kennzeichnende<br />
Merkmal von Minsk eine<br />
die gesamte Stadt von Süden<br />
nach Norden durchquerende Magistrale<br />
mit mehreren, gleichsam<br />
Publikationen<br />
als Lebensmittelquelle fungieren<br />
und nur im Nebeneffekt Ort der<br />
Erholung sind. Demgegenüber<br />
steht allerdings der fragwürdige<br />
ökonomische Nutzen dieser Subsistenzwirtschaft.<br />
Auch Thiele<br />
muss einräumen, dass es billiger<br />
ist, Lebensmittel auf dem Markt<br />
zu kaufen, als sie selber anzubauen.<br />
Welche kulturelle Bedeutung<br />
das Leben in der Laube in <strong>Belarus</strong><br />
besitzt und ob es einen ähnlichen<br />
Bedeutungswandel unterliegt wie<br />
in Deutschland, vermag die Arbeit<br />
nicht zu klären. Hier bieten sich<br />
aber Anknüpfungspunkte für weitere<br />
Untersuchungen oder eigene<br />
Erkundungen auf dem belarussischen<br />
Land.<br />
Thiele, Johannes: Die Bedeutung der „Datschenwirtschaft“<br />
für die Ernährungs-, Gesundheits-<br />
und soziokulturelle Situation<br />
der Großstadtbevölkerung in der Republik<br />
<strong>Belarus</strong> (Dissertation), Eigenverlag 2007.<br />
unvollendeten Plätzen dar. Dementsprechend<br />
schwer fällt es den<br />
Minskern bis heute, das Zentrum<br />
ihrer Stadt zu bestimmen.<br />
Entscheidend für das weitgehende<br />
Scheitern und die ständige Korrektur<br />
der städtebaulichen Pläne<br />
war jedoch die massive Bevölkerungszuwanderung<br />
vom Land<br />
nach Minsk, welche die ohnehin<br />
akute Wohnungsnot in der Hauptstadt<br />
verstärkte. Zählte Minsk<br />
1950 lediglich 273.600 Einwohner,<br />
waren es 1959 bereits 509.500 und<br />
1972 bereits eine Million. Damit<br />
war Minsk sowjetunionweit die<br />
Stadt mit der jährlich höchsten<br />
Zuwachsrate. Da die Betriebe<br />
und Stadtbezirksverwaltungen<br />
mit dem Wohnungsbau überfor-
Kultur & Wissenschaft<br />
dert waren, wohnten zahlreiche<br />
Menschen in Holzhäusern und<br />
Baracken. Infolgedessen erinnerte<br />
Minsk in vielerlei Hinsicht<br />
bis in die 1970er Jahre hinein an<br />
ein Dorf. Erst 1975 belief sich der<br />
durchschnittliche Wohnraum pro<br />
Kopf in Minsk auf 12,5 m² und<br />
überstieg damit erstmals die gesetzlich<br />
vorgeschriebene sanitäre<br />
Mindestnorm von 12 m².<br />
Die Stadtbehörden versuchten<br />
in den 1960er Jahren vergeblich,<br />
den Bevölkerungszustrom durch<br />
Maßnahmen wie das Verbot des<br />
individuellen Häuserbaus in der<br />
Stadt oder die individuelle Meldepflicht<br />
zu stoppen. Mit Hilfe<br />
von Korruption und Phantasie<br />
richteten sich zahlreiche Menschen<br />
zunächst illegal in Minsk<br />
ein. Etwas erfolgreicher waren die<br />
Eine Woche Deutschland<br />
(Oliver schwart, Minsk) Vom 25. september bis 4. Oktober brachte die deutsche Woche zum fünften Mal<br />
deutsche Kultur- und bildungsevents nach Minsk und die belarussischen regionen. Außerdem bekamen<br />
viele hundert interessierter belarussen einblicke in deutsche Pressearbeit, Wirtschaft und Tourismus.<br />
Auch diesmal hatten sich deutsche<br />
Einrichtungen von Rang und Namen<br />
zusammengefunden, um die<br />
Deutsche Woche zu organisieren.<br />
Neben der Deutschen Botschaft<br />
und dem Goethe-Institut halfen<br />
der Deutsche Akademische Austauschdienst,<br />
die Zentralstelle<br />
für das Auslandsschulwesen,<br />
das Institut für Deutschland-<br />
Studien sowie die Internationale<br />
<strong>Bildungs</strong>- und Begegnungsstätte,<br />
ein dichtes und abwechslungsreiches<br />
Programm für eine breite<br />
belarussische Öffentlichkeit zu<br />
präsentieren.<br />
Ein Höhepunkt in diesem Jahr<br />
war die vom Goethe-Institut organisierte<br />
5. Deutschlehrer- und<br />
Germanistentagung mit etwa 300<br />
Teilnehmern aus ganz <strong>Belarus</strong>.<br />
Referenten aus Deutschland, dem<br />
Baltikum und <strong>Belarus</strong> vermittelten<br />
an zwei Tagen in Vorträgen, Semi-<br />
Bemühungen der Behörden, den<br />
Wohnungsbedarf der Menschen<br />
durch die Errichtung von kosten-<br />
und zeitgünstigen Plattenbauten<br />
zu befriedigen. 1978 lebten immerhin<br />
etwas mehr als zwei Drittel der<br />
Minsker Familien in einer eigenen<br />
Wohnung. Allerdings gab es auch<br />
hier häufig Probleme mit den<br />
sanitären Anlagen oder der Bauqualität.<br />
Die Verbesserung ihrer<br />
Wohnverhältnisse war daher für<br />
die meisten Minsker das zentrale<br />
Anliegen, mit dem sie sich über<br />
Eingaben, Leserbriefe etc. an die<br />
Behörden wandten.<br />
Durch seine minutiöse Darstellung<br />
der Lebensbedingungen<br />
und Wohnverhältnisse, des Wohnungsbaus<br />
und der Wohnungsvergabe<br />
leistet Thomas Bohn<br />
neben der Nachzeichnung der<br />
naren und Workshops moderne<br />
Lehr- und Lernmethoden für den<br />
Sprachunterricht. Große Bedeutung<br />
wurde hierbei auch dem<br />
kreativen Lernen im Zusammenspiel<br />
mit Musik, Film und Kunst<br />
beigemessen.<br />
Nicht nur auf dieser Tagung wurde<br />
deutlich, welch hohen Stellenwert<br />
die deutsche Sprache in <strong>Belarus</strong><br />
genießt. Die Besucher strömten<br />
zur Woche des deutschen Films<br />
im Kino „Pobeda“, zum Leseabend<br />
für Kinder, der Eröffnung des<br />
Zentrums für deutsche Sprache<br />
und Kultur einer Mittelschule in<br />
Grodno sowie den Konzerten des<br />
Liedermachers Torsten Riemann.<br />
Es zeigte sich, dass sich vor allem<br />
jüngere Menschen in <strong>Belarus</strong> für<br />
deutsche Sprache und Kultur begeistern<br />
können. Ein Grund mehr<br />
zum Feiern für das Goethe-Institut<br />
in Minsk, das mit einem großen<br />
städteplanerischen Entwicklung<br />
einen wichtigen Beitrag zum Verständnis<br />
des sowjetischen Alltags.<br />
Er macht deutlich, dass der vermeintliche<br />
Kontrollanspruch der<br />
Kommunistischen Partei von den<br />
Menschen vielfach unterlaufen<br />
wurde und die Behörden oft hilflos<br />
oder verständnisvoll dem illegalen<br />
Wohnungsbau oder Aufenthalt in<br />
Minsk gegenüber standen. In der<br />
Wohnungsfrage kündigte sich<br />
somit das Ende der Sowjetunion<br />
bereits frühzeitig an. Ironischerweise<br />
trat es gerade dann ein, als<br />
die Wohnungsverhältnisse der<br />
meisten Menschen endlich mehr<br />
oder weniger zufriedenstellend<br />
gelöst waren...<br />
Thomas Bohn: Stadtplanung und Urbanisierung<br />
in der Sowjetunion nach 1945.<br />
‚Industrielle Welt‘. Böhlau-Verlag, gebunden,<br />
400 Seiten.<br />
Fest und einem bunten Programm<br />
aus Musik, Literatur und Film<br />
seinen 15-jährigen Geburtstag<br />
beging. Dass deutsche Kulturarbeit<br />
überhaupt auf derart großes<br />
Interesse stößt, ist nicht zuletzt<br />
ein Verdienst des Instituts, das<br />
seit Jahren mit großem Engagement<br />
erfolgreich einen Beitrag zur<br />
Vermittlung deutscher Werte und<br />
Kultur leistet.<br />
In Zusammenarbeit mit der Medienakademie<br />
der IBB „Johannes<br />
Rau“ Minsk organisierte die Deutsche<br />
Botschaft ein Seminar für<br />
Journalisten aus den belarussischen<br />
Regionen zum Thema<br />
„Modernes Deutschlandbild“.<br />
Jungen Medienvertretern wurde<br />
im Rahmen dieser Veranstaltung<br />
in Vorträgen und Fragestunden<br />
die Möglichkeit gegeben, sich ein<br />
aktuelles und objektives Bild über<br />
politische und gesellschaftliche<br />
Entwicklungen in Deutschland<br />
zu machen. Als Gast nahm unter<br />
anderem Martin Kobler teil, Abteilungsleiter<br />
im Auswärtigen Amt<br />
für Kultur und Kommunikation.<br />
Er stellte sich in einer für belarussische<br />
Verhältnisse ausgesprochen<br />
offenen Gesprächsatmosphäre den<br />
Fragen der interessierten Journalisten.<br />
Marilyn Monroe in Minsk<br />
(es) der Filmemacher Michael blume stellte Anfang dezember in berlin seine jüngste Produktion vor,<br />
den Dokumentarfilm „Marilyn Monroe aus Minsk – Lichtblicke aus Weißrussland“, in dessen Mittelpunkt<br />
das Minsker Kino „Pobeda“ und seine Leiterin stehen.<br />
„Wir liebten Kino. Die Filme, die<br />
in dunklen Sälen von alten, mechanischen<br />
Projektoren abgespielt<br />
wurden, öffneten uns die Welt.<br />
Dort sah man, was im Fernsehen<br />
selten gezeigt wurde: die amerikanische<br />
Prärie mit Cowboys und<br />
Indianern, Fantomas, wie er über<br />
Paris fliegt, alte Schlösser, den<br />
Mann mit der Maske und Angelique,<br />
Marquise des Anges. Aus dem<br />
Fernsehen erfuhren wir, was man<br />
über das Land des Glücks wissen<br />
mußte.“ So beschreibt Artur<br />
Klinau nicht nur in seinem Buch<br />
„Minsk. Sonnenstadt der Träume“<br />
seine Erlebnisse mit dem Kino in<br />
der Sowjetzeit. Er erzählt davon<br />
auch in dem gerade fertiggestellten<br />
Dokumentarfilm „Marilyn<br />
Monroe aus Minsk – Lichtblicke<br />
aus Weißrussland“, der in einer<br />
Arbeitsfassung Anfang Dezember<br />
2008 im Kino „Krokodil“ in Berlin<br />
vorgestellt wurde.<br />
Autor und Regisseur Michael<br />
Blume schildert die Geschichte<br />
des Minsker Kinos „Pobeda“ und<br />
seiner Direktorin Swetlana Sawtschik.<br />
Eine gewisse Ähnlichkeit,<br />
die ihr mit der US-Schauspiellegende<br />
nachgesagt wird, führte<br />
zu dem Titel des Films. Swetlana<br />
Sawtschik wird als eine engagierte,<br />
resolute und weltgewandte<br />
Kinoleiterin gezeigt, die mit ihrem<br />
Mit dem zweiten Tag der Deutschen<br />
Wirtschaft am 2. Oktober<br />
und einer Präsentation der Deutschen<br />
Zentrale für Tourismus wurden<br />
deutliche Akzente im Bereich<br />
der wirtschaftlichen Kooperation<br />
gesetzt. Der unter dem Motto<br />
„Unternehmenskultur“ geführte<br />
Wirtschaftstag lockte etwa 250<br />
Gäste zu Vortragsveranstaltungen<br />
und Workshops und erfuhr große<br />
Spielplan dem Zuschauer den Weg<br />
nach Europa öffnet. Dafür hat sie<br />
sich wichtige Verbündete gesucht,<br />
wie die Deutsche und die Französische<br />
Botschaft oder auch das<br />
Goethe-Institut.<br />
Die Geschichte des Kinos „Pobeda“<br />
(„Sieg“) ist eingebettet in die<br />
Wirren der historischen Abläufe<br />
und das städtische Umfeld. Durch<br />
eindringliche Bilder gelingt es<br />
Michael Blume, die Zuschauer<br />
mit auf Zeitreise in die Höhen<br />
und Tiefen des Kinos zu nehmen,<br />
bis zu dessen drohender Schließung.<br />
Dank der Einnahmen vom<br />
„Untergang der Titanic“ kann der<br />
Untergang des Kinos aber doch<br />
verhindert werden.<br />
Blume kam die Idee zu dem Film<br />
bei einem Besuch in Minsk ein Jahr<br />
zuvor. Er war extra angereist, um<br />
im Rahmen einer Lesung seine<br />
Filme vorzustellen, natürlich im<br />
Kino „Pobeda“. Inspiriert von der<br />
überbordenden Lebhaftigkeit der<br />
Kinochefin und ihrem Umfeld<br />
entschloss er sich, über beide einen<br />
Film zu drehen. Unterstützt wurde<br />
das Projekt vom Goethe-Institut<br />
und der Deutschen Botschaft.<br />
Ein überaus erfolgreiches Projekt,<br />
denn „Marylin Monroe“ ist bereits<br />
zur Berlinale angemeldet. Sollte<br />
Kultur & Wissenschaft<br />
Beachtung in den belarussischen<br />
Medien.<br />
Die diesjährige Deutsche Woche<br />
wurde wieder bewusst mit dem<br />
Tag der Deutschen Einheit verbunden.<br />
Damit vermittelten die<br />
Organisatoren eine Kernbotschaft:<br />
Das vereinigte Deutschland steht<br />
für einen europäischen Weg von<br />
<strong>Belarus</strong> als Partner bereit.<br />
das Kino seinem Namen alle Ehre<br />
machen und auch in Berlin, auf<br />
einem der größten europäischen<br />
Kinofestivals, einen Sieg davon<br />
tragen – es wäre die Gelegenheit<br />
für Swetlana Sawtschik, über den<br />
Roten Teppich zu gehen wie einst<br />
ihr Alter Ego. Organisatorisch<br />
kein Problem, denn Sawtschik<br />
wird in jedem Fall zur Berlinale<br />
kommen. Sie holt sich dort jedes<br />
Jahr Anregungen für ihr neues<br />
Kinoprogramm.<br />
Verblüffende Ähnlichkeit: Swetlana Sawtschik,<br />
Kinodirektorin und Heldin des<br />
neuen Dokumentarfilms. Foto: privat<br />
0 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 1
Wählen Sie eine<br />
Prämie für ein<br />
eigenes oder<br />
vermitteltes<br />
Abonnement<br />
1616-7619<br />
oder bestellen<br />
Sie einfach: ISSN<br />
initiativenhandbuch belarus 2<br />
(2003 / 10 Euro)<br />
Märtyrer der belarussischen Christen<br />
(Orthodoxe, Katholiken, Baptisten; 2001/<br />
12 Euro)<br />
Minsk unter deutscher besetzung<br />
(von U. Gartenschläger; 2002 / 12 Euro)<br />
die beziehungen deutschland-belarus<br />
im europäischen Kontext<br />
(von H. Timmermann; 2006 / 5 Euro)<br />
das Vernichtungslager Trostenez<br />
(von P. Kohl; 2003 / 8 Euro)<br />
die Jacobsleiter<br />
(von J. Shepetinski; 2005 / 14,80 Euro)<br />
„existiert das Ghetto noch?“<br />
(Jüdisches Überleben; 2003 / 15 Euro)<br />
überleben im jüdischen Ghetto von<br />
Minsk<br />
(Unterrichts-Arbeitshilfe; 2005 / 5 Euro)<br />
Tschernobyl: Vermächtnis und Verpflichtung<br />
(Osteuropa-Themenheft, 2005 / 15 Euro)<br />
die Leere in slonim<br />
(L. I. Abramowitsch, H.-H. Nolte / 5 Euro)<br />
Mehr Infos erhalten Sie auf der Website<br />
www.ibb-d.de.<br />
Ich bestelle ein Abonnement der<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven ab Nr. ___<br />
(15 Euro/Jahr)<br />
Ich bestelle ein kostenloses Probeheft<br />
An<br />
IBB gGmbH<br />
Bornstr.<br />
1 Dortmund<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Nr. 43<br />
Insider analysieren,<br />
Initiativen berichten.<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven.<br />
Uns lesen Initiativen und Politiker,<br />
Journalisten und Unternehmer<br />
– all jene, die mit Menschen in<br />
<strong>Belarus</strong> zusammen etwas bewegen<br />
wollen.<br />
Wir bringen Deutschland und<br />
<strong>Belarus</strong> einander näher. Nicht<br />
nur, indem wir über deutsch-belarussische<br />
Projekte und Initiativen<br />
berichten. Sondern auch, weil<br />
unsere Beiträge direkt aus <strong>Belarus</strong><br />
Seite abtrennen, hier falten und im Fensterbriefumschlag einsenden oder faxen an (0231) 52 12 33<br />
Ich hätte gerne das Programm<br />
für <strong>Bildungs</strong>- und Begegnungsprojekte<br />
der IBB „Johannes Rau“<br />
Minsk<br />
Ich hätte gerne das Programm für<br />
<strong>Bildungs</strong>- und Begegnungsreisen<br />
des IBB Dortmund<br />
kommen. Seriöses Insiderwissen<br />
und fundierte Analysen auf 30<br />
Seiten, vier Mal im Jahr.<br />
Abonnieren Sie <strong>Belarus</strong>-Perspektiven<br />
zum Vorzugspreis von nur 15<br />
Euro pro Jahr inklusive Versand<br />
oder werben Sie einen Abonnenten.<br />
Sie erhalten als Prämie<br />
eine der nebenstehenden Publikationen.<br />
Name _____________________<br />
Initiative _____________________<br />
Straße _____________________<br />
Wohnort _____________________<br />
Telefon _____________________<br />
Einzugsermächtigung<br />
Hiermit erkläre ich mich damit einverstanden,<br />
dass die IBB gGmbH die<br />
Preise von meinem Konto abbucht.<br />
Inhaber _____________________<br />
Bank _____________________<br />
BLZ _____________________<br />
Konto-Nr. ____________________<br />
Ort Datum ___________________<br />
Unterschrift __________________<br />
(Die Bestellung kann innerhalb von<br />
zehn Tagen widerrufen werden.)