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Belarus- - Internationales Bildungs

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K 46699, Nr. 43<br />

IBB<br />

<strong>Internationales</strong><br />

<strong>Bildungs</strong>- und<br />

Begegnungswerk<br />

Liebe Leserinnen und Leser,<br />

in dieser Ausgabe der <strong>Belarus</strong>-<br />

Perspektiven begeben wir uns<br />

gemeinsam mit Ihnen auf Reisen<br />

- mit Außenminister Martynow<br />

nach Brüssel, mit Wladimir Makej<br />

zum Minsk Forum, mit „Tschernobyl-Kindern“<br />

auf Erholungsfahrt<br />

nach Deutschland.<br />

Etwa vierhundert Teilnehmer<br />

kamen beim diesjährigen Minsk<br />

Forum zusammen. Mit dabei<br />

war diesmal auch der Leiter der<br />

belarussischen Präsidialadministration,<br />

Wladimir Makej. Ob er<br />

eine frohe Botschaft für die Teilnehmer<br />

hatte, lesen Sie auf Seite<br />

2. Um Dialog ging es auch der<br />

Europäischen Delegation, die im<br />

November nach Minsk gereist war,<br />

um sich mit Staats- und Oppositionsvertretern<br />

zu treffen (Seite 4).<br />

Zuvor, am 13. Oktober, hatte die<br />

Europäische Union das Einreiseverbot<br />

für Präsident Lukaschenko<br />

und 36 weitere hochrangige<br />

Staatsbeamte zumindest bis April<br />

aufgehoben (Seite 5). Ein erster<br />

Schritt zu einem diplomatischen<br />

Durchbruch?<br />

Viele Experten fragen sich heute,<br />

was eigentlich aus der belarussischen<br />

Opposition werden soll,<br />

wenn sich der Westen nun direkt<br />

mit der belarussischen Regierung<br />

unterhält. Quo vadis, belarussische<br />

Opposition fragt auch Walerij<br />

Dorochin auf Seite 7. Die einen<br />

dürfen also wieder reisen, die an-<br />

Winter 2009<br />

<strong>Belarus</strong>-<br />

Perspektiven<br />

deren müssen dieses Jahr vielleicht<br />

ganz zu Hause bleiben. Über den<br />

Erlass 555 und die Folgen für die<br />

Erholungsreisen der sogenannten<br />

„Tschernobyl-Kinder“ berichtet<br />

Marina Rachlej auf Seite 6.<br />

Auch der lybische Revolutionsführer<br />

Muammar al-Gaddafi ist gerne<br />

unterwegs und machte im November<br />

einen Abstecher nach Minsk.<br />

Allerdings scheint Gaddafi eher<br />

Individualreisen im traditionellen<br />

Beduinenzelt zu bevorzugen (Seite<br />

6). Aber nicht nur Beduinen reisen<br />

durch Europa. Auch engagierte<br />

junge <strong>Belarus</strong>sen machten sich auf<br />

zum Praktikum ins Europäische<br />

Ausland. Ihre Mikro-Projekte, die<br />

vom Förderprogramm BelaPlus<br />

gefördert wurden, verwirklichten<br />

sie dann allerdings zu Hause (Seite<br />

26).<br />

Allen, die unterwegs sind, sei nicht<br />

nur eine schöne Reise, sondern<br />

auch ein glückliches Eintreffen<br />

am Bestimmungsort gewünscht.<br />

Ob die EU und der belarussische<br />

Staat im Frühjahr wirklich beim<br />

Dialog ankommen und ob die<br />

Sanktionen gegen Präsident Lukaschenko<br />

und weitere Vertreter des<br />

belarussischen Staates aufgehoben<br />

werden, erfahren Sie dann in unserer<br />

nächsten Ausgabe.<br />

Ihre Redaktion<br />

In dieser Ausgabe Seite<br />

Außenpolitik<br />

„Wandel scheint möglich“ 2<br />

Hausaufgaben gemacht? 4<br />

Geopolitische Spielwiese 4<br />

Lukaschenko nach Europa 5<br />

Kinderreisen ade? 6<br />

Revolution in Minsk? 6<br />

innenpolitik<br />

Und die Opposition? 7<br />

Staatliche Zivilgesellschaft 9<br />

Die Korruption frisst ihre Kinder 10<br />

Pressefreiheit privjet? 11<br />

Wirtschaft<br />

Ziel: Investitionsparadies 12<br />

IWF stellt Bedingungen 13<br />

Saure Milchkombinate 14<br />

Selbständige bald flüssig 14<br />

Große Steuerreform 15<br />

Blumenbusiness trocknet aus 15<br />

nGOs & Gesellschaft<br />

Neues Holocaustgedenken 18<br />

„Wendepunkt in staatlicher Sicht“ 19<br />

Nachruf Dr. Eberhard Heyken 20<br />

Nachruf Dr. Heinz Timmermann 21<br />

„Keine Alternative zum Dialog“ 22<br />

Networking online 22<br />

Nachruf Wassilij Nesterenko 23<br />

<strong>Belarus</strong>sische Journalisten on tour 23<br />

„Keine einfachen Lösungen“ 24<br />

Partnerschaftskonferenz 25<br />

Kreative BelaPlussen 26<br />

Pause von Radioaktivität 27<br />

„Tschernobylkinder“ 28<br />

Publikationen<br />

Krieg ohne Zensur 28<br />

Datschen: Wirtschaft oder Kultur? 29<br />

Zwischen Planung und Anarchie 29<br />

Kultur & Wissenschaft<br />

Eine Woche Deutschland 30<br />

Marilyn Monroe in Minsk 31<br />

Chronologie 16<br />

Impressum 12<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Nr. 43


Außenpolitik Außenpolitik<br />

„Wandel scheint möglich“<br />

(dorothea Wolf, Minsk) Vom 13. bis 15. november fand das Minsk Forum Xi statt, veranstaltet von der<br />

stiftung Wissenschaft und Politik sowie der deutsch-belarussischen Gesellschaft. dieses Jahr war das<br />

Forum nicht nur wesentlich internationaler, sondern konnte auch hochrangige staatsvertreter wie Wladimir<br />

Makej begrüßen, den Leiter der belarussischen Präsidialadministration. Wie stehen die Chancen für<br />

den dialog?<br />

Gut 400 Teilnehmer fanden sich<br />

in der IBB Minsk und der belarussischen<br />

staatlichen Wirtschaftsuniversität<br />

ein, lauschten den<br />

Panels und beteiligten sich an<br />

Arbeitsgruppen zu Außenpolitik,<br />

Wirtschaft und Gesellschaft. Das<br />

übergreifende Thema der Konferenz<br />

lautete „Nachbarschaft und<br />

Sicherheit: Perspektiven für <strong>Belarus</strong><br />

in Europa“. Der Vorsitzende<br />

des Minsk Forums Rainer Lindner<br />

unterstrich in seinem Grußwort,<br />

dass das elfte Forum zeitgleich<br />

zu zwei großen Krisen stattfinde:<br />

einerseits „unter dem Eindruck<br />

des Fünftagekriegs in Georgien,<br />

der die sicherheitspolitische Instabilität<br />

im Nachbarschaftsraum<br />

zwischen der EU und Russland<br />

verdeutlicht hat“, zum anderen<br />

während der aktuellen Finanzkrise,<br />

„die sich zu einer Wirtschaftskrise<br />

ausgewachsen hat und bei<br />

der kein Ende abzusehen ist“.<br />

Auch wenn die Beziehungen zwischen<br />

Deutschland und <strong>Belarus</strong><br />

sowie <strong>Belarus</strong> und der EU noch<br />

weit von einer Normalisierung<br />

entfernt seien, so fand Lindner<br />

doch: „Wandel scheint möglich“.<br />

Das fand auch Außenminister<br />

Frank-Walter Steinmeier, der in<br />

seinem verlesenen Grußwort die<br />

Bedeutung des Dialogs für Wandel<br />

in Europa unterstrich. Die EU, so<br />

Steinmeier, werde nach der Freilassung<br />

der letzten international<br />

anerkannten politischen Gefangenen<br />

auch auf politischer Ebene<br />

diesen Dialog fortsetzen. Viel stehe<br />

noch bevor: „Die Parlamentswahlen<br />

vergangenen September<br />

haben die von der EU und der<br />

OSZE in sie gesetzten Hoffnungen<br />

nicht erfüllt“, schrieb Steinmeier<br />

den Staatsvertretern ins Buch. Es<br />

gebe aber durchaus Signale aus<br />

der belarussischen Führung, das<br />

Wahlrecht zu reformieren. Auch in<br />

Man spricht miteinander: Der Leiter der Präsidialadministration Wladimir Makej<br />

(links) im Gespräch mit Rainer Lindner und dem Deutschen Botschafter Gebhardt<br />

Weiss. Foto: Minsk Forum<br />

der Pressefreiheit „sind konkrete<br />

Fortschritte nötig und auch möglich“.<br />

Wladimir Makej, Leiter der<br />

Präsidialadministration der Republik<br />

<strong>Belarus</strong>, drängte in seinem<br />

Vortrag beim Eröffnungspodium<br />

darauf, effektive Instrumente der<br />

Zusammenarbeit zu entwickeln.<br />

So nannte der Leiter der belarussischen<br />

Präsidialadministration<br />

es ökonomisch zweckmäßig für<br />

<strong>Belarus</strong>, sowohl mit seinen Nachbarn<br />

im Westen wie auch mit der<br />

Russischen Föderation Handel<br />

zu treiben. Im politischen Bereich<br />

sprach Makej offen Probleme in<br />

den Beziehungen zur EU an: Die<br />

Union habe vor einigen Jahren<br />

einen entscheidenden Fehler gemacht,<br />

als sie „das europäische<br />

Haus verschlossen“ habe. Den<br />

belarussischen Bürgern den Markt<br />

der EU vorzuenthalten, nannte er<br />

einen „gewissen Egoismus der<br />

EU“. Denn das Wichtigste, so Makej,<br />

sei der einfache Mensch.<br />

Trotz aller Skepsis gegenüber<br />

der Annäherung zwischen EU<br />

und <strong>Belarus</strong> in offiziellen Panel-<br />

Diskussionen zeigte sich doch<br />

in Kaffeepausen oder bei den<br />

abendlichen Empfängen, dass die<br />

Zeichen auf Dialog stehen. „Die<br />

Stimmung beim Forum ist sehr<br />

gut. Die Möglichkeit für Veränderungen<br />

liegt wie Tauwetter in der<br />

Luft“, so Galina Weremejtschik,<br />

Expertin im Koordinationsbüro<br />

des Förderprogramms <strong>Belarus</strong>.<br />

Zu dieser guten Stimmung trugen<br />

sicherlich auch die politischen<br />

Rahmenbedingungen bei, unter<br />

denen das Forum in diesem Jahr<br />

stattfand. Als Reaktion auf die<br />

Freilassung von international<br />

anerkannten politischen Gefangenen<br />

in <strong>Belarus</strong> hatte die EU ihr<br />

Einreiseverbot gegen 37 hochge-<br />

stellte belarussische Beamte für<br />

sechs Monate ausgesetzt. Jean-Eric<br />

Holzapfel, Chargé d’affaires der<br />

Repräsentanz der EU-Kommission<br />

in <strong>Belarus</strong>, nannte dies ein „Fenster<br />

der Möglichkeiten“, das genutzt<br />

werden müsse. Holzapfel verwies<br />

aber auch auf die konkreten<br />

Forderungen der EU, angefangen<br />

bei der Medienfreiheit, über die<br />

Erleichterung der Bedingungen<br />

der NGO-Arbeit bis hin zur Versammlungsfreiheit.<br />

„Auch wenn<br />

es keine politischen Gefangenen<br />

gibt, wissen wir doch von den Problemen“,<br />

betonte Holzapfel.<br />

Um die Bedingungen der journalistischen<br />

Arbeit und die Freiheit<br />

der Medien drehte sich auch vieles<br />

in der letzten Sitzung der Arbeitsgruppe<br />

„Gesellschaft“ zum Thema<br />

„Informationsräume in <strong>Belarus</strong>“.<br />

Elfie Siegel, freiberufliche Journalistin<br />

und frühere Moskau-Korrespondentin<br />

der Frankfurter Allgemeinen<br />

Zeitung, betonte zwar,<br />

dass man die Situation der Medien<br />

in <strong>Belarus</strong> nicht so losgelöst von<br />

der im Westen sehen sollte, wo es<br />

auch zunehmend Probleme mit<br />

der Pressefreiheit gebe. Allerdings<br />

verwies sie auf den Index von<br />

„Reporter ohne Grenzen“, der die<br />

Ukraine von 2005 auf 2008 um<br />

zwei dutzend Plätze besser bewertete,<br />

gleichzeitig aber <strong>Belarus</strong> und<br />

Russland um ein paar Plätze nach<br />

unten versetzte. Konkret rutschte<br />

<strong>Belarus</strong> im Index von Platz 152<br />

auf Platz 154 ab – in die unmittelbare<br />

Gesellschaft von Somalia,<br />

Jemen und Syrien. Dieses düstere<br />

Bild bestätigte Schanna Litwina<br />

vom <strong>Belarus</strong>sischen Journalistenverband.<br />

Akkreditierungs- oder<br />

Quellenprobleme erschwerten<br />

es belarussischen Journalisten,<br />

nach internationalen Normen<br />

und Standards zu arbeiten. Außerdem<br />

würde tagtäglich Druck<br />

auf Redaktionen ausgeübt, so<br />

Litwina, die dem Publikum zum<br />

Beweis einige Dokumente vorlas.<br />

Ins Kreuzfeuer der Kritik geriet<br />

auch das im Februar 2009 in Kraft<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43<br />

Unzufrieden mit der Pressefreiheit: Andrej Dynko, stellvertretender Chefredakteur<br />

von „Nascha Niwa“, und die Vorsitzende des Journalistenverbands Schanna Litwina.<br />

Foto: Minsk Forum<br />

tretende neue Mediengesetz der<br />

Republik <strong>Belarus</strong>. Andrej Dynko,<br />

stellvertretender Chefredakteur<br />

der unabhängigen Zeitung „Nascha<br />

Niwa“ und Moderator der<br />

Diskussionsrunde, bedauerte, dass<br />

man im Bereich Journalismus zwar<br />

über, aber nicht miteinander rede:<br />

„Bei der Arbeitsgruppe Wirtschaft<br />

sind staatliche Vertreter dabei, hier<br />

in der Arbeitsgruppe Gesellschaft<br />

nicht“. Dennoch zogen auch in<br />

dieser Gruppe die Teilnehmer<br />

der Podiumsdiskussion verhalten<br />

optimistische Schlüsse. Durch<br />

Kooperationen mit dem Westen,<br />

wie bei der Ausbildung junger<br />

Journalisten und mit der „Politik<br />

der kleinen Schritte“ könnten<br />

auch hier nach und nach Veränderungen<br />

erreicht werden, meinten<br />

die Experten.<br />

Der Wille zu Veränderungen war<br />

auch in den anderen Arbeitsgruppen<br />

spürbar. Hans-Dieter Lucas,<br />

Beauftragter für Osteuropa, Zentralasien<br />

und Kaukasus des Auswärtigen<br />

Amtes, stimmte vielen<br />

Kollegen bei, dass die „Zeichen<br />

wirklich auf Wandel stehen“ und<br />

man sich auf eine Normalisierung<br />

mit <strong>Belarus</strong> einlassen solle: „Die<br />

strategische Zielsetzung muss<br />

sein, dass <strong>Belarus</strong> voll in die Europäische<br />

Nachbarschaftspolitik<br />

und die Östliche Partnerschaft<br />

eingebunden wird“. Denis Sidorenko,<br />

Leiter der Abteilung für<br />

die OSZE und den Europarat beim<br />

belarussischen Außenministerium,<br />

plädierte gar für eine juristische<br />

Erneuerung der Beziehungen<br />

zur EU.<br />

Auch der Vorsitzende des Minsk<br />

Forum, Rainer Lindner, zog eine<br />

positive Bilanz: „Wir begegnen<br />

uns heute auf einer anderen Ebene.<br />

Die Gespräche der letzten<br />

zwei Tage haben dies gezeigt.<br />

Die nächsten fünf bis sechs Monate<br />

müssen von beiden Seiten,<br />

auch der EU, genutzt werden für<br />

konkrete Schritte“. Ziel müsse<br />

dabei eine Normalisierung der<br />

Beziehungen sein. Lindner zählte<br />

hierzu auch die im Verlaufe des<br />

Forums oft genannten „Schritte<br />

oder Möglichkeiten für <strong>Belarus</strong>“<br />

auf, unter anderem die Verbesserung<br />

der Medienfreiheit, der<br />

Versammlunsfreiheit sowie des<br />

Wahlrechts. Es bleibt abzuwarten,<br />

ob wirklich, wie sich Wladimir<br />

Makej gewünscht hatte „nicht nur<br />

Licht, sondern auch ein Ende des<br />

Tunnels“ abzusehen sein wird.


Außenpolitik Außenpolitik<br />

Hausaufgaben gemacht?<br />

(Pauljuk bykowskij, Minsk) Anfang november besuchte eine delegation der europäischen Kommission<br />

(eK) Minsk. unter Leitung von Hugues Mingarelli, dem stellvertretenden Generaldirektor für Außenbeziehungen,<br />

traf sie sich sowohl mit hochgestellten staats- als auch mit Oppositionsvertretern.<br />

Auf offizieller Seite wurden die<br />

europäischen Beamten hochrangig<br />

empfangen: Zunächst in der<br />

Präsidialadministration, dann im<br />

Ministerrat und schließlich im<br />

Außenministerium. Altbekannt<br />

war die Einigkeit über eine Zusammenarbeit<br />

in den Bereichen<br />

Energiesicherheit, Transit und<br />

Zollfragen. Neu war zumindest<br />

die Idee, <strong>Belarus</strong> in die „Technical<br />

Assistance Information Exchange<br />

Unit“ aufzunehmen, ein EU-Instrument,<br />

das Hilfe dabei gewährt,<br />

Gesetze an EU-Recht anzugleichen.<br />

Ob <strong>Belarus</strong> dies wirklich<br />

will, blieb offen. Klar war jedoch,<br />

dass beide Seiten eine Vertiefung<br />

des Dialogs anstreben.<br />

Auf Oppositionsseite hieß die<br />

Koalition „Vereinte Demokratische<br />

Kräfte“ (VDK) die hohen<br />

Gäste willkommen. Ausgerechnet<br />

bei diesem Treffen betonte<br />

Delegationschef Mingarelli, dass<br />

die EU sich in den Beziehungen<br />

mit <strong>Belarus</strong> einen „totalen Neuanfang“<br />

wünsche. Dem hätten<br />

Außenminister Martynow und<br />

die stellvertretende Chefin der<br />

Präsidialadministration, Natallja<br />

Petkewitsch, zugestimmt, so<br />

Mingarelli. So viel traute Einigkeit<br />

dürfte den Oppositionellen kaum<br />

geschmeckt haben – dennoch ließ<br />

sich der VDK-Vorsitzende Anatolij<br />

Lebedko nichts davon anmerken<br />

und erklärte, er habe bekommen,<br />

was er wollte: „Die Kommission<br />

hat alle unsere Forderungen positiv<br />

aufgenommen“, so Lebedko,<br />

„außerdem wird sie Alexander Lukaschenko<br />

auf unseren Vorschlag<br />

hin anbieten, ein Moratorium auf<br />

politische Repressionen zu verhängen.“<br />

Nach wie vor stellt die EU Forderungen<br />

für einen Dialog. Fünf<br />

Kriterien hat sie <strong>Belarus</strong> aufgegeben.<br />

Der EK-Vertreter in Minsk,<br />

Jean-Eric Holzapfel, brachte diese<br />

beim Minsk Forum auf den Punkt:<br />

1) keine politischen Gefangenen,<br />

2) Garantie der Meinungs- und<br />

Pressefreiheit, 3) Fortsetzung<br />

des Dialogs mit der OSZE über<br />

eine Reform der belarussischen<br />

Wahlgesetzgebung, 4) keine Ver-<br />

Geopolitische Spielwiese<br />

Das <strong>Belarus</strong>sische Institut für<br />

Strategische Forschung (BISI) hatte<br />

sich mit seiner Tagung „<strong>Belarus</strong>:<br />

Raum für Veränderung schaffen“<br />

eine anspruchsvolle Aufgabe gestellt.<br />

Tatsächlich kamen die Diskussionen<br />

zu dem Ergebnis, dass<br />

sich seit dem georgisch-russischen<br />

Krieg die Konstellation völlig<br />

verändert habe. Während vor<br />

dem Krieg vor allem die Auseinandersetzung<br />

zwischen Präsident<br />

und Opposition im Vordergrund<br />

gestanden habe, stehe <strong>Belarus</strong> nun<br />

vor einer komplizierten geopolitischen<br />

Situation, in der sowohl<br />

West als auch Ost das Land auf<br />

ihre Seite ziehen wollten. Dabei<br />

habe das Lukaschenko-Regime<br />

die „Fähigkeit zu begrenzten<br />

Kompromissen“ bewiesen, stellte<br />

Witalij Silitzkij fest, der Direktor<br />

des BISI. Schließlich beginne das<br />

Regime nicht nur mit der Privatisierung<br />

von Staatseigentum,<br />

sondern schwäche teilweise auch<br />

seine Kontrolle über die Zivilgesellschaft<br />

ab. Allerdings hat das<br />

schlechterung des rechtlichen<br />

Status‘ von NGOs, 5) Garantie der<br />

Versammlungsfreiheit. Nach Worten<br />

von Holzapfel ersetzen diese<br />

fünf Punkte nicht das vor zwei<br />

Jahren aufgestellte 12-Punkte-<br />

Programm mit Forderungen der<br />

EU an <strong>Belarus</strong>. Es handele sich<br />

lediglich um eine Prioritätenliste,<br />

deren Erfüllung notwendig sei,<br />

um das Dialogfenster weiter offen<br />

zu halten.<br />

Auf die Perspektiven der Annäherung<br />

angesprochen, äußerte sich<br />

Hugues Mingarelli vorsichtig: „In<br />

den kommenden sechs Monaten<br />

wollen wir ständig den Dialog<br />

mit der belarussischen Staatsführung<br />

suchen, um Fragen der<br />

Entwicklung des NGO-Sektors,<br />

der Wahl- und der Arbeitsschutzgesetzgebung<br />

zu besprechen“,<br />

so der Chef der EK-Delegation.<br />

Indes sagte Vizepremier Andrej<br />

Kobjakow, <strong>Belarus</strong> erkenne zwar<br />

die Notwendigkeit, an den „Hausaufgaben“<br />

der EU zu arbeiten,<br />

„erwartet jedoch auch adäquate<br />

Schritte von Seiten der EU“.<br />

(Alexander sawitzkij, Kiew/Ms) Mitte november trafen sich in Kiew die belarussischen big brains der<br />

politischen Analyse und zerbrachen sich den Kopf darüber, wie europa mit belarus umgehen sollte.<br />

Problem des Machterhalts für<br />

Lukaschenko nun an Komplexität<br />

gewonnen, fand der Analyst<br />

Leonid Maltzew: „Es gibt noch<br />

keinen vollwertigen Dialog mit<br />

dem Westen und noch keinen vollwertigen<br />

Bruch mit Russland. Die<br />

Schwierigkeit der Situation besteht<br />

darin, den Dialog auf den Weg zu<br />

bringen und gleichzeitig einigermaßen<br />

normale Beziehungen zu<br />

Russland zu bewahren.“<br />

Dieser Beitrag wurde von der Deutschen<br />

Welle am 12.11.2008 gesendet.<br />

Lukaschenko nach Europa<br />

Jahrelang war Alexander Lukaschenko<br />

Persona non grata in<br />

Europa – nun könnte der belarussische<br />

Präsident bald wieder<br />

in Skiurlaub nach Österreich<br />

fahren. Zumindest die laufende<br />

Skisaison kann Lukaschenko noch<br />

mitnehmen, denn bis April kann<br />

er definitiv in die EU einreisen.<br />

Auch auf Ministerialebene scheint<br />

die Eiszeit mit der EU vorbei:<br />

Erstmals seit drei Jahren traf sich<br />

die außenpolitische Trojka der<br />

EU – Bernard Kouchner als Außenminister<br />

des Ratsvorsitzenden<br />

Frankreich, die Kommissarin für<br />

Außenbeziehungen und europäische<br />

Nachbarschaftspolitik<br />

Benita Ferrero-Waldner sowie der<br />

Repräsentant für Außen- und Sicherheitspolitik<br />

Javier Solana – mit<br />

dem belarussischen Außenminister<br />

Sergej Martynow. Offenbar<br />

wurde man sich bei dem Gespräch<br />

einig, denn danach verkündete der<br />

Rat seine Entscheidung über die<br />

vorübergehende Aufhebung der<br />

Sanktionen.<br />

Lediglich fünf Beamte dürfen nach<br />

wie vor nicht auf EU-Territorium<br />

einreisen: vier, die in das Verschwinden<br />

von Regimegegnern<br />

zwischen 1999 und 2000 verwickelt<br />

sein sollen, sowie die Leiterin der<br />

Zentralen Wahlkommission Lidija<br />

Jermoschina, die für die letzten,<br />

von der OSZE nicht anerkannten<br />

Parlamentswahlen verantwortlich<br />

zeichnete. Außerdem hält es Brüssel<br />

nach wie vor für sinnvoll, mit<br />

der Einfrierung der Konten der<br />

41 Staatsbediensteten zu drohen<br />

– falls diese Konten auf EU-Boden<br />

gefunden werden sollten. Werden<br />

sie aber nicht, meinen die Beamten<br />

und ihr oberster Vertreter, Staatschef<br />

Lukaschenko. Lukaschenko<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43<br />

(Pauljuk bykowskij, Minsk) Am 13. Oktober entschlossen sich die eu-Außenminister in Luxemburg, die<br />

einreiseverbote für Präsident Lukaschenko und 36 weitere hochgestellte belarussische beamte für eine<br />

Probezeit von einem halben Jahr aufzuheben. stehen Minsk und brüssel vor einem durchbruch in ihren<br />

beziehungen?<br />

hatte bereits vor Jahren ironisch<br />

verkündet, er werde all sein Geld,<br />

das in der EU auftauche, dem Finder<br />

schenken.<br />

Derweil hatte das aktuelle süße<br />

EU-Geschenk durchaus einen<br />

bitteren Nachgeschmack. Denn<br />

wenn die Staatselite auch in der<br />

kommenden Urlaubssaison 2009<br />

nach Paris und London fliegen<br />

will, müssen im April alle EU-Außenminister<br />

geschlossen für eine<br />

Aufhebung der Sanktionen stimmen.<br />

Benita Ferrero-Waldner unterstrich,<br />

die EU behalte sich „eine<br />

uneingeschränkte Wiederaufnahme<br />

der Sanktionen vor“, falls<br />

<strong>Belarus</strong> die Menschenrechte nicht<br />

achte. Das belarussische Volk,<br />

so Ferrero-Waldner, „steht vor<br />

einer historischen Entscheidung:<br />

entweder in Richtung Demokratie<br />

zu schreiten oder in Richtung der<br />

politischen Stagnation“.<br />

Davon wollte Alexander Lukaschenko<br />

im Oktober noch nichts<br />

wissen. „Alle Hindernisse für den<br />

Dialog mit der EU sind aufgehoben“<br />

verkündete der Präsident<br />

bei der Kranzniederlegung am<br />

Mahnmal für die Opfer des Minsker<br />

Ghettos am 20. Oktober (siehe<br />

Seite 18). Zufrieden lobte Lukaschenko<br />

seine Brüsseler Kollegen:<br />

„Dieser Schritt ist ihnen sicher<br />

nicht leicht gefallen, schließlich<br />

handelt es sich um 27 Staaten. Ich<br />

denke, unsere Beziehungen zur<br />

EU haben sehr gute Perspektiven“,<br />

betonte der Staatschef. Offenbar<br />

liegt Lukaschenko richtig, denn<br />

inzwischen hat sich die EU auch<br />

dazu durchgerungen, über wirtschaftlich<br />

vorteilhafte Angebote<br />

für <strong>Belarus</strong> nachzudenken. Zum<br />

Beispiel schlug das Europäische<br />

Parlament dem EU-Ministerrat<br />

vor, <strong>Belarus</strong> unter Umständen<br />

in das Programm Östliche Partnerschaft<br />

mit aufzunehmen, was<br />

für belarussische Firmen einen<br />

erleichterten Zugang zum attraktiven<br />

EU-Markt bedeuten könnte.<br />

Die USA indes halten sich im<br />

Vergleich zu ihren europäischen<br />

Partnern bisher zurück. Man plane<br />

keine vergleichbaren Schritte,<br />

unterstrich der Deputy Assistant<br />

Secretary für Russland, Ukraine<br />

und <strong>Belarus</strong> des US-Außenministers,<br />

David Merkel, am 21. Oktober<br />

in einem Reuters-Interview. Allerdings<br />

hatten die USA nach der<br />

Freilassung politischer Gefangener<br />

Anfang September einen Teil ihrer<br />

Wirtschaftssanktionen aufgehoben.<br />

Nun können amerikanische<br />

Firmen zumindest im nächsten<br />

halben Jahr in <strong>Belarus</strong> Ölprodukte,<br />

Farben und Glasfasern kaufen.<br />

Gleichzeitig liegen die Aktiva<br />

des Ölkonzerns „Belneftechim“<br />

in den USA nach wie vor auf Eis.<br />

Washington erwarte, so Merkel,<br />

„anderen bedeutsame Schritte<br />

im Bereich der Menschenrechte<br />

oder der Zivilgesellschaft“, um<br />

die Sanktionen aufzuheben. Dass<br />

auch die EU mittelfristig auf eine<br />

Verbesserung in diesen Bereichen<br />

hofft, machten die Vertreter der<br />

EU-Kommission bei ihrem Besuch<br />

in Minsk klar (Seite 4). In Brüssel<br />

und Washington ist man offenbar<br />

der Meinung, dass nun Minsk<br />

am Zug sei. Sollte die EU mit der<br />

belarussischen Staatsführung<br />

zufrieden sein, könnte Präsident<br />

Lukaschenko sich nicht nur auf<br />

eine schöne Skisaison freuen. Er<br />

wäre eventuell auch beim nächsten<br />

EU-Ratsgipfel in Prag mit dabei.


Außenpolitik Innenpolitik<br />

Kinderreisen ade?<br />

(Marina rachlej, Minsk) im August beschloss die 16-jährige belarussin Tatjana Kosyro, bei ihrer Gastfamilie<br />

in den usA zu bleiben, zu der sie seit neun Jahren über ein Tschernobyl-Programm reiste. das war<br />

der zweite skandal dieser Art, nachdem vor zwei Jahren das 10-jährige Waisenkind Viktoria Moroz nicht<br />

aus italien zurück wollte. ein skandal zu viel, meinte Präsident Lukaschenko und legte per erlass alle<br />

Kinderreisen auf eis. Wie geht es weiter?<br />

Um sich vor weiteren bösen Überraschungen<br />

zu schützen, hat der<br />

belarussische Staat nun eine klare<br />

Bedingung an Kindererholungsreisen<br />

geknüpft: Zwischen <strong>Belarus</strong><br />

und dem Zielland muss es ein<br />

entsprechendes bilaterales Abkommen<br />

geben, das die Sicherheit<br />

der Kinder sowie ihre rechtzeitige<br />

Rückkehr garantiert und das Reisealter<br />

auf 7 bis 14 Jahre beschränkt.<br />

Zudem soll es den Kindern nur<br />

erlaubt sein, dreimal in das gleiche<br />

Land zu fahren.<br />

Ein Schlag für Gastfamilien in aller<br />

Welt, die jedes Jahr über 30.000<br />

belarussische Kinder zu Erholungsurlauben<br />

bei sich aufnehmen,<br />

denn bisher hat nur Italien<br />

ein solches Abkommen unterzeichnet,<br />

Irland steht kurz davor.<br />

Deutsche NGOs laden vor allem<br />

„Tschernobyl-Kinder“ ein, NGOs<br />

aus den USA oder Italien vor<br />

allem belarussische Waisenkinder.<br />

Nun liegen auch die Fahrten nach<br />

Deutschland vorerst auf Eis, Ausnahme<br />

sind Aufenthalte zwischen<br />

Revolution in Minsk?<br />

dem 20. Dezember und dem 20.<br />

Januar. Ein Weihnachtsgeschenk,<br />

das die stellvertretende Leiterin<br />

der Präsidialadministration, Natallja<br />

Petkewitsch, als großzügige<br />

Geste an die EU bezeichnete.<br />

Nach dem 20. Januar kommt allerdings<br />

das böse Erwachen, denn<br />

20 Länder haben bisher noch kein<br />

Abkommen unterschrieben. Und<br />

selbst bei zügigen Verhandlungen<br />

und schneller Unterzeichnung<br />

kann nicht davon ausgegangen<br />

werden, dass die Kinderreisen<br />

2009 in vollem Umfang stattfinden<br />

können. Minsk besteht jedoch auf<br />

den Verträgen, weil man fürchtet,<br />

dass sich sonst Fälle wie mit<br />

Kosyro oder Moroz wiederholen.<br />

Außerdem, so der belarussische<br />

Politologe Jurij Tschausow, sei<br />

man in Minsk gewohnt, mit Beamten<br />

zu kommunizieren, und<br />

nicht mit NGO-Vertretern. Doch<br />

die Kindererholung wird in erster<br />

Linie von kleinen und mittelgroßen<br />

NGOs praktiziert. „Es werden<br />

sich wohl kaum alle europäischen<br />

Regierungen dazu bereit erklären,<br />

die Verantwortung für diese Kinderreisen<br />

zu übernehmen“, so der<br />

Experte.<br />

Bereits 2004 hatte Präsident Lukaschenko<br />

einen Sturm der Entrüstung<br />

ausgelöst mit seiner Forderung,<br />

die Zahl der Erholungsaufenthalte<br />

belarussischer Kinder<br />

radikal abzusenken, da sie „vom<br />

Kapitalismus verdorben“ würden.<br />

Das Ausland sei der Staatsmacht<br />

jedoch suspekt, so der belarussische<br />

Politologe Walerij Karbalewitsch,<br />

denn „die Kinder erzählen<br />

natürlich, wie die Leute da im<br />

Westen leben. Und dass <strong>Belarus</strong><br />

nicht ganz so wundervoll ist, wie<br />

es uns das Staatsfernsehen glauben<br />

macht“. Doch offenbar ist nicht<br />

alles Gold, was glänzt: Tatjana Kosyro<br />

zumindest, die zwei Wochen<br />

lang die belarussische Diplomatie<br />

mit ihren Ausreisewünschen in<br />

Atem gehalten hatte, überlegte es<br />

sich noch einmal und kehrte aus<br />

den USA nach <strong>Belarus</strong> zurück. Sie<br />

habe ihre Großmutter vermisst,<br />

erklärte die 16-Jährige.<br />

(Marina Rachlej, Minsk) Anfang November kam der lybische Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi nach<br />

Minsk. Sein traditionelles Beduinenzelt schlug der inoffizielle Staatschef neben Lukaschenkos Residenz<br />

in Saslawl auf. Konnte Gadaffi den Geist der Revolution nach <strong>Belarus</strong> tragen?<br />

„Bruder!“, begrüsste Alexander<br />

Lukaschenko seinen lybischen Kollegen<br />

überschwenglich, „Freund!“,<br />

erwiderte ebenso glücklich Gaddafi.<br />

„Treffen eines ehemaligen<br />

Diktators mit einem ehemaligen<br />

Terroristen“, gifteten internationale<br />

Medien. Ob Brüder oder<br />

Diktatoren, die beiden Staatschefs<br />

wollten bei ihrem Treffen<br />

unter sich bleiben. Still und leise<br />

besprachen sie Dinge, von denen<br />

vermutet wird, es handele sich<br />

vor allem um Verteidigungsfragen<br />

und Waffengeschäfte. Vor<br />

den Fernsehkameras beteuerten<br />

Lukaschenko und Gaddafi dann,<br />

wie wichtig ihnen eine multipolare<br />

Welt sei, und – selbstverständlich<br />

– die bilateralen Beziehungen zwischen<br />

<strong>Belarus</strong> und Lybien. Beide<br />

zelebrierten vor allem die hohe<br />

Kunst der diplomatischen Höflichkeitsfloskeln:<br />

„Wir wissen, wie<br />

schwer es ist, völlig unberechtigte<br />

internationale Sanktionen zu ertragen“,<br />

versicherte Lukaschenko.<br />

„Wir schätzen Ihre Prinzipientreue<br />

und Standhaftigkeit“, lobte Gaddafi.<br />

Offiziell unterzeichneten<br />

die Staatschefs einige bilaterale<br />

Abkommen, unter anderem zur<br />

Zusammenarbeit in Steuerfragen<br />

und im Medienbereich. Die Revolution<br />

blieb aus.<br />

Und die Opposition?<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43<br />

(Walerij dorochin, Minsk) Mit der Annäherung zwischen belarus und der eu stellt sich die Frage, was<br />

eigentlich aus der belarussischen Opposition werden soll. Wir baten den Chefredakteur des unabhängigen<br />

internet-nachrichtenportals telegraph.by, Walerij dorochin, um eine Analyse.<br />

Eigentlich hat die belarussische<br />

Opposition ja ihren festen Platz<br />

in <strong>Belarus</strong>. Wie der aussieht,<br />

verrät uns Volkes Sprache. Wagt<br />

man es, ältere Menschen darauf<br />

hinzuweisen, dass ihre 100-Euro-<br />

Rente eigentlich kaum zum Leben<br />

reicht, schallt es einem giftig „Oppositioneller!“<br />

entgegen. Wenn<br />

Journalisten aus kritischen – also<br />

„oppositionellen“ – Medien einen<br />

Staatsbeamten um einen Kommentar<br />

bitten, wird dieser sicherheitshalber<br />

„Nein!“ bellen oder bei<br />

mindestens drei höher stehenden<br />

Instanzen um Erlaubnis fragen.<br />

In der U-Bahn schimpft das Volk<br />

regelmäßig über Oppositionelle,<br />

die sich dem Westen verkauft<br />

hätten und nun „gemütlich auf<br />

ihren großen Datschen sitzen und<br />

Schaschlik grillen“. Ich fürchte,<br />

bald werden sich <strong>Belarus</strong>sen im<br />

Streit mit dem vernichtenden<br />

Urteil „Selber Oppositioneller!“<br />

niederschreien.<br />

Das alles mag daran liegen, dass<br />

„Oppositioneller“ für die meisten<br />

<strong>Belarus</strong>sen ein relativ abstrakter<br />

Begriff ist, der inzwischen soviel<br />

wie „Saboteur“ oder „Miesmacher“<br />

bedeutet. Und in dieser Rolle<br />

ist die Opposition genau so zu<br />

einer Konstante des belarussischen<br />

Systems geworden wie ihr Widersacher,<br />

der ewige Präsident.<br />

Während sich Lukaschenko bereits<br />

beachtliche 15 Jahre auf seine<br />

Machtvertikale verlassen kann, hat<br />

die Opposition ihre eigene Stabilität<br />

entwickelt, fern jeder politischen<br />

Entscheidungsgewalt. Ihre<br />

Führer sind in Initiativlosigkeit<br />

erstarrt und haben aufgehört, als<br />

politische Subjekte zu existieren.<br />

Stattdessen führen sie von Zeit<br />

zu Zeit Protestmärsche durch, zu<br />

denen immer weniger Menschen<br />

kommen, und fahren regelmäßig<br />

nach Europa, um „über die Situation<br />

in <strong>Belarus</strong> zu informieren“.<br />

OPPOsiTiOneLLe<br />

nOMenKLATur<br />

Offenbar haben die erklärten<br />

Feinde des Präsidenten sich ein<br />

Beispiel an den Staatsbeamten<br />

genommen, die wie durch Zauberhand<br />

in Parlamente im ganzen<br />

Land gewählt werden, und halten<br />

sich einfach an ihren „Big Spender“.<br />

Was dem Apparatschik der<br />

Präsident, ist dem Oppositionellen<br />

der westliche Sponsor. Also verfassen<br />

die großen oppositionellen<br />

Denker viele schlaue Konzepte<br />

zur Zukunft und Entwicklung<br />

des Landes, schicken sie an europäische<br />

Insitutionen, organisieren<br />

seltene und relativ sinnlose<br />

Demonstrationen – mit einem<br />

Wort, leben ihr relativ friedliches<br />

Oppositionsleben vor sich hin<br />

und warten auf Finanzierung von<br />

außen.<br />

Dabei haben die vorhersehbar<br />

erfolglosen Forderungen der Opposition<br />

nach Demokratie und<br />

Reformen über die Jahre eine geradezu<br />

selbstironische Ritualität angenommen.<br />

Denn mit jedem neuen<br />

Flugblatt, das in Parteizentralen<br />

vor sich dahinvegetiert, mit jeder<br />

neuen politischen Kampagne und<br />

ihren Losungen, die zum Wähler<br />

nicht durchdringen, bestätigt das<br />

oppositionelle Establishment sein<br />

abgrundtief schlechtes Image<br />

beim Volk. Ach ja, das Volk. Das<br />

bekommt seine oppositionellen<br />

Gönner nur kurz vor Wahltagen<br />

oder an großen Feiertagen zu<br />

Gesicht, weil die Opposition die<br />

restlichen 350 Tage im Jahr mit sich<br />

selbst beschäftigt ist.<br />

Denn tagein, tagaus, Jahr um Jahr<br />

der gleich sinnlose Protest – das<br />

geht selbst alteingesessenen Parteiveteranen<br />

auf die Nerven. Also<br />

streiten sie sich um ihre realpolitisch<br />

fragwürdigen Vollmachten<br />

– zum Beispiel darüber, wer zum<br />

nächsten EU-Gipfel reisen darf.<br />

Nur einige Episoden aus der<br />

filmfreifen belarussischen Oppositiongeschichte<br />

der letzten zwei<br />

Jahre: Alexander Milinkewitsch,<br />

bis zu den Präsidentschaftswahlen<br />

2006 von der Opposition als Leitfigur<br />

präsentiert, fällt kurz nach<br />

den Wahlen in Ungnade. Seine<br />

Gegner diskreditieren ihn öffentlich<br />

und zerstören erfolgreich<br />

zwei Jahre intensiver politischer<br />

PR-Arbeit. Alexander Kosulin,<br />

der Lukaschenko-Widersacher<br />

mit dem eisernen Willen und<br />

den finanzstarken Freunden in<br />

Russland, wird kurz vor seiner<br />

Entlassung aus dem Gefängnis<br />

von seinen sozialdemokratischen<br />

Parteifeinden seines Postens als<br />

Parteivorsitzender enthoben. Aber<br />

auch andere Parteien haben hohen<br />

Unterhaltungswert. Zum Beispiel<br />

die Grande Dame der oppositionellen<br />

Parteienlandschaft, die<br />

nationalpatriotische <strong>Belarus</strong>sische<br />

Volksfront. Vor einem Jahr versuchte<br />

die BNF, einen neuen<br />

Vorsitzenden zu wählen, und zerbrach<br />

beinahe an innerparteilichen<br />

Grabenkämfen. Zum Schluss entließ<br />

sie mit Schimpf und Schande<br />

ihren stellvertretenden Vorsitzenden<br />

und Nachwuchspolitiker<br />

Alexej Michalewitsch, weil er es<br />

gewagt hatte, die Parteilinie in<br />

einer Zeitung zu kritisieren. Und<br />

die Kommunisten sind seit Jahren<br />

auf Selbstfindungspfaden unterwegs<br />

und versuchen verzweifelt,<br />

zu Sozialisten zu werden. Solch<br />

„oppositionelles Gewurschtel“,<br />

um es mit den Worten von Präsident<br />

Lukaschenko zu sagen, ist<br />

wohl kaum geeignet, die unterirdisch<br />

schlechten Umfragewerte


Innenpolitik Innenpolitik<br />

Da war‘s vorbei mit der Einheit: Ex-Präsidentschaftskandidat Alexander Milinkewitsch<br />

(r.) und Anatolij Lebedko von der Vereinten Bürgerpartei geben im Februar<br />

2007 den Zerfall ihres oppositionellen Bündnisses bekannt. Foto: ucpp.org<br />

der Opposition aufzupolieren.<br />

Offenbar kümmert das die betroffenen<br />

Parteiführer auch herzlich<br />

wenig. Am liebsten hätten sie die<br />

letzten Parlamentswahlen einfach<br />

boykottiert, wenn nicht Europäer<br />

und Amerikaner für diesen Fall<br />

damit gedroht hätten, ihre Unterstützung<br />

einzustellen. Also gingen<br />

die oppositionellen Kandidaten<br />

aufs staatliche Schaffot. Denn<br />

Lukaschenko übte zwar wie versprochen<br />

keinen Druck auf sie aus,<br />

gönnte ihnen aber auch keinen<br />

einzigen Parlamentssitz.<br />

der ObersTe<br />

OPPOsiTiOneLLe<br />

Lukaschenko benutzt die Opposition<br />

sowieso seit Jahren als<br />

Sandsack für seine rhetorischen<br />

Faustschläge. Immer wieder tönte<br />

der Staatschef auf allen Kanälen,<br />

er kenne keine Opposition, nur<br />

„Spinner, die sich dem Westen<br />

verkauft haben“. Doch seit Europa<br />

mit dem Dialog winkt, hat auch<br />

Lukaschenko seine Rhetorik dem<br />

Tauwetter angepasst. Eigentlich,<br />

meinte der Präsident im Oktober,<br />

sei er ja der oberste Oppositionelle<br />

des Landes. „Vor ihnen steht ein<br />

ehemaliger Oppositioneller, ein<br />

konstruktiver Opppositioneller,<br />

der nicht von oben zum Präsidenten<br />

ernannt wurde“. Deshalb<br />

macht sich Lukaschenko offenbar<br />

auch väterliche Sorgen um seine<br />

politischen Gegner, ist aber geduldig:<br />

„Es braucht Zeit, bevor in<br />

<strong>Belarus</strong> eine normale Opposition<br />

entsteht. Keine amerikanische,<br />

deutsche, englische, sondern eine<br />

patriotische Opposition, die den<br />

Willen des Volkes vertritt“, findet<br />

der Präsident. Selbst mit solchen<br />

Attributen scheint sich die „unpatriotische“<br />

Opposition abgefunden<br />

zu haben und bietet dem<br />

Präsidenten inzwischen sogar ihre<br />

Dienste an: Am 19. Dezember erklärte<br />

Alexander Milinkewitsch,<br />

er schließe eine Zusammenarbeit<br />

zwischen Opposition und Staatsmacht<br />

vor dem Hintergrund der<br />

Annäherung an die EU nicht aus.<br />

Milinkewitschs oppositionsinterner<br />

Gegenspieler Anatolij Lebedko<br />

geht sogar noch weiter und erklärt<br />

sich bereit, das Joch der politischen<br />

Verantwortung auf sich<br />

zu nehmen. „Ich finde, das ist eine<br />

ehrliche und verantwortungsvolle<br />

Position“, so der 47-Jährige, der bei<br />

Lukaschenkos erstem Wahlerfolg<br />

1994 noch zum Team der „jungen<br />

Wilden“ des frischgebackenen<br />

Präsidenten gehörte. „Wir haben<br />

genug Erfahrung bei der Schaffung<br />

von Programmen, dem Verfassen<br />

von Konzepten, Gesetzesvorlagen<br />

– und heute erklären wir, dass<br />

wir es für möglich halten, das Geschriebene<br />

Wirklichkeit werden<br />

zu lassen.“ Zweifellos muss man<br />

Lebedko Recht geben. Wenn die<br />

Opposition zu etwas in der Lage<br />

ist, dann ist es das Verfassen von<br />

Konzepten. Allerdings glauben<br />

die Oppositionsführer wohl kaum<br />

ernsthaft daran, dass sie ihr Erzfeind<br />

bald zu Ministern macht.<br />

Vermutlich haben sie, genau wie<br />

vor den Parlamentswahlen, eine<br />

„Empfehlung“ aus Brüssel und<br />

Washington bekommen, sich doch<br />

konstruktiv einzubringen.<br />

AusWeGLOse siTuATiOn<br />

Eine traurige Situation für <strong>Belarus</strong>:<br />

Die Menschen sind in einem<br />

System stecken geblieben, das<br />

während Lukaschenkos Regierungszeit<br />

aufgebaut wurde, und<br />

niemand ist in der Lage, einen<br />

Systemwechsel zu initiieren. Dabei<br />

sind die <strong>Belarus</strong>sen durchaus, wie<br />

jedes Volk, potenziell zu Veränderungen<br />

bereit, können dieses<br />

Potenzial jedoch nicht bei Wahlen<br />

realisieren. Es bleibt die Hoffnung<br />

auf eine Selbstreform des Systems<br />

oder eine neue politische Kraft. Die<br />

Opposition, die sich mit ihrer Außenseiterrolle<br />

längst abgefunden<br />

hat, scheidet als Hoffnungsträger<br />

aus. Auch in Europa scheint man<br />

inzwischen begriffen zu haben,<br />

dass in einer solchen Situation<br />

nur das Regime selbst Reformen<br />

initiieren kann. Die Opposition<br />

wird dennoch weiterexistieren,<br />

auch wenn ihre Finanzierungsquellen<br />

aus dem Westen weniger<br />

energisch sprudeln, und sie wird<br />

sich unter dem Druck der jungen<br />

Parteibasis und der Brüsseler Politikstrategen<br />

reformieren müssen.<br />

Das alles braucht Zeit. Mehr als die<br />

zwei Jahre bis zur nächsten Präsidentschaftswahl<br />

2011. Bis dahin<br />

wird die Opposition der abstrakte<br />

Versager und Miesmacher in den<br />

Köpfen der <strong>Belarus</strong>sen bleiben.<br />

Staatliche Zivilgesellschaft<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43<br />

(Pauljuk bykowskij, Minsk/Ms) 350 delegierte aus allen belarussischen regionen strömten ende Oktober<br />

nach Minsk in den Palast der republik zum ersten Kongress der „belaja rus”. die staatstreue nGO gab<br />

sich ein Programm — und kündigte an, staatsorgane kontrollieren zu wollen.<br />

Woher der Wind bei der Belaja Rus<br />

weht, war spätestens klar, als ihr<br />

Vorsitzender, <strong>Bildungs</strong>minister<br />

Radkow, das neue Programm vorstellte.<br />

Darin heißt es: „Die Zeit hat<br />

bewiesen, dass der historische Weg<br />

des belarussischen Volkes richtig<br />

war.“ Es folgt eine Aufzählung der<br />

bahnbrechenden Erfolge im Wirtschafts-<br />

und Sozialbereich. Und,<br />

wenig überraschend, der Garant<br />

des Erfolgs: „All dies wurde Realität<br />

unter Führung des allgemein<br />

anerkannten nationalen Führers,<br />

des Präsidenten Alexander Grigorewitsch<br />

Lukaschenko.“<br />

Vermutlich, da sind sich die Beobachter<br />

weitestgehend einig,<br />

hat der so gelobte die Bewegung<br />

nicht selber initiiert. Zwar wird<br />

der Belaja Rus allenthalben staatliche<br />

Unterstützung zuteil, großkalibrige<br />

rethorische Hilfe vom<br />

Staatsoberhaupt persönlich gab es<br />

jedoch nicht. Dennoch weiß man<br />

bei der vor einem Jahr gegründeten<br />

Belaja Rus, wie wichtig der<br />

Präsident für das Land ist.<br />

Man wolle, „den präsidialen Kurs<br />

nicht korrigieren, sondern kommentieren“,<br />

stellte denn auch der<br />

<strong>Bildungs</strong>minister und Vorsitzende<br />

Radkow klar. Um die angestrebte<br />

„Verbesserung der Lebensqualität<br />

und die Errichtungen eines Staates<br />

für das Volk“ zu erreichen, sei<br />

jedoch „die Unterstützung von<br />

zivilgesellschaftlichen Organisation“<br />

unabdingbar, so der Chef der<br />

Belaja Rus, und genau da docke<br />

seine Organisation an. Soziale<br />

Projekte, Gesundheitsaufklärung,<br />

öffentliche Kontrolle staatlicher<br />

Institutionen – das sind seit dem<br />

druckfrischen Programm die<br />

wichtigsten Tätigkeitsfelder der<br />

Belaja Rus. „Überlebenswichtig“<br />

ist dabei, so die rethorisch versierten<br />

Autoren des Papiers, „die<br />

Erhaltung der Geschlossenheit<br />

und Einheit des belarussischen<br />

Volkes“.<br />

Ein hehres Ziel. Und die Belaja<br />

Rus ist auf dem besten Weg dorthin,<br />

wussten Delegierte aus dem<br />

Minsker Gebiet zu berichten: 2008<br />

hatten tausende Mitglieder sich<br />

an der Erntekampagne beteiligt,<br />

die Jugend über Gesundheitsgefahren<br />

aufgeklärt und Veteranen<br />

ihre Wohnungen renoviert. Besonders<br />

aktiv beteiligten sich die<br />

Idealisten der Belaja Rus bei den<br />

Parlamentswahlen im Herbst.<br />

Etwa 10.000 Mitglieder waren als<br />

Wahlbeobachter tätig, machten<br />

Wahlkampf für Staatskandidaten<br />

– oder ließen sich gleich in eines<br />

der beiden Parlamente wählen.<br />

Fast die Hälfte der Abgeordneten<br />

des belarussischen Unterhauses,<br />

verkündete Radkow stolz, seien<br />

Mitglieder der Organisation, im<br />

politisch weniger bedeutsamen<br />

Oberhaus seien es immerhin ein<br />

Drittel. Nun plant die Organisation<br />

die nächsten Schritte: Von „patriotischen,<br />

kulturellen, <strong>Bildungs</strong>- und<br />

Sportveranstaltungen“ ist da die<br />

Rede, es soll öffentliche Empfangszimmer<br />

geben, in denen sich Bürger<br />

über staatliche Organisationen<br />

beschweren können, und, last but<br />

not least, sollen die Bürger bei Seminaren,<br />

Konferenzen und anderen<br />

Veranstaltungen „Fragen der<br />

Entwicklung des belarussischen<br />

Staates und der Gesellschaft“<br />

diskutieren. Besonders die öffentlichen<br />

Empfangszimmer werden<br />

wohl die gesamte logistische Aufmerksamkeit<br />

der Organisation<br />

fordern, denn es brauche dafür<br />

nicht nur Büros, sondern auch andere<br />

Gelder für laufende Kosten,<br />

so die Redner warnend. Das ist es<br />

der Belaja Rus aber offenbar wert,<br />

denn im kommenden Jahr sollen<br />

fast die gesamten Mitgliedsbei-<br />

träge für Volkes Kummerkasten<br />

verwendet werden.<br />

Böse Zungen indes reden seit<br />

Monaten von einer „staatlich initiierten<br />

und abgesegneten Zivilgesellschaft“<br />

und weisen darauf<br />

hin, dass die Belaja Rus angeblich<br />

in Staatsbetrieben Bürger zur Mitgliedschaft<br />

zwinge. Über 80.000<br />

Mitglieder in einem Jahr – das<br />

sei verdächtig viel in verdächtig<br />

wenig Zeit, finden die Kritiker.<br />

<strong>Bildungs</strong>minister Radkow hielt<br />

dagegen: „Wir bemühen uns, das<br />

Freiwilligkeitsprinzip bei der Mitgliedschaft<br />

streng zu befolgen.“<br />

Obwohl „natürlich die Arbeit für<br />

uns neu war und es sicherlich einige<br />

Fehler gab.“<br />

Dass auf dem Kongress traute<br />

Einigkeit herrschte, zeigte das<br />

selbst für belarussische Verhältnisse<br />

rekordverdächtige Abstimmungsergebnis:<br />

100 Prozent der<br />

Delegierten stimmten für das neue<br />

Programm. Dann gab es doch noch<br />

eine Überraschung, wenn auch<br />

positiver Art:<br />

Ewgenij Gontscharenko, Vertreter<br />

der Belaja-Rus-Niederlassung in<br />

Logojsk, setzte eine Programmänderung<br />

durch. Wo vorher nur von<br />

„gesellschaftlicher Einheit“ die<br />

Rede war, steht nun deutlicher, die<br />

Belaja Rus solle eine „Organisation<br />

des Zusammenschlusses“ werden.<br />

Gontscharenko selbst meinte dazu:<br />

„Unser Ziel ist es, in Zukunft<br />

eine starke politische Partei zu<br />

gründen, die unsere Aufgaben<br />

bewältigen kann.“ Ein Mitglied<br />

des Präsidiums räumt ein, dies sei<br />

durchaus eine Option: „Wenn die<br />

Wahlgesetzgebung geändert wird<br />

und Parteilisten ermöglicht werden,<br />

werden wir natürlich über<br />

eine Parteigründung reden.“


Innenpolitik Innenpolitik<br />

Die Korruption frisst ihre Kinder<br />

(Alexander dautin, Minsk) eine neue Welle von Korruptionsenthüllungen ist über belarus hinweggerollt.<br />

Opfer des rundumschlags Alexander Lukaschenkos waren dieses Mal hochrangige Mitarbeiter des innenministeriums<br />

und der staatsanwaltschaft. es bestehen allerdings unter unabhängigen experten arge<br />

Zweifel daran, ob es im ergebnis der säuberungen weniger korrupte beamte im Lande geben wird.<br />

Die monatliche Sitzung zur Korruptionsbekämpfung<br />

beim Präsidenten<br />

schlug im November<br />

letzten Jahres wie eine Bombe ein.<br />

„Zehn hochrangige Beamte des<br />

Innenministeriums haben illegal<br />

Grundstücke im Minsker Gebiet<br />

gekauft”, verkündete Lukaschenko<br />

seinen Untergebenen. „Sie bauten<br />

darauf, im Schein einer nicht<br />

existierenden Baugenossenschaft,<br />

zwei- bis dreistöckige Gebäude.“<br />

Die eigentlichen Hüter des Rechts<br />

hätten, so der Präsident, für die<br />

Grundstücke lächerliche 25 000<br />

<strong>Belarus</strong>sische Rubel gezahlt, also<br />

in etwa 10 Euro.<br />

Die Aufdeckung der Fälle im<br />

Innenministerium war allerdings<br />

nur die erste Säuberungsaktion<br />

von Korruptionsexperte Lukaschenko,<br />

der seine politische Karriere<br />

1994 mit einer Antikorruptionskampagne<br />

begonnen hatte.<br />

Offenbar besann sich der Präsident<br />

seiner Qualitäten: Er ließ gleich<br />

zwei hochgestellte Vertreter der<br />

Staatsanwaltschaft anklagen.<br />

Insbesondere der Staatsanwalt<br />

des Minsker Gebietes Michail<br />

Snegir hatte seinen Präsidenten<br />

mehr als enttäuscht. Im Mai 2007<br />

erwarb Snegir im Zentrum der<br />

belarussischen Hauptstadt eine<br />

5-Zimmer-Wohnung mit mehr als<br />

200 m 2 Fläche und einer Tiefgarage.<br />

„Woher,“ fragte Lukaschenko<br />

erbost, „hat ein Staatsanwalt Geld<br />

für solchen Luxus? Und wie konnte<br />

sich Snegir die Wohnung zum<br />

Vorzugspreis von 72 000 Dollar beschaffen,<br />

wo doch der Marktpreis<br />

bei einer halben Million liegt?“<br />

Die Antwort ist so schwer nicht.<br />

Snegir, von Berufs wegen ein äu-<br />

ßerst fähiger Jurist, deichselte seine<br />

Transaktion schlichtweg so, dass<br />

sie legal aussah. Zu diesem Zweck<br />

unterschrieb der Staatsanwalt eine<br />

gefälschte Zusatzvereinbarung<br />

zum Verkaufsvertrag, in der eine<br />

andere Kaufsumme angegeben<br />

wird, umgerechnet etwa 248 000.<br />

Dollar. Bis hierhin war alles perfekt<br />

geplant gewesen, doch dann<br />

tauchte ein unterwartetes Problem<br />

auf: Die Wohnung war eigentlich<br />

gar nicht zu verkaufen, denn in ihr<br />

wohnte ein Mitarbeiter, der einen<br />

Mietvertrag bis 2024 besaß. Snegir<br />

wollte natürlich nicht zwanzig<br />

Jahre auf sein erfuchstes Eigentum<br />

warten. Die Sache ging vor<br />

Gericht. „Was glauben Sie, wie die<br />

zuständigen Richter entschieden?“<br />

fragte Lukaschenko empört in<br />

die Beamtenrunde. „Sie sprachen<br />

ihr Vorgehen telefonisch ab – mit<br />

Snegir!“ Der widerspenstige Mieter<br />

wurde für den „eigenwilligen<br />

Umbau der Wohnung“ bestraft. Er<br />

gab jedoch nicht auf und wandte<br />

sich insgesamt achtmal mit Beschwerden<br />

über Snegir an den<br />

Generalstaatsanwalt.<br />

„Und was passierte? Keine Antwort!“<br />

- schimpfte Lukaschenko<br />

weiter. „Denn alle Dokumente<br />

gingen über den Schreibtisch des<br />

stellvertretenden Generalstaatsanwalt<br />

Nikolaj Kuprijanow, der<br />

mit Snegir ein freundschaftliches<br />

Verhältnis pflegt.“<br />

„Mich empört die wachsende<br />

Korruption unter jenen, die sie<br />

eigentlich bekämpfen sollten“, erklärte<br />

Lukaschenko abschließend<br />

uns ließ durchblicken, dass die<br />

Karrieren der ertappten Beamten<br />

damit beendet seien. Dennoch sei<br />

dies nur die Spitze des Eisbergs ge-<br />

wesen. Im Bereich der staatlichen<br />

Verwaltung habe es allein in den<br />

ersten zehn Monaten des letzten<br />

Jahres 347 Fälle von Verbrechen im<br />

Zusammenhang mit Korruption<br />

gegeben, darunter 104 von Mitarbeitern<br />

der Abteilung für Inneres,<br />

der Staatssicherheit, der Steuerpolizei,<br />

des Verteidigungsministeriums,<br />

des Staatlichen Grenz- und<br />

des Staatlichen Zollausschusses.<br />

„Und das sind nur die Fälle, die<br />

aufgedeckt wurden“ – gab Lukaschenko<br />

zu bedenken. Vermutlich<br />

hat der Präsident recht, und die<br />

Dunkelziffer ist deutlich höher.<br />

<strong>Belarus</strong>sische Rechtsexperten zumindest<br />

gehen davon aus, dass<br />

nur 30 Prozent der Korruptionsfälle<br />

aufgedeckt wurden. Was tun?<br />

Hinter vorgehaltener Hand kritisieren<br />

Experten, es gebe viel zu<br />

viele Beamte mit weitreichenden<br />

Vollmachten, die weder durch die<br />

Zivilgesellschaft noch durch die<br />

Öffentlichkeit kontrolliert würden.<br />

Korruption, so die Kritik, sei<br />

also nicht das Vergehen einiger<br />

Übeltäter, sondern die Krankheit<br />

eines ganzen Systems. Das sieht<br />

Jurij Schadobin, Staatssekretär des<br />

belarussischen Sicherheitsrates,<br />

naturgemäß anders. Nachdem<br />

internationale Organisationen ein<br />

im Vergleich zu anderen Ländern<br />

relativ hohes Korruptionsniveau<br />

in <strong>Belarus</strong> festgestellt hatten, erwiderte<br />

Schadobin: „Diese Einschätzung<br />

kommt nicht von uns, sie<br />

kommt von internationalen Organisationen.“<br />

Allerdings blieb Schadobin<br />

eine Erklärung schuldig,<br />

warum internationale Vergleiche<br />

nicht objektiver sein sollten als die<br />

Einschätzungen der betroffenen<br />

Regierungen.<br />

Pressefreiheit privjet?<br />

(Jakob Hut, berlin) der belarussische staat geht einen weiteren schritt auf die eu zu und nimmt die staatskritischen<br />

Zeitungen „nascha niwa“ und „narodnaja Wolja“ nach dreijähriger Abstinenz wieder in sein<br />

Vertriebs- und Kiosksystem auf. Andere kritische Zeitungen haben weniger Glück.<br />

Am 21. November bekam Andrej<br />

Dynko, graue Eminenz und zweiter<br />

Chefredakteur von Nascha<br />

Niwa, einen Anruf von Wsewolod<br />

Jantschewskij, Chefideologe der<br />

Präsidialadministration. Jener<br />

verkündete die frohe Botschaft:<br />

Es gebe „die Möglichkeit, das Zustellungsproblem<br />

zu lösen“. Dynko,<br />

für seine reserviert-ironische<br />

Art bekannt, mag innerlich einen<br />

Hüpfer bis zur Decke gemacht<br />

haben. Denn was Jantschewskij<br />

sagt, kommt von weiter oben, und<br />

was von weiter oben kommt, ist in<br />

<strong>Belarus</strong> Gesetz. Und tatsächlich<br />

konnten zwei Wochen später die<br />

ersten Leser „ihre“ Zeitung an<br />

Minsker Zeitungskiosken kaufen.<br />

Die staatlichen Kioske lassen es<br />

zwar ruhig angehen und bestellen<br />

lediglich 1400 Exemplare pro<br />

Woche, so dass Nascha Niwa am<br />

Erscheinungstag immer sofort<br />

ausverkauft ist. Doch dieses Problem<br />

hat nicht nur das Intellektuellenblatt,<br />

ähnlich geht es auch<br />

der Einfache-Leute-Tageszeitung<br />

Narodnaja Wolja. 2500 Exemplare<br />

gingen pro Tag an die belarussischen<br />

Kioske – und waren ebenfalls<br />

sofort ausverkauft.<br />

Deshalb wirbt die stellvertretende<br />

Chefredakteurin von Narodnaja<br />

Wolja, Swetlana Kalinkina, auch<br />

um Abonnenten: „Ein Abonnement<br />

ist der sicherste Weg, die<br />

Zeitung zu bekommen“. Ob die<br />

Leser reagieren, ist ungewiss, denn<br />

in <strong>Belarus</strong> ist ein Zeitungsabonnement<br />

teurer als die Kioskvariante.<br />

Werbekampagnen wollen<br />

die beiden jahrelang gebeutelten<br />

Zeitungen nicht machen. Allerdings<br />

entschloss sich die Redaktion<br />

von Nascha Niwa zu einem<br />

historischen Schritt. Seit November<br />

erscheint die Zeitung in der<br />

staatlichen Rechtschreibvariante,<br />

nicht mehr in der inoffiziellen,<br />

lediglich von Intellektuellen benutzten<br />

„Taraschkewitza“. Man<br />

wolle neue Leser gewinnen, so die<br />

Redaktion in ihrem Brief an die Leserschaft,<br />

denn „die unabhängige<br />

Zivilgesellschaft darf sich nicht<br />

isolieren“.<br />

Bei allen Problemen ist die Auferstehung<br />

der beiden Granden der<br />

unabhängigen Presse politisch<br />

gesehen eine Sensation. Drei Jahre<br />

hatten die beiden Zeitungen im<br />

Quasi-Untergrund existiert, die<br />

Narodnaja Wolja wurde gar in<br />

Russland gedruckt und heimlich<br />

über die offene Grenze gebracht.<br />

Nun kann die einzige regimekritische<br />

Tageszeitung wieder im<br />

staatlichen <strong>Belarus</strong>sischen Druckhaus<br />

von den Druckmaschinen<br />

laufen. Eine schöne Geste, fand<br />

denn auch Jacek Protasewicz, Chef<br />

der Delegation des EU-Parlaments<br />

für Beziehungen zu <strong>Belarus</strong>: „Das<br />

ist ein sehr wichtiges Signal aus<br />

Minsk. Es zeigt, dass die Regierung<br />

die Beziehungen zur EU ernsthaft<br />

verbessern will.“ Allerdings, so<br />

Protasewicz, warte man jetzt noch<br />

auf die Erfüllung der anderen<br />

Bedingungen, die die EU für eine<br />

Aufhebung der Sanktionen gegen<br />

<strong>Belarus</strong> gestellt habe – unter anderem<br />

zur Versammlungsfreiheit<br />

und zur Wahlgesetzgebung.<br />

Dass es mit der Pressefreiheit auch<br />

weiterhin nicht zum allerbesten<br />

steht, zeigt die Tatsache, dass Narodnaja<br />

Wolja und Nascha Niwa<br />

nur die Spitze des Eisberges sind.<br />

15 Zeitungen können nach wie<br />

vor nicht über den staatlichen<br />

Vertriebsmonopolisten zu ihren<br />

Lesern gelangen, wie der <strong>Belarus</strong>sische<br />

Journalistenverband erklärt.<br />

Darunter auch die Tageszeitung<br />

„Genosse“ der oppositionellen<br />

Partei der <strong>Belarus</strong>sischen Kommunisten,<br />

deren Chefredakteur<br />

Sergej Woznjak erst kurz vor dem<br />

Minsk Forum eine Absage erhalten<br />

hatte. „Irgendwelche Angebote haben<br />

wir bisher nicht bekommen“,<br />

meint Woznjak verbittert.<br />

„Endlich wieder überall zu kaufen!“ Der stellvertretende Vorsitzende der <strong>Belarus</strong>sischen<br />

Volksfront Viktor Iwaschkewitsch (rechts) und ein junger Leser mit ihrer<br />

Wochenzeitung Nascha Niwa Foto: Radio Free Liberty<br />

10 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 11


Wirtschaft Wirtschaft<br />

Ziel: Investitionsparadies<br />

(natallja Hlebus, London) 370 Teilnehmer aus über 30 Ländern kamen ende november zum belarussischen<br />

investitionsforum nach London, um sich über das investitionsklima und dessen Zukunft auszutauschen.<br />

Wie stehen die Chancen auf einen investitionsschub, was tut belarus dafür und wer will investieren?<br />

Auf diese und andere Fragen stand im exklusivinterview der belarussische botschafter in deutschland,<br />

Wladimir skworzow, rede und Antwort.<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven: Wladimir Nikolajewitsch,<br />

warum ausgerechnet<br />

London?<br />

Wladimir Skworzow: Natürlich<br />

ist unsere Wahl nicht zufällig auf<br />

London gefallen – immerhin ist<br />

die Stadt eines der europäischen<br />

Finanzzentren, wo viele wichtige<br />

Kontakte entstehen. Deshalb ist<br />

auch Premierminister Sergej Sidorskij<br />

extra aus Minsk angereist.<br />

Als belarussischer Botschafter in<br />

Deutschland haben Sie sicher ein<br />

besonderes Auge auf deutsche Firmen<br />

gehabt. Waren viele hier?<br />

Sehr viele – darunter große Namen<br />

wie die Robert Bosch GmbH<br />

und die Deutsche Bank. Großes<br />

Interesse zeigten auch Energiefirmen<br />

und die Anwaltskanzlei<br />

Arzinger und Partner, aber auch<br />

spezialisierte Produzenten wie die<br />

Claas GmbH, die unter anderem<br />

Mähdrescher herstellt. Kurz, es<br />

waren interessierte Investoren<br />

und Businesspartner aus allen<br />

Bereichen vertreten, die im Panel<br />

über Erfahrungen mit dem belarussischen<br />

Markt diskutierten und<br />

in Kleingruppen die Perspektiven<br />

der Zusammenarbeit mit belarussischen<br />

Partnern besprachen.<br />

impressum:<br />

redaktionsadresse:<br />

IBB gGmbH, <strong>Belarus</strong>-Perspektiven,<br />

Bornstr. 66, 44145 Dortmund,<br />

0231-952096-0, Fax: 0231-521233,<br />

E-Mail: info@ibb-d.de,<br />

Website: www.ibb-d.de<br />

Herausgeber:<br />

Peter Junge-Wentrup, <strong>Internationales</strong><br />

<strong>Bildungs</strong>- und Begegnungswerk gGmbH<br />

Dortmund<br />

redaktion:<br />

Martin Schön, Berlin,<br />

Wladimir Skworzow, Botschafter der<br />

Republik <strong>Belarus</strong> in der Bundesrepublik<br />

Deutschland Foto: Hlebus<br />

Was war das Hauptziel der Veranstaltung?<br />

Wir wollten ausländischen Geschäftsleuten<br />

zeigen, welches<br />

reale Investitionspotential <strong>Belarus</strong><br />

hat, welche Bedingungen hier für<br />

Geschäfte herrschen, und was<br />

sich im letzten Jahr alles getan<br />

hat. Die Teilnehmer konnten sich<br />

sozusagen aus erster Hand davon<br />

überzeugen, welches Tempo die<br />

Wirtschaftsreformen in unserem<br />

Land angenommen haben. Nicht<br />

umsonst hat die Staatsführung<br />

das ehrgeizige Ziel ausgegeben, in<br />

absehbarer Zukunft zu den dreißig<br />

Ländern in der Welt zu gehören,<br />

Sabrina Bobowski, Berlin<br />

Dr. Edith Spielhagen, Berlin,<br />

Nadine Lashuk, Minsk,<br />

Kai-Uwe Dosch, Hamm<br />

druck:<br />

Montania Druck, Dortmund<br />

Gekennzeichnete Artikel entsprechen<br />

nicht unbedingt der Meinung der Redaktion.<br />

Leserbriefe an <strong>Belarus</strong>Perspektiven@<br />

gmail.com<br />

Einzelpreis: 4,00 Euro, Jahresabonnement<br />

incl. Versand: 15,00 Euro.<br />

in denen die besten Investitionsbedingungen<br />

herrschen.<br />

Gibt es denn schon konkrete Investitionsprojekte?<br />

Wir haben unseren potentiellen<br />

Partnern beim Forum über 70<br />

Projekte präsentiert, darunter die<br />

geplante Produktion von Bussen<br />

in den Minsker Automobilwerken<br />

oder den Bau von Wasserwerken<br />

an den Flüssen Westdwina<br />

und Dnjepr. Allein die Zahl der<br />

Projekte zeigt, wie offen unsere<br />

Wirtschaft ist.<br />

Was hat <strong>Belarus</strong> potentiellen Investoren<br />

außer Stabilität zu bieten?<br />

Seine einzigartige Brückenfunktion<br />

zwischen Ost und West. In<br />

diesem Zusammenhang wartete<br />

das Transportministerium gleich<br />

mit zwei großen Investitionsprojekten<br />

auf – neben dem Ausbau<br />

der Flugzeugstaffel der staatlichen<br />

Fluggesellschaft „Belavia“ steht<br />

auch die Schaffung einer eigenen<br />

belarussischen Flotte von Handelsschiffen<br />

auf dem Programm.<br />

Welche Form des Investments empfiehlt<br />

sich denn in <strong>Belarus</strong>?<br />

Alle Formen von Investitionen<br />

lassen sich in <strong>Belarus</strong> praktizieren<br />

– von Kreditvergabe über Direktinvestitionen<br />

bis zur Schaffung<br />

von Joint-Ventures. Ein Patentrezept<br />

gibt es nicht – was für den<br />

einen Investor ideal ist, passt dem<br />

anderen weniger. Die Teilnehmer<br />

des Forums diskutierten deshalb<br />

offen über verschiedene Varianten<br />

des Investments.<br />

Herr Botschafter, wir danken Ihnen<br />

für dieses Gespräch.<br />

IWF stellt Bedingungen<br />

(Alexander dautin, Minsk) Anfang Januar war die sensation perfekt: 2,5 Milliarden dollar leiht der iWF<br />

belarus für zwei Jahre. die Finanzkrise zieht solche Kreise, dass sich selbst belarus zu schritten entschied<br />

die noch vor einem Jahr undenkbar schienen. noch während der Verhandlungen klopften bereits die<br />

ersten Gläubiger in Minsk an.<br />

2 Mrd. Dollar erhoffte sich die<br />

Minsker Regierung durch den<br />

Internationalen Währungsfond<br />

(IWF). Doch offenbar saß in<br />

Washington das Geld nicht ganz<br />

so locker wie in Moskau, wo<br />

Minsk regelmäßig Milliarden zu<br />

konkurrenzlos günstigen Konditionen<br />

ohne jegliche wirtschaftspolitischen<br />

Auflagen bekam. Die<br />

erste Gesprächsrunde zwischen<br />

der belarussischen Delegation und<br />

dem IWF endete im November<br />

ohne Ergebnis. Seither zogen sich<br />

die Verhandlungen weiter hin. Das<br />

belarussische Innenministerium<br />

behauptete selbstsicher, man sei<br />

sich im Prinzip einig. Lediglich<br />

die „technischen Details konkreter<br />

politischer Maßnahmen“ müssten<br />

„spezifiziert werden“.<br />

Minsk hatte nicht zu viel versprochen.<br />

Im Dezember fand eine<br />

zweite Verhandlungsrunde statt,<br />

die die Medien mit bislang nie<br />

dagewesener Aufmerksamkeit<br />

verfolgten. Sogar das amerikanische<br />

Wall Street Journal wollte<br />

wissen, ob man sich denn bald<br />

einig werde. Alexander Lukaschenko<br />

gab dem Flaggschiff der<br />

amerkanischen Wirtschaftspresse<br />

daraufhin ein Interview. Der IWF,<br />

so Lukaschenko „hat uns einen<br />

Verweis erteilt, da wir inmitten der<br />

Krisensituation die Gehälter erhöht<br />

haben“. Der Präsident stand<br />

jedoch zu der Lohnerhöhung im<br />

November, eine in liberalen IWF-<br />

Kreisen traditionell unpopuläre<br />

Maßnahme: „Besonders reich sind<br />

unsere Leute ja nicht. Eine kleine<br />

Lohnerhöhung wie diese fällt<br />

kaum ins Gewicht.“ Zwar stimmte<br />

Lukaschenko den Experten des<br />

IWF grundsätzlich zu, dass „man<br />

in Krisensituation die Löhne nicht<br />

erhöht.“ Eine Rücknahme der<br />

Entscheidung, fand der Präsident,<br />

stehe jedoch nicht zur Debatte. Sie<br />

sei „noch vor der Ausbreitung der<br />

Finanzkrise in Europa und Amerika<br />

getroffen“ worden.<br />

Ob es das Staatsoberhaupt mit seiner<br />

kategorischen Absage ernst gemeint<br />

hatte, darf getrost bezweifelt<br />

werden. Tatsächlich beeilte sich die<br />

belarussische Regierung, es dem<br />

IWF doch recht zu machen und<br />

legte kurz darauf ihre Verordnung<br />

Nr. 1818 vor, die die Senkungen<br />

des Tariflohns von 91.000 auf<br />

77.000 <strong>Belarus</strong>sische Rubel (BR)<br />

für die erste Lohngruppe vorsieht.<br />

Dementsprechend sanken die im<br />

November gerade erst erhöhten<br />

Beamtenlöhne und kehrten praktisch<br />

auf das Ausgangsniveau vom<br />

Oktober zurück, das bei 73.000 BR<br />

gelegen hatte. Der belarussische<br />

Wirtschaftsminister Andrej Tur<br />

begründete dies auch sofort mit<br />

der Finanzkrise. Der Konjunkturabschwung,<br />

so Tur, sei für die<br />

belarussische Exportwirtschaft ein<br />

herber Schlag, der zur Senkung der<br />

Steuereinnahmen geführt habe.<br />

Das neue wirtschaftspolitische<br />

Regierungsziel laute deshalb, „die<br />

stabile Wirtschaftsentwicklung<br />

aufrecht zu erhalten, möglicherweise<br />

in einem weniger rasanten<br />

Tempo, jedoch ohne Rezession.”<br />

Anfang Dezember legte Präsident<br />

Lukaschenko nach. Beim Treffen<br />

mit Premier Sidorskij und Nationalbankchef<br />

Pjotr Prakapowitsch<br />

forderte der Präsident, dass „die<br />

gesamte Regierung zu einem Handelsministerium“<br />

werden müsse.<br />

Offenbar ging der Staat auch in<br />

anderen Fragen auf den IWF zu.<br />

Der Fonds hatte vorgeschlagen,<br />

staatliche Förderungsprogramme<br />

zusammenzukürzen. Daraufhin<br />

verkündete Premier Sidorskij, dass<br />

die staatlichen Ausgaben um 5<br />

Bio.BR (ungefähr 2,3 Mrd. Dollar)<br />

schrumpfen sollten – das wären<br />

ungefähr 12 % der Staatsausgaben.<br />

Lukaschenko stimmte dem zu und<br />

bekräftigte, einzig die Ausgaben<br />

im Gesundheitsweisen sollten auf<br />

dem bisherigen Niveau bleiben.<br />

Auf die <strong>Belarus</strong>sen kommen wohl<br />

demnächst zudem höhere Lebenshaltungskosten<br />

zu, denn der IWF<br />

hatte gefordert, die Tarife für kommunale<br />

Leistungen anzuheben.<br />

Lukaschenko gab sich auch hier<br />

einsichtig und erklärte im Wall<br />

Street Journal, dass „weniger als<br />

die Hälfte der Bevölkerung für<br />

kommunale Leistungen zahlt, dem<br />

Rest erweisen wir Zuwendungen...<br />

Allmählich kommen auch wir,<br />

so wie Sie in Amerika, zu dem<br />

Schluss, dass die Bevölkerung zu<br />

100 % für kommunale Leistungen<br />

selbst aufkommen muss.“<br />

Kredite aufnehmen ist schön – sie<br />

zurückzahlen weniger, wie <strong>Belarus</strong><br />

schon bald feststellen wird.<br />

Denn der erste Zahltag rückt bedrohlich<br />

näher: Die belarussischen<br />

Auslandsschulden des Landes<br />

betrugen im ersten Halbjahr 2008<br />

14,1 Mrd. Dollar, davon haben<br />

66 % kurze Laufzeiten. 2 Mrd.<br />

Dollar sind Staatsanleihen, der Anteil<br />

der Banken beträgt ungefähr<br />

3 Mrd. Dollar. Der fehlende Betrag<br />

sind Schulden von Unternehmen.<br />

Damit hat nicht nur der Staat<br />

ein Problem, in Zeiten sinkender<br />

Steuereinnahmen seine Schulden<br />

zurückzuzahlen, sondern auch<br />

die verschuldeten Privat- und<br />

Staatsunternehmen, deren Absätze<br />

wegen des weltweiten Konjunkturabschwungs<br />

einbrechen werden.<br />

Experten prognostizieren deshalb,<br />

dass die noch vor kurzem aufgenommenen<br />

Kredite vor allem<br />

in den Unternehmen für Kopfschmerzen<br />

sorgen werden.<br />

1 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 1


Wirtschaft Wirtschaft<br />

Saure Milchkombinate<br />

(Alexander dautin, Minsk) die staatliche russische Landwirtschaftskontrolle unterzog im Herbst belarussische<br />

Lebensmittelfirmen einer umfassenden Prüfung. Das niederschmetternde Ergebnis: Milch und<br />

Käse in 20 belarussischen Kombinaten erfüllen nicht russische Qualitätsstandards. die belarussische seite<br />

wittert ein Politikum.<br />

Zumal es die russischen Käse- und<br />

Milchinspektoren nicht bei der<br />

punktuellen Kritik beließen, sondern<br />

gleich zum Rundumschlag<br />

ausholten. Das belarussische Kontrollsystem,<br />

so die Spezialisten<br />

aus Moskau, könne grundsätzlich<br />

keine ungefährliche Lebensmittelproduktion<br />

garantieren.<br />

Warum die Russen trotzdem 135<br />

von 141 überprüften Firmen ihr<br />

OK gaben, blieb ihr Geheimnis.<br />

Vielleicht steht es um die belarussische<br />

Landwirtschaft doch ja<br />

nicht so schlecht, und Russland<br />

wollte lediglich die belarussischen<br />

Produzenten in ihrem Exporteifer<br />

dämpfen. Denn <strong>Belarus</strong> produziert<br />

jährlich 6,8 Millionen Tonnen<br />

Milch, von denen der Binnenmarkt<br />

nur 3 Millionen aufnimmt, und<br />

ist deshalb auf den Export von<br />

Milchprodukten angewiesen. Das<br />

bestätigt auch der Wirtschaftsexperte<br />

Leonid Sajko, der die dominante<br />

Stellung des russischen<br />

Absatzmarkts unterstreicht: „Wir<br />

verkaufen heute 95 Prozent unserer<br />

Milch und 80 Prozent des<br />

Fleischs nach Russland“, so Sajko.<br />

Mit anderen Worten: <strong>Belarus</strong>sische<br />

Fabrikanten sind abhängig von<br />

russischen Abnehmern. Europa<br />

bleibt den belarussischen Milchproduzenten<br />

indes verschlossen,<br />

da nur 2 Prozent der Milch den<br />

strengen europäischen Qualitätsstandards<br />

gerecht werden und<br />

belarussische Milch zudem teurer<br />

ist als europäische.<br />

Abhängigkeit macht nervös. Deshalb<br />

brach die wichtigste Hygieneexpertin<br />

und stellvertretende<br />

Gesundheitsministerin Walentina<br />

Katschan persönlich eine Lanze für<br />

belarussische Bauernhöfe. „Wenn<br />

die russischen Kontrolleure Recht<br />

hätten mit ihrem Negativurteil,<br />

würden doch in <strong>Belarus</strong> die Erkrankungen<br />

in Folge von niedriger<br />

Lebensmittelqualität zunehmen.<br />

Sie nehmen aber ab! Zum Beispiel<br />

hat es 2008 über 56 Prozent weni-<br />

Selbständige bald flüssig<br />

ger Fälle von bakterieller Darminfektion<br />

gegeben als im letzten<br />

Jahr. Diese Entscheidung riecht<br />

nach Politik“, erklärte Katschan<br />

und meinte damit wohl, dass die<br />

Russen ihren eigenen Binnenmarkt<br />

vor billiger belarussischer Konkurrenz<br />

schützen wollen.<br />

An den Kontrollstandards könne<br />

es jedenfalls nicht liegen, findet<br />

die belarussische staatliche Kontrollbehörde.<br />

Deren Vertreter<br />

Walerij Koreschkow erklärte, dass<br />

die Qualität „nach internationalen<br />

Standards“ überprüft würde. Wie<br />

dem auch sei, wer Recht hat, ist<br />

in der harten Welt der Wirtschaft<br />

meistens egal, denn die Bedingungen<br />

stellt derjenige, der die<br />

bessere Position hat. Das sind<br />

zweifellos die russischen Milchkäufer.<br />

Also werden die belarussischen<br />

Milchfabriken sich entweder<br />

neue Absatzmärkte suchen<br />

müssen – oder den Forderungen<br />

der Kontrolleure nachgeben.<br />

(Andrej Alexandrowitsch, Minsk) im Oktober eröffnete in Minsk die erste belarussische bank für Kleinunternehmer<br />

(BBMB), finanziert von großen westlichen Kreditinstituten. Ziel sind 10 bis 15 Prozent<br />

Marktanteil.<br />

Unter den Gründern der Bank<br />

sind sowohl die deutsche Commerzbank<br />

und die amerikanische<br />

ShoreBank International als auch<br />

staatliche Förderbanken wie die<br />

Kreditanstalt für Wiederaufbau<br />

und die Europäische Bank für Wiederaufbau<br />

und Entwicklung. Das<br />

relativ bescheidene Zielsegment<br />

am Markt von 10 bis 15 Prozent<br />

hält der frischgebackene Leiter<br />

der Bank, Defdariani Sejt, für realistisch:<br />

„Es gibt bereits größere<br />

Banken mit einem besseren Filialnetz<br />

in <strong>Belarus</strong>“, so Sejt. „Dennoch<br />

können wir die Konkurrenz<br />

beleben und für Innovationen auf<br />

dem Markt sorgen.“ Als potenzielle<br />

Klienten macht er sowohl<br />

Selbständige als auch Kleinunternehmer<br />

aus, die zehn und mehr<br />

Angestellte haben. Etwa 10.000<br />

Euro soll die durchschnittliche<br />

Kreditsumme betragen, ein Minimalkredit<br />

beträgt bescheidene 500<br />

Euro. Neben den 7 Millionen Euro<br />

Eigenkapital soll die BBMB in den<br />

nächsten zwei Jahren etwa 5 Millionen<br />

Euro an Investitionsgeldern<br />

von ihren Aktionären bekommen.<br />

Eine solide Basis in Zeiten von<br />

kreditunwilligen Großbanken,<br />

die durch die Finanzkrise gebeutelt<br />

sind. Vielleicht profitiert die<br />

BBMB ja auch von der Vorsicht der<br />

Konkurrenz und kann sich einen<br />

höheren Marktanteil erkämpfen<br />

als die bisher geplanten 10 bis 15<br />

Prozent.<br />

Große Steuerreform<br />

(Alexander dautin, Minsk) Wovon die FdP in deutschland seit Jahrzehnten träumt – die belarussische<br />

regierung hat es innerhalb kürzester Zeit wahr werden lassen. Ab 2009 zahlen alle steuerzahler eine einheitliche<br />

einkommenssteuer von zwölf Prozent. doch wer sind die Gewinner der reform?<br />

Momentan führen Erwerbstätige<br />

in <strong>Belarus</strong> nach einer progressiven<br />

Einkommenssteuerskala zwischen<br />

9 und 36 Prozent ihres Einkommens<br />

an den Staat ab. Durch die<br />

Reform werden die Steuerzahler<br />

um für belarussische Verhältnisse<br />

beeindruckende 670 Millionen<br />

Euro entlastet, was etwa 1,3 Prozent<br />

des BIP entspricht.<br />

Experten in Wirtschaftskreisen<br />

aller Couleur sind sich im Prinzip<br />

einig, dass die Reform eine gute<br />

Idee ist: Geringerer Verwaltungsaufwand<br />

und geringere Steuerbelastung<br />

schaden wohl kaum<br />

Staat, Wirtschaft und Kaufkraft.<br />

Fragt sich nur, wer genau von<br />

der Reform profitiert. Der Leiter<br />

des Wirtschafts-Thinktanks<br />

„Strategija“ und erklärte Liberale<br />

Leonid Sajko findet es verdächtig,<br />

wie schnell die Reform durchgepeitscht<br />

wurde. „Zehn Jahre“, so<br />

Sajko, „redeten wir auf Regierung<br />

und Abgeordnete ein und erklärten<br />

ihnen, dass ein progressives<br />

Steuersystem ein Anachronismus<br />

ist. Zehn Jahre keine Reaktion<br />

– und nun ging alles blitzschnell.<br />

Das ist keine Reform für Studenten,<br />

Straßenkehrer und Krankenschwestern,<br />

sie hilft der Nomenklatur<br />

und all jenen, die sich am<br />

Straatstrog sattfressen dürfen“.<br />

Der Experte rechnet vor, dass vor<br />

allem die bisher relativ hoch besteuerten<br />

großen Einkommen nun<br />

deutlich weniger besteuert werden<br />

– für einen Geringverdiener<br />

steige die Steuer sogar von neun<br />

auf zwölf Prozent. Unternehmer<br />

Blumenbusiness trocknet aus<br />

indes, so Sajko, hätten wenig<br />

von der Reform, da sie nach wie<br />

vor 36 Prozent an Sozialsteuern<br />

zu zahlen hätten. Und hier sind<br />

Steuersenkungen wohl kaum zu<br />

erwarten, weil Rentenexperten bereits<br />

heute eine Unterfinanzierung<br />

des Systems bei einer sich verformenden<br />

Alterspyramide beklagen.<br />

Als sicher kann indes gelten, dass<br />

die Regierung das neue Loch im<br />

Budget wird stopfen wollen. Es<br />

stellt sich also die Frage nach den<br />

Verlierern der Reform. Hoch im<br />

Kurs stehen die Kleinen und Mittleren<br />

Unternehmen, die der Staat<br />

regelmäßig bei Finanzengpässen<br />

anzapft. Im schlimmsten Fall<br />

könnte die Große Steuerreform<br />

somit zu einer Umverteilung von<br />

Geringerverdienern und Mittelstand<br />

nach oben führen.<br />

(sergej Glagoljew, Minsk) im Herbst herrschte in belarussischen blumengeschäften gähnende Leere. nun<br />

sind rosen, Tulpen und nelken wiedergekehrt – doch für wie lange?<br />

<strong>Belarus</strong>sische Frauen sind verrückt<br />

nach Blumen, weshalb an Feiertagen<br />

tausende Männer mit Rosensträußen<br />

durch Minsker Straßen<br />

ziehen. Im Oktober war Schluss<br />

mit Bunt: Zuerst verschwanden<br />

die Sträuße von den Straßen, dann<br />

einige Geschäfte, und am Ende boten<br />

die übriggebliebenen Händler<br />

wie zum Hohn nur ein paar welke<br />

Exemplare niederer Qualität an.<br />

Was war geschehen?<br />

Die belarussische Regierung hatte<br />

die Anordnung Nr. 183 in Kraft<br />

gesetzt. Darin wurde Importeuren<br />

untersagt, mehr als 60 Prozent ihres<br />

Einkaufspreises als Gewinn zu<br />

verbuchen. Was für Autohändler<br />

und Handy-Läden in Ordnung<br />

sein mag, ist für die belarussischen<br />

Blumenverkäufer kein Zustand:<br />

Kleine Blumenhändler kaufen<br />

in den Niederlanden in der Regel<br />

etwa 2000 Rosen ein, bis zu<br />

anderthalb Euro das Stück. 10<br />

Prozent des Selbstkostenpreises<br />

gehen an die Steuerbehörde, 80<br />

Prozent müssen die Händler in<br />

Minsk für einen Minikiosk von<br />

4,5 Quadratmetern an Miete und<br />

Gehältern zahlen. Und last but not<br />

least gehen 30 Prozent der empfindlichen<br />

Ware beim Transport<br />

nach <strong>Belarus</strong> kaputt. Damit sich<br />

das Geschäft also lohnt, schlugen<br />

die Blumenverkäufer bisher 120<br />

Prozent auf den Einkaufspreis auf.<br />

Die Regierung fand nun, dass es<br />

auch 60 Prozent täten.<br />

Trotz allem gelang es den belarussischen<br />

Unternehmern – wie<br />

so oft – auch bei der Blumenkrise,<br />

die staatlichen Auflagen kreativ<br />

zu meistern. Einige stellten auf<br />

qualitativ niedere, aber günstigere<br />

belarussische Blumen um,<br />

andere fanden sich entweder mit<br />

geringeren Gewinnen ab oder<br />

fälschten gleich ihre Bücher. Damit<br />

erstrahlten die belarussischen Blumengeschäfte<br />

vor Neujahr wieder<br />

in alter Pracht, und am Abend des<br />

31. Dezember konnte man wieder<br />

tausende Männer beobachten, die<br />

üppige Blumensträuße durch die<br />

Menschenmengen bugsierten. Wie<br />

lange der Blumenfrieden jedoch<br />

vorhält, hängt wohl davon ab, wie<br />

sich der Markt weiter entwickelt.<br />

Denn eins ist sicher: Die Profitmarge<br />

der Blumenhändler ist weitaus<br />

weniger komfortabel als noch vor<br />

drei Monaten.<br />

1 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 1


Chronologie<br />

Chronologie von 06.10.2008 bis 11.01.2009<br />

6.-12. Oktober<br />

Der russische Premierminister<br />

Wladimir Putin trifft sich in Minsk<br />

mit Alexander Lukaschenko. Es<br />

geht um Stabilisierungskredite<br />

sowie andere Zahlungsvorgänge.<br />

Der OSZE-Vorsitzende und finnische<br />

Außenminister Alexander<br />

Stubb trifft sich in Minsk mit<br />

seinem belarussischen Kollegen<br />

Sergej Martynow.<br />

Artur Finkewitsch, der stellvertretende<br />

Vorsitzende der oppositionellen<br />

Jugendorganisation „Junge<br />

Front“, muss nach einem Kampf<br />

um die Führung zurücktreten.<br />

In Moskau treffen sich Vertreter<br />

des russischen und belarussischen<br />

Verteidigungsministeriums zur<br />

gemeinsamen Sitzung.<br />

Kristiina Ojuland, stellvertretende<br />

estnische Parlamentssprecherin,<br />

erhält kein Visum für <strong>Belarus</strong>. Die<br />

Politikerin wollte sich mit Oppositionsvertretern<br />

treffen.<br />

Das Europäische Parlament schlägt<br />

in einer Resolution zu <strong>Belarus</strong> vor,<br />

eine „Road Map“ für den Dialog<br />

zu erarbeiten und die Sanktionen<br />

probeweise aufzuheben.<br />

Alexander Lukaschenko trifft in<br />

Bischkek, Kirgisien, zu Sitzungen<br />

der GUS und der Eurasischen<br />

Wirtschaftsgemeinschaft über die<br />

Finanzkrise ein.<br />

13.-19. Oktober<br />

Die EU-Außenminister heben in<br />

Luxemburg die Einreiseverbote<br />

gegen 37 belarussische Beamte,<br />

darunter Präsident Lukaschenko,<br />

für ein halbes Jahr auf.<br />

Der belarussische Außenminister<br />

Sergej Martynow trifft sich<br />

in Luxemburg mit Javier Solana,<br />

Benita Ferrero-Waldner und Alexander<br />

Stubb.<br />

Die lettische Firma „Bioplast“<br />

plant den Bau eines Windparks in<br />

<strong>Belarus</strong> mit vierzehn Anlagen.<br />

Der belarussische Wirtschaftsminister<br />

Nikolaj Sajtschenko sieht<br />

<strong>Belarus</strong> nur durch teurere Kredite<br />

von der Finanzkrise betroffen.<br />

Im Bundestag treffen sich Experten<br />

zum Fachgespräch „<strong>Belarus</strong> nach<br />

den Wahlen“. Vier belarussische<br />

Menschenrechtler bekommen kein<br />

deutsches Visum.<br />

20.-26. Oktober<br />

Gazprom-Sprecher Stanislaw<br />

Zygankow erklärt, der Fall des Ölpreises<br />

führe im zweiten Halbjahr<br />

2009 auch zu geringeren Gaspreisen<br />

für Partner wie <strong>Belarus</strong>.<br />

Alexej II., Oberhaupt der Russisch-<br />

Orthodoxen Kirche, besucht Minsk<br />

zum 1020-jährigen Jubiläum der<br />

Christianisierung und trifft auch<br />

Präsident Lukaschenko.<br />

Nach Angaben des belarussischen<br />

Statistikkomitees betrug das<br />

Durchschnittsgehalt in <strong>Belarus</strong><br />

im September etwa 320 Euro.<br />

Der stellvertretende tschechische<br />

Außenminister Tomas Pojar trifft<br />

zum ersten bilateralen ministeriellen<br />

Dialog seit sechs Jahren in<br />

Minsk ein.<br />

EU-Generalsekretär Javier Solana<br />

hält es für verfrüht, über die Absenkung<br />

von Visagebühren für<br />

<strong>Belarus</strong>sen zu reden.<br />

Die regierungstreue Organisation<br />

„Belaja Rus“ hält ihre erste Mitgliederversammlung<br />

in Minsk ab.<br />

Präsident Lukaschenko trifft sich<br />

in Moskau mit seinem russischen<br />

Kollegen Dmitrij Medwedjew.<br />

Themen sind vor allem der Gaspreis<br />

und die Finanzkrise.<br />

27. Oktober – 2. november<br />

Das neugewählte belarussische<br />

Parlament konstituiert sich und<br />

wählt Wladimir Andrejtschenko,<br />

Ex-Governeur des Witebsker Gebiets,<br />

zum Sprecher.<br />

Die <strong>Belarus</strong>sische Volksfront feiert<br />

ihr 20-jähriges Jubiläum.<br />

Präsident Lukaschenko fordert<br />

von Russland finanzielle Unterstützung<br />

für politische Loyalität.<br />

Präsident Lukaschenko besetzt<br />

vier Posten in den Streitkräften<br />

sowie dem KGB neu.<br />

Der Außenminister von Nicaragua,<br />

Samuel Santos Lopez, trifft in<br />

Minsk Präsident Lukaschenko.<br />

Der lybische Revolutionsführer<br />

Muammar al-Gaddafi trifft sich<br />

in Minsk mit Präsident Lukaschenko.<br />

3.-9. november<br />

Eine Delegation der Europäischen<br />

Kommission trifft in Minsk zu<br />

Gesprächen über einen möglichen<br />

Dialog ein.<br />

Die Organisation des Vertrags für<br />

Kollektive Sicherheit hat einen<br />

Vertrag über eine gemeinsame<br />

Luftabwehr erarbeitet.<br />

Russische Lebensmittelkontrolleure<br />

verbieten belarusssischen<br />

Firmen Milchprodukte wegen Gesundheitsgefahr<br />

zu importieren.<br />

Nach offiziellen Angaben hat der<br />

Export von <strong>Belarus</strong> in die Ukraine<br />

während der ersten zehn Monate<br />

des Jahres um knapp 100 Prozent<br />

auf über vier Milliarden Dollar<br />

zugenommen.<br />

In einer Umfrage sehen sich 92 Prozent<br />

der belarussischen Manager<br />

von der Finanzkrise betroffen.<br />

10.-16. november<br />

In Minsk trifft sich der stellvertretende<br />

polnische Außenminister<br />

Jan Borkowski mit seinem<br />

belarussischen Kollegen Walerij<br />

Woronetzkij.<br />

Präsident Lukaschenko entlässt<br />

den stellvertretenden Generalstaatsanwalt<br />

Kuprianowitsch<br />

sowie seinen Minsker Kollegen<br />

Snegir wegen Korruption.<br />

Das Industriewachstum in <strong>Belarus</strong><br />

betrug in den ersten zehn Monaten<br />

des Jahres über 13 Prozent – der<br />

höchste Wert in der GUS, wie deren<br />

Statistikkomitee mitteilt.<br />

In Minsk wird für etwa 8000 Euro<br />

das erste belarussische Null-Energie-Haus<br />

gebaut und eingeweiht.<br />

Alexander Lukaschenko erklärt,<br />

<strong>Belarus</strong> werde „sobald möglich”<br />

moderne russische „Iskander“-<br />

Luftabwehrraketen stationieren.<br />

Robert Wood, Vertreter der US-<br />

Regierung, kritisiert dies.<br />

17.-23. november<br />

In London eröffnet Premierminister<br />

Sidorskij das belarussische<br />

Investitionsforum und trifft sich<br />

mit britischen Parlamentariern.<br />

Das belarussische Außenministerium<br />

gestattet der Friedrich-Ebert-<br />

Stiftung, ihre Arbeit in <strong>Belarus</strong><br />

wieder aufzunehmen.<br />

Die internationale Arbeitsorganisation<br />

stellt fest, dass <strong>Belarus</strong> nach<br />

wie vor die Gewerkschaftsfreiheit<br />

verletze.<br />

24.-30. november<br />

Hans-Jochen Schmidt, Chef der<br />

OSZE-Mission in <strong>Belarus</strong>, kritisiert,<br />

das neue Gesetz über die<br />

Massenmedien entspräche nicht<br />

den Standards der Organisation.<br />

In Brüssel findet die dritte Runde<br />

der belarussisch-europäischen<br />

Gespräche zur Zusammenarbeit<br />

im Energiebereich statt.<br />

Nach unabhängigen Umfragen<br />

des NISIPI würden bei einer Präsidentschaftswahl<br />

über 40 Prozent<br />

der <strong>Belarus</strong>sen für Alexander Lukaschenko<br />

stimmen.<br />

Premier Sidorskij fliegt nach Moskau<br />

zu Gesprächen mit Bürgermeister<br />

Jurij Luschkow.<br />

Die belarussisch-deutsche Arbeitsgruppe<br />

für Handel und Investitionen<br />

trifft sich in Berlin. Thema<br />

ist vor allem die Zertifizierung<br />

belarussischer Waren.<br />

1.-7. dezember<br />

<strong>Belarus</strong> bittet um eine Verschiebung<br />

der geplanten Sitzung des<br />

belarussisch-russischen Unionsstaatsrats,<br />

da über einige Fragen<br />

Uneinigkeit besteht.<br />

Das Europäische Parlament erklärt<br />

zur Östlichen Partnerschaft,<br />

<strong>Belarus</strong> könnte in das Programm<br />

einbezogen werden, wenn sich die<br />

Menschenrechtslage verbessere.<br />

Benzin und Diesel werden an belarussischen<br />

Tankstellen um zehn<br />

Prozent billiger.<br />

Außenminister Martynow kritisiert<br />

beim OSZE-Treffen in Helsinki,<br />

die Organisation sei nicht in<br />

der Lage, reale Bedrohungen wie<br />

Terrorismus abzuwehren.<br />

8.-14. dezember<br />

Abchasien und Süd-Ossetien<br />

beantragen beim belarussischen<br />

Parlament ihre Anerkennung.<br />

Der iranische Außenminister<br />

Manutschehr Mottaki trifft sich in<br />

Minsk mit seinem Kollegen Sergej<br />

Martynow.<br />

Das belarussische Wirtschaftsministerium<br />

bereitet die schrittweise<br />

Liberalisierung der Wirtschaft für<br />

Anfang 2009 vor.<br />

NATO-Vertreter Robert Simmons<br />

erklärt in Minsk, die Allianz könne<br />

versuchen, ihre Beziehungen zu<br />

<strong>Belarus</strong> wieder zu aktivieren.<br />

Premier Sidorskij und sein russischer<br />

Kollege Putin besprechen<br />

bei einem Treffen Fragen der wirtschaftlichen<br />

Zusammenarbeit.<br />

15.-21. dezember<br />

Das belarussische Justizministerium<br />

registriert die oppositionelle<br />

NGO „Für die Freiheit“ von Alexander<br />

Milinkewitsch. Javier Solana<br />

begrüßt dies.<br />

Der Beauftragte der Europäischen<br />

Kommission für <strong>Belarus</strong>, José Manuel<br />

Pinto Teixeira,, unterschreibt<br />

in Minsk einen Vertrag über Zusammenarbeit.<br />

Alexander Lukaschenko hebt<br />

die Ausreisebeschränkungen für<br />

belarussische Kinder über die<br />

Feiertage auf.<br />

Chronologie<br />

Ex-Präsidentschaftskandidat Alexander<br />

Kosulin tritt aus der Sozialdemokratischen<br />

Partei aus, die ihn<br />

als Vorsitzenden abgewählt hat.<br />

22.-28. dezember<br />

Die Präsidenten Lukaschenko und<br />

Medwedjew einigen sich in Moskau<br />

auf den Gaspreis 2009.<br />

Nigel Gould-Davies, britischer<br />

Botschafter in Minsk, erklärt die<br />

Beziehungen seines Landes mit<br />

<strong>Belarus</strong> 2008 für klar verbessert.<br />

Präsident Lukaschenko genehmigt,<br />

wie von Unternehmern gefordert,<br />

Steuerrabatte für private<br />

Importunternehmen, die Anfang<br />

2009 auslaufen sollten.<br />

Das belarussische Atomkraftwerk<br />

wird von „Rusatom“ aus Russland<br />

gebaut, erklärt ein Sprecher des<br />

belarussischen Katastrophenschutzministeriums.<br />

29. dezember – 4. Januar<br />

Präsident Lukaschenko erklärt<br />

zu Neujahr, <strong>Belarus</strong> werde die<br />

Finanzkrise bewältigen.<br />

Die Nationalbank wertet den <strong>Belarus</strong>sischen<br />

Rubel um 20 Prozent<br />

ab. An Wechselstuben herrscht<br />

großer Andrang.<br />

Die Oppositionskoalition VDK<br />

will 2009 versuchen, die Wahlgesetzgebung<br />

zu ändern, erklärt<br />

der stellvertretende Vorsitzende<br />

Anatolij Lebedko.<br />

5.-11. Januar<br />

Präsident Lukaschenko befördert<br />

Natallja Petkewitsch von der einfachen<br />

zur ersten Stellvertreterin<br />

der Präsidialadministration.<br />

Gazprom erhöht zum zweiten Mal<br />

seit Neujahr die Gaslieferungen<br />

durch <strong>Belarus</strong> für den Europäischen<br />

Markt. Grund ist der Lieferstreit<br />

mit der Ukraine.<br />

Die Leitung für die Reform von<br />

Staatseigentum lässt verlauten,<br />

dass 2009 200 Firmen in Aktiengesellschaften<br />

umgewandelt werden<br />

sollen, 130 sollen privatisiert<br />

werden.<br />

1 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 1


NGOs & Gesellschaft<br />

Neues Holocaustgedenken in <strong>Belarus</strong><br />

(SB) Im Oktober fanden die Gedenkfeierlichkeiten zum 65. Jahrestag der Auflösung des Minsker Ghettos<br />

statt. im beisein von Vertretern der städte Köln, bonn, düsseldorf, dortmund, siegen und berlin trauerten<br />

deutsche und belarussen gemeinsam um die Opfer des Holocaust. Präsident Lukaschenko betonte in seiner<br />

rede vor allem die rolle der jüdischen bevölkerung für die belarussische Widerstandsbewegung.<br />

Alexander Lukaschenko eröffnete<br />

die Trauerfeierlichkeiten zum 65.<br />

Jahrestag der Auflösung des Ghettos<br />

an der Minsker Gedenkstätte<br />

Jama mit berührenden und versöhnlichen<br />

Worten. In seiner Rede<br />

wies er auf die herausragende<br />

Rolle der jüdischen Bevölkerung in<br />

der belarussischen Widerstandsbewegung<br />

hin. Viele Juden hätten<br />

sich den Partisanen angeschlossen<br />

und Seite an Seite mit den <strong>Belarus</strong>sen<br />

gekämpft. Sie hätten, so der<br />

Präsident, „eine besondere Seite<br />

in der Geschichte unseres Volkskampfes<br />

geschrieben“.<br />

Zu den Trauerfeierlichkeiten waren<br />

auch viele Zeitzeugen aus dem<br />

Ausland gekommen. Zum Beispiel<br />

Tamara Resnik, die aus Israel anreiste:<br />

„Die traurigen Ereignisse<br />

werden für immer in unseren Herzen<br />

bleiben. Dass jetzt in Minsk<br />

Gedenkfeiern stattfinden, freut<br />

uns aber sehr, denn es zeigt, dass<br />

den <strong>Belarus</strong>sen das Schicksal der<br />

jüdischen Bevölkerung am Herzen<br />

liegt.“Auch Leonid Lewin, Träger<br />

des Bundesverdienstkreuzes und<br />

Präsident des Verbandes Jüdischer<br />

Gemeinden in <strong>Belarus</strong>, machte auf<br />

die Wichtigkeit des Holocaustgedenkens<br />

in <strong>Belarus</strong> aufmerksam:<br />

„Die Aufarbeitung der Geschichte<br />

und die Hilfe, die wir dabei aus<br />

Deutschland erfahren, ist sehr<br />

wichtig für uns“. In seiner Ansprache<br />

vor rund 1200 Trauergästen<br />

hob Lewin auch die Rolle jener<br />

<strong>Belarus</strong>sen hervor, die unter Einsatz<br />

ihres eigenen Lebens Juden<br />

vor dem Tod bewahrt hatten.<br />

Peter Junge-Wentrup, Geschäftsführer<br />

des Internationalen <strong>Bildungs</strong>-<br />

und Begegnungswerks<br />

(IBB) hatte die deutsche Beteiligung<br />

an den Gedenkstunden<br />

maßgeblich mit beeinflusst und<br />

sieht in den Gedenkfeierlichkeiten<br />

ein Novum innerhalb der belarussischen<br />

Erinnerungskultur: „In der<br />

Vergangenheit konzentrierte sich<br />

die offizielle Erinnerungskultur<br />

auf Kriegsveteranen und Partisanen,<br />

aber niemand gedachte der<br />

Opfer in der Zivilbevölkerung<br />

und der zu Tausenden ermordeten<br />

jüdischen Mitbürger.“<br />

Insgesamt nahmen an den Feierlichkeiten<br />

rund 100 deutsche<br />

Gäste teil. Auch Bundesminister<br />

a.D. Manfred Stolpe, der auf<br />

Einladung des IBB Dortmund gekommen<br />

war, hob die Bedeutung<br />

der Erinnerung an Vergangenes<br />

hervor: „Sich zu erinnern und zu<br />

gedenken ist der beste Schutz gegen<br />

Vergessen und Verdrängen.<br />

Nur wer sich der Vergangenheit<br />

bewusst ist, kann auch die Zukunft<br />

gestalten.“<br />

Die Städte Bonn, Köln, der Rhein-<br />

Sieg-Kreis sowie Mitglieder und<br />

Förderer der Gedenkstätte Bonn<br />

stifteten einen Gedenkstein für<br />

die verschleppten und ermordeten<br />

Juden aus den Orten des<br />

Rheinlandes. „Der Gedenkstein ist<br />

ein Zeichen dafür, dass die Opfer<br />

der Shoah nicht vergessen sind.<br />

Er zeigt, dass wir das ehrende<br />

Andenken an sie bewahren möchten“,<br />

betonte das Kölner Ratsmitglied<br />

Peter Sörries. Der Bonner<br />

Bürgermeister, Helmut Joisten,<br />

bekräftigte: „Es ist der Stadt Bonn<br />

ein Bedürfnis, den Gedenkstein als<br />

Mahnmal zu übergeben, damit das<br />

unermessliche Leid, das den Opfern<br />

der Nationalsozialisten zugefügt<br />

wurde, nicht vergessen wird.<br />

Wir sehen die Städtepartnerschaft,<br />

die die Stadt Bonn mit Minsk verbindet,<br />

als wichtigen Beitrag, um<br />

unsere gemeinsame Zukunft zu<br />

gestalten.“ Die Städte Hamburg,<br />

Düsseldorf und Bremen hatten<br />

bereits zu früheren Zeitpunkten<br />

Gedenksteine zur Erinnerung an<br />

die Zwangsdeportierten aus ihren<br />

Städten aufgestellt.<br />

Ein weiteres Gesprächsthema<br />

während der Gedenkfeierlichkeiten<br />

war die geplante Errichtung<br />

einer Gedenkstätte für das Vernichtungslager<br />

Maly Trostenez,<br />

das in Bezug auf die Opferzahlen<br />

das viertgrößte Lager Europas<br />

war. Präsident Lukaschenko bekundete<br />

seine Unterstützung für<br />

eine zukünftige Gedenkstätte in<br />

Trostenez: „Wir haben beschlossen,<br />

eine majästetische Gedenkstätte<br />

in Trostenez zu errichten. Ich<br />

bin sicher, an ihrem Bau werden<br />

nicht nur <strong>Belarus</strong>sen, sondern<br />

auch Freiwillige aus der ganzen<br />

Welt teilnehmen. Alle, denen der<br />

Humanismus etwas bedeutet, die<br />

sich echte Antifaschisten nennen.<br />

Das wird ein wirkliches gesamteuropäisches<br />

Denkmal sein.“ Auch<br />

die Stadt Köln will sich an den<br />

Arbeiten für die Gedenkstätte beteiligen,<br />

erste Kooperationsansätze<br />

besprach die deutsche Delegation<br />

mit der Minsker Stadtverwaltung.<br />

Insgesamt boten die Gedenkfeierlichkeiten<br />

nicht nur eine neue<br />

Form des Gedenkens über den<br />

Holocaust in <strong>Belarus</strong>, sondern<br />

auch einige vielversprechende<br />

Perspektiven für die deutschbelarussische<br />

Zusammenarbeit<br />

und die Hoffnung auf die lang<br />

erwartete Errichtung der Gedenkstätte<br />

Trostenez. Ob diese wirklich<br />

ein „gesamteuropäisches“ Projekt<br />

wird, ist noch ungewiss. Sicher<br />

ist, dass die Verantwortlichen auf<br />

beiden Seiten eine gemeinsame<br />

Sprache sprechen. Und das ist<br />

schon sehr viel.<br />

„Wendepunkt der staatlichen Sicht“<br />

NGOs & Gesellschaft<br />

Am Gedenken zum 65. Jahrestag der Auflösung des Minsker Ghettos war auch Leonid Lewin, Vorsitzender<br />

des Verbands der Jüdischen Gemeinden in belarus und Gedenkstättenarchitekt, beteiligt. Warum die<br />

Gedenkfeierlichkeiten einen Wendepunkt in der staatlichen erinnerungskultur bringen und was sich in<br />

den deutsch-belarussischen beziehungen noch verändern muss, erklärt Lewin im exklusivinterview.<br />

BP: Herr Lewin, bei den Gedenkfeierlichkeiten<br />

waren auch viele Vertreter<br />

aus deutschen Städten, deren Bürger<br />

unter den Nationalsozialisten daran<br />

beteiligt waren, Juden nach Minsk zu<br />

verschleppen. Wie wichtig war für Sie<br />

die Anwesenheit der deutschen Delegation<br />

bei den Feierlichkeiten?<br />

Lewin: Wissen Sie, früher wurden<br />

die Deutschen als Feinde<br />

betrachtet – aber seitdem ist viel<br />

Zeit vergangen. Das Bewusstsein<br />

der Menschen hat sich verändert.<br />

Wir betrachten die Deutschen als<br />

unsere Freunde, denen wir die<br />

Vergangenheit verziehen haben.<br />

Außerdem sind die heutigen Deutschen<br />

doch nicht jene, die damals<br />

Verbrechen begangen haben. Aus<br />

Deutschland kam der Aufbruch<br />

zum gegenseitigen Verständnis<br />

und zur Versöhnung. Die Anwesenheit<br />

der deutschen Delegation<br />

bei den Trauerfeierlichkeiten in<br />

Minsk war für uns sehr wichtig<br />

und hat uns sehr berührt. Die<br />

Deutschen, vor allem die Vertreter<br />

des IBB, sind bei diesem Anlass für<br />

uns zu Partnern geworden. Die<br />

Deutschen sind hierbei keinesfalls<br />

Statisten. Sie sind unsere Partner<br />

bei dieser Gedenkfeier, aber auch<br />

die Partner unserer Stadt und unseres<br />

Staates.<br />

Wie hat sich die belarussische Erinnerungskultur<br />

Ihres Erachtens nach dem<br />

Zerfall der Sowjetunion verändert?<br />

Ich hatte kürzlich Gelegenheit mir<br />

über Erinnerungskultur ausführlicher<br />

Gedanken zu machen. Für<br />

die Deutschen ist es beispielsweise<br />

selbstverständlich, die sowjetischen<br />

Kriegsgräber in Deutschland<br />

zu pflegen. Diese Art von<br />

Erinnerungskultur fehlt uns, und<br />

wir sollten uns darum bemühen,<br />

von anderen zu lernen. Die Sowjet-<br />

macht hat diesen Teil der Erinnerungskultur<br />

unterdrückt und alles<br />

von uns abgetrennt, was mit den<br />

Deutschen zu tun hatte, so dass<br />

mehrere Generationen mit Vorurteilen<br />

gegen Deutsche erzogen<br />

wurden. Es hieß, die Deutschen<br />

seien unsere Feinde, und damit<br />

war das Thema erledigt. Heutzutage<br />

ist die Erinnerungskultur in<br />

erster Linie darauf gerichtet, das<br />

Verschwinden der Erinnerung an<br />

den Faschismus zu verhindern.<br />

Einige Vertreter der Jüdischen Gemeinden<br />

in <strong>Belarus</strong> bemängeln, dass<br />

die belarussische Regierung in ihrer<br />

Erinnerungskultur dem Gedenken<br />

an den Holocaust nicht genügend<br />

Raum einräumen würde. Bei den<br />

Feierlichkeiten im Oktober hat Präsident<br />

Lukaschenko eine Rede gehalten.<br />

Hat sich das staatliche Verhältnis zu<br />

diesem Thema verändert?<br />

Zweifellos markiert der 65. Jahrestag<br />

der Auflösung des Ghettos<br />

einen Wendepunkt der staatlichen<br />

Sicht auf den Holocaust. Ehrlich<br />

gesagt hat es so etwas bei uns<br />

früher einfach nicht gegeben. Und<br />

jetzt, da der Präsident die besondere<br />

Rolle der Juden in der Widerstandsbewegung<br />

angesprochen<br />

hat, ist dies auch auf der staatlichen<br />

Führungsebene angekommen.<br />

Die Regierung hat alles dafür<br />

getan, diese Gedenktage auf dem<br />

höchsten Niveau abzuhalten.<br />

Warum verzögert sich die Errichtung<br />

eines Denkmals am Ort des ehemaligen<br />

Todeslagers Trostenez noch?<br />

Vor dem Krieg gab es an dieser<br />

Stelle ein KGB-Lager. Das wollte<br />

man vertuschen und bemühte<br />

sich zudem, die Opferzahl der<br />

sowjetischen Verbrechen um ein<br />

Vielfaches zu verkleinern. Nach<br />

dem Krieg wurde dort eine Müllhalde<br />

errichtet, was moralisch sehr<br />

problematisch ist. Noch in den<br />

60er und 70er Jahren gab es ein<br />

paar Bemühungen, ein Denkmal<br />

zu errichten. Schließlich wurde<br />

ein Obelisk errichtet, aber dieser<br />

kleine Gedenkstein steht nicht<br />

einmal am genauen Ort der Tragödie.<br />

Nun haben sich die Zeiten<br />

geändert, es wurde eine Trostenez-<br />

Gesellschaft gegründet, deren<br />

Mitgliedern das Schicksal von<br />

Trostenz nicht gleichgültig ist. Wir<br />

stehen schon in den Startlöchern.<br />

Das Wesentliche ist jetzt eine Finanzierung<br />

zu finden und dann einen<br />

Wettbewerb auszuschreiben,<br />

damit Trostenez ein einzigartiges<br />

Mahnmal in Europa werden kann.<br />

Schließlich ist es in Bezug auf die<br />

Opferzahlen das viertgrößte Lager<br />

Europas.<br />

In den deutsch-belarussischen Beziehungen<br />

wird viel für die Versöhnung<br />

getan. Was fehlt noch?<br />

Mir ist klar, dass man nicht jeden<br />

Tag mit solchen Gedenkfeierlichkeiten<br />

füllen kann. Aber das<br />

Problem liegt darin, dass unsere<br />

Bevölkerung sehr wenig darüber<br />

weiß, was auf der Ebene der<br />

deutsch-belarussischen Beziehungen<br />

passiert. Wenn jemand<br />

aber schlecht informiert ist, dann<br />

hat er automatisch den Eindruck,<br />

dass sich nichts tut. Weiterhin<br />

scheint mir, dass die Erinnerungskultur<br />

auf beiden Seiten auf höheren<br />

staatlichen Ebenen behandelt<br />

werden sollte. Politik und<br />

Wirtschaft ändern sich außerdem<br />

schnell, aber Kunst und Kultur<br />

bleiben und können uns helfen,<br />

einander näher zu kommen. So<br />

kann der kulturelle Dialog dazu<br />

beitragen, dass wir einander besser<br />

verstehen lernen.<br />

1 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 1


NGOs & Gesellschaft<br />

Nachruf Dr. Eberhard Heyken<br />

* 23. AuGusT 1935 - † 15. deZeMber 2008<br />

(Peter Junge-Wentrup, Thomas<br />

Nawrath, Prof. Dr. Gerhard Simon)<br />

Wir trauern um einen Freund. Am<br />

15. Dezember 2008 verstarb völlig<br />

überraschend Botschafter a. D. Dr.<br />

Eberhard Heyken im Alter von 73<br />

Jahren. Diese Mitteilung hat uns<br />

erschüttert und traurig gestimmt.<br />

Nun möchten wir uns von diesem<br />

engagierten Menschen auf gebührende<br />

Weise verabschieden.<br />

Ruhig und besonnen im Auftreten,<br />

dabei freundlich und offenherzig,<br />

so ist Eberhard Heyken vielen<br />

Menschen begegnet während<br />

seiner fast 40-jährigen Tätigkeit<br />

als Diplomat zwischen Kalkutta,<br />

Moskau, Washington, Kiew und<br />

Wien. Besonders verbunden war<br />

er der Sowjetunion und ihren<br />

Nachfolgestaaten; arbeitete er<br />

doch zweieinhalb Jahrzehnte in<br />

Moskau, Kiew und Minsk sowie<br />

im Sowjetunion-Referat des Auswärtigen<br />

Amtes. Auch im wohlverdienten<br />

Ruhestand, den er mit<br />

seiner Ehefrau Roswitha in Bonn<br />

verlebte, blieb Dr. Heyken „seinen“<br />

<strong>Belarus</strong>sen und Ukrainern<br />

weiter verbunden.<br />

So erinnert sich Professor Gerhard<br />

Simon (Pulheim): „Eberhard Heyken<br />

suchte den Kontakt zu den<br />

Osteuropa-Wissenschaftlern. Er<br />

konnte Fragen stellen und zuhören.<br />

Er war in der Lage, Zweifel<br />

zu äußern auch an der Politik, die<br />

er selbst zu verantworten hatte,<br />

und war rastlos in der Aufnahme<br />

von allem, was um ihn herum vor<br />

sich ging; stets mit Notizbuch und<br />

Stift bewaffnet, damit nur nichts<br />

verloren ging. Eberhard Heyken<br />

ging auf Menschen zu, selbst dann,<br />

wenn sie ganz anders waren als er.<br />

Oft habe ich seine Bescheidenheit<br />

bewundert, zum Beispiel als er sich<br />

nicht scheute, noch im Ruhestand<br />

an Sprachkursen des Ukrainicums<br />

teilzunehmen. Eberhard Heyken<br />

war nicht nur verbindlich, sondern<br />

gewinnend offen. Auch in schwierigen<br />

Situationen diskutierte er<br />

ohne zu lamentieren, immer den<br />

Blick nach vorn gerichtet. Es ist<br />

schwer vorzustellen, wie wir jetzt<br />

ohne ihn auskommen sollen.“<br />

Fast zwei Jahrzehnte pflegte Dr.<br />

Heyken enge Verbindungen mit<br />

dem Internationalen <strong>Bildungs</strong>-<br />

und Begegnungswerk (IBB) in<br />

Dortmund. IBB-Geschäftsführer<br />

Peter Junge-Wentrup erinnert<br />

sich: „Die intensive und fruchtbringende<br />

Beziehung begann im<br />

Juni 1991, als Eberhard Heyken<br />

als Gesandter der Deutschen Botschaft<br />

an der Grundsteinlegung<br />

der Internationalen <strong>Bildungs</strong>- und<br />

Begegnungsstätte Minsk teilnahm.<br />

Unsere Zusammenarbeit intensivierte<br />

sich, als er im Jahr 2002/03<br />

noch einmal aus dem Ruhestand<br />

zurück kam und die Leitung des<br />

OSZE-Büros in Minsk übernahm.<br />

In diesen zwei Jahren erlebte Eberhard<br />

Heyken die IBB-Arbeit direkt<br />

und knüpfte Kontakte zu zahlreichen<br />

Initiativen und Bürgerbewegungen.<br />

2003 wurde Eberhard<br />

Heyken auch Mitglied unseres Kuratoriums.<br />

Vor zwei Jahren regte<br />

er an, die Netzwerke von NGOs<br />

um eine ukrainische Dimension<br />

zu erweitern. Aus dieser Idee<br />

entstand das Partnerschaftsprogramm<br />

Ukraine. Eberhard Heyken<br />

war ein wichtiger Motor für<br />

das Programm, er hat gut beraten<br />

und viele Türen geöffnet; er war<br />

ein ausgesprochener Freund der<br />

Menschen in der Ukraine.“<br />

Überhaupt die Ukraine: Hier<br />

kämpfte der damalige Botschafter<br />

Eberhard Heyken (1996-2000) unermüdlich<br />

und letztlich erfolgreich<br />

für die Rückgabe des Kirchengebäudes<br />

und des Besitzes der<br />

deutschen lutherischen Gemeinde<br />

St. Katharina in Kiew. Bis heute<br />

ist die Kirchgemeinde Eberhard<br />

Heyken für seine uneigennützige<br />

Hilfe dankbar.<br />

Im Jahre 1998 besuchte Bundespräsident<br />

Roman Herzog die Ukraine.<br />

Botschafter Heyken öffnete ihm<br />

und den mitgereisten Wirtschaftsvertretern<br />

die Augen: Er warb<br />

dafür, dass gerade Deutschland<br />

ein elementares Interesse an Demokratie<br />

und wirtschaftlicher Prosperität<br />

in der Ukraine, aber auch<br />

an der Stärkung ihrer damals noch<br />

unscheinbaren Zivilgesellschaft<br />

habe. Innerhalb weniger Monate<br />

schlug diese Initiative Wurzeln:<br />

Unterstützt von den Fachleuten<br />

des Auswärtigen Amtes und der<br />

finanziellen Hilfe namhafter deutscher<br />

Firmen wurde am 5. Februar<br />

1999 in Bonn das Deutsch-Ukrainische<br />

Forum gegründet. Von<br />

Beginn an war Eberhard Heyken<br />

Mitglied des Vereinsvorstandes<br />

und seither ein engagierter Ideengeber,<br />

sachkundiger Berater und<br />

wenn nötig auch diplomatischer<br />

Unterhändler des Forums.<br />

Besondere Bedeutung maß Eberhard<br />

Heyken in seinem Wirken<br />

den persönlichen Begegnungen<br />

der Menschen bei. Er regte Städtepartnerschaften<br />

und Schülerreisen<br />

an, warb für den Austausch von<br />

Studenten und Wissenschaftlern,<br />

für politische und wirtschaftliche<br />

Kontakte. Gleichzeitig engagierte<br />

sich Eberhard Heyken auch<br />

für zahlreiche Hilfsprojekte von<br />

Deutschland nach <strong>Belarus</strong> und<br />

in die Ukraine. Manchmal wusste<br />

er mit einem Anruf in Berlin,<br />

Minsk oder Kiew Hindernisse aus<br />

dem Weg zu räumen, damit die<br />

dringend benötigten Hilfsgüter<br />

unbeschadet eintrafen. Ihm lagen<br />

die Menschen am Herzen. Und<br />

deshalb werden ihn so viele Menschen<br />

vermissen.<br />

Doch Eberhard Heyken hat uns ein<br />

Erbe hinterlassen, ein Vermächtnis.<br />

Seine tätige Nächstenliebe,<br />

sein praktiziertes Christsein, seine<br />

Hilfsbereitschaft ohne Beachtung<br />

von Position und Herkunft – das<br />

sollte uns Vorbild sein. Und so<br />

wollen wir uns dafür einsetzen,<br />

Nachruf Dr. Heinz Timmermann<br />

ein Freund der MensCHen in OsTeurOPA isT GesTOrben<br />

(Dr. Dieter Bach, Peter Junge-<br />

Wentrup) Wir trauern um einen<br />

Freund. Heinz Timmermann verstarb<br />

am 23.12.2008 nach kurzer<br />

Krankheit in seiner Heimatstadt<br />

Köln. Im Oktober 2008 konnte er<br />

seinen 70. Geburtstag auch mit<br />

Freunden aus Osteuropa feiern.<br />

Sein Tod hat uns völlig überrascht<br />

und erschüttert.<br />

Heinz Timmermann hat sich sein<br />

Leben lang mit den Ländern der<br />

ehemaligen Sowjetunion befasst –<br />

analytische Schärfe und ein breites<br />

Hindergrundwissen zeichneten<br />

seine Arbeiten aus. Dabei blieb<br />

es jedoch nicht: Er suchte nach<br />

Perspektiven in der Überwindung<br />

des Ost-West-Konfrontation und<br />

in der Gestaltung der Transformationsprozesse<br />

in Osteuropa.<br />

Heinz Timmermann ging es nicht<br />

um theoretische Modelle; er suchte<br />

vielmehr den Kontakt zu verschiedenen<br />

Akteuren der Politik, der<br />

Gesellschaft und den Menschen<br />

in Russland, <strong>Belarus</strong> und der<br />

Ukraine. Ihm waren dabei die<br />

Kontakte zu zivilgesellschaftlichen<br />

Initiativen wichtig. Er gründete<br />

deshalb Anfang der 90er Jahre die<br />

Mülheimer Initiative mit, die sich<br />

das Motto setzte „Von der Feindschaft<br />

zur Partnerschaft, von der<br />

Partnerschaft zur Freundschaft“.<br />

Dieter Bach, ehemaliger Leiter<br />

der Evangelischen Akademie<br />

Mülheim erinnert sich: „Er erwies<br />

sich als treuer und verlässlicher<br />

Freund. Er hielt Distanz zum<br />

politischen Tagesgeschäft. Hohe<br />

Sachkenntnis und die klare Analysen<br />

machten Heinz Timmermann<br />

zu einem unverzichtbaren Partner.<br />

Keine Schritte tat ich, ohne vorher<br />

seine Meinung zu hören und sie<br />

in den Planungen mit zu berücksichtigen.“<br />

Heinz Timmermann war mit seinen<br />

Analysen unmittelbar an der<br />

Gestaltung der Osteuropapolitik<br />

der Bundesregierung beteiligt und<br />

dies nicht nur in seiner beruflichen<br />

Funktion als Direktor der Abteilung<br />

für Russland und <strong>Belarus</strong> bei<br />

der Stiftung Wissenschaft und Politik.<br />

Seine Strategien, sowohl mit<br />

den Zivilgesellschaften in diesen<br />

Ländern zusammenzuarbeiten wie<br />

auch die Dialoge mit politischen<br />

Entscheidungsträgern zu suchen,<br />

zeigten praktische Wege auf.<br />

Heinz Timmermann hat die Arbeit<br />

des IBB Dortmund seit der<br />

Eröffnung der Internationalen <strong>Bildungs</strong>-<br />

und Begegnungsstätte „Johannes<br />

Rau“ Minsk aktiv begleitet.<br />

An vielen Partnerschaftskonferenzen<br />

war er mit Vorträgen beteiligt<br />

und er suchte den Dialog mit<br />

Partnern aus Osteuropa. Peter Junge-Wentrup,<br />

Geschäftsführer der<br />

IBB gGmbH Dortmund, schreibt:<br />

„Heinz Timmermann zeigte seit<br />

Dr. Heinz<br />

Timmermann †<br />

NGOs & Gesellschaft<br />

Eberhard Heyken nachzueifern<br />

– in seiner Menschenliebe, die sich<br />

auch aus seinem Gottvertrauen<br />

speiste.<br />

Beginn unserer Zusammenarbeit<br />

im Jahr 1994 ein großes Interesse<br />

an der Entwicklung der Zivilgesellschaften<br />

in Osteuropa und an zivilgesellschaftlichen<br />

Kooperationen.<br />

Gesellschaftlicher Wandel könne<br />

nur mit gewachsenen Zivilgesellschaften<br />

gestaltet werden. Er hatte<br />

die einmalige Gabe, die Analyse<br />

gesellschaftlicher Prozesse, die<br />

Vision von einem Gesamteuropa<br />

und die Entwicklung von Strategien<br />

zusammenzudenken. Heinz<br />

Timmermann war sowohl in der<br />

Wissenschaft wie auch in der Politik<br />

und bei den gesellschaftlichen<br />

Initiativen zu Hause – er hat viele<br />

Türen geöffnet.“<br />

In Gesprächen standen immer<br />

die Argumente im Mittelpunkt.<br />

Heinz Timmermann war ein bescheidener<br />

Mann, der Spaß an der<br />

Diskussion und dem Austausch<br />

hatte; er hinterlässt eine große<br />

Lücke, wo heute unklar ist, wie<br />

sie geschlossen werden kann. Es<br />

überwiegt jedoch die Dankbarkeit,<br />

Vision und Projekte gemeinsam<br />

entwickelt zu haben.<br />

0 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 1<br />

Foto: privat


NGOs & Gesellschaft<br />

„Keine Alternative zum Dialog“<br />

(Ms) schanna Litwina ist neue Trägerin des Menschenrechtspreises der Friedrich-ebert-stiftung. die<br />

Vorsitzende des unabhängigen belarussischen Journalistenverbands bekam die Auszeichnung im dezember<br />

in berlin verliehen. Litwina und brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck kritisierten<br />

in ihren reden einschränkungen der Pressefreiheit in belarus, ließen jedoch auch hoffnungsvolle Töne<br />

anklingen.<br />

Anke Fuchs, Vorsitzende der<br />

Friedrich-Ebert-Stiftung, lobte<br />

vor etwa 300 geladenen Gästen<br />

Litwina für ihren „ununterbrochenen<br />

Einsatz“ für die Rechte von<br />

Journalisten in <strong>Belarus</strong> und ihre<br />

„herausragende Dialogfähigkeit“.<br />

Tatsächlich hat die Journalistin<br />

in ihrer über 30-jährigen Berufslaufbahn<br />

sowohl für staatliche als<br />

auch für staatskritische Medien<br />

gearbeitet und sich so einen tiefen<br />

Einblick in die medialen Strukturen<br />

des Landes verschafft. Nachdem<br />

Litwina 1995 beim staatlichen<br />

Radiokanal entlassen worden war,<br />

wurde sie Direktorin der belarussischen<br />

Sektion von Radio Free<br />

Liberty. Im gleichen Jahr wurde<br />

sie auch zur Vorsitzenden des<br />

neu gegründeten <strong>Belarus</strong>sischen<br />

Journalistenverbands gewählt.<br />

Bereits 2004 zeichnete sie das Europäische<br />

Parlament für ihr Engagement<br />

mit dem Sacharow-Preis<br />

für Menschenrechte aus. Heute<br />

hat Litwinas Journalistenverband<br />

1200 Mitglieder.<br />

Auch Brandenburgs Ministerpräsident<br />

Matthias Platzeck war voll<br />

des Lobs für die Preisträgerin.<br />

Besonders stellte er ihren „beharrlichen<br />

Willen zur friedlichen<br />

Veränderung“ heraus und betonte,<br />

wie wichtig ihre Arbeit für<br />

die Rechte von Journalisten sei,<br />

denn, so zitierte Platzeck den verstorbenen<br />

Ex-Bundespräsidenten<br />

Johannes Rau, „Demokratie bedeutet<br />

mehr als nur die Herrschaft<br />

der Mehrheit“. Platzeck teilte mit<br />

dem Auditorium seine Eindrücke<br />

aus <strong>Belarus</strong>, das er erst vor kurzem<br />

besucht hatte, und ließ Hoffnung<br />

aufkeimen: „Die Dinge beginnen,<br />

sich zu ändern“, erklärte der Ministerpräsident<br />

mit Blick auf die<br />

Annäherung zwischen Minsk und<br />

Brüssel.<br />

Dann war die Reihe an der Preis-<br />

Networking online –<br />

Initiativen besser vernetzen<br />

(SB) Im Frühjahr 2009 soll das dreisprachige<br />

Internetportal www.<br />

Ost-West-Initiativen.de online<br />

gehen. Mehr als 600 deutsch-belarussische<br />

Partnerschaftsprojekte<br />

werden seit 2002 mit einem Förderprogramm<br />

durch die Bundesregierung<br />

gefördert. Mittelfristig wird<br />

auch für die Ukraine ein Partnerschaftsprogramm<br />

angestrebt, um<br />

die über 350 deutsch-ukrainischen<br />

Initiativen zu unterstützen. Das<br />

geplante Portal soll nun deutsche,<br />

belarussische und ukrainische Initiativen<br />

und zivilgesellschaftliche<br />

Akteure aus Bildung, Sozialem,<br />

Umwelt und Energie sowie regionaler<br />

Entwicklung miteinander<br />

vernetzen. Die Initiativen können<br />

sich auf dem Portal vorstellen<br />

und ihre fachlichen Kompetenzen<br />

austauschen. Ein weiterer Schritt<br />

zu einer deutsch-belarussischukrainischen<br />

Zusammenarbeit ist<br />

die im April 2009 stattfindende<br />

Partnerschaftskonferenz, zu der<br />

nun erstmals belarussische und<br />

ukrainische Initiativen gemeinsam<br />

nach Deutschland kommen.<br />

trägerin selbst. Litwina war sichtlich<br />

bewegt von den warmen<br />

Worten, unterstrich jedoch in ihrer<br />

Rede, wie schwer journalistische<br />

Arbeit nach wie vor in <strong>Belarus</strong><br />

sei. Drei zentrale Hindernisse für<br />

journalistisches Arbeiten nannte<br />

Litwina: Die Akkreditierung, die<br />

durch das neue Mediengesetz zu<br />

einem staatlichen Kontrollinstrument<br />

werde, die ökonomische<br />

Diskriminierung durch den Druck<br />

auf Werbepartner und Sponsoren<br />

alternativer Medien sowie den<br />

Zugang zum staatlichen Vertriebssystem,<br />

der etwa zehn Zeitungen<br />

verwehrt bleibe. Allerdings betonte<br />

die Preisträgerin, dass sich<br />

der Staat ein wenig auf die Medien<br />

und die EU zubewegt habe, denn<br />

seit kurzem seien zwei oppositionelle<br />

Zeitungen, die Tageszeitung<br />

„Narodnaja Wolja“ sowie die intellektuelle<br />

Wochenzeitung „Nascha<br />

Niwa“, wieder frei verkäuflich.<br />

Außerdem seien die Strafverfahren<br />

gegen mehrere belarussische Journalisten<br />

eingestellt worden, die<br />

im März wegen der Mitarbeit bei<br />

polnischen Medien festgenommen<br />

worden waren. Überhaupt stellte<br />

Litwina fest, dass trotz aller negativer<br />

Momente die belarussische<br />

Staatsmacht erkennen lasse, dass<br />

sie sich an die Europäische Union<br />

annähern wolle - eventuell auch in<br />

Menschenrechtsfragen. Als Indiz<br />

dafür erwähnte Litwina den Auftritt<br />

des Chefs der belarussischen<br />

Präsidialadministration, Wladimir<br />

Makej, beim diesjährigen Minsk<br />

Forum. Makej, fand Litwina, habe<br />

„taktvoll und intelligent“ gesprochen.<br />

Dies lasse hoffen. Denn, wie<br />

Schanna Litwina bekräftigte: „Es<br />

gibt einfach keine Alternative zum<br />

Dialog“.<br />

Nachruf Wassilij Nesterenko<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43<br />

NGOs & Gesellschaft<br />

(Achim riemann, Hannover) Am 25. August 2008 verstarb Professor Wassilij borisowitsch nesterenko<br />

im Alter von 74 Jahren. sein Tod ist ein großer Verlust für die Menschen in belarus, insbesondere in den<br />

strahlenbelasteten Gebieten. ihren belangen galt sein unermüdlicher einsatz.<br />

Als es 1986 in Tschernobyl zum<br />

Reaktorunglück kam, war Professor<br />

Nesterenko Direktor des<br />

Instituts für Nuklearenergie der<br />

belarussischen Akademie der<br />

Wissenschaften. Nach der Katastrophe<br />

erkannte er vor Ort schnell<br />

die Dimensionen der Verstrahlung<br />

und kämpfte für einen größeren<br />

Schutz der Menschen - weitgehend<br />

erfolglos.<br />

Sein Engagement gegen die Verharmlosung<br />

der atomaren Katastrophe<br />

hat er ab 1992 außerhalb der<br />

staatlichen Strukturen fortgesetzt<br />

und das Institut für Strahlensicherheit<br />

BELRAD gegründet, in dessen<br />

Rahmen er die Menschen vor Ort<br />

zum Umgang mit der Strahlengefahr<br />

beriet und Strahlenmessungen<br />

durchführte. Es waren<br />

nicht nur seine wissenschaftliche<br />

Kompetenz und sein beharrliches<br />

Wirken, die Wassilij Nesterenko<br />

zu einer herausragenden Persönlichkeit<br />

machten. Er verstand es<br />

auch, neben dem Tagesgeschäft<br />

im Institut und seiner Forschung,<br />

mit Herzlichkeit und Offenheit<br />

besonders auf junge Menschen<br />

zuzugehen. Es war immer wieder<br />

ein Erlebnis, ihn bei seinen<br />

Vorträgen in deutschen Schulen<br />

zu begleiten und zu erleben, mit<br />

welcher Hingabe er den Kindern<br />

und Jugendlichen seine Arbeit erklärte.<br />

Dabei war er sich nicht zu<br />

schade, einer Zehntklässlerin zwei<br />

Stunden für ein Referat Rede und<br />

Antwort zu stehen. Anschließend<br />

lud er sie noch für ein Praktikum<br />

zu sich nach Minsk ein. Es sind<br />

auch diese kleinen Geschichten,<br />

<strong>Belarus</strong>sische Journalisten on tour<br />

die uns im Gedächtnis bleiben und<br />

das Bild von Wassilij Nesterenko<br />

prägen.<br />

Sein Sohn Dr. Alexej Nesterenko<br />

hat die Leitung des Instituts für<br />

Strahlensicherheit übernommen.<br />

Es liegt an uns, BELRAD weiterhin<br />

zu unterstützen, damit die<br />

wichtige Arbeit von Professor Nesterenko<br />

fortgesetzt werden kann.<br />

Professor Nesterenko hat uns im<br />

vergangenen Jahr seine ereignisreiche<br />

Lebensgeschichte erzählt.<br />

Daraus haben wir eine sechzigminütige<br />

Hör-CD produziert, die<br />

Sie bei JANUN e.V. zum Preis von<br />

6 Euro bestellen oder auf unserer<br />

Homepage anhören können.<br />

buero@janun-hannover.de, www.ostwestbruecke.de<br />

(nathalie Haußner, dortmund) Zehn belarussische Journalisten waren im november auf recherchereise<br />

durch europa. bei ihrer viertägigen Fahrt besuchten sie unter anderem berlin, Paris, brüssel und die niederlande.<br />

Themen wie „alternative energien“, „deutsch-belarussische beziehungen“ oder „Organisation<br />

und Abläufe der eu“ standen auf der Tagesordnung. die reise soll ein kleiner schritt zu einer differenzierten<br />

berichterstattung in belarus sein.<br />

Elena Pankratowa war vor zwanzig<br />

Jahren das letzte Mal in Berlin.<br />

Weil sie neben den deutsch-belarussischen<br />

Beziehungen auch das<br />

Thema „20 Jahre Mauerfall“ interessiert,<br />

ließ es sich die Radiojournalistin<br />

nicht nehmen direkt aus<br />

Berlin zu berichten. „Für mich sind<br />

meine Sendeberichte ein Stück<br />

Geschichte, weil ich mit Leuten<br />

sprechen kann, die damals Geschichte<br />

gemacht haben“, erzählt<br />

sie begeistert.<br />

Die belarussischen Journalisten<br />

trafen auf hochkarätige Gesprächspartner<br />

aus Politik, Wirtschaft<br />

und Verwaltung. So vermittelte<br />

der CDU-Abgeordnete Werner<br />

Jostmeier einen Einblick in seine<br />

Aufgaben als Landtagsabgeordneter.<br />

Die Landesvorsitzende von<br />

Bündnis 90/Die Grünen, Daniela<br />

Schneckenburger, diskutierte in<br />

den Räumen des IBB Dortmund<br />

mit Alla Mocholowa, politische<br />

Korrespondentin der Zeitung Swiasda<br />

in Minsk, über mögliche und<br />

sinnvolle Schritte zur Einführung<br />

von erneuerbaren Energien in<br />

<strong>Belarus</strong>. Die Landeswahlleiterin<br />

Nordrhein-Westfalens, Helga<br />

Block, informierte die Chefredakteurin<br />

der Grodenskaja Prawda,<br />

Elena Beresnewa, über die Organisation<br />

von Wahlen.<br />

Organisiert wurde die Recherchereise<br />

vom IBB Dortmund und der<br />

IBB Minsk, die auch eine Medienakademie<br />

betreibt. Für finanzielle<br />

Förderung sorgten die OSZE und<br />

das niederländische Außenministerium.<br />

Peter Junge-Wentrup,<br />

Geschäftsführer der IBB gGmbH,<br />

betont die Wichtigkeit der Reise:<br />

„In der belarussischen Gesellschaft<br />

herrschen ebenso wie bei uns auch<br />

recht stereotype Vorstellungen<br />

über das Leben in Deutschland,<br />

Frankreich und in den Niederlanden.<br />

Die Recherchereise ist ein<br />

Mosaikstein auf dem Weg zu einer<br />

differenzierteren Berichterstattung<br />

über die Nachbarn in Europa.“


NGOs & Gesellschaft<br />

„Keine einfachen Lösungen“<br />

seit vielen Jahren setzen sich deutsche initiativen für Menschen mit behinderung in belarus ein. Für die<br />

finanzielle Förderung solcher Projekte sorgten unter anderem das Förderprogramm <strong>Belarus</strong> und das Kontaktprogramm<br />

der deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (dGO). beim Verein Kanikuli engagieren sich<br />

ehemalige Freiwillige noch viele Jahre nach ihrem Aufenthalt für belarussen mit behinderung. Wir baten<br />

evelyn Funke, erste Vorsitzende bei Kanikuli e.V., von der Arbeit des jungen Vereins zu berichten.<br />

Von außen sieht das Gebäude ganz<br />

freundlich aus – bunt getünchte<br />

Wände, ein großer Vorgarten mit<br />

viel Grün und Bänken. Doch je näher<br />

man kommt, desto deutlicher<br />

ist zu erkennen, was das für ein<br />

Ort ist. Die Balkone sind vergittert.<br />

Rollstuhlfahrer legen die wenigen<br />

Meter bis zum nächsten Bordstein<br />

zurück und kehren wieder um.<br />

Andere laufen ihre Runden in<br />

einem „Laufstall“, der von hohen<br />

Mauern umgeben ist. Vor den Türen<br />

sitzen Menschen im Schatten,<br />

die an ihre Stühle gefesselt und<br />

nicht vollständig bekleidet sind.<br />

Hier verbringen sie ihre langen<br />

Tage, deren Rhythmus von schnellen<br />

Mahlzeiten bestimmt wird.<br />

Es ist ein Heim für Menschen mit<br />

Behinderung in Minsk, ein „psycho-neurologisches<br />

Internat“. Drei<br />

davon gibt es in der Hauptstadt,<br />

zwei für Erwachsene und eines<br />

für Kinder. Hier leben insgesamt<br />

an die 2000 Menschen auf engstem<br />

Raum, unter oft sehr schwierigen<br />

Bedingungen.<br />

Seit vielen Jahren engagieren sich<br />

deutsche und andere ausländische<br />

Initiativen für Menschen mit Behinderung<br />

in <strong>Belarus</strong>. Unter anderem<br />

leisten jedes Jahr etwa zehn<br />

junge Deutsche ihren Zivildienst<br />

oder ein Freiwilliges Soziales Jahr<br />

in Minsk und bekommen dabei<br />

intensive Einblicke in die Situation<br />

der Menschen mit Behinderung.<br />

Einblicke, die zu Resignation führen<br />

können, denn die Probleme<br />

Teilnehmer eines Ferienlagers im Sommer 2008 Fotos: Olga Martynenko<br />

sind zahlreich und es gibt keine<br />

einfachen Lösungen. Andererseits<br />

halten viele ehemalige Freiwillige<br />

noch lange nach ihrem einjährigen<br />

Aufenthalt den Kontakt und<br />

setzen sich auch von Deutschland<br />

aus weiterhin für Menschen mit<br />

Behinderung in <strong>Belarus</strong> ein.<br />

Ein Beispiel dafür ist der Verein<br />

Kanikuli e.V., der 2006 von sieben<br />

ehemaligen Freiwilligen in Berlin<br />

gegründet wurde und inzwischen<br />

auf 33 Mitglieder angewachsen<br />

ist. Seit seiner Gründung veranstaltet<br />

Kanikuli e.V. jedes Jahr<br />

Sommerfreizeiten für Kinder und<br />

Erwachsene aus den Minsker Heimen.<br />

In einer schönen Umgebung<br />

am Minsker Meer erholen sich die<br />

Teilnehmer, betreut von deutschen<br />

und belarussischen Ehrenamtlichen,<br />

sieben bis zehn Tage lang<br />

von ihrem anstrengenden Heim-<br />

Alltag. Während die Kinder sich in<br />

der Zeit am liebsten am See oder<br />

im Planschbecken austoben, genießen<br />

die erwachsenen Teilnehmer<br />

eher die Ruhe und die Freiheit<br />

eines solchen Ferienlagers.<br />

Die Erinnerung an ein solches<br />

Ferienlager bleibt allen Beteiligten<br />

lange Zeit erhalten, und doch<br />

kann es nur einen kleinen Beitrag<br />

zur Verbesserung der Situation<br />

von Menschen mit Behinderung<br />

leisten. Um mehr Nachhaltigkeit<br />

zu erreichen, organisierte Kanikuli<br />

e.V. im November 2008 erstmals<br />

einen Austausch für belarussische<br />

Fachkräfte der Behinderten-Arbeit<br />

nach Deutschland, der vom Kontaktprogramm<br />

<strong>Belarus</strong> der Robert-<br />

Bosch-Stiftung gefördert wurde.<br />

Eingeladen wurden sowohl Pädagogen<br />

und Therapeuten aus den<br />

Heimen als auch Mitglieder der<br />

belarussischen Nicht-Regierungs-<br />

Organisation „Verschiedene-Gleiche“,<br />

die sich vor allem für die<br />

Integration von Menschen mit Behinderung<br />

in die belarussische Gesellschaft<br />

einsetzt. Zwei Wochen<br />

lang lernten die neun Teilnehmer<br />

verschiedene Organisationen im<br />

Raum Bremen kennen und hospitierten<br />

in Wohn-Einrichtungen<br />

für Menschen mit Behinderung.<br />

Simon Stephan, Organisator des<br />

Austauschs, erzählt: „Die Teilnehmer<br />

aus <strong>Belarus</strong> waren nur<br />

zwei Wochen bei uns, haben aber<br />

trotzdem sehr intensive Eindrücke<br />

gesammelt. Uns allen ist wieder<br />

deutlich geworden, dass sich die<br />

Behindertenarbeit hier so fundamental<br />

von der Arbeit in <strong>Belarus</strong><br />

unterscheidet.“ Langfristig, so<br />

Simon Stephan weiter, sei eine<br />

Weiterbildung von Fachkräften<br />

einer der wichtigsten Ansätze, um<br />

etwas an der prekären Situation<br />

von Menschen mit Behinderung<br />

in <strong>Belarus</strong> zu ändern.<br />

So sollen im nächsten Jahr zum<br />

ersten Mal belarussische Ehrenamtliche<br />

zu Teamern ausgebildet<br />

werden. Im Sommer 2009 werden<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43<br />

NGOs & Gesellschaft<br />

So machen Sommerferien Kindern und Erwachsenen Spaß...<br />

Partnerschaftskonferenz in Geseke<br />

JeTZT AnMeLden ZuM AusTAusCH MiT deuTsCHen, uKrAinern und beLArussen<br />

Vom 24. bis 26. April ist es soweit:<br />

Die zweite trinationale Partnerschaftskonferenz<br />

eröffnet in<br />

Geseke (Westfalen) ihre Pforten.<br />

Etwa 500 engagierte Teilnehmer<br />

aus Deutschland, der Ukraine<br />

und <strong>Belarus</strong> versammeln sich<br />

unter dem Motto „Projekte in<br />

Partnerschaften entwickeln”. Fast<br />

zwanzig Jahre arbeiten Initiativen<br />

aus Deutschland, der Ukraine und<br />

<strong>Belarus</strong> zusammen – und ebenso<br />

lange gibt es deutsch-belarussische<br />

Partnerschaftskonferenzen.<br />

Was wurde bisher erreicht? Wie<br />

geht es weiter? Was können wir<br />

gemeinsam besser machen? In<br />

Arbeitsgruppen zu Jugend- und<br />

Erwachsenenbildung, Sozialer Ar-<br />

sie dann eine<br />

der beiden Ferienfreizeiten<br />

für Menschen<br />

mit Behinderungen<br />

leiten.<br />

Und auch der<br />

Austausch mit<br />

F a c h k r ä f t e n<br />

a u s B r e m e n<br />

soll seine Fortsetzung<br />

finden:<br />

Im Frühjahr ist<br />

ein Gegen-Besuch<br />

in Minsk<br />

geplant.<br />

Weitere Informationen:www.kanikuli-ev.de<br />

Spendenkonto Kanikuli<br />

e.V., Kontoinhaber:<br />

Kanikuli<br />

e.V., Kontonummer:<br />

4018459600,<br />

BLZ: 430 609 67 bei<br />

der GLS Gemeinschaftsbank<br />

SpenderInnen, die<br />

eine Spendenquittung<br />

wünschen,<br />

g e b e n b e i d e r<br />

Überweisung bitte<br />

ihre Adresse an.<br />

beit und Energieeffizienz/Nachhaltiger<br />

Entwicklung werden wir<br />

diskutieren und gemeinsam neue<br />

Ideen entwickeln. Ein wichtiges<br />

Thema wird dabei auch die Frage<br />

sein, wie die Tschernobyl-Arbeit in<br />

Zukunft aussehen kann. Kontakte<br />

knüpfen, Projekte entwickeln und<br />

Ideen austauschen – dafür ist die<br />

Partnerschaftskonferenz ein einmaliges<br />

Forum. Aber nicht nur<br />

das: Die Partnerschaftskonferenz<br />

bietet außerdem Gelegenheit,<br />

hochgestellte Politiker aus allen<br />

drei Ländern zu erleben, die im<br />

Panel zu zivilgesellschaftlichem<br />

Engagement im Kontext politischer<br />

Beziehungen diskutieren<br />

werden.<br />

Unsere ukrainischen und belarussischen<br />

Partner sind auf der<br />

Konferenz auch dieses Jahr wieder<br />

unsere Gäste: Wir können die Kosten<br />

für Anreise und Konferenzteilnahme<br />

übernehmen. Geplant ist,<br />

dass die Initiativen vom 21. bis<br />

24. bei ihren deutschen Partnern<br />

zu Gast sind, das gemeinsame<br />

Programm beginnt dann am 24.<br />

April nachmittags.<br />

Programm und Anmeldeformular unter<br />

www.ibb-d.de/veranstaltungen_u_reisen.html<br />

Es laden ein: IBB Dortmund, IBB „Johannes<br />

Rau“ Minsk, Evangelische Akademie<br />

Villigst, Deutsch-Ukrainisches<br />

Netzwerk Kiew


NGOs & Gesellschaft<br />

Kreative BelaPlussen<br />

FörderunG Für KuLTurPrOJeKTe JunGer beLArussen MiT beLAPLus<br />

das internationale Programm belaPlus förderte zwischen Februar und november 2008 Projektideen junger<br />

belarussen. Zivilgesellschaftliche Kulturprojekte sollten Gegenpole zum grauen Alltag schaffen. so<br />

entstanden beispielsweise Poetry slams, Theaterworkshops oder Filmvorführungen in der belarussischen<br />

Provinz. Wir baten Christian starke (Kultur Aktiv e.V. dresden) von seinem Projekt zu berichten.<br />

Lohnt sich zivilgesellschaftliches<br />

Engagement in <strong>Belarus</strong>? Kann ich<br />

dadurch ganz konkret meinen<br />

Alltag und mein Lebensumfeld<br />

aktiv mitgestalten? Gibt es Möglichkeiten,<br />

mir dazu Erfahrungen<br />

aus dem Ausland zu holen?<br />

Trotz vieler Schwierigkeiten im<br />

Alltag ist kreative Eigeninitiative<br />

junger Menschen in <strong>Belarus</strong> möglich<br />

und auf jeden Fall auch nötig.<br />

Mit dem zivilgesellschaftlichen<br />

Programm BelaPlus soll erreicht<br />

werden, dass junge Menschen in<br />

<strong>Belarus</strong> die anfangs gestellten Fragen<br />

begeistert mit „Ja“ beantworten<br />

können. Die Programmkoordinatoren<br />

aus Deutschland (Kultur<br />

Aktiv), Polen (Initiative Wolna<br />

Bialorus) und <strong>Belarus</strong> (Initiative<br />

Dritter Weg) wollen mit BelaPlus<br />

zeigen, wie man kreativen Ideen<br />

in Form von Mikroprojekten vor<br />

Ort eine eigene Perspektive geben<br />

kann. Wichtig ist dabei, dass die<br />

Ideen direkt an den Lebensumständen<br />

der jungen Menschen<br />

ansetzen – an ihren Problemen,<br />

Wünschen und Hoffnungen.<br />

Dazu wurden belarussische Jugendliche<br />

im Alter von 18 bis 27<br />

Jahren zwischen Februar und<br />

November 2008 in einem mehrstufigen<br />

Programm gefördert.<br />

Forumtheater-Workshop in Minsk<br />

Die Jugendlichen bewarben sich<br />

mit ihren Ideen bis Mitte März,<br />

präsentierten diese dann auf zwei<br />

Seminaren im April, um anschließend<br />

für die weitere Teilnahme<br />

ausgewählt zu werden. Die Kriterien<br />

für die Aufnahme waren<br />

vor allem Kreativität, aber auch<br />

Realisierbarkeit in <strong>Belarus</strong>, verfügbare<br />

Ressourcen, Know-how und<br />

eine gute Netzwerkanbindung.<br />

Mit dabei waren junge Menschen<br />

aus Minsk, Brest, Pinsk, Baranowitschi,<br />

Mogiljow, Witebsk und<br />

Nowopolotzk.<br />

Im Juli begann die konkrete Förderung<br />

für die 15 Teilnehmer<br />

zunächst mit einer Woche Intensivtraining<br />

in Projektmanagement,<br />

Kommunikation und Medien.<br />

Nach nochmaliger Auswahl reisten<br />

die besten acht Teilnehmer<br />

dann für zwei bis vier Wochen<br />

zum Kurzpraktikum ins europäische<br />

Ausland. Die belarussischen<br />

Jugendlichen arbeiteten bei zivilgesellschaftlichen<br />

Organisationen<br />

in Polen, Deutschland und der<br />

Slowakei und sammelten dabei<br />

wichtige Erfahrungen. Nastja<br />

zum Beispiel absolvierte ihr Praktikum<br />

bei der NGO „Sektor3“ in<br />

Wrocław, Sergeij war Praktikant<br />

bei Kultur Aktiv in Dresden.<br />

Ausgestattet mit<br />

einem kleinen<br />

Startkapital von<br />

300 € konnten<br />

die so Geförderten<br />

dann mit<br />

der Umsetzung<br />

ihrer Projekte<br />

b e g i n n e n . S o<br />

entstanden beispielsweise<br />

ein<br />

Diskussionsclub<br />

zu kritischen<br />

Menschenrechtsthemen, eine<br />

Filmvorführreihe in kleineren<br />

belarussischen Städten, Forumtheaterworkshops,<br />

ein Wettbewerb zu<br />

Innovationen bei Kommunikationsmedien<br />

oder Lesungen. Besonders<br />

beliebt waren Poetry Slams,<br />

die in <strong>Belarus</strong> noch weitestgehend<br />

unbekannt sind. Junge, talentierte,<br />

aber noch unbeachtete Nachwuchsautoren<br />

trugen in einer Minsker<br />

Fabrikhalle bei Lichteffekten und<br />

musikalischer Begleitung ihre<br />

Werke vor. Die Aktionen wurden<br />

dabei von den Programmkoordinatoren<br />

vor Ort begleitet und<br />

unterstützt. Die frischgebackenen<br />

Organisatoren werden nach Ende<br />

des Programms sehr motiviert ihre<br />

Aktionen fortsetzen - insofern war<br />

BelaPlus ein erster Anstoß zu weiterem<br />

aktivem Handeln.<br />

BelaPlus war 2008 bereits in die<br />

zweite Runde gegangen. Schon<br />

2007 hatten Vertreter der NGOs<br />

eine 19-tägige Seminarreise durch<br />

sechs belarussische Städte unternommen<br />

und dabei Workshops<br />

mit insgesamt über 100 belarussischen<br />

Jugendlichen durchgeführt.<br />

Einige Teilnehmer von<br />

damals waren auch 2008 wieder<br />

dabei. Für 2009 planen die Koordinatoren<br />

ein Folgeprojekt, das<br />

wieder Wissen und Motivation<br />

zu aktivem zivilgesellschaftlichem<br />

Handeln an junge Menschen in<br />

<strong>Belarus</strong> weitergeben möchte. Denn<br />

auch für <strong>Belarus</strong> gilt: Passivität<br />

bringt nichts – denkt und handelt<br />

aktiv, kreativ und positiv! Das will<br />

BelaPlus vermitteln - und dafür<br />

steht auch das Plus im Namen.<br />

belaplus@kulturaktiv.org. BelaPlus wird<br />

gefördert durch Robert-Bosch-Stiftung,<br />

Stefan-Batory-Stiftung und German Marshall<br />

Fund of The United States.<br />

Pause von Radioaktivität<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43<br />

NGOs & Gesellschaft<br />

nach dem erlass des dekrets 555 durch den belarussischen Präsidenten scheint nun unklar, ob 2009<br />

überhaupt belarussische Kinder zur erholung nach deutschland kommen. Warum die erholungsreisen<br />

weiterhin aktuell und wichtig sind, erfahren sie von ursula Timm, Mitglied bei der initiative „Ferien für<br />

Kinder von Tschernobyl e.V.“ in rostock.<br />

Ein Junge läuft mit einem kleinen<br />

Flugzeug in der Hand über eine<br />

Blumenwiese, im Hintergrund<br />

droht eine seltsame Wolke. Der<br />

schwerstbehinderte Grischa Mosol<br />

aus Minsk malte dieses Bild<br />

zehn Jahre nach Tschernobyl für<br />

eine Ausstellung in Paris. Grischa<br />

war als kleines Kind am 26. April<br />

1986 zu Besuch bei seinen Großeltern,<br />

deren Dorf in der Nähe von<br />

Tschernobyl lag. Im Rückblick<br />

weiß er, dass er wie Millionen<br />

Menschen zu den Opfern von<br />

Tschernobyl gehört.<br />

Seit 1991 setzt sich der Verein „Ferien<br />

für Kinder von Tschernobyl“<br />

in Rostock dafür ein, dass sich vier<br />

Wochen lang Kinder und Mütter<br />

aus verstrahlten Ortschaften in<br />

<strong>Belarus</strong> an unserer Ostseeküste<br />

erholen können. Dabei sind auch<br />

zehn hörgeschädigte Kinder, die<br />

von einem Hörgerätezentrum in<br />

Rostock mit neuen Hörgeräten<br />

versorgt werden.<br />

Das weite grüne Gelände am<br />

Schullandheim „Zum Riedensee“<br />

in Kägsdorf bei Kühlungsborn<br />

mit dem Blick über das Kornfeld<br />

zum Meer bietet fast paradiesische<br />

Möglichkeiten zur Erholung und<br />

zur Beschäftigung. Eine vierwöchige<br />

Ruhepause von der Radioaktivität<br />

bewirkt Wunder. Sie<br />

verändert die Kinder und schenkt<br />

ihnen und ihren Familien neuen<br />

Lebensmut und Hoffnung.<br />

In jedem Jahr stellen wir uns die<br />

Frage: Wird unsere Hilfe noch<br />

gebraucht? Doch Erzählungen,<br />

Berichte und meine persönlichen<br />

Eindrücke von den Dörfern in<br />

<strong>Belarus</strong> lassen unsere Fragen<br />

schnell verstummen. Die Lehrerin<br />

Ludmila Gluschkowitschi erzählt<br />

beispielsweise: „Unser Dorf mit<br />

Grischas Bild<br />

3000 Einwohnern liegt an der<br />

ukrainischen Grenze in der Nähe<br />

des Atomkraftwerks. Hier wohnen<br />

viele junge Mütter. Jede Mutter<br />

träumt von gesunden und glücklichen<br />

Kindern. Als Lehrerin erlebe<br />

ich, dass unsere Kinder schnell<br />

ermüden. Viele haben oft Kopfschmerzen.<br />

Die Zahl der Kinder<br />

mit kranken Schilddrüsen wächst.<br />

Es ist schwer, wenn ein Kind krank<br />

ist und du nicht helfen kannst. Du<br />

kannst nur zu Gott beten.“<br />

Auch die Lehrerin Valentina aus<br />

Petschauka macht auf die Wichtigkeit<br />

der Reisen aufmerksam:„In<br />

unserer Schule lernen 250 Schüler<br />

aus vier Dörfern. Alle Dörfer liegen<br />

auf verseuchtem Territorium. Nur<br />

19 % der Kinder sind gesund. Alle<br />

haben ein schwaches Immunsystem.<br />

Die Folgen von Tschernobyl<br />

sind unsere ständigen Begleiter.<br />

Unsere Familien sind es, die den<br />

Preis für den Einsatz der Atomenergie<br />

schon heute bezahlen. Wir<br />

sind dankbar für die Erholung<br />

an der Ostsseeküste und für die<br />

Fürsorge, die unseren Kindern<br />

entgegengebracht wird.“<br />

In den vergangenen 18 Jahren<br />

kamen weit über 1000 Kinder und<br />

viele Mütter zu uns. Ein großer<br />

Freundes- und Spenderkreis trägt<br />

unser Projekt. Unser Verein in<br />

Rostock ist stolz darauf, dass er<br />

ein Teil der Tschernobylbewegung<br />

ist, dass wir zusammen mit<br />

der Stiftung „Den Kindern von<br />

Tschernobyl“ in Minsk und der<br />

Bundesarbeitsgemeinschaft in<br />

Münster über die Kinder Brücken<br />

der Verständigung zwischen Ost<br />

und West bauen dürfen.<br />

So gibt es keinen Grund, die<br />

mühsam aufgebauten Brücken<br />

abzubrechen. Wir appellieren an<br />

die Verantwortung unserer Politiker<br />

und rechnen fest damit, dass<br />

auch im Sommer 2009 unser Erholungsprogramm<br />

für 90 Personen<br />

durchgeführt werden kann.


NGOs & Gesellschaft / Publikationen<br />

„Tschernobylkinder“ unter Hausarrest?<br />

(SB) Im Oktober verabschiedete<br />

der belarussische Präsident den<br />

Erlass 555, der in Zukunft die Erholungsreisen<br />

der so genannten<br />

„Tschernobylkinder“ nur dann<br />

zulässt, wenn zwischen dem Gastland<br />

und <strong>Belarus</strong> ein staatliches<br />

Abkommen besteht, das vor allem<br />

die zeitige Rückkehr des Kindes<br />

garantiert. Die belarussische Botschaft<br />

begründet den Erlass mit<br />

der „rechtswidrigen Nichtrückkehr“<br />

der belarussischen Mädchen<br />

Tatjana Kosyro und Viktoria Moroz<br />

(siehe auch Seite 6) und sieht<br />

ihn auf die „Sicherung der Rechte<br />

und Interessen der belarussischen<br />

Kinder gerichtet“. Die deutschen<br />

Tschernobyl-Initiativen, die insgesamt<br />

allein in den vergangenen 15<br />

Jahren rund 170.000 Kindern einen<br />

Erholungsurlaub in Deutschland<br />

Krieg ohne Zensur<br />

ermöglichten, reagierten auf den<br />

Erlass recht unterschiedlich. Burkhard<br />

Homeyer, Vorsitzender<br />

der Bundesarbeitsgemeinschaft<br />

„Den Kindern von Tschernobyl<br />

in Deutschland“ beispielsweise<br />

sieht in dem Akt des Präsidenten<br />

vor allem den Versuch, sowohl<br />

belarussische als auch deutsche<br />

zivilgesellschaftliche Initiativen<br />

staatlich zu kontrollieren. Auch<br />

lasse das Vorgehen der belarussischen<br />

Reagierung darauf schließen,<br />

dass das Thema „Tschernobyl“<br />

aus der öffentlichen Debatte<br />

ausgeschlossen werden solle.<br />

Andere Initiativen bemühen sich<br />

indes um Optimismus: „Ich bin<br />

zuversichtlich, dass wir keine<br />

Schwierigkeiten mit der Einreise<br />

der Kinder bekommen werden“,<br />

erklärt Joachim Bauer, Vorsitzen-<br />

der der Initiative „Tschernobyl-<br />

Kinder“ aus Lohmar. Auch die<br />

Tschernobyl-Hilfe im Kirchenkreis<br />

Buxtehude bleibt optimistisch:<br />

„Wir haben Ähnliches zuletzt<br />

vor zwei Jahren erlebt. Deswegen<br />

warten wir ab und bereiten unsere<br />

Ferienaktion für diesen Sommer<br />

wie gewohnt vor“, so Marion und<br />

Hans-Otto Gade. Das Dekret des<br />

belarussischen Präsidenten hat<br />

zwar viele Initiativen verunsichert,<br />

dennoch setzen diese die Organisation<br />

der Erholungsaufenthalte<br />

für das Jahr 2009 erst einmal fort.<br />

Einen überraschenden Vorteil<br />

scheint der Erlass 555 dennoch<br />

zu haben: Entgegen aller Befürchtungen<br />

ist die öffentliche Debatte<br />

über Tschernobyl zumindest kurzzeitig<br />

wieder entfacht.<br />

Die belarussischen Grenzbehörden konfiszierten Ende November zehn Exemplare des belarussischen<br />

Kulturmagazins „Arche“, die für polnische Abonnenten bestimmt waren. der KGb, um eine expertise<br />

gebeten, bewertete die Ausgabe als „extremistisch“ und beantragte deren Vernichtung vor Gericht. Wir<br />

baten Matthias battis aus Warschau um eine rezension der verdächtigen Ausgabe.<br />

(Matthias Battis, Warschau) „Wie<br />

wenig wissen <strong>Belarus</strong>sen im<br />

Schnitt über jene Ereignisse, denen<br />

in <strong>Belarus</strong> Tausende Bücher,<br />

Fernsehsendungen und Artikel<br />

gewidmet sind!“ So klingen die<br />

einleitenden Worte der Arche-<br />

Ausgabe vom Mai 2008, veröffentlicht<br />

in dem Monat, an dem<br />

<strong>Belarus</strong> zeremoniell den „Tag des<br />

Sieges“ begeht. Schon das Titelblatt<br />

der Ausgabe passt nicht in<br />

die postsowjetische Partisanenkampf-Mythologie.<br />

Es zeigt Minsk<br />

1943, eine Gruppe belarussischer<br />

Kinder, die Hakenkreuzflaggen<br />

schwenken. Die Botschaft ist klar:<br />

weniger sowjetische Klischees,<br />

mehr Inhalt.<br />

Leitartikel ist Ian Kershaws „The<br />

Führer-Myth“. In belarussischer<br />

Übersetzung heißt es univer-<br />

seller: „Der Mythos des starken<br />

Anführers“. Nicht der einzige<br />

vielversprechende Titel: „Märchen<br />

für Patrioten“, „Der große<br />

Vaterländische Krieg und nationale<br />

Identität in <strong>Belarus</strong>“, „Antisemitismus<br />

in der sowjetischen<br />

Partisanenbewegung (in <strong>Belarus</strong>)<br />

1941-1944“ - um nur einige Artikel<br />

zu nennen, die diese Ausgabe<br />

lesenswert machen.<br />

Wie die Redaktion selbst schreibt,<br />

geht es um „Ereignisse, Phänomene<br />

und Personen, zu denen in<br />

offiziellen [belarussischen] Lehrbüchern<br />

nichts zu finden ist“. Es<br />

geht also um eine unabhängige,<br />

möglichst wissenschaftliche Perspektive<br />

auf die Totalitarismus-<br />

Geschichte des 20. Jahrhunderts,<br />

um eine Perspektive, die jegliche<br />

politisch motivierte Instrumenta-<br />

lisierung und Mythologisierung<br />

der Vergangenheit ablehnt.<br />

„Eine selektive Gedächtniskultur<br />

ist schädlich. Nur das Aufdecken<br />

der Themen, welche die ideologischen<br />

Spürhunde der Zensur<br />

[zurzeit] hüten, ermöglicht das<br />

Entstehen einer Kultur, die immun<br />

ist gegen den Nationalsozialismus<br />

und ähnliche menschenverachtende<br />

politische Systeme.”<br />

Man könnte das sicher gelassener<br />

ausdrücken. Und einige der (vorsichtigen)<br />

Nazi-<strong>Belarus</strong>-Parallelen<br />

gelten in Deutschland zu Recht<br />

als überzogen. Dass das staatliche<br />

Propaganda-Monopol für Wissenschaftler<br />

und Publizisten dennoch<br />

bitterer Ernst ist, zeigte das Aufsehen,<br />

das „Arche“ mit seiner neuen<br />

Ausgabe bei Grenzberhörden und<br />

KGB erregte.<br />

Datschen: Wirtschaft oder Kultur?<br />

(Robert Werner, Berlin) In seiner<br />

Dissertation beschäftigt sich der<br />

Agraringenieur Johannes Thiele<br />

mit der Bedeutung der belarussischen<br />

Datschenwirtschaft für die<br />

„Ernährungs-, Gesundheits- und<br />

soziokulturelle Situation der Großstadtbevölkerung“<br />

in <strong>Belarus</strong>. In<br />

Deutschland ist die Datscha schon<br />

längst zum Mythos verkommen<br />

und diejenigen, die ihre Sommerwochenenden<br />

in Parzellen unter<br />

Autobahnbrücken oder Zugstrecken<br />

verbringen, werden zumeist<br />

nur müde belächelt. In <strong>Belarus</strong><br />

bedeutet Datscha allerdings Subsistenzwirtschaft,<br />

und die ist für<br />

den einfachen Menschen immer<br />

noch eine der wenigen Möglichkeiten,<br />

sich mit gesunden Lebensmitteln<br />

zu versorgen und trotz<br />

geringer Löhne wirtschaftlich zu<br />

überleben.<br />

Die kulturelle Bedeutung des Datschenlebens<br />

und die systemstabilisierende<br />

Wirkung der Selbstver-<br />

Zwischen Planung und Anarchie<br />

(Astrid Sahm, Minsk) Dass Minsk<br />

die Musterstadt des Sozialismus<br />

gewesen sei, ist für <strong>Belarus</strong>-Interessierte<br />

seit dem Erscheinen von<br />

Artur Klinaus „Sonnenstadt der<br />

Träume“ eine vertraute These.<br />

Das Buch von Thomas Bohn stellt<br />

jedoch wesentlich mehr als die<br />

Bestätigung dieses eingängigen<br />

Mythos dar. Denn obwohl die<br />

Stadt Minsk aufgrund ihrer fast<br />

vollständigen Zerstörung während<br />

des Zweiten Weltkrieges<br />

besonders geeignet war, um die<br />

Idealvorstellungen einer sozialistischen<br />

Stadt Realität werden zu<br />

lassen, scheiterte dieses Projekt<br />

bereits auf der Planungsebene.<br />

Die für den Generalplan von Minsk<br />

Zuständigen führten in den ersten<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43<br />

sorgung in der UdSSR sind ausgiebig<br />

erforscht worden. Nicht so die<br />

postsowjetische Datschenkultur.<br />

Auch führen die belarussischen<br />

Behörden keine Statistiken über<br />

den Output der Kleingartenanlagen.<br />

Es ist Thiele deshalb hoch<br />

anzurechnen, dass er diese Lücke<br />

durch schriftliche Befragungen,<br />

Expertengespräche, teilnehmende<br />

Beobachtung und die Auswertung<br />

von Sekundärquellen ein Stück<br />

weit gefüllt hat. Außer auf die<br />

wirtschaftliche Bedeutung des<br />

Datschenlebens geht Thiele in seiner<br />

Arbeit aber auch auf kulturelle,<br />

politische und soziokulturelle<br />

Aspekte ein. Gerade dank seiner<br />

persönlichen Erfahrungen im<br />

Land und der Verwendung von<br />

„harten“ Daten und „weichen“<br />

Wissen gelingt es ihm, ein lebensnahes<br />

Bild des Datschenlebens in<br />

<strong>Belarus</strong> zu zeichnen.<br />

Abschließend hebt Thiele hervor,<br />

dass die Datschen noch immer<br />

zehn Jahren nach Kriegsende vor<br />

dem Hintergrund der Ablösung<br />

des Stalinismus heftige Auseinandersetzungen<br />

darüber, ob die<br />

Stadt vorrangig als Wirtschafts-<br />

oder als Lebensraum dienen, ob<br />

die Schönheit der Fassade oder<br />

der Komfort in den Wohnungen<br />

den Vorrang haben und ob dabei<br />

der Klassizismus oder der Konstruktivismus<br />

als Vorbild dienen<br />

solle. Dabei wurden willkürlich<br />

Kiew, Leningrad oder Moskau als<br />

Orientierungsmodell für Minsk<br />

gewählt. Während alle diese Städte<br />

jedoch ein eindeutiges Zentrum<br />

aufweisen, stellt das kennzeichnende<br />

Merkmal von Minsk eine<br />

die gesamte Stadt von Süden<br />

nach Norden durchquerende Magistrale<br />

mit mehreren, gleichsam<br />

Publikationen<br />

als Lebensmittelquelle fungieren<br />

und nur im Nebeneffekt Ort der<br />

Erholung sind. Demgegenüber<br />

steht allerdings der fragwürdige<br />

ökonomische Nutzen dieser Subsistenzwirtschaft.<br />

Auch Thiele<br />

muss einräumen, dass es billiger<br />

ist, Lebensmittel auf dem Markt<br />

zu kaufen, als sie selber anzubauen.<br />

Welche kulturelle Bedeutung<br />

das Leben in der Laube in <strong>Belarus</strong><br />

besitzt und ob es einen ähnlichen<br />

Bedeutungswandel unterliegt wie<br />

in Deutschland, vermag die Arbeit<br />

nicht zu klären. Hier bieten sich<br />

aber Anknüpfungspunkte für weitere<br />

Untersuchungen oder eigene<br />

Erkundungen auf dem belarussischen<br />

Land.<br />

Thiele, Johannes: Die Bedeutung der „Datschenwirtschaft“<br />

für die Ernährungs-, Gesundheits-<br />

und soziokulturelle Situation<br />

der Großstadtbevölkerung in der Republik<br />

<strong>Belarus</strong> (Dissertation), Eigenverlag 2007.<br />

unvollendeten Plätzen dar. Dementsprechend<br />

schwer fällt es den<br />

Minskern bis heute, das Zentrum<br />

ihrer Stadt zu bestimmen.<br />

Entscheidend für das weitgehende<br />

Scheitern und die ständige Korrektur<br />

der städtebaulichen Pläne<br />

war jedoch die massive Bevölkerungszuwanderung<br />

vom Land<br />

nach Minsk, welche die ohnehin<br />

akute Wohnungsnot in der Hauptstadt<br />

verstärkte. Zählte Minsk<br />

1950 lediglich 273.600 Einwohner,<br />

waren es 1959 bereits 509.500 und<br />

1972 bereits eine Million. Damit<br />

war Minsk sowjetunionweit die<br />

Stadt mit der jährlich höchsten<br />

Zuwachsrate. Da die Betriebe<br />

und Stadtbezirksverwaltungen<br />

mit dem Wohnungsbau überfor-


Kultur & Wissenschaft<br />

dert waren, wohnten zahlreiche<br />

Menschen in Holzhäusern und<br />

Baracken. Infolgedessen erinnerte<br />

Minsk in vielerlei Hinsicht<br />

bis in die 1970er Jahre hinein an<br />

ein Dorf. Erst 1975 belief sich der<br />

durchschnittliche Wohnraum pro<br />

Kopf in Minsk auf 12,5 m² und<br />

überstieg damit erstmals die gesetzlich<br />

vorgeschriebene sanitäre<br />

Mindestnorm von 12 m².<br />

Die Stadtbehörden versuchten<br />

in den 1960er Jahren vergeblich,<br />

den Bevölkerungszustrom durch<br />

Maßnahmen wie das Verbot des<br />

individuellen Häuserbaus in der<br />

Stadt oder die individuelle Meldepflicht<br />

zu stoppen. Mit Hilfe<br />

von Korruption und Phantasie<br />

richteten sich zahlreiche Menschen<br />

zunächst illegal in Minsk<br />

ein. Etwas erfolgreicher waren die<br />

Eine Woche Deutschland<br />

(Oliver schwart, Minsk) Vom 25. september bis 4. Oktober brachte die deutsche Woche zum fünften Mal<br />

deutsche Kultur- und bildungsevents nach Minsk und die belarussischen regionen. Außerdem bekamen<br />

viele hundert interessierter belarussen einblicke in deutsche Pressearbeit, Wirtschaft und Tourismus.<br />

Auch diesmal hatten sich deutsche<br />

Einrichtungen von Rang und Namen<br />

zusammengefunden, um die<br />

Deutsche Woche zu organisieren.<br />

Neben der Deutschen Botschaft<br />

und dem Goethe-Institut halfen<br />

der Deutsche Akademische Austauschdienst,<br />

die Zentralstelle<br />

für das Auslandsschulwesen,<br />

das Institut für Deutschland-<br />

Studien sowie die Internationale<br />

<strong>Bildungs</strong>- und Begegnungsstätte,<br />

ein dichtes und abwechslungsreiches<br />

Programm für eine breite<br />

belarussische Öffentlichkeit zu<br />

präsentieren.<br />

Ein Höhepunkt in diesem Jahr<br />

war die vom Goethe-Institut organisierte<br />

5. Deutschlehrer- und<br />

Germanistentagung mit etwa 300<br />

Teilnehmern aus ganz <strong>Belarus</strong>.<br />

Referenten aus Deutschland, dem<br />

Baltikum und <strong>Belarus</strong> vermittelten<br />

an zwei Tagen in Vorträgen, Semi-<br />

Bemühungen der Behörden, den<br />

Wohnungsbedarf der Menschen<br />

durch die Errichtung von kosten-<br />

und zeitgünstigen Plattenbauten<br />

zu befriedigen. 1978 lebten immerhin<br />

etwas mehr als zwei Drittel der<br />

Minsker Familien in einer eigenen<br />

Wohnung. Allerdings gab es auch<br />

hier häufig Probleme mit den<br />

sanitären Anlagen oder der Bauqualität.<br />

Die Verbesserung ihrer<br />

Wohnverhältnisse war daher für<br />

die meisten Minsker das zentrale<br />

Anliegen, mit dem sie sich über<br />

Eingaben, Leserbriefe etc. an die<br />

Behörden wandten.<br />

Durch seine minutiöse Darstellung<br />

der Lebensbedingungen<br />

und Wohnverhältnisse, des Wohnungsbaus<br />

und der Wohnungsvergabe<br />

leistet Thomas Bohn<br />

neben der Nachzeichnung der<br />

naren und Workshops moderne<br />

Lehr- und Lernmethoden für den<br />

Sprachunterricht. Große Bedeutung<br />

wurde hierbei auch dem<br />

kreativen Lernen im Zusammenspiel<br />

mit Musik, Film und Kunst<br />

beigemessen.<br />

Nicht nur auf dieser Tagung wurde<br />

deutlich, welch hohen Stellenwert<br />

die deutsche Sprache in <strong>Belarus</strong><br />

genießt. Die Besucher strömten<br />

zur Woche des deutschen Films<br />

im Kino „Pobeda“, zum Leseabend<br />

für Kinder, der Eröffnung des<br />

Zentrums für deutsche Sprache<br />

und Kultur einer Mittelschule in<br />

Grodno sowie den Konzerten des<br />

Liedermachers Torsten Riemann.<br />

Es zeigte sich, dass sich vor allem<br />

jüngere Menschen in <strong>Belarus</strong> für<br />

deutsche Sprache und Kultur begeistern<br />

können. Ein Grund mehr<br />

zum Feiern für das Goethe-Institut<br />

in Minsk, das mit einem großen<br />

städteplanerischen Entwicklung<br />

einen wichtigen Beitrag zum Verständnis<br />

des sowjetischen Alltags.<br />

Er macht deutlich, dass der vermeintliche<br />

Kontrollanspruch der<br />

Kommunistischen Partei von den<br />

Menschen vielfach unterlaufen<br />

wurde und die Behörden oft hilflos<br />

oder verständnisvoll dem illegalen<br />

Wohnungsbau oder Aufenthalt in<br />

Minsk gegenüber standen. In der<br />

Wohnungsfrage kündigte sich<br />

somit das Ende der Sowjetunion<br />

bereits frühzeitig an. Ironischerweise<br />

trat es gerade dann ein, als<br />

die Wohnungsverhältnisse der<br />

meisten Menschen endlich mehr<br />

oder weniger zufriedenstellend<br />

gelöst waren...<br />

Thomas Bohn: Stadtplanung und Urbanisierung<br />

in der Sowjetunion nach 1945.<br />

‚Industrielle Welt‘. Böhlau-Verlag, gebunden,<br />

400 Seiten.<br />

Fest und einem bunten Programm<br />

aus Musik, Literatur und Film<br />

seinen 15-jährigen Geburtstag<br />

beging. Dass deutsche Kulturarbeit<br />

überhaupt auf derart großes<br />

Interesse stößt, ist nicht zuletzt<br />

ein Verdienst des Instituts, das<br />

seit Jahren mit großem Engagement<br />

erfolgreich einen Beitrag zur<br />

Vermittlung deutscher Werte und<br />

Kultur leistet.<br />

In Zusammenarbeit mit der Medienakademie<br />

der IBB „Johannes<br />

Rau“ Minsk organisierte die Deutsche<br />

Botschaft ein Seminar für<br />

Journalisten aus den belarussischen<br />

Regionen zum Thema<br />

„Modernes Deutschlandbild“.<br />

Jungen Medienvertretern wurde<br />

im Rahmen dieser Veranstaltung<br />

in Vorträgen und Fragestunden<br />

die Möglichkeit gegeben, sich ein<br />

aktuelles und objektives Bild über<br />

politische und gesellschaftliche<br />

Entwicklungen in Deutschland<br />

zu machen. Als Gast nahm unter<br />

anderem Martin Kobler teil, Abteilungsleiter<br />

im Auswärtigen Amt<br />

für Kultur und Kommunikation.<br />

Er stellte sich in einer für belarussische<br />

Verhältnisse ausgesprochen<br />

offenen Gesprächsatmosphäre den<br />

Fragen der interessierten Journalisten.<br />

Marilyn Monroe in Minsk<br />

(es) der Filmemacher Michael blume stellte Anfang dezember in berlin seine jüngste Produktion vor,<br />

den Dokumentarfilm „Marilyn Monroe aus Minsk – Lichtblicke aus Weißrussland“, in dessen Mittelpunkt<br />

das Minsker Kino „Pobeda“ und seine Leiterin stehen.<br />

„Wir liebten Kino. Die Filme, die<br />

in dunklen Sälen von alten, mechanischen<br />

Projektoren abgespielt<br />

wurden, öffneten uns die Welt.<br />

Dort sah man, was im Fernsehen<br />

selten gezeigt wurde: die amerikanische<br />

Prärie mit Cowboys und<br />

Indianern, Fantomas, wie er über<br />

Paris fliegt, alte Schlösser, den<br />

Mann mit der Maske und Angelique,<br />

Marquise des Anges. Aus dem<br />

Fernsehen erfuhren wir, was man<br />

über das Land des Glücks wissen<br />

mußte.“ So beschreibt Artur<br />

Klinau nicht nur in seinem Buch<br />

„Minsk. Sonnenstadt der Träume“<br />

seine Erlebnisse mit dem Kino in<br />

der Sowjetzeit. Er erzählt davon<br />

auch in dem gerade fertiggestellten<br />

Dokumentarfilm „Marilyn<br />

Monroe aus Minsk – Lichtblicke<br />

aus Weißrussland“, der in einer<br />

Arbeitsfassung Anfang Dezember<br />

2008 im Kino „Krokodil“ in Berlin<br />

vorgestellt wurde.<br />

Autor und Regisseur Michael<br />

Blume schildert die Geschichte<br />

des Minsker Kinos „Pobeda“ und<br />

seiner Direktorin Swetlana Sawtschik.<br />

Eine gewisse Ähnlichkeit,<br />

die ihr mit der US-Schauspiellegende<br />

nachgesagt wird, führte<br />

zu dem Titel des Films. Swetlana<br />

Sawtschik wird als eine engagierte,<br />

resolute und weltgewandte<br />

Kinoleiterin gezeigt, die mit ihrem<br />

Mit dem zweiten Tag der Deutschen<br />

Wirtschaft am 2. Oktober<br />

und einer Präsentation der Deutschen<br />

Zentrale für Tourismus wurden<br />

deutliche Akzente im Bereich<br />

der wirtschaftlichen Kooperation<br />

gesetzt. Der unter dem Motto<br />

„Unternehmenskultur“ geführte<br />

Wirtschaftstag lockte etwa 250<br />

Gäste zu Vortragsveranstaltungen<br />

und Workshops und erfuhr große<br />

Spielplan dem Zuschauer den Weg<br />

nach Europa öffnet. Dafür hat sie<br />

sich wichtige Verbündete gesucht,<br />

wie die Deutsche und die Französische<br />

Botschaft oder auch das<br />

Goethe-Institut.<br />

Die Geschichte des Kinos „Pobeda“<br />

(„Sieg“) ist eingebettet in die<br />

Wirren der historischen Abläufe<br />

und das städtische Umfeld. Durch<br />

eindringliche Bilder gelingt es<br />

Michael Blume, die Zuschauer<br />

mit auf Zeitreise in die Höhen<br />

und Tiefen des Kinos zu nehmen,<br />

bis zu dessen drohender Schließung.<br />

Dank der Einnahmen vom<br />

„Untergang der Titanic“ kann der<br />

Untergang des Kinos aber doch<br />

verhindert werden.<br />

Blume kam die Idee zu dem Film<br />

bei einem Besuch in Minsk ein Jahr<br />

zuvor. Er war extra angereist, um<br />

im Rahmen einer Lesung seine<br />

Filme vorzustellen, natürlich im<br />

Kino „Pobeda“. Inspiriert von der<br />

überbordenden Lebhaftigkeit der<br />

Kinochefin und ihrem Umfeld<br />

entschloss er sich, über beide einen<br />

Film zu drehen. Unterstützt wurde<br />

das Projekt vom Goethe-Institut<br />

und der Deutschen Botschaft.<br />

Ein überaus erfolgreiches Projekt,<br />

denn „Marylin Monroe“ ist bereits<br />

zur Berlinale angemeldet. Sollte<br />

Kultur & Wissenschaft<br />

Beachtung in den belarussischen<br />

Medien.<br />

Die diesjährige Deutsche Woche<br />

wurde wieder bewusst mit dem<br />

Tag der Deutschen Einheit verbunden.<br />

Damit vermittelten die<br />

Organisatoren eine Kernbotschaft:<br />

Das vereinigte Deutschland steht<br />

für einen europäischen Weg von<br />

<strong>Belarus</strong> als Partner bereit.<br />

das Kino seinem Namen alle Ehre<br />

machen und auch in Berlin, auf<br />

einem der größten europäischen<br />

Kinofestivals, einen Sieg davon<br />

tragen – es wäre die Gelegenheit<br />

für Swetlana Sawtschik, über den<br />

Roten Teppich zu gehen wie einst<br />

ihr Alter Ego. Organisatorisch<br />

kein Problem, denn Sawtschik<br />

wird in jedem Fall zur Berlinale<br />

kommen. Sie holt sich dort jedes<br />

Jahr Anregungen für ihr neues<br />

Kinoprogramm.<br />

Verblüffende Ähnlichkeit: Swetlana Sawtschik,<br />

Kinodirektorin und Heldin des<br />

neuen Dokumentarfilms. Foto: privat<br />

0 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Winter 2009 Nr. 43 1


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