Belarus- - Internationales Bildungs
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Streitfall Waisenkind<br />
NGOs & Gesellschaft<br />
(Larisa Netrebko, Minsk) Anfang september kam es in Italien zum skandal um das zehnjährige belarussische<br />
Waisenkind Wika Moroz. Ihre Gastfamilie wollte sie nicht zurückschicken, weil sie angeblich<br />
misshandelt worden sei. belarus holte das Kind mit Hilfe italienischer Gerichte dennoch zurück.<br />
Alessandro Djusto und Maria-<br />
Chiara Bornachin konnten es<br />
nicht fassen, als die Polizei Wika<br />
Moroz in ihrem Versteck bei ihren<br />
italienischen „Großeltern“<br />
aufgespürt hatte. Kurz darauf war<br />
das Mädchen wieder in <strong>Belarus</strong>.<br />
Eine Woche Medienskandal und<br />
Gerichtsverhandlung waren vorüber,<br />
während derer das Ehepaar<br />
Wika versteckt hatte. Djusto und<br />
Bornachin hatten das Kind nicht<br />
zurückschicken wollen, weil sie<br />
angeblich Spuren von Verbrennungen<br />
und Misshandlungen an<br />
ihrem Körper entdeckt hatten.<br />
Wika nannte sie seit Jahren „Mama<br />
und Papa“ und freute sich immer<br />
wieder, wenn sie ihre Gastfamilie<br />
besuchen konnte. Insgesamt siebenmal<br />
war sie in Italien.<br />
VerZWeIfeLTe „eLTerN“<br />
Das Ehepaar entschloss sich anhand<br />
der Spuren von Gewaltanwendung<br />
zu einer Verzweiflungstat:<br />
Djusto und Bornachin<br />
weigerten sich auf Wikas Bitten<br />
hin, das Kind zurück in die Heimat<br />
zu schicken. Ein Fall von Kindesentführung.<br />
Italienische Zeitungen<br />
hatten zudem ein Bild von Wika<br />
publiziert, auf dem sie sich an<br />
einen Stuhl gefesselt dargestellt<br />
hatte. Schnell hatte das Ehepaar<br />
die italienische Öffentlichkeit<br />
hinter sich - mit Ausnahme der<br />
Gerichte und jener Familien, die<br />
selbst ein belarussisches Kind über<br />
die Ferien aufnehmen oder gar<br />
adoptieren wollen.<br />
reAKTION des sTAATes<br />
Denn die belarussische Seite reagierte<br />
erwartungsgemäß mit aller<br />
Härte. Um Druck auf die italienischen<br />
Behörden auszuüben, setzte<br />
Minsk vorübergehend die Reisen<br />
belarussischer Kindergruppen<br />
nach Italien aus. Gleichzeitig reichte<br />
der belarussische Botschafter in<br />
Italien, Alexej Skripko, Klage bei<br />
einem Gericht in Genua ein. „Wir<br />
haben uns an den Wortlaut des Gesetzes<br />
gehalten“, erklärte Skripko.<br />
„Gleichzeitig haben wir sehr eng<br />
mit den italienischen Behörden<br />
kooperiert.“ Empört hatte sich der<br />
Direktor des Vilejker Kinderheimes<br />
gegen die Vorwürfe gewehrt,<br />
Wika sei in seinem Heim misshandelt<br />
worden. Michael Woltschkov<br />
bezeichnete die Anspielungen von<br />
Wika Moroz auf Misshandlungen<br />
als Anzeichen für eine „lebhafte<br />
Kinderfantasie“.<br />
ALTerNATIVeN?<br />
Es stellt sich vor allem die Frage,<br />
ob es möglich gewesen wäre, den<br />
Konflikt anders zu lösen, ohne<br />
dass Wika Moroz zwischen die<br />
Fronten staatlicher und privater<br />
Interessen hätte geraten müssen?<br />
Ein Runder Tisch mit Beteiligung<br />
aller Betroffenen sowie der Behörden<br />
hätte Sinn gemacht. Besonders<br />
vor dem Hintergrund, dass zehntausende<br />
belarussischer Kinder<br />
jährlich zu italienischen Gastfamilien<br />
fahren. Niemand machte<br />
sich die Mühe, die beiden Seiten<br />
an einen Tisch zu holen, weder<br />
in Italien noch in <strong>Belarus</strong>. Dabei<br />
haben Waisenkinder in <strong>Belarus</strong><br />
nur geringe Chancen, sich in die<br />
Gesellschaft zu integrieren, wie<br />
selbst Präsident Lukaschenko im<br />
letzten Jahr konstatierte.<br />
POLITIsIeruNG<br />
Es ist verständlich, dass die belarussischen<br />
Behörden sich an die<br />
präsidiale Vorgabe halten müssen,<br />
die Adoptionszahlen herunterzufahren.<br />
Ihre Bemühungen sind<br />
von Erfolg gekrönt: Während 2003<br />
noch über siebenhundert bela-<br />
russische Kinder von Italienern<br />
adoptiert wurden, waren es im<br />
letzten Jahr nur noch zwei. Es ist<br />
auch kein Wunder, dass der Präsident<br />
das Thema auf die politische<br />
Tagesordnung setzte. Als Staatsoberhaupt<br />
muss er ein Interesse<br />
daran haben, dass Kinder sich in<br />
<strong>Belarus</strong> heimisch fühlen und eine<br />
Perspektive haben. Allerdings ist<br />
es traurig, dass in Ermangelung<br />
einer Perspektive der Staat Besitzansprüche<br />
auf ein Kind geltend<br />
macht, um nicht eingestehen zu<br />
müssen, dass es dem Kind im Ausland<br />
besser gehen könnte.<br />
fOLGeN<br />
Das Kind wurde ins Internat<br />
zurückgebracht. Die Behörden<br />
haben eine Sitzung einberufen mit<br />
Vertretern des <strong>Bildungs</strong>ministeriums,<br />
des Außenministeriums und<br />
des Departements für humanitäre<br />
Hilfe. <strong>Belarus</strong>sische NGOs, die jahrelang<br />
erfolgreich mit italienischen<br />
Familien zusammenarbeiten, wurden<br />
dazu nicht eingeladen. Zweifellos<br />
sind die belarussischen<br />
Behörden erschrocken über den<br />
Skandal und wollen sich gegen<br />
weitere solche Fälle absichern, was<br />
auch richtig ist. Aber dabei sollten<br />
sie nicht automatisch allen misstrauen,<br />
die ebenso ein Interesse an<br />
schönen Erholungsreisen belarussischer<br />
Kinder nach Italien haben:<br />
tausende italienischer Eltern und<br />
jene humanitären NGOs, die diese<br />
Urlaubsreisen organisieren. Alessandro<br />
Djusto und Maria-Chiara<br />
Bornachin sind eine solche Gastfamilie<br />
gewesen. Sie mögen überreagiert<br />
und illegal gehandelt haben,<br />
aber Eltern handeln so, wenn sie<br />
ein Kind in Gefahr sehen. Djusto<br />
und Bornachin ist kein moralischer<br />
Vorwurf zu machen: Sie glaubten<br />
lediglich den Worten eines Kindes,<br />
das sie lieben.<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34 1