Belarus- - Internationales Bildungs
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K 46699, Nr. 34<br />
IBB<br />
<strong>Internationales</strong><br />
<strong>Bildungs</strong>- und<br />
Begegnungswerk<br />
LIebe LeserINNeN uNd Leser,<br />
<strong>Belarus</strong> orientiert sich außenpolitisch<br />
schon lange nicht mehr an<br />
seinen europäischen Nachbarn.<br />
Priorität haben neben den Beziehungen<br />
zu Russland Länder<br />
wie China, Venezuela und Iran,<br />
mit denen Minsk das autoritäre<br />
Staatsverständnis teilt. Nun setzt<br />
Präsident Lukaschenko verstärkt<br />
auch auf eine wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />
mit den Präsidenten<br />
Chavez und Achmadinedschad,<br />
um sich gegen Unwägbarkeiten bei<br />
der russsischen Energieversorgung<br />
abzusichern. Ob diese Versuche erfolgversprechend<br />
sind, analysiert<br />
Andrej Alexandrowitsch in seinem<br />
Artikel „Brücken bauen und Öl<br />
fördern“ auf Seite 12. Alexander<br />
Dautin zeigt in seiner Analyse des<br />
Treffens der blockfreien Staaten<br />
in Havanna, wie <strong>Belarus</strong> sich im<br />
internationalen Kontext mit Hilfe<br />
seiner Verbündeten zu positionieren<br />
gedenkt - auf Seite 2.<br />
Seit mehr als einem Jahr schon<br />
sprechen politische Beobachter<br />
davon, Präsident Lukaschenko<br />
könnte einen weiteren Schritt zur<br />
Festigung seiner Macht unternehmen<br />
und eine Staatspartei nach<br />
Vorbild des Putin‘schen „Einigen<br />
Russland“ gründen. Warum ein<br />
solches Szenario jedoch weiterhin<br />
unwahrscheinlich bleibt, erläutert<br />
Andrej Alexandrowitsch in seinem<br />
Artikel „Das habe ich nicht nötig“<br />
auf Seite 6.<br />
Dass <strong>Belarus</strong> trotz seiner Außenpolitischen<br />
Prioritäten seinen festen<br />
Platz in Europa hat, zeigen eine<br />
ganze Reihe von zivilgesellschaft-<br />
Herbst 2006<br />
<strong>Belarus</strong>-<br />
Perspektiven<br />
lichen und kulturellen Veranstaltungen,<br />
die in den letzten Monaten<br />
stattfanden. Zunächst wurde in<br />
einem Festakt die IBB Minsk in IBB<br />
„Johannes Rau“ umbenannt - der<br />
Vorschlag dazu wurde unterbreitet<br />
vom stellvertretenden belarussischen<br />
Außenminister, was zeigt,<br />
dass der belarussische Staat sich<br />
im Dialog um Versöhnung und<br />
Begegnung zu engagieren weiß.<br />
Anfang Oktober fand dann in der<br />
frisch getauften IBB „Johannes<br />
Rau“ die Tagung „Von der Hilfe<br />
zu Partnerschaften - Perspektiven<br />
und Zusammenarbeit 20 Jahre<br />
nach Tschernobyl“ statt, auf der<br />
sich deutsche, belarussische und<br />
ukrainische Tschernobyl-Initiativen<br />
austauschen und Projekte<br />
entwickeln konnten. (Seite 22)<br />
Aber auch die belarussische Kultur<br />
brachte in diesem Herbst<br />
viele Menschen in Deutschland<br />
zusammen: bei dem Kulturfestival<br />
„good.by“ und den Lesungen zum<br />
100. Jubiläum der Zeitung „Nascha<br />
Niva“ in Berlin oder bei der <strong>Belarus</strong>-Konferenz<br />
der Evangelischen<br />
Akademie in Wittenberg. Dass Begegnung<br />
manchmal auch einfach<br />
nur junge, engagierte Menschen<br />
braucht, zeigt das Sommerlager<br />
der Aktion Sühnezeichen, bei dem<br />
Behinderte und Nichtbehinderte<br />
aus Deutschland, <strong>Belarus</strong> und<br />
Österreich zusammenkamen. (Artikel<br />
auf Seite 29) Von solchem Engagement<br />
leben die Beziehungen<br />
zwischen <strong>Belarus</strong>, Deutschland<br />
und Europa.<br />
Ihre Redaktion<br />
In dieser Ausgabe Seite<br />
Außenpolitik<br />
„Blockfreie“ und Verstoßene 2<br />
Diplomatische Skandale 3<br />
Kein Zollunion in Sicht 4<br />
Radio hat Zukunft 5<br />
Innenpolitik<br />
„Das habe ich nicht nötig“ 6<br />
Mehr Waisen? 7<br />
Sicherheitsrat 8<br />
„Manchmal verschiedene Ziele“ 9<br />
Oppositionelle Kommunisten 9<br />
Wirtschaft<br />
<strong>Belarus</strong> und EU 10<br />
Brücken bauen und Öl fördern 12<br />
Weltbank kritisiert <strong>Belarus</strong> 13<br />
NGOs & Gesellschaft<br />
Johannes-Rau-Haus 14<br />
Deutsche Woche 2006 15<br />
Nachruf auf Eva Balke 18<br />
Streitfall Waisenkind 19<br />
Nachhaltige Wohnungswirtschaft 20<br />
Nach Tschernobyl<br />
Austausch erwünscht 22<br />
Kultur & Wissenschaft<br />
Regeln für die Muttersprache 24<br />
Immer mehr „Stalin-Linien“ 25<br />
Zwei Schriftstellerverbände 26<br />
Neue staatliche Universität 26<br />
Nach Europa? 27<br />
„Weg von den Klischees“ 28<br />
100 Jahre unabhängige Presse 28<br />
Neuntes Minsk Forum 29<br />
Menschen mit Kanten 29<br />
Publikationen<br />
„Die Wolke“ 30<br />
„Kontaminiert“ 30<br />
Deutsche Ordnung 31<br />
Doppelter Dialog 31<br />
Chronologie 16<br />
Impressum 30<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Nr. 34
Außenpolitik<br />
„Blockfreie“ und Verstoßene<br />
(Alexander dautin, Minsk) Mitte september fand die Konferenz des „bewegung der blockfreien staaten“<br />
in Havanna statt. unter den 118 delegationen aus aller Welt waren auch „stars“ der blockfreien Welt wie<br />
die Präsidenten Achmadinedschad aus dem Iran, Chavez aus Venezuela sowie Manmohan singh (Indien)<br />
und Pervez Musharraf (Pakistan). sie debattierten über die schaffung einer neuen „multipolaren“ Weltordung.<br />
Lukaschenko rief die delegierten dazu auf, wirtschaftlich enger zusammenzuarbeiten.<br />
Die Konferenz der blockfreien<br />
Staaten ist eines der wenigen<br />
internationalen Foren, auf denen<br />
Alexander Lukaschenko nach<br />
wie vor auftreten kann. Deshalb<br />
nutzte der belarussische Präsident<br />
diese Bühne, um seine Sicht zu<br />
verkünden. Dazu gehörte auch die<br />
„besondere Mission“, die <strong>Belarus</strong><br />
nach seinen Worten auf der Konferenz<br />
zu erfüllen hatte. „Wir sind<br />
eure Vertreter in der alten Welt,<br />
in Europa!“ rief Lukaschenko den<br />
Delegierten zu und erntete Beifall.<br />
Er forderte die Teilnehmer auf,<br />
„aktiver an der Schaffung einer<br />
neuen, gerechteren Weltordung“<br />
zu arbeiten. Seiner Meinung nach<br />
zeige sich, dass die heutige monopolare<br />
Welt nicht lebensfähig sei.<br />
Es sei an der Zeit, ein „eindeutiges<br />
Programm zur stetigen, aber unabdingbaren<br />
Schaffung einer multipolaren<br />
Welt“ auszuarbeiten.<br />
Neue POLITIsCHe KrAfT?<br />
Um dies zu erreichen, müssten<br />
die blockfreien Staaten „ein selbstständiges<br />
Zentrum politischer<br />
Kraft in der Welt werden“. Zu<br />
diesem Zweck, meinte der belarussische<br />
Präsident, müssten sich<br />
die Staaten vor allem solidarisch<br />
miteinander zeigen. Solidarität<br />
sei ein außerordentlich wichtiges<br />
Instrument bei der Verteidigung<br />
kleiner und schutzloser Staaten.<br />
„Die blockfreien Staaten sollten<br />
ihre Mitglieder entschieden verteidigen,<br />
wenn diese zu Opfern des<br />
Druckes oder der Aggression von<br />
außen werden“, meinte er.<br />
MeHr ZusAMMeNArbeIT<br />
Der erste Schritt müsse jedoch eine<br />
stärkere wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />
zwischen den Block-<br />
freien Staaten sein, erklärte Lukaschenko.<br />
Dazu gehörten unter<br />
anderem Handelspräferenzen,<br />
aber auch die Schaffung einer<br />
gemeinsamen „Bank wirtschaftlicher<br />
Informationen, die zu einer<br />
Informationsplattform für Projekte<br />
der Zusammenarbeit und einer interaktive<br />
Datenbank über die Interessen<br />
und Probleme unserer Staaten“<br />
werden würde. Lukaschenko<br />
hält es dabei für ein Primärziel,<br />
das „Informationsmonopol des<br />
Westens“ zu überwinden.<br />
WICHTIGe GesPräCHe<br />
Lukaschenko bekam zwei Mal<br />
Gelegenhiet, vor den Delegierten<br />
zu sprechen. Zudem traf sich das<br />
belarussische Staatsoberhaupt<br />
mit einer Reihe ausländischer<br />
Staats- und Regierungschefs zu<br />
bilateralen Gesprächen. Unter<br />
Lukaschenkos Gesprächspartnern<br />
war auch der iranische Präsident<br />
Machmud Achmadinedschad, mit<br />
dem Lukaschenko ein „Programm<br />
zur Aktivisierung der Zusammenarbeit<br />
im strategischen Bereich“<br />
besprach und mit ihm offizielle Visiten<br />
abstimmte. Lukaschenko und<br />
sein venezuelischer<br />
Kollege<br />
Hugo Chavez<br />
unterschrieben<br />
indes ein Memurandum<br />
des<br />
zur Schaffung<br />
einer gemeinsamenKommission<br />
auf höchster<br />
politischer<br />
Ebene. Weitere<br />
GesprächspartnerLukaschenkos<br />
waren die<br />
Staatschefs von<br />
Südafrika, Al-<br />
gerien und Malaysia. Der belarussische<br />
Präsident plant zudem<br />
Visiten nach Vietnam, Bolivien<br />
und Ägypten.<br />
PrObLeMe<br />
Allerdings ist es gut möglich,<br />
dass Lukaschenkos Appelle zur<br />
Schaffung einer „gerechteren<br />
Weltordnung“ ungehört verhallten.<br />
Schließlich sind die Mitglieder<br />
des Bündnis Blockfreier<br />
Staaten keinesfalls „Big Player“<br />
auf der internationalen politischen<br />
Bühne. Dazu kommt, dass viele<br />
Staaten dem Bündnis nicht beitreten<br />
wollen, weil sie durch einige<br />
Mitgliedsländer mit schlechtem<br />
Ruf abgeschreckt werden. Analytiker<br />
weisen darauf hin, dass<br />
ein Beitritt zu dem Bündnis in<br />
vielerlei Hinsicht bedeutet, einem<br />
Block von in der westlichen Welt<br />
geächteten Staatschefs wie Achmadimedschad,<br />
Chavez oder auch<br />
Alexander Lukaschenko bedeutet.<br />
Selbst wenn das Bündnis Blockfreier<br />
Staaten zu einem Pol der<br />
Weltpolitik wird - dieser Pol dürfte<br />
kaum sehr anziehend auf politisch<br />
neutrale Staaten wirken.<br />
A. Lukaschenko, M. Achmadinedschad und H. Chavez in Havanna.<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34
Diplomatische Skandale ohne Folgen<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34<br />
Außenpolitik<br />
(Alexander dautin, Minsk) ende August kam ein litauischer Geheimdienstler in brest unter zweifelhaften<br />
umständen zu Tode. die beziehungen zwischen dem baltischen eu-staat und belarus litten darunter<br />
jedoch nicht. Im Gegenteil: Litauen sprach sich im rat der europäischen union gemeinsam mit Polen und<br />
Lettland gegen Wirtschaftssanktionen gegen belarus aus und erntete dafür beifall aus Minsk.<br />
In der Nacht vom 22. auf den 23.<br />
August stürzte Vitautas Patiunas<br />
aus dem neunten Stock des Hotels<br />
„Intourist“ in Brest. Patiunas war<br />
nicht nur Mitarbeiter der lettischen<br />
Botschaft in <strong>Belarus</strong>, sondern arbeitete<br />
auch für den litauischen<br />
Geheimdienst. Dementsprechend<br />
schnell kamen Gerüchte über<br />
einen gewaltsamen Tod des Diplomaten<br />
auf. Die belarussische<br />
Polizei erklärte, Patiunas sei beim<br />
Sturz schwer alkoholisiert gewesen.<br />
In der litauischen Presse hieß<br />
es dagegen, er habe grundsätzlich<br />
keinen Alkohol getrunken. Bereits<br />
einige Wochen zuvor hatte<br />
es einen Skandal um einen Mitarbeiter<br />
der lettischen Botschaft<br />
gegeben. <strong>Belarus</strong> hatte ihm die<br />
Produktion von pornografischen<br />
Filmen vorgeworfen hatte und ihn<br />
ausgewiesen. Dieses Mal schienen<br />
beide Seiten jedoch kein Interesse<br />
an einer Eskalation zu haben: Die<br />
belarussische Staatsanwaltschaft<br />
geht von einem Unfall aus, plant<br />
aber dennoch, den Fall noch einmal<br />
eingehend zu prüfen.<br />
bessere beZIeHuNGeN<br />
Litauen indessen setzte sich im Rat<br />
der Europäischen Union für Handelspräferenzen<br />
für <strong>Belarus</strong> ein.<br />
Die Wirtschaftssanktionen gegen<br />
<strong>Belarus</strong> waren auf die Tagesordnung<br />
gesetzt worden, weil <strong>Belarus</strong><br />
die Regeln zur Gewerkschaftsfreiheit<br />
innerhalb der Internationalen<br />
Arbeitsorganisation verletzt hatte.<br />
Der litauische Premier Kirkilas erklärte,<br />
sein Land werde sich auch<br />
in Zukunft gegen Wirtschaftssanktionen<br />
aussprechen.<br />
KeINe sANKTIONeN<br />
„Wir sind für ernsthafte politische<br />
Maßnahmen gegen <strong>Belarus</strong>, wer-<br />
den Wirtschaftssanktionen jedoch<br />
nicht zustimmen. Sie würden das<br />
Leben des belarussischen Volkes<br />
erschweren“, verkündete Kirkilas.<br />
„Wenn es als unbedingt nötig<br />
erscheint, die Sanktionen gegen<br />
Minsk zu verschärfen, könnte man<br />
auch einfach die EU-Einreiseverbote<br />
für belarussische Beamte auf<br />
ein- bis zweitausend Personen<br />
ausweiten“, meinte der litauische<br />
Premier. Die EU solle nach Meinung<br />
Kirkilas‘ auch von einer Verteuerung<br />
ihrer Visa für <strong>Belarus</strong>sen<br />
absehen. Neben Wirtschaftssanktionen<br />
führe auch dieses Mittel nur<br />
„zu einer Isolation des Landes,<br />
was für das Regime von großem<br />
Vorteil ist. Unser Vorschlag stattdessen:<br />
Die EU sollte die Europäische<br />
Nachbarschaftspolitik wieder<br />
auf <strong>Belarus</strong> anwenden und Mittel<br />
ergreifen, die die illegitime Lukaschenko-Diktatur<br />
direkt treffen,<br />
nicht das belarussische Volk“.<br />
Tatsächlich hat Litauen handfeste<br />
wirtschaftliche Interessen daran,<br />
dass die Handelspräferenzen zwischen<br />
der EU und <strong>Belarus</strong> nicht<br />
aufgehoben werden. Experten<br />
rechneten im Fall einer Aufhebung<br />
mit Millionenverlusten für litauische<br />
Geschäftsleute, die in <strong>Belarus</strong><br />
tätig sind.<br />
ANGesTrebTe sTAbILITäT<br />
Der litauische Außenminister Pjatras<br />
Vaitekunas erklärte zu den<br />
Beziehungen zwischen beiden<br />
Ländern: „Wir wünschen, dass<br />
sich <strong>Belarus</strong> wie ein ungefährliches,<br />
stabiles und demokratisches<br />
Land entwickelt.“ Vaitekunas<br />
bekräftigte, dass die Beziehungen<br />
seines Landes zu <strong>Belarus</strong> nach<br />
dem Beitritt zur EU an Bedeutung<br />
gewonnen hätten. Litauen<br />
kooperiere mit <strong>Belarus</strong> in den<br />
Bereichen der Grenzsicherheit, der<br />
Ausschöpfung des wirtschaftlichen<br />
und touristischen Potenzials,<br />
des Umweltschutzes sowie des<br />
Kampfes mit illegaler Migration,<br />
organisierter Kriminalität und<br />
Menschenhandel. „Es ist uns klar,<br />
wie wichtig zwischenmenschliche<br />
Kontakte in den Beziehungen zwischen<br />
Litauen und <strong>Belarus</strong> sowie<br />
der EU und <strong>Belarus</strong> sind“, erklärte<br />
der litauische Außenminister auch<br />
in Anspielung auf die Forderung<br />
innerhalb der EU, die Visapreise<br />
für <strong>Belarus</strong>sen auf den EU-Standard<br />
von 60 Euro anzuheben.<br />
dANKbAre reAKTION<br />
Indes bedankte sich der belarussische<br />
Präsident Alexander Lukaschenko<br />
offiziell bei Litauen und<br />
Lettland für deren Unterstützung<br />
im Rat der Europäischen Union.<br />
„Ich bin nicht nur den Geschäftsleuten,<br />
sondern auch einigen<br />
Amtsleitern unserer Nachbarn<br />
zu Dank verpflichtet.“ Sie alle<br />
verstünden, dass eine Aufhebung<br />
der Handelspräferenzen zu großen<br />
Verlusten auch auf eigener<br />
Seite führen würden. Lukaschenko<br />
reagierte zudem darauf, dass in<br />
Brüssel das Thema Aufhebung der<br />
Handelspräferenzen noch nicht<br />
vom Tisch ist. „Wenn Sanktionen<br />
kommen, ist unsere Antwort klar:<br />
Das werden wir überleben. Wir<br />
haben schon schlimmeres überlebt“,<br />
erklärte der belarussische<br />
Präsident. Expertenschätzungen<br />
zu Folge könnten die Verluste für<br />
<strong>Belarus</strong> dabei bis zu 250 Millionen<br />
Euro im Jahr betragen. Ob es Sanktionen<br />
geben wird oder nicht - das<br />
hängt vor allem davon ab, ob die<br />
diplomatischen Skandale zwischen<br />
Polen und den baltischen Ländern<br />
auch weiterhin keine negativen<br />
Folgen für die Wirtschaftsbeziehungen<br />
haben werden.
Außenpolitik<br />
Kein Zollunion in Sicht<br />
(Pauljuk bykowski, Minsk) Im August trafen sich die staats- und regierungschefs der eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft<br />
(eurAseC) in sotschi. sie wollten sich unter anderem auf eine Zollunion einigen<br />
- erfolglos, wie bereits im Juni in Minsk und in den letzten zehn Jahren des russisch-belarussischen „Integrationsprozesses“.<br />
Zudem sehen Wirtschaftsexperten nun in der eurAseC für belarus kaum Vorteile.<br />
Die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft<br />
ist, ähnlich wie der belarussisch-russische<br />
Unionsstaat, ein<br />
formaler Zusammenschluss mit<br />
großer Bürokratie und regelmäßigen<br />
Lippenbekenntnissen zum<br />
Integrationsprozess. Zwar hat<br />
die EURASEC den Status einer<br />
Wirtschaftsgemeinschaft, denn<br />
ihre formalen Ziele sind mit denen<br />
ähnlicher Organisationen<br />
in Nordamerika oder Asien vergleichbar:<br />
Ein Zusammenwachsen<br />
der Märkte durch Zollunion und<br />
gemeinsame Wirtschaftspolitik.<br />
Allerdings sind keinesfalls alle<br />
Mitgliedsländer an der Verwirklichung<br />
dieser Ziele interessiert.<br />
Die Gemeinschaft ging aus der<br />
1996 ins Leben gerufenen Zollunion<br />
zwischen Russland, <strong>Belarus</strong>,<br />
Kasachstan und Kirgisien hervor.<br />
Im Jahre 2000 unterschrieben die<br />
Staats- und Regierungschefs der<br />
sechs Mitgliedsländer in Kasachstan<br />
den EURASEC-Vertrag. Drei<br />
Jahre später wurde die EURASEC<br />
als Beobachter in der Generalversammlung<br />
der UNO zugelassen;<br />
ihre Beamten genießen seither<br />
parlamentarische Immunität.<br />
GrOsse VOrsäTZe<br />
Die EURASEC gruppiert sich<br />
um einen „Kern“, bestehend aus<br />
Russland, <strong>Belarus</strong> und Kasachstan.<br />
Daneben sind noch die Republiken<br />
Kirgisien, Tadschikistan<br />
und Usbekistan Mitglieder des<br />
Bündnisses, während Moldau, die<br />
Ukraine und Armenien als Beobachter<br />
zugelassen sind. Bereits vor<br />
drei Jahren versprachen die Staats-<br />
und Regierungschefs, bis heute<br />
eine Zollunion zu schaffen und<br />
so den Wahrenverkehr zwischen<br />
den Mitgliedsstaaten wesentlich<br />
zu vereinfachen. Tatsächlich wurde<br />
von über 70 Punkten, die man<br />
sich damals vornahm, bisher nicht<br />
einmal ein Drittel erfüllt.<br />
VersCHLePPuNG<br />
Kritiker bemängeln, dass die<br />
Mitglieder der EURASEC zu unterschiedlichen<br />
Interessen haben,<br />
um sich auf eine Zollunion einigen<br />
zu können, geschweige denn auf<br />
eine gemeinsame Wirtschaftspolitik.<br />
Denn alle EURASEC-Staaten<br />
werden autoritär regiert. Eine Abgabe<br />
der Zollhoheit würde einen<br />
Machtverlust der bürokratischen<br />
Apparate bedeuten. Daneben hat<br />
sich in der EURASEC inzwischen<br />
eine eigene Bürokratie entwickelt,<br />
die um ihre Pfründe kämpft, um<br />
nicht in der völligen Bedeutungslosigkeit<br />
zu versinken - einer der<br />
Gründe für die regelmäßigen<br />
Treffen.<br />
sCHLeCHTes VOrbILd<br />
Russland und <strong>Belarus</strong> haben bereits<br />
1995 einen Vertrag über eine<br />
Zollunion unterzeichnet, doch die<br />
Ergebnisse sind nach über zehn<br />
Jahren äußerst mager. Experten<br />
sprechen sogar von keiner echten<br />
Zollunion . „Eine tatsächliche Zollunion<br />
- das bedeutet gemeinsame<br />
Einfuhrzölle, keine Einschränkungen<br />
für den Warenverkehr<br />
innerhalb der Union. Das alles gibt<br />
es zwischen <strong>Belarus</strong> und Russland<br />
nicht“, erklärt der Wirtschaftswissenschaftler<br />
Leonid Slotnikov vom<br />
belarussischen Analysezentrum<br />
„Alternative 21“: „Die Zollunion<br />
existiert nur teilweise. Denn für<br />
mehr als tausend Waren gibt es<br />
nach wie vor unterschiedliche<br />
belarussische und russische Einfuhrzölle.“<br />
Zudem, unterstreicht<br />
Slotnikov, würden <strong>Belarus</strong> und<br />
Russland ihre Zollpolitik nicht untereinander<br />
abstimmen. Russland<br />
ignoriere sogar die belarussischen<br />
Interessen, so z. B. bei den Einfuhrzöllen<br />
für gebrauchte LKW,<br />
was den belarussischen Handel<br />
ernsthaft gefährde.<br />
KeINe VOrTeILe<br />
Sollte die EURASEC-Zollunion<br />
umgesetzt werden, so Slotnikov<br />
weiter, werde das kaum Vorteile<br />
für die belarussische Wirtschaft<br />
bringen. Denn neben Russland<br />
und <strong>Belarus</strong> engagiert sich vor allem<br />
Kasachstan in der EURASEC.<br />
Das Land liegt jedoch zu weit von<br />
<strong>Belarus</strong> entfernt, um als direkter<br />
Handelspartner von großem Interesse<br />
sein zu können. Es bleibt<br />
jedenfalls unwahrscheinlich, dass<br />
die Union jemals zustande kommt,<br />
denn die Hälfte der Mitglieder<br />
interessiert sich mehr dafür, Abkommen<br />
über die gemeinsame<br />
Nutzung von Wasser- und Energieressourcen<br />
in Zentralasien abzuschließen.<br />
Neutrale Beobachter<br />
fragen sich deshalb nach dem Sinn<br />
und Zweck dieser Organisation,<br />
die die Schaffung einer Zollunion<br />
als eines ihrer Ziele ausgibt.<br />
ZufrIedeNHeIT<br />
Dennoch ist <strong>Belarus</strong> mit dem<br />
Treffen in Sotschi zufrieden. „Man<br />
kann sagen, dass das Treffen, das<br />
ja zuerst als informeller Austausch<br />
gedacht war, einen weiteren wichtigen<br />
Beitrag zur Stärkung des<br />
Integrationsprozesses auf postsowjetischem<br />
Territorium geleistet<br />
hat“, erklärte nach dem Treffen<br />
der Beauftragte des belarussischen<br />
Präsidenten, Valentin Rybakov.<br />
„Soweit mir bekannt ist, hat der<br />
Präsident die Ergebnisse des Treffens<br />
zu schätzen gewusst.“<br />
EURASEC-Website: www.evrazes.com<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34
Radio hat Zukunft, Fernsehen kaum<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34<br />
Außenpolitik<br />
In Vilnius diskutierten im september Medien- und Politikvertreter aus belarus und der eu über die Zukunft<br />
unabhängiger radio- und fernsehsender für belarus. Wir baten den Leiter des belarus-Programmes<br />
der deutschen Welle, Viktor Agajev, die ergebnisse der Konferenz zusammenzufassen.<br />
(Viktor Agajev, Bonn) Der Europarat,<br />
die Litauische Bürgerschutz-<br />
Stiftung und das oppositionelle<br />
Komitee der Demokratischen<br />
Kräfte hatten den Runden Tisch organisiert,<br />
damit über die Probleme<br />
und Möglichkeiten des „alternativen“<br />
Fernsehens und Hörfunks in<br />
<strong>Belarus</strong> diskutiert werden konnte.<br />
<strong>Belarus</strong>sische Oppositionspolitiker<br />
konnten Meinungen von<br />
Medienexperten kennenlernen<br />
und mit ihnen die Konzepte für<br />
unabhängige Radio- und Fernsehsender<br />
erörtern. Die Vertreter<br />
der belarussischen Opposition<br />
formulierten ihre Ziele folgendermaßen:<br />
Es müsse ein Fernseh- und<br />
Hörfunksystem entwickelt werden,<br />
das Dissidenten, aber auch<br />
einfache Bürger mit objektiven<br />
und zuverlässigen Information<br />
versorgt; <strong>Belarus</strong>sen müssten für<br />
demokratische Ideale gewonnen<br />
werden; die belarussische Kultur<br />
müsse gefördert werden; es müsse<br />
eine Bühne für die demokratischen<br />
Politiker aus <strong>Belarus</strong> und anderen<br />
Ländern entstehen. Teilnehmer<br />
der Diskussion waren sich darin<br />
einig, dass die personelle Ausstattung<br />
des alternativen Hörfunks<br />
und Fernsehens keine unlösbare<br />
Frage sei, es mangele jedoch an<br />
Technik und Sendekapazitäten.<br />
VIer rAdIOseNder<br />
Momentan senden nur vier von<br />
Lukaschenkos Regierung unabhängige<br />
Hörfunksender für <strong>Belarus</strong>:<br />
Die Deutsche Welle (DW), das<br />
amerikanisch finanzierte Radio<br />
Liberty (RL) sowie die polnischen<br />
Sender Radio Raziya und das Europäische<br />
Radio für <strong>Belarus</strong>. Die<br />
DW und RL senden im Kurz- und<br />
Mittelwellenbereich sowie über<br />
Satellit und im Internet. Radio<br />
Raziya sendet auf UKW, allerdings<br />
können <strong>Belarus</strong>sen den Sender<br />
wegen seines schwachen Signals<br />
nur im direkten Grenzbereich zu<br />
Polen empfangen. Eine Internetübertragung<br />
ist im Aufbau. Das<br />
Europäische Radio für <strong>Belarus</strong><br />
wird übers Internet übertragen<br />
sowie über Mittelwelle. In <strong>Belarus</strong><br />
kann man es schlecht empfangen.<br />
Das Problem besteht darin, dass<br />
<strong>Belarus</strong>sen vornehmlich UKW-<br />
Radio hören, die Sendeplätze<br />
aber vom belarussischen Staat<br />
vergeben werden. Die Reichweite<br />
von UKW-Sendern ist indes zu gering.<br />
Für den Kurzwellenempfang<br />
werden recht teure Empfänger<br />
benötigt, die in <strong>Belarus</strong> nur noch<br />
Radioliebhaber nutzen. Billigere<br />
Geräte garantieren keine gute<br />
Empfangsqualität. Gleichzeitig<br />
wurden aber durch Sparmaßnahmen<br />
die Frequenzen der DW und<br />
RL reduziert, was zu Lasten der<br />
Empfangsqualität geht. Internet<br />
und Satellit sind ebenfalls keine<br />
Alternativen, weil beide von <strong>Belarus</strong>sen<br />
kaum zum Radioempfang<br />
genutzt werden und relativ gering<br />
verbreitet sind.<br />
VersTäNdIGuNG<br />
Die vier Radiosender strahlen derzeit<br />
ihre Sendungen - neben den<br />
bereits genannten Verbreitungswegen<br />
- auch auf Mittelwelle aus,<br />
über eine Sendeanlage von Radio<br />
Baltic Waves in Litauen. Die Leistung<br />
dieser Anlage reicht jedoch<br />
nicht aus, um das gesamte Territorium<br />
von <strong>Belarus</strong> abzudecken.<br />
Die Teilnehmer der Diskussion in<br />
Vilnius haben sich darauf verständigt,<br />
dass es sinnvoller wäre, die<br />
Kräfte aller beteiligten elektronischen<br />
Medien und der Sponsoren<br />
zu bündeln, um einen leistungsfähigeren<br />
Sender bei Radio Baltic<br />
Waves zu installieren und ein<br />
gemeinsames Übertragungsnetz<br />
zu schaffen. Eine derartige Zusam-<br />
menarbeit hätte auch inhaltliche<br />
Synergieeffekte zur Folge - die<br />
Sender könnten sich auf Themenbereiche<br />
spezialisieren und inhaltliche<br />
Dopplungen vermeiden. Das<br />
Europäische Radio für <strong>Belarus</strong> will<br />
sich als Musik- und Informationssender<br />
für Jugendliche profilieren,<br />
die DW und RL würden schwerpunktmäßig<br />
neben aktuellen<br />
Informationssendungen auch analytische<br />
Programme ausstrahlen.<br />
Dabei ist zu beachten, dass RL nur<br />
auf <strong>Belarus</strong>sisch sendet, während<br />
die DW auf Russisch und <strong>Belarus</strong>sisch<br />
ausgestrahlt wird - was die<br />
tatsächliche Sprachsituation im<br />
Zielland widerspiegelt.<br />
ferNseHeN<br />
Das Satellitenfernsehen wurde<br />
auf der Konferenz als zukunftsträchtiges<br />
Medium betrachtet, weil<br />
immer mehr <strong>Belarus</strong>sen Satellitenanlagen<br />
benutzen. Allerdings<br />
stagniert die Anzahl der Satellitenempfangsanlagen<br />
momentan bei<br />
ca. 5 % der Gesamtbevölkerung.<br />
Eines der Hauptprobleme des<br />
Mediums Fernsehens sind die<br />
Finanzen. Es fehlt ein professionelles<br />
Fernsehzentrum für <strong>Belarus</strong><br />
im Ausland, in dem technisch als<br />
auch inhaltlich hochwertige Sendungen<br />
produziert und per Satellit<br />
ausgestrahlt werden könnten.<br />
Eine Akkreditierung bei den entsprechenden<br />
Behörden in <strong>Belarus</strong><br />
ist zudem unabdingbar, weil die<br />
Journalisten sonst eine Verhaftung<br />
riskieren. Selbst für die Einfuhr einer<br />
Kamera aus dem Ausland wird<br />
eine spezielle Erlaubnis benötigt.<br />
Der Wunsch der Teilnehmer des<br />
Runden Tisches, ein unabhängiges<br />
Fernsehen für <strong>Belarus</strong> ins Leben<br />
zu rufen, scheint angesichts dieser<br />
Hürden - vor allem angesichts der<br />
finanziellen Erfordernisse - kaum<br />
realisierbar.
Innenpolitik<br />
„Das habe ich nicht nötig“<br />
LuKAsCHeNKO WILL KeINe KüNsTLICHe sTAATsPArTeI<br />
(Andrej Alexandrowitsch, Minsk). Alexander Lukaschenko hat im August einer belarussischen „Partei<br />
der Macht“ nach russischem Vorbild eine klare Absage erteilt. Lukschenko meinte, er wolle keine solche<br />
Partei „von oben“ schaffen. somit lässt der Präsident bewusst spielraum für Initiativen „von unten“.<br />
Bereits seit einigen Jahren unternimmt<br />
der belarussische Staat regelmäßig<br />
den einen oder anderen<br />
Versuch, eine „Partei der Macht“<br />
zu schaffen. Da bisher allerdings<br />
kein klarer Befehl vom Präsidenten<br />
kam, sind die Aktivitäten alle im<br />
Sande verlaufen. Das jüngste Beispiel<br />
stammt aus dem Jahre 2004:<br />
Die Grodnoer NGO „Belaja Rus“.<br />
Fabrikchefs, Chefärzte und andere<br />
hochgestellte Staatsbedienstete<br />
schufen die Organisation, die sich<br />
wortgetreu an Slogans wie „Für<br />
ein starkes und blühendes <strong>Belarus</strong>“<br />
hielt. Den Präsidenten schien<br />
das jedoch kalt zu lassen. Alexander<br />
Lukaschenko machte keine<br />
Anstalten, sich persönlich für „Belaja<br />
Rus“ stark zu machen, so dass<br />
die Organisation auf das Grodnoer<br />
Gebiet beschränkt blieb.<br />
Treues VOLK<br />
Im Juni dann machte Lukaschenko<br />
klar, dass er auch weiterhin keine<br />
Partei braucht: „Ich habe das nicht<br />
nötig. Das Volk wird mir sowieso<br />
nie etwas abschlagen“, erklärte<br />
der Staatschef. Allerdings, ließ<br />
Lukaschenko durchblicken, habe<br />
er grundsätzlich nichts dagegen.<br />
Im August dann schien sich der<br />
Präsident von dem Gedanken<br />
doch endgültig verabschiedet zu<br />
haben. „Ich würde in <strong>Belarus</strong> kein<br />
„Einiges <strong>Belarus</strong>“ schaffen“ erklärte<br />
er auf einer Pressekonferenz für<br />
russische Journalisten und spielte<br />
dabei auf die russische Staatspartei<br />
„Einiges Russland“ an. „Ich<br />
als Historiker habe mich dem<br />
Studium des Parteiaufbaus sehr<br />
intensiv während meiner Zeit am<br />
Institut für Marxismus-Leninismus<br />
widmen können. Und eines<br />
habe dabei gelernt: Eine beliebige<br />
Partei oder Organisation wird nur<br />
dann vernünftig funktionieren,<br />
wenn sie nicht von oben künstlich<br />
geschaffen wird. Alles muss von<br />
selber wachsen und reifen.“<br />
sCHWACHe PArTeIeN<br />
Lukaschenko stellte zudem fest,<br />
dass trotz seiner Unterstützung<br />
für „viele einzelne Parteien“ diese<br />
Strukturen „irgendwie nicht wachsen“.<br />
„Ich bin überzeugt, dass es<br />
diese Tendenz auch in Russland<br />
gibt“, meinte der Präsident zu den<br />
Journalisten. Dies sei nur einer der<br />
Gründe, warum es keinen Sinn<br />
mache, eine „Partei der Macht“ zu<br />
gründen. Zudem würde eine solche<br />
Partei in jedem Fall zu einem<br />
Sammelbecken für Staatsangestellte.<br />
„Wozu soll ich heute künstlich<br />
eine Partei schaffen - damit die<br />
Staatsbeamten neben staatlichen<br />
auch noch auf den Sesseln von<br />
Parteien und NGOs sitzen?“ Die<br />
Macht im Lande habe er bereits mit<br />
Hife seiner staatlichen „Vertikale“<br />
ausgezeichnet im Griff, bemerkte<br />
Lukaschenko. „Wenn du die<br />
Macht behalten willst, halte sie mit<br />
Hilfe dieser Vertikale!“ erkäuterte<br />
er den russischen Journalisten.<br />
VOrsICHTIGer sTAATsCHef<br />
Experten vermuten indessen, dass<br />
Lukaschenko schlichtweg Angst<br />
davor hat, seinen Namen mit einer<br />
Partei zu verbinden, da keine von<br />
den heute existierenden sich einer<br />
soliden Popularität erfreue. Zudem,<br />
meinen die politischen Beobachter,<br />
sei die Gefahr einer Blamage<br />
relativ hoch, denn die Zahl der<br />
aktiven Mitglieder einer solchen<br />
Partei zeige der Öffentlichkeit,<br />
wie viele engagierte Mitsreiter der<br />
Präsidenten tatsächlich habe. Sollte<br />
sich der Präsident jedoch seiner<br />
„Vertikale“ bedienen, um Mitglieder<br />
zwangsweise zu rekrutieren,<br />
laufe er Gefahr, einen Koloss auf<br />
tönernen Füßen zu schaffen. Denn<br />
falls der politische Druck auf Lukaschenko<br />
steigt, würde die Partei<br />
ihm keinen nötigen Rückhalt bieten.<br />
Aus diesem Grunde wohl geht<br />
der Präsident nur sehr vorsichtig<br />
mit seiner Jugendorganisation um<br />
- der <strong>Belarus</strong>sischen Republikanischen<br />
Union der Jugend (BRSM).<br />
Lukaschenko scheint sich bewusst<br />
zu sein, dass die Hunderttausenden<br />
von Mitgliedern, die mit<br />
Hilfe administrativen Drucks und<br />
Preisnachlässen für Diskotheken<br />
angeworben wurden, keine sehr<br />
verlässliche Basis für schwere<br />
Stunden sind.<br />
KONTrOLLVerLusT?<br />
Außerdem besteht die Gefahr,<br />
dass die Mitglieder einer solchen<br />
Partei eigenes politisches Engagement<br />
entwickeln, unabhängig<br />
von präsidialen Vorgaben. Längerfristig<br />
könnte die Partei so ihren<br />
Führer „absägen“. Lukaschenko<br />
weiß sehr gut, dass die heute existierenden<br />
Ideologieabteilungen im<br />
Prinzip bereits „Parteiaufgaben“<br />
erfüllen, ohne dabei Gefahr zu laufen,<br />
allzu selbstständig zu werden,<br />
weil sie direkt in die „Vertikale“<br />
eingegliedert sind. Zwar, meinen<br />
Experten, könnte eine „Partei der<br />
Macht“ entstehen, falls beispielsweise<br />
demokratisch eingestellte<br />
Parlamentsabgeordnete die Initiative<br />
dazu ergreifen. Allerdings<br />
erscheint diese Perspektive bei den<br />
passiven, staatstreuen belarussischen<br />
Abgeordneten heutzutage<br />
dermaßen unrealistisch, dass es<br />
tatsächlich keinen Sinn machen<br />
würde, eine künstliche „Partei der<br />
Macht“ zu schaffen.<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34
Mehr Waisen und weniger Kriminelle?<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34<br />
Innenpolitik<br />
(Andrej Netrebko, Minsk) Alexander Lukaaschenko hat entmündigte eltern durch ein dekret dazu gezwungen,<br />
ab 2007 die staatliche fürsorge für ihre Kinder selber zu bezahlen. Alkoholiker sollen notfalls<br />
zur Arbeit gezwungen werden. Gleichzeitig wird die schnelle entmündigung vereinfacht.<br />
„Es reicht jetzt mit der Schönrednerei<br />
und den theoretischen Überlegungen.<br />
Eltern, die ihre Kinder<br />
gegen Alkohol, Drogen und ein<br />
wildes Leben eingetauscht haben,<br />
sollten nicht nur hart, sondern brutal<br />
behandelt werden!“. Mit diesen<br />
Worten charakterisierte Alexander<br />
Lukaschenko sein neues Dekret,<br />
dass die Staatskasse schonen und<br />
„den sozialen Abstieg von Familien“<br />
verhindern soll.<br />
KINder IN GefAHr<br />
Indes hat der belarussische <strong>Bildungs</strong>minister<br />
Alexander Radkov<br />
erschreckende Zahlen vorgelegt:<br />
26.000 belarussische Kinder werden<br />
von ihren Eltern nicht ausreichend<br />
mit Nahrung und Kleidung<br />
versorgt. Der Staat gebe deshalb<br />
über 60 Mio. Euro jährlich für die<br />
Unterstützung dieser Familien<br />
aus. Somit sei das neue Dekret ein<br />
Schritt in die richtige Richtung, um<br />
unmotivierte und alkoholkranke<br />
Eltern zur Verantwortung zu ziehen<br />
und gleichzeitig das Budget zu<br />
entlasten, findet Radkov. Der Staat<br />
müsse zudem rechtzeitig die Kinder<br />
aus solchen Problemfamilien<br />
herausholen wenn nötig, erklärte<br />
der <strong>Bildungs</strong>minister.<br />
VOLLe NACHZAHLuNG<br />
Momentan wird das Dekret in<br />
der Präsidialadministration überarbeitet.<br />
Zum 1. Januar 2007 soll<br />
es in Kraft treten. Dann werden<br />
entmündigte Eltern den Unterhalt<br />
ihrer Kinder voll tragen müssen.<br />
Der Staat soll zu diesem Zweck<br />
sogar zu einem für <strong>Belarus</strong> neuen<br />
Mittel greifen: bezahlte Zwangsarbeit.<br />
Dies verkündete die stellvertretende<br />
Leiterin der Präsidialadministration,<br />
Natalja Petkewitsch,<br />
auf einer Sitzung zu Fragen des<br />
staatlichen Kinderschutzes.<br />
eNTMüNdIGuNG uNd<br />
GefäNGNIs<br />
Außerdem , erklärte die Vizechefin<br />
der Präsidialadministration,<br />
würden Entmündigungen vereinfacht<br />
werden, um Kinder aus<br />
Problemfamilien zu schützen.<br />
Nach dem Dekret könne nun die<br />
lokale Verwaltung über die Entmündigung<br />
zunächst ohne ein<br />
richterliches Urteil entscheiden.<br />
Erst nach drei Monaten müsse<br />
sich die Behörde entweder an ein<br />
Gericht wenden oder das Kind an<br />
die Familie zurückgeben. Alexander<br />
Lukaschenko bekräftigte, dass<br />
zahlungsunwillige oder -unfähige<br />
Eltern ein Strafverfahren erwarte.<br />
„Wenn sie nicht zahlen können,<br />
dann müssen wir sie - wie grob das<br />
auch klingen mag - ins Gefängnis<br />
stecken und von dort aus arbeiten<br />
schicken.“<br />
KrITIK der OPPOsITION<br />
Vertreter der belarussischen Opposition<br />
halten das Projekt für einen<br />
Fehler. Es könne niemanden vor<br />
der Verwaisung schützen, erklärte<br />
der Vorsitzende der Vereinigten<br />
Bürgerpartei, Anatolij Lebedko.<br />
Seiner Meinung nach müsse der<br />
Staat sich vielmehr darum kümmern,<br />
gute Lebens- und Arbeitsbedinungen<br />
für seine Bürger zu<br />
schaffen. Deren Fehlen bringe die<br />
Menschen dazu zu trinken und<br />
ihre Kinder in Heime abzuschieben.<br />
Die Zahl der Waisenkinder<br />
werde wohl kaum dadurch sinken,<br />
dass man ihre Eltern ins Gefängnis<br />
wirft, bemängelt Lebedko das präsidiale<br />
Dekret.<br />
„sIebeN TAGe dIe WOCHe“<br />
Lukaschenko hingegen ist überzeugt,<br />
dass die Abschreckung<br />
wirken wird. Außerdem könne<br />
der Staatshaushalt durch die<br />
Zahlungen der Eltern entlastet<br />
werden, denn es gebe in <strong>Belarus</strong><br />
genug Arbeit für verantwortungslose<br />
Eltern. „Schickt sie in<br />
die Kolchosen, auf den Bau, lasst<br />
sie schwerste Arbeit verrichten,<br />
unabhängig von ihrer Ausbildung.<br />
Sie sollen arbeiten, 24 Stunden am<br />
Tag, sieben Tage die Woche.“ Der<br />
Staat, meinte Lukaschenko, habe<br />
genug zu tragen an den Kosten für<br />
jene Waisenkinder, deren Eltern<br />
in Erfüllung ihrer bürgerlichen<br />
Pflichten starben. Er könne nicht<br />
auch noch die Kosten für jene tragen,<br />
deren Eltern kein Gefühl für<br />
Verantwortung hätten.<br />
sTAATLICHe KONTrOLLe<br />
Lukaschenko beauftragte deshalb<br />
das Innenministerium damit,<br />
dafür zu sorgen, dass die betroffenen<br />
Eltern am zugewiesenen Arbeitsplatz<br />
erschienen. „Das wird<br />
strengstens kontrolliert werden.<br />
Das Dekret muss funktionieren“,<br />
verkündete Lukaschenko. Auch<br />
das belarussische Arbeitsamt<br />
stehe in der Verantwortung: „Die<br />
Regierung muss das Amt vor konkrete<br />
Aufgaben stellen und es für<br />
deren Erfüllung verantwortlich<br />
machen, ansonsten wird es geschlossen!“,<br />
drohte der Präsident.<br />
Die Rechnung der Staatsführung<br />
muss jedoch nicht unbedingt<br />
aufgehen. Nach Meinung von<br />
Experten werde das Staatsbudget<br />
zwar einerseits durch das Dekret<br />
entlastet. Allerdings rechnen Analytiker<br />
auch mit einem Anstieg<br />
der Staatsausgaben aufgrund der<br />
neuen Gefängnisinsassen. Denn<br />
etwa zehntausend Eltern wären in<br />
<strong>Belarus</strong> ab Januar von dem Dekret<br />
betroffen und dürften sich in naher<br />
Zukunft hinter Gittern wiederfinden.<br />
Eine nicht zu unterschätzende<br />
Belastung für den Staatshaushalt.
Innenpolitik<br />
Sicherheitsrat kümmert sich um Radio<br />
(Alexander dautin, Minsk) Präsident Lukaschenko hat die Verantwortlichkeiten in der belarussischen<br />
radiolandschaft neu verteilt. Mit dem Anweisung Nr. 473 wird die Kontrolle von radiokanälen nicht<br />
mehr dem Ministerium für Kommunikation unterstehen, sondern dem sicherheitsrat.<br />
Die neue geschaffene Kommission<br />
im Sicherheitsrat der Republik<br />
<strong>Belarus</strong> hat nun das Recht, Entscheidungen<br />
der alten Kommission<br />
des Informationsministeriums<br />
rückgängig zumachen. Dies tat der<br />
Sicherheitsrat jedoch wohlweislich<br />
nicht. Bereits heute werden 98<br />
Prozent der Radiokanäle von den<br />
belarussischen Sicherheitsorganen<br />
genutzt. Verständlicherweise<br />
wollte der Sicherheitsrat den eigenen<br />
Interessenvertretern nicht<br />
Sendeplätze wegnehmen, um sie<br />
den Bürgern zur Verfügung zu<br />
stellen. Warum verlegte Präsident<br />
Lukaschenko also die Zuständigkeit<br />
für die Sendeplätze?<br />
Neue eINNAHMequeLLe<br />
Beobachter gehen davon aus,<br />
dass Lukaschenko den Sicherheitsrat<br />
mit mehr Verantwortung<br />
und mehr finanziellen Mitteln<br />
ausstatten wollte. Denn mit den<br />
Sendeplätzen verdient der belarussische<br />
Staat viel Geld. Bis vor<br />
kurzem hatte der Sicherheitsrat<br />
zwar Einfluss auf die Verteilung<br />
der Sendeplätze, bekam jedoch<br />
keinen Anteil an den Einnahmen.<br />
Deshalb unterschrieb Alexander<br />
Lukaschenko im April diesen<br />
Jahres die Anweisung Nummer<br />
240, nach der nachwirkend ab dem<br />
ersten Januar 2006 die Nutzer von<br />
Radiosendeplätzen für ihr Privileg<br />
zahlen mussten.<br />
KOMPLIZIerTes sysTeM<br />
Staatliche Einrichtungen wurden,<br />
wie so oft, verschont. Sie müssen<br />
einen symbolischen Beitrag von<br />
etwa 150 Euro im Jahr zahlen.<br />
Für private Eigentümer von Radiokanälen<br />
wurde eine jährliche<br />
Zahlung eingeführt, deren Höhe<br />
„von der Art des Radiodienstes,<br />
der Technik, des kommerziellen<br />
Erfolges und den<br />
Zielen der Nutzung abhängt,<br />
außerdem von der Weite der<br />
Radiowellen, dem erreichten<br />
Gebiet und dem Standort des<br />
Radiosendegerätes sowie der<br />
Zeit, für die das Recht einer<br />
Nutzung vorliegt.“ Die Beamten<br />
berücksichtigten praktisch<br />
alle Faktoren, die auch nur in<br />
entferntester Weise mit der<br />
Nutzung von Radiokanälen zu<br />
tun haben. Allerdings schien<br />
das noch nicht genug zu sein. Das<br />
Informationsministerium überarbeitete<br />
das Papier, so dass die<br />
Regierung im Juli eine Anweisung<br />
verabschiedete, die mehr Ähnlichkeit<br />
mit einem Universitätslehrbuch<br />
für Algebra denn mit einem<br />
Gesetz hat. Tatsächlich gelang es<br />
dem Ministerium, eine Formel<br />
für die Errechnung der Gebühr zu<br />
ersinnen. Sie enthält im Gegensatz<br />
zu dem ersten Entwurf zusätzliche<br />
Koeffizienten, die noch Sendeart<br />
und Sendeort berücksichtigen.<br />
Interessanterweise ist sogar der<br />
niedrigste Koeffizient (im Grodnoer<br />
Gebiet) höher als 1, so dass<br />
sich die Gebühr für alle privaten<br />
Sender automatisch erhöhte. Eine<br />
andere interessante Kleinigkeit ist<br />
die Abhängigkeit von der Höhe, in<br />
der die Sendestation angebracht<br />
ist.<br />
GOLdeseL MObILfuNK<br />
Für die belarussischen Mobilfunkanbieter<br />
wurde der höchste<br />
Koeffizient eingeführt. Ihre Gebühr<br />
erhöht sich automatisch um<br />
das zehnfache. Gleichzeitig fordert<br />
das Informationsministerium von<br />
den Anbietern immer bessere<br />
Netze, so dass auch belarussische<br />
Bauern in der Provinz am Mobilzeitalter<br />
teilhaben können. Bereits<br />
heute können <strong>Belarus</strong>sen in allen<br />
Kleinstädten mobil telefonieren.<br />
Kleine Siedlungen in das Sendekonzept<br />
miteinzubeziehen, lohnte<br />
sich bisher für die Anbieter nicht.<br />
Mit der Einführung der Gebühr<br />
würde es zu einem grandiosen<br />
Verlustgeschäft. Somit verdient<br />
der Staat zwar mehr an den Anbietern,<br />
verhindert gleichzeitig<br />
jedoch, dass sich der Handyempfang<br />
auf dem Land verbessert.<br />
sTAATLICHe PrIOrITäTeN<br />
Beobachter weisen vor allem<br />
darauf hin, dass der Präsident<br />
nicht zufällig eine der wichtigsten<br />
sicherheitspolitischen Strukturen<br />
des Landes mit neuen Kompetenzen<br />
und Einflussmöglichkeiten<br />
ausgestattet hat. Der Sicherheitsrat<br />
gewinnt somit an Gewicht im<br />
politischen System von <strong>Belarus</strong>,<br />
in dem zentralistische staatliche<br />
Einrichtungen untereinander um<br />
Einfluss und Finanzmittel konkurrieren.<br />
So stärkt der Präsident die<br />
Sicherheitspolitiker und entzieht<br />
der „zivilen“ Exekutive, hier dem<br />
Informationsministerium, bedeutende<br />
Ressourcen.<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34
„Manchmal verschiedene Ziele“<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34<br />
Innenpolitik<br />
(Ms) Vor den regionalwahlen haben sich vier Oppositionsparteien unter Ausschluss der „Volksfront“<br />
auf ein Wahlbündnis geeinigt. der „Volksfront“-Vorsitzende Wintschuk Wjatschorka bezeichnete die<br />
Gruppe als „Koalition der Moskautreuen“. bricht die oppositionelle Koalition entzwei?<br />
Es scheint, als sei die belarussische<br />
Opposition wieder dort angekommen,<br />
wo sie vor einem Jahr war: In<br />
traditioneller Zerstrittenheit und<br />
jahrelang gepflegter Lagermentalität.<br />
Die Partei der <strong>Belarus</strong>sischen<br />
Kommunisten, die Vereinte Bürgerpartei,<br />
die Sozialdemokratische<br />
Partei (Versammlung) sowie die<br />
illegale Partei der Arbeit einigten<br />
sich Ende August auf eine gemeinsame<br />
Strategie bei den für Januar<br />
angesetzten Regionalwahlen. Was<br />
diese eint, ist ihre Unzufriedenheit<br />
mit der <strong>Belarus</strong>sischen Volks-<br />
front (BNF) und dem Führer der<br />
Oppositionskoalition Alexander<br />
Milinkewitsch. Der BNF-Vorsitzende<br />
Wintschuk Wjatschorka<br />
warf den vier Parteien denn auch<br />
vor, sie wollten sich „von der Front<br />
getrennt positionieren und die<br />
Kräfteverteilung in der Koalition<br />
zerstören“. Der Wahlkampfleiter<br />
der Bürgerpartei Anatolij Pawlow<br />
erklärte daraufhin, es gebe in der<br />
Koalition schlichtweg unterschiedliche<br />
Einstellungen zu den Wahlen:<br />
„Während andere noch reden,<br />
handeln wir“. Oppostionsführer<br />
Milinkewitsch indessen bekannte<br />
im Interview mit der Zeitung<br />
„BelGazeta“, es gebe eine handfeste<br />
Krise in der Koalition. Dies<br />
liegt nach seiner Meinung daran,<br />
dass die Koalitionäre „teilweise<br />
unterschiedliche Ziele“ hätten.<br />
Anscheinend ist eingetreten, was<br />
Beobachter des Oppositionsbündnisses<br />
von Anfang an vermutet<br />
hatten: Ein Auseinanderdriften<br />
aufgrund chronischer inhaltlicher<br />
Inkompatibilität der Parteien und<br />
persönlicher Ambitionen, die Gift<br />
für jede Koalition sind.<br />
Oppositionelle Kommunisten vor dem Aus<br />
(MS) Die oppositionelle Partei der <strong>Belarus</strong>sischen Kommunisten (PBK) steht wohl kurz vor ihrer Auflösung<br />
durch das Justizministerium. Noch war keiner der staatlichen Versuche erfolgreich - aber die Parteiführung<br />
plant schon für die Zeit nach dem Verbot. Ihr Ziel: die schaffung eines blockes linker Parteien.<br />
Gleich mehrere staatstreue Einrichtungen<br />
nahmen sich einer der<br />
größten oppositionellen Parteien<br />
des Landes an. Zunächst hatte<br />
die regimetreue <strong>Belarus</strong>sische<br />
Kommunistische Partei (BKP)<br />
einen Parteitag zur Vereinigung<br />
der beiden Parteien initiiert. Der<br />
Versuch schlug fehl, denn die<br />
Oppositionellen blieben dem<br />
Parteitag fern. Nun ließ das belarussische<br />
Justizministerium Mitte<br />
August verlauten, die Partei habe<br />
sich bei der Registrierung ihres<br />
Minsker Büros 1999 nicht an das<br />
Gesetz „Über die Parteien“ von<br />
2005 gehalten. Ein offensichtliches<br />
Paradox, auf das auch der Sekretär<br />
der Oppositionspartei Valerij<br />
Uchnalev hinwies. „Man muss<br />
kein Jurist sein, um zu wissen, dass<br />
Gesetze nicht rückwirkend angewandt<br />
werden können“, erklärte<br />
der Politiker.<br />
Diese Unsauberkeit schien auch<br />
dem Ministerium unangenehm<br />
zu sein, so dass es bald mit einem<br />
neuen Trumpf aufwartete: Die<br />
PBK solle vollständige Listen ihrer<br />
Mitglieder vorlegen. Die Partei<br />
weigerte sich erwartungsgemäß<br />
und strengte einen Prozess gegen<br />
das Ministerium an. Parteiführer<br />
Sergej Kaljakin erklärte der<br />
Nachrichtenagentur BelaPAN,<br />
die Forderung sei gesetzeswidrig:<br />
„Im Gesetz ist davon keine Rede.<br />
Im Gegenteil, die Bürger dürfen<br />
nach belarussischem Recht nicht<br />
gezwungen werden, in offiziellen<br />
Papieren ihre Parteizugehörigkeit<br />
anzugeben“, meinte Kaljakin. Er<br />
fürchtet, dass mit Hilfe der Listen<br />
politischer Druck auf Mitglieder<br />
ausgeübt werden könne. Indessen<br />
scheint sich auch Kaljakin bewusst<br />
zu sein, dass seine Partei im Streit<br />
mit dem Staat unterliegen wird.<br />
Deshalb sieht sich der Chef der<br />
größten linken Oppositionspartei<br />
nach Mitstreitern um - und findet<br />
offene Türen. „Die Zeit ist reif,<br />
eine Union der linken Parteien zu<br />
schaffen“ erklärte Alexander Ko-<br />
sulin, Vorsitzender der <strong>Belarus</strong>sischen<br />
Sozialdemokratischen Partei<br />
und Ex-Präsidentschaftskandidat.<br />
Kosulin verbüßt gerade eine<br />
fünfeinhalbjährige Haftstrafe und<br />
ist politisch kaltgestellt. Somit ist<br />
er genauso auf Verbündete angewiesen<br />
wie die Kommunisten. Die<br />
harte Linie des Staates könnte also<br />
mittelfristig zur Konsolidierung<br />
des zersplitterten linken Flügels<br />
im Lande führen. Anscheinend<br />
spielen die Parteien das Szenario<br />
schon sehr konkret durch, denn<br />
der Pressesprecher der Kommunisten<br />
Sergej Vasnjak erklärte<br />
Ende September, seine Partei spreche<br />
sich für eine „Union der linken<br />
Kräfte aus, die neu registriert wird<br />
und legal arbeiten kann“. Wenn<br />
die Parteiführer tatsächlich ihre<br />
Ambitionen zugunsten eines solchen<br />
Bündnisses ablegen, könnte<br />
dieses durchaus Perspektive haben.<br />
Denn viele <strong>Belarus</strong>sen befürworten<br />
„linke“ Programmpunkte<br />
wie soziale Gleichheit und einen<br />
starken Staat.
Wirtschaft<br />
<strong>Belarus</strong> und EU auf Integrationskurs<br />
(stepan Antonowitsch, Minsk) Trotz politischer eiszeit sind die wirtschaftlichen beziehungen zwischen<br />
belarus und der eu so lebendig wie nie zuvor. Jetzt ist die eu zum wichtigsten Handelspartner von belarus<br />
geworden - weit vor russland. das Geheimnis des boomenden Handels zwischen Minsk und den eustaaten<br />
liegt einerseits an billigem russischen Öl - andererseits an den belarussischen bestrebungen, die<br />
eigene Industrie zu modernisieren.<br />
Im ersten Quartal diesen Jahres<br />
war die EU wichtigster Handelspartner<br />
von <strong>Belarus</strong> - über 50 Prozent<br />
des belarussischen Exportes<br />
gingen in EU-Länder. Im Vergleich<br />
zur entsprechenden Vorjahresperiode<br />
stieg der belarussische Export<br />
in die EU um beeindruckende<br />
25 Prozent an und betrug mehr<br />
als 5 Mrd. Euro. Währenddessen<br />
exportierte <strong>Belarus</strong> zum gleichen<br />
Zeitraum nur für etwas über<br />
3 Mrd. Euro Waren nach Russland.<br />
Somit ist die EU zum primären Absatzmarkt<br />
belarussischer Produkte<br />
avanciert. Und nicht nur das. Der<br />
Handel mit der EU weist aus<br />
belarussischer Sicht zudem den<br />
höchsten Überschuss auf: Allein<br />
im ersten Quartal diesen Jahres<br />
machte <strong>Belarus</strong> über 2,5 Mrd. Euro<br />
Gewinn beim Handel mit der EU.<br />
In keine andere Region der Welt<br />
exportiert <strong>Belarus</strong> heute in so großem<br />
Umfang seine Waren wie in<br />
die Europäische Union.<br />
Wichtigste Absatzmärkte von<br />
belarus Januar – Juli 2006<br />
1. Russland<br />
2. Niederlande<br />
3. Großbritannien<br />
4. Ukraine<br />
5 Polen<br />
6. Deuschland<br />
7. Schweden<br />
8. USA<br />
9. Litauen<br />
10. Lettland<br />
11. Frankreich<br />
12. Kasachstan<br />
13. China<br />
14. Italien<br />
NeGATIVe...<br />
Beispielsweise fiel die belarussische<br />
Handelsbilanz mit den Ländern<br />
Ostasiens (China, Taiwan,<br />
Korea und Japan) durchweg negativ<br />
aus - insgesamt importierte<br />
<strong>Belarus</strong> aus diesen Ländern für<br />
150 Mio. Euro mehr Waren, als es<br />
nach Ostasien ausführte. Sogar der<br />
Handel mit der Volksrepublik China,<br />
die vom belarussischen Staat<br />
als einer der wichtigsten Partner<br />
des Landes angesehen wird, weist<br />
eine negative Handelsbilanz von<br />
knapp 100 Mio. EU auf. Dies mag<br />
damit zusammenhängen, dass zu<br />
Beginn des Jahres die Ausfuhr<br />
des belarussischen Exportschlagers<br />
Kalidünger nach China zum<br />
Erliegen kam, weil sich beide<br />
Seiten nicht auf einen Verkaufspreis<br />
einigen konnten. Allerdings<br />
würde selbst eine schnelle Wiederaufnahme<br />
der Lieferungen dem<br />
belarussischen Export kein mit<br />
dem EU-Handel vergleichbares<br />
Wachstum bescheren.<br />
...uNd POsITIVe bILANZ<br />
Bislang kann <strong>Belarus</strong> in den Handelsbeziehungen<br />
zu einer Reihe<br />
anderer Staaten in der Welt punkten.<br />
Ein posititives Saldo weist beispielsweise<br />
der Handel mit Süd-<br />
und Zentralasien auf. Vor allem<br />
Indien, Pakistan, Sri Lanka und<br />
einige ehemalige sowjetische Staaten<br />
kauften für mehr als 150 Mio.<br />
Euro mehr belarussische Waren,<br />
als sie in die Republik ausführten.<br />
Bescheidener, aber dennoch positiv<br />
fällt das Plus im Außenhandel<br />
mit den südostasiatischen Ländern<br />
aus - Vietnam, Indonesien<br />
und Malaysia bescheren <strong>Belarus</strong><br />
einen Überschuss von etwas über<br />
3 Mio. Euro. Aus dem Handel mit<br />
westasiatischen Ländern - Aserbaidschan,<br />
Israel, Syrien und der<br />
Türkei - bleiben über 30 Mio. Euro<br />
in <strong>Belarus</strong>. Afrika steht mit etwa<br />
45 Mio. Euro Handelsüberschuss<br />
weiter oben auf der belarussischen<br />
Exportliste. Eher mager: der Überschuss<br />
aus dem Handel mit Nord-<br />
und Südamerika, der lediglich<br />
10 Mio. Euro beträgt. Interessanterweise<br />
führt die Länderwertung<br />
in Amerika jedoch nach Handelskriterien<br />
der polititsche Erzfeind<br />
von Alexander Lukaschenko an.<br />
Der Handel zwischen <strong>Belarus</strong> und<br />
den USA betrug im ersten Quartal<br />
2006 über 350 Mio. Euro. 230 Mio.<br />
Euro belarussicher Export in die<br />
USA stehen nur 110 Mio. Euro<br />
US-Import gegenüber.<br />
eNerGIe Aus russLANd<br />
Zweifellos kompensiert <strong>Belarus</strong><br />
mit den Exporten in die EU seine<br />
gigantische negative Handelsbilanz<br />
zu Russland, die in erster<br />
Linie den Energieimporten anzulasten<br />
ist. Im ersten Halbjahr 2006<br />
überstiegen russische Importe<br />
nach <strong>Belarus</strong> die Exporte um<br />
etwa 3,5 Mrd. Euro. Nur durch<br />
das deutliche Plus im Handel mit<br />
Europa schmolz dieser negative<br />
Handelsüberschuss auf unter<br />
1 Mrd. Euro.<br />
HANdeL MIT OsTeurOPA<br />
Auf den ersten Blick scheint es, als<br />
habe die belarussische Wirtschaft<br />
ihre Exporterfolge in erster Linie<br />
den neuen osteuropäischen EU-<br />
Mitgliedern zu verdanken. Dies<br />
entspräche auch der Logik postsowjetischerWirtschaftsbeziehungen,<br />
denn mit Polen, Tschechien<br />
und anderen ehemaligen sowjetischen<br />
„Blockstaaten“ unterhielt<br />
10 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34
<strong>Belarus</strong> noch zu RGW-Zeiten aktive<br />
Geschäftskontakte. Nach wie<br />
vor gehören viele dieser Länder<br />
zu den wichtigsten belarussischen<br />
Handelspartnern in der Welt.<br />
Polen ist beispielsweise in der<br />
Liste der international wichtigsten<br />
belarussischen Handelspartner<br />
auf Platz sechs, Litauen auf Platz<br />
zehn, Lettland an dreizehnter und<br />
Tschechien immerhin an achtzehnter<br />
Stelle. Zwischen <strong>Belarus</strong> und<br />
Polen flossen im ersten Halbjahr<br />
2006 Waren im Wert von 800 Mio.<br />
Euro (der Handelsübeschuss zu<br />
belarussischen Gunsten beträgt<br />
über 100 Mio. Euro). Nicht umsonst<br />
sprachen sich Polen, Lettland<br />
und Litauen gegen EU-Wirtschaftssanktionen<br />
gegen <strong>Belarus</strong><br />
aus (siehe Artikel S. 3). <strong>Belarus</strong><br />
kann sich grundsätzlich der wohlwollenden<br />
Hilfe dieser Länder in<br />
wirtschaftlichen Fragen der EU sicher<br />
sein - seit Jahren unterstützen<br />
sie die Republik bei der Festlegung<br />
der EU-Importquoten für belarussische<br />
Textilien.<br />
NIederLANde VOrNe<br />
Dennoch sind diese ehemaligen<br />
„Blockstaaten“ nicht der Grund<br />
für die Exporterfolge von <strong>Belarus</strong><br />
in der EU. Die wichtigsten<br />
Handelspartner von Minsk sind<br />
in Europa gerade die „alten“<br />
EU-Länder: Die Niederlande,<br />
Deutschland, Großbritannien<br />
und (nach Polen) Italien. Gleichzeitig<br />
stiegen die Niederlande in<br />
diesem Jahr nach Russland zum<br />
zweitwichtigsten Handelspartner<br />
von <strong>Belarus</strong> in der Welt auf, dicht<br />
gefolgt von Großbritannien, dem<br />
drittwichtigsten Absatzmarkt<br />
belarussischer Waren weltweit.<br />
Allein im ersten Halbjahr 2006<br />
exportierte <strong>Belarus</strong> Waren im<br />
Wert von über 2 Mrd. Euro in die<br />
Niederlande, was einem Plus im<br />
Vergleich zum Vorjahreszeitraum<br />
von fast 90 Prozent entspricht.<br />
Nach Russland exportierte <strong>Belarus</strong><br />
im gleichen Zeitraum zwar<br />
für 1,2 Mrd. Euro mehr Waren als<br />
in die EU - allerdings betrug das<br />
Wachstum hier nur 16 Prozent. Es<br />
scheint also, als liege die Zukunft<br />
des belarussischen Außenhandels<br />
in Westeuropa.<br />
bILLIGe eNerGIe<br />
Der rasante Anstieg des belarussischen<br />
Exportes nach Westeuropa<br />
lässt sich ebenso einfach erklären<br />
wie die Tatsache, dass die Niederlande<br />
Deutschland von der Spitzenposition<br />
ebenso verdrängten,<br />
wie Großbritannien und Italien:<br />
<strong>Belarus</strong> ist in den letzten Jahren<br />
zu einem der größten Exporteure<br />
von Waren der ölverarbeitenden<br />
Industrie nach Europa geworden.<br />
Dieser Erfolg ist, wie Experten seit<br />
geraumer Zeit zu Bedenken geben,<br />
vor allem den niedrigen russischen<br />
Ölpreisen für <strong>Belarus</strong> zu danken.<br />
Zudem belegt <strong>Belarus</strong> Produkte<br />
der ölverarbeitenden Industrie<br />
mit einer viermal geringeren<br />
Exportsteuer, als sein östlicher<br />
Nachbar und kann so Benzine<br />
und Schmieröle zu sehr günstigen<br />
Preisen anbieten. Allein im ersten<br />
Halbjahr 2006 exportierte <strong>Belarus</strong><br />
für über 3,5 Mrd. Euro Produkte<br />
der ölverarbeitenden Industrie.<br />
Hauptabnehmer sind die Niederlande<br />
und Großbritannien. Was<br />
die traditionellen belarussischen<br />
Wirtschaft<br />
Handelspartner in Europa angeht<br />
- Deutschland und Italien - so lässt<br />
sich auch hier ein Anstieg der<br />
Handelsaktivitäten beobachten.<br />
Das Handelsvolumen mit Deuschland<br />
wuchs im ersten Halbjahr um<br />
knapp 40 Prozent an, mit Italien<br />
waren es knapp 20 Prozent. Allerdings<br />
übertrifft in den Handelsbeziehungen<br />
zwischen <strong>Belarus</strong> und<br />
den beiden Ländern der Import<br />
den Export, so dass das negative<br />
Handelssaldo aus belarussischer<br />
Sicht im deutschen Fall etwa 250<br />
Mio. Euro beträgt, im italienischen<br />
etwa 100 Mio.<br />
ÖL GeGeN MAsCHINeN<br />
<strong>Belarus</strong> importiert mehr aus<br />
Deutschland und Italien, als es<br />
exportiert, weil die beiden Länder<br />
die wichtigsten Lieferanten<br />
für technische Ausrüstung zur<br />
Modernisierung der veralteten<br />
belarussischen Industrieanlagen<br />
sind. <strong>Belarus</strong> konzentriert sich im<br />
letzten Jahr auf diesen Bereich,<br />
um beim Produktionsniveau im<br />
europäischen Vergleich nicht zurückzufallen.<br />
Im Ergebnis der ersten<br />
neun Monate des Jahres 2006<br />
investierten belarussische Betriebe<br />
30 Prozent mehr in ihre technische<br />
Ausrüstung als im Vorjahr. Hauptfinancier<br />
dieser Großeinkäufe<br />
ist der belarussische Staat - der<br />
das Geld seinerseits durch den<br />
Handelsüberschuss mit der EU<br />
erwirtschaftet. Es ergibt sich also<br />
folgendes Schema: <strong>Belarus</strong> nutzt<br />
billiges russisches Öl zur Produktion<br />
konkurrenzfähiger Ölprodukte<br />
und investiert die entsprechenden<br />
Gewinne aus deren Verkauf in die<br />
Modernisierung seiner Industrie.<br />
Wichtigste Handelspartner von belarus in der eu Januar – Juli 2006 (Angaben gerundet in Euro)<br />
Land Handelsvolumen Export Import Saldo Anteil am Handelsvolumen<br />
Niederlande 2000000 1900000 90700 1800000 10,40%<br />
Deutschland 1077000 403000 666300 -260000 5,60%<br />
Großbritannien 819000 738000 80800 657000 4,30%<br />
Polen 816000 473000 343000 130000 4,20%<br />
Italien 295000 89200 205000 -116000 1,50%<br />
Litauen 280000 194000 86000 107000 1,50%<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34 11
Wirtschaft<br />
Brücken bauen und Öl fördern<br />
(Andrej Alexandrowitsch, Minsk) belarus unterhält seit längerem gute beziehungen zu weitgehend isolierten<br />
staaten. Venezuela und Iran stehen seit neuestem weit oben auf der Prioritätenliste. doch bringen<br />
diese beziehungen auch den gewünschten Vorteil und die entlastung von russischen energieträgern?<br />
Als eine belarussische Delegation<br />
im September in der venezuelischen<br />
Hauptstadt Caracas eintraf,<br />
hatten die Vertreter von ihrem<br />
Präsidenten einen klaren Auftrag<br />
bekommen: Sie sollten ein belarussisch-venezuelisches<br />
Joint Venture<br />
zur Ölgewinnung und -verarbeitung<br />
schaffen. Weniger konkret<br />
war der kurz darauf folgende<br />
Besuch des iranischen Außenministers<br />
Manutschehr Mottaki in<br />
Minsk. Er kam vor allem, um sich<br />
der Freundschaft von <strong>Belarus</strong> zu<br />
versichern. Präsident Lukaschenko<br />
erklärte beim Treffen mit Mottaki,<br />
er sei an einer Intensivierung<br />
der Beziehungen interessiert. Bis<br />
vor einem Jahr noch hatte <strong>Belarus</strong><br />
intensive Beziehungen zum iranischen<br />
Erzfeind Irak gepflegt.<br />
sTANdOrT VeNeZueLA<br />
Die belarussische Führung will es<br />
im Bereich der wirtschaftlichen<br />
Zusammenarbeit mit Venezuela<br />
jedoch nicht bei der Ölförderung<br />
und -verarbeitung belassen.<br />
Minsk hofft, mehr Kalidünger<br />
nach Venezuela zu exportieren<br />
und aus Caracas Phosphordünger<br />
einzuführen. Zudem will die Regierung<br />
Venezuela als ständigen<br />
Lieferanten von Phosphaten und<br />
Apatiten gewinnen - Rohstoffe, die<br />
das Gomeler Chemiewerk benötigt.<br />
Minsk plant weiterhin, nach<br />
Südamerika Industrieprodukte<br />
und Agrartechnik zu liefern. Ein<br />
solch umfassender Wunschzettel<br />
mutet seltsam an, wenn man sich<br />
verdeutlicht, dass das Handelsvolumen<br />
zwischen beiden Ländern<br />
im vergangenen Jahr lediglich 13<br />
Mio. Euro betrug. Der plötzliche<br />
Aktionismus auf beiden Seiten war<br />
politisch motiviert: Er resultierte<br />
aus dem Treffen zwischen Hugo<br />
Chavez und Alexander Luka-<br />
schenko im Juli diesen Jahres, bei<br />
dem beide Präsidenten ein großes<br />
Interesse an engerer Zusammenarbeit<br />
bekundet hatten.<br />
„ALTerNATIVe“ eNerGIe?<br />
Seither setzt <strong>Belarus</strong> sehr viel<br />
auf die venezuelische Karte. Die<br />
Erwartungen sind, wie der Aufgabenkatalog<br />
der Minsker Delegation<br />
im September zeigte, hoch.<br />
Vielleicht zu hoch, wenn man<br />
berücksichtigt, dass belarussische<br />
Staatsbetriebe keinerlei Erfahrungen<br />
mit dem venezuelischen<br />
Investitionsklima haben. Andererseits:<br />
Die Auswahl an Ländern, die<br />
sich nicht nur wirtschaftlich, sondern<br />
auch politisch als verlässliche<br />
Partner für das heutige <strong>Belarus</strong><br />
erweisen könnten, ist wahrhaftig<br />
nicht groß. Selbst der „große Bruder“<br />
Russland droht immer öfter<br />
Erhöhungen der Energiepreise<br />
an, die sich <strong>Belarus</strong> nicht leisten<br />
kann. Deshalb muss sich Minsk<br />
nach neuen Energielieferanten<br />
umsehen. Hugo Chavez‘ Venezuela<br />
bietet sich an, denn es ähnelt<br />
in Staatsverständnis und Antiamerikanismus<br />
dem <strong>Belarus</strong> Lukaschenkos.<br />
Allerdings ist auch das<br />
venezuelische Investitionsklima<br />
teilweise mit dem belarussischen<br />
vergleichbar - vor allem, was die<br />
Unberechenbarkeit des Staates angeht.<br />
Erst vor kurzem verkündete<br />
der Präsident der Finanzkomission<br />
des venezuelischen Parlamentes,<br />
Rodrigo Kabesas, dass Venezuela<br />
vier Ölquellen privatisieren könne.<br />
Kabesas unterstrich, dass es für<br />
den Staat eine „Erniedrigung“ sei,<br />
bei den Ölförderungsprojekten<br />
lediglich einen Minoritätsanteil zu<br />
halten. <strong>Belarus</strong> drängt ungeachtet<br />
dessen mit verstärkter Kraft auf<br />
den venezuelischen Markt. Ein<br />
riskantes Unterfangen - wer weiß,<br />
wie lange Chavez seine Nationalisierer<br />
unter Kontrolle hat.<br />
sTANdOrT IrAN<br />
Eine ähnliche Situation ergibt sich<br />
in den Beziehungen zum Iran. Je<br />
dichter sich über dem islamischen<br />
Land die Wolken eines Embargos<br />
zusammenziehen, desto intensiver<br />
gestaltet es seine Wirtschaftsbeziehungen<br />
zu <strong>Belarus</strong>. Heute gibt es<br />
im Iran bereits einen Standort für<br />
den Zusammenbau von Teilen des<br />
belarussischen LKWs „MAZ“, ein<br />
ähnliches Projekt für den Traktor<br />
„<strong>Belarus</strong>“ ist in Arbeit. <strong>Belarus</strong> versucht<br />
außerdem verstärkt, sich auf<br />
dem Markt für Ölprodukte und<br />
Baumaterialien im Iran zu etablieren.<br />
Im Gegenzug eröffnete Iran<br />
vor kurzem ein Werk für seinen<br />
Kleinwagen „Samand“ bei Minsk.<br />
Die Aktivität darf nicht über die<br />
offensichtlichen Gefahren hinwegtäuschen:<br />
Falls im Zusammenhang<br />
mit dem iranischen Atomprogramm<br />
tatsächlich ein Embargo<br />
gegen den Iran verhängt werden<br />
sollte, wären, wie im Fall Irak, alle<br />
außenpolitischen Anstrengungen<br />
der <strong>Belarus</strong>sen umsonst gewesen.<br />
Venezuela und Iran haben als<br />
Standorte ihre Tücken - Investitionen<br />
sind aufgrund politischer Unwägsamkeiten<br />
immer mit einem<br />
Risiko verbunden. Gleichzeitig hat<br />
jedoch die belarussische Führung<br />
gute Kontakte zu jenen, die über<br />
Geld in beiden Ländern entscheiden:<br />
den Präsidenten. Das zeigten<br />
auch die Ergebnisse des Besuches<br />
der belarussischen Delegation<br />
in Caracas: Sie unterzeichneten<br />
Papiere zur Schaffung des von<br />
<strong>Belarus</strong> ersehnten Joint Ventures<br />
zur Förderung und Verarbeitung<br />
von Öl in einem Fördergebiet, das<br />
Präsident Chavez als „das größte<br />
der Welt“ bezeichnete.<br />
1 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34
Weltbank kritisiert Standort <strong>Belarus</strong><br />
Wirtschaft<br />
(elena rakova, Minsk) die Weltbank analysiert jährlich die bedingungen für privates business in der ganzen<br />
Welt und erstellt ein rating von 175 Ländern. belarus nimmt den 129sten Platz ein. Warum schneidet<br />
das Land regelmäßig dermaßen schlecht in der bewertung ab, und woran liegt es, dass sich seine Position<br />
dieses Mal sogar um fünf Plätze verschlechtert hat?<br />
Während die postsowjetischen<br />
Nachbarländer Ukraine und Russland<br />
sich in dem Rating um vier<br />
bzw. einen Platz nach oben verbessern,<br />
bleiben die Bedingungen<br />
für privates Business in <strong>Belarus</strong><br />
schlecht. Zwar verbesserte sich<br />
das Land im Bereich von vier Kriterien<br />
der WB (siehe Tabelle). Eine<br />
Firma zu eröffnen, zu lizensieren<br />
und zu schließen ist demnach in<br />
<strong>Belarus</strong> leichter geworden, ebenso<br />
das Anstellen neuer Arbeitskräfte.<br />
Dennoch wurde es schwerer für<br />
private Geschäftsleute, ihr Eigentum<br />
zu deklarieren. Auch die<br />
Einbindung von <strong>Belarus</strong> in den<br />
Welthandel ist nach Meinung der<br />
Experten der WB noch schlechter<br />
geworden. Zudem werden die<br />
Interessen von Investoren unzureichend<br />
geschützt. Das größte<br />
Problem des Standortes <strong>Belarus</strong>,<br />
meint die Weltbank, ist die Verfügbarkeit<br />
von Krediten. Hier stürzte<br />
das Land förmlich ab: Vom 76-ten<br />
Platz 2005 auf den 117-ten für das<br />
laufende Jahr. Das entspricht einer<br />
Abstufung um 41 Plätze.<br />
eWIGe PrObLeMe<br />
Besonders häufig klagen Geschäftsleute<br />
in <strong>Belarus</strong> über das<br />
komplizierte Steuersystem und die<br />
hohen Steuersätze - 38 Steuer- und<br />
Abgabenformen, für die jeweils<br />
monatlich Rechenschaft abgelegt<br />
werden muss, bedeuten einen<br />
großen bürokratischen Aufwand<br />
für kleine Firmen und Ein-Mann-<br />
Betriebe. Dazu kommt, dass der<br />
Staat die Zahlungsbedingungen<br />
für Mehrwertsteuer, Gewinnsteuer<br />
und Zölle ständig verändert.<br />
Das treibt die Verwaltungskosten<br />
nach oben, weil kleine und mittlere<br />
Unternehmen immer höher qualifizierte<br />
Buchhalter und Juristen<br />
einstellen müssen. Außerdem werden<br />
Geschäfte dadurch riskanter<br />
- hohe Strafen und häufige Kontrollen<br />
der Steuerorgane haben<br />
nicht selten Existenzen zerstört,<br />
fast immer führen sie zu Bestechung.<br />
Kein Wunder also, dass das<br />
belarussische Finanzministerium<br />
Ende Oktober feststellte, dass<br />
zwei Drittel der Unternehmen die<br />
Steuergesetzgebung verletzen.<br />
Viele Unternehmer sind der Meinung,<br />
dass eine formal korrekte<br />
Geschäftstätigkeit unter den gegebenen<br />
Bedingungen gar nicht<br />
möglich ist: Massen von Zertifikaten,<br />
behördlichen Genehmigungen<br />
und vielen anderen Papieren<br />
erschweren die Geschäftstätigkeit<br />
zusätzlich.<br />
Veränderung der bedingungen für Geschäftstätigkeit in belarus<br />
Bereich Platz 2005 Platz 2006 Veränderung<br />
Eröffnung einer Firma 153 148 +5<br />
Lizensierung 88 84 +4<br />
Einstellungen 36 31 +5<br />
Eigentumsregistration 91 96 -5<br />
Kreditvergabe 76 117 -41<br />
Schutz von Investoren 141 142 -1<br />
Steuerzahlungen 175 175 0<br />
Internationaler Handel 106 113 -7<br />
Umsetzung von Verträgen 36 36 0<br />
Schließen einer Firma 97 91 +6<br />
Gesamtrating 124 129 -5<br />
PreIse uNd KredITe<br />
Nach wie vor nimmt der belarussische<br />
Staat starken Einfluss auf<br />
die Preisentwicklung in <strong>Belarus</strong>: er<br />
reguliert die Höhe der Preise, bestimmt<br />
die Zusammensetzung der<br />
Ausgaben von Unternehmen und<br />
deren Rentabilität. Kredite bleiben<br />
das Sorgenkind belarussischer Geschäftsleute.<br />
Denn sie sind teuer,<br />
die Banken fordern übermäßig<br />
hohe Sicherheiten und Garantien<br />
von anderen Firmen.<br />
KAuM uNTersTüTZuNG<br />
Staatliche Unterstützung für die<br />
Privatwirtschaft erweist sich somit<br />
oft als Lippenbekenntnis.<br />
Gleichzeitig hat der Ministerrat<br />
Mitte August einen Maßnahmenkatalog<br />
für kleine und mittlere<br />
Unternehmen verabschiedet, der<br />
im Zeitrahmen 2006-2010 greifen<br />
soll. Ziel ist, den Anteil der Privatwirtschaft<br />
an der belarussischen<br />
Volkswirtschaft zu erhöhen, was<br />
Teil des Regierungsprogramms für<br />
die sozialwirtschaftliche Entwicklung<br />
des Landes für die nächsten<br />
vier Jahre ist. Demnach soll der<br />
Anteil kleiner und mittlerer Unternehmen<br />
am BSP von derzeit<br />
etwa 20 auf 30 Prozent ansteigen.<br />
Die Anzahl der Unternehmen<br />
legten die staatlichen Planer auf<br />
zwischen 44 und 46 Tausend fest,<br />
was bedeuten würde, dass in etwa<br />
zehntausend neue Unternehmen<br />
entstehen müssten. Um dieses<br />
Ziel allerdings nicht nur formal<br />
(durch statistische Fälschung),<br />
sondern auch real zu erreichen,<br />
muss der Staat unbedingt seine<br />
Regulierungsschrauben lockern<br />
und die Kreditvergabe für kleinere<br />
und mittlere Unternehmen<br />
erleichtern.<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34 1
NGOs & Gesellschaft<br />
IBB Minsk wird zu Johannes-Rau-Haus<br />
(edith spielhagen, Minsk) seit dem 1. 9. 2006 trägt die Internationale bildungs- und begegnungsstätte in<br />
Minsk einen neuen Namen. In einem festakt wurde sie in Ibb „Johannes rau“ Minsk umbenannt.<br />
zu. Für die<br />
IBB Minsk<br />
i s t d i e s<br />
eine große<br />
Ehre und<br />
Verpflichtung,<br />
sich<br />
weiterhin<br />
für Versöhnung<br />
und<br />
Verständigungzwischen<strong>Belarus</strong>sen<br />
und<br />
Deutschen<br />
im gemeinsamen<br />
Haus Europa einzusetzen.<br />
W. Skworzow, M. Stolpe, A. Rau, C. Rau, S. Martynow, M. Hecker,<br />
H. Schnoor beim Festakt in Minsk (v.l.)<br />
Etwa 250 Personen versammelten<br />
sich am Tag des Friedens in der<br />
IBB Minsk, um der feierlichen Umbenennung<br />
beizuwohnen. Zu den<br />
Gästen gehörten die Witwe des<br />
Altbundespräsidenten Christina<br />
Rau und Tochter Anna, Staatsminister<br />
a. D. Herbert Schnoor,<br />
Außenminister Sergej Martynow,<br />
Minister a. D. Manfred Stolpe,<br />
Metropolit Filaret, der Vorsitzende<br />
der Jüdischen Gemeinde in <strong>Belarus</strong><br />
Leonid Lewin und Botschafter<br />
Dr. Martin Hecker sowie weitere<br />
hochrangige Persönlichkeiten. Aus<br />
Deutschland waren eigens zu diesem<br />
Ereignis neben Vertretern des<br />
Bundestages und des Landtages<br />
von NRW fast fünfzig Vertreter<br />
von zivilgesellschaftlichen Kooperationsprojekten<br />
mit <strong>Belarus</strong><br />
angereist.<br />
beLArussIsCHe Idee<br />
Der stellvertretende belarussische<br />
Außenminister hatte die<br />
Umbenennung auf der Minsker<br />
Trauerfeier für den Altbundespräsidenten<br />
angeregt. Nach einer Anfrage<br />
der Teilhaber der IBB Minsk<br />
und nachdem sie sich überzeugt<br />
hatte, dass die IBB Beispielhaftes<br />
zur Umsetzung der Lebensziele<br />
ihres Mannes leistet, stimmte<br />
Christina Rau der Namensgebung<br />
GeMeINsAMe ZIeLe<br />
Während der Festveranstaltung<br />
zeigten alle Redner auf, wie sehr<br />
das politische Vermächtnis von<br />
Johannes Rau mit den Aufgaben<br />
der IBB Minsk übereinstimmt.<br />
Der belarussische Außenminister<br />
Sergej Martynow war überzeugt,<br />
dass die IBB Minsk auch weiter<br />
eine Schlüsselrolle bei den belarussisch-deutschen<br />
Beziehungen<br />
spielen werde. Der deutsche Botschafter<br />
Martin Hecker erinnerte<br />
an Raus Devise „Versöhnen statt<br />
Spalten“ und an den Auftrag der<br />
IBB: „Es gilt, das Gemeinsame zu<br />
suchen und nicht nur das Trennende<br />
zu betonen.“<br />
OrTe des GedeNKeNs<br />
Im Rahmen des Programms besuchten<br />
die Gäste die Geschichtswerkstatt,<br />
belarussisch-deutsche<br />
Partnerschaftsprojekte und Gedenkorte<br />
an die Verbrechen des<br />
Zweiten Weltkrieges. Neben Chatyn,<br />
der Gedenkstätte für die vernichteten<br />
belarussischen Dörfer,<br />
war auch Krasnyj Bereg im Bezirk<br />
Slobin, wo gerade ein neues<br />
Mahnmal für ermordete Kinder<br />
entsteht, ein wichtiges Besuchsziel<br />
der deutschen Gäste. Auf dem<br />
Gelände des ehemaligen Minsker<br />
Ghettos und in der 2003 von der<br />
IBB und dem Verband jüdischer<br />
Gemeinden eröffneten Geschichtswerkstatt<br />
führten sie Gespräche<br />
mit Zeitzeugen.<br />
sOZIALe uNd<br />
ÖKOLOGIsCHe PrOJeKTe<br />
Der Besuch der Kinderklinik<br />
Nr. 1 war ein weiteres zentrales<br />
Ereignis der Veranstaltung. Ihre<br />
Entwicklung zu einem leistungsfähigen<br />
chirurgischen Zentrum ist<br />
insbesondere dem Minister a. D.<br />
Schnoor und seiner verstorbenen<br />
Frau zu verdanken, aber auch der<br />
finanziellen Unterstützung des<br />
Landes NRW unter Johannes Rau.<br />
Weitere Projektbesuche galten den<br />
Lehmhäusern für Tschernobyl-<br />
Umsiedler in Lepel, dem Rehabilitations-<br />
und Erholungszentrum<br />
für Tschernobylkinder Nadeshda,<br />
den Behindertenwerkstätten in<br />
der Gemeinde „Aller Trauernder<br />
Freude“, dem Diakonie-Zentrum<br />
in Tarassowo, dem Krisenzentrum<br />
für Frauen in Malinowka sowie<br />
der Sacharow-Universität.<br />
rAT für dIe ZuKuNfT<br />
In einem abschließenden Working<br />
Dinner gaben Weggefährten von<br />
Johannes Rau der IBB Minsk aus<br />
ihrer Sicht wichtige Ratschläge<br />
für die Zukunft. Dabei wurde<br />
nicht nur deutlich, dass die IBB<br />
sich bereits auf dem richtigen Weg<br />
befindet, den Herbert Schnoor mit<br />
einem „Weiter so!“ bekräftigte,<br />
sondern dass es gilt, mit neuen<br />
Elementen die <strong>Bildungs</strong>arbeit<br />
weiter zu qualifizieren, um dem<br />
Anspruch einer aktiven Brücke<br />
zwischen Ost und West weiter<br />
gerecht zu werden. Dazu sollen<br />
künftig auch Johannes-Rau-Abende<br />
angeboten werden.<br />
1 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34
Deutsche Woche 2006<br />
NGOs & Gesellschaft<br />
(Irina Narkewitsch, Minsk) Vom 29. 9. bis zum 8. 10. fand in Minsk zum vierten Mal die deutsche Woche<br />
statt. Hunderte kamen zu Lesungen, Vorführungen und seminaren rund um deutschland. besucher und<br />
Organisationen hatten dabei auch Gelegenheit, neue Kontakte zu knüpfen.<br />
Dank der Bemühungen der Organisatoren<br />
ist die Deutsche Woche<br />
zum wichtigsten Treffen deutscher<br />
und belarussischer Kulturmittlern<br />
in <strong>Belarus</strong> geworden. Mehr als<br />
ein Dutzend Veranstaltungen in<br />
Minsk und anderen Städten zeigten<br />
von neuem, dass zwischen beiden<br />
Ländern ein reger Austausch<br />
und großes Interesse besteht.<br />
rANG uNd NAMeN<br />
Die wichtigsten deutschen Organisationen<br />
in Minsk hatten die Deutsche<br />
Woche gemeinsam mit ihren<br />
belarussischen Partnern sorgfälltig<br />
vorbereitet: Der Deutsche<br />
Akademische Austausch-Dienst<br />
(DAAD), das Goethe-Institut (GI),<br />
das Institut für Deutschlandstudien<br />
(IfD) und die Internationale<br />
<strong>Bildungs</strong>- und Begegnungsstätte<br />
(IBB). Auch dieses Jahr stand die<br />
Deutsche Woche wieder unter der<br />
Schirmherrschaft der Deutschen<br />
Botschaft in Minsk. Gastgeberin<br />
der Eröffnung war die Minsker<br />
Staatliche Linguistische Universität,<br />
deren Chor für den Rahmen<br />
bei der Feier sorgte. Auf dem<br />
Programm standen zudem landeskundliche<br />
Seminare zum Tag<br />
der Deutschen Einheit, vorbereitet<br />
von IfD, DAAD und Lektoren<br />
der Robert-Bosch-Stiftung, sowie<br />
kreative Workshops mit einem<br />
Deutschlandquiz, das Mitarbeiter<br />
des DAAD organisiert hatten.<br />
OffeNe TüreN<br />
Botschafter Dr. Martin Hecker lud<br />
anlässlich des Tages der Deutschen<br />
Einheit in die Staatliche<br />
Philharmonie ein. Seine Gäste<br />
konnten nicht nur die kulinarischen<br />
Exklusivitäten des Abends,<br />
sondern auch einige musikalische<br />
Leckerbissen genießen, die das<br />
„Minsk Orchestra“ unter der<br />
Leitung des Deutschen Wilhelm<br />
Keitel präsentierte. Sowohl das<br />
Goethe-Institut als auch Institut<br />
für Deutschlandstudien veranstalteten<br />
zum Abschluss der großen<br />
Reihe einen Tag der offenen Tür.<br />
„HÖrbuCH“<br />
Neue Kulturprojekte standen<br />
zudem im Mittelpunkt des Programmes:<br />
Im „Literarischen Café“,<br />
einem Gemeinschaftsprojekt des<br />
Instituts für Deutschlandstudien<br />
und des Goethe-Instituts, las Jens<br />
Sparschuh aus seinem Roman<br />
„Der Zimmerspringbrunnen“.<br />
Das Interesse war groß, so dass<br />
sich die Organisatoren in ihren<br />
Plänen bestätigt sahen, weitere<br />
Treffen zu organisieren, die zu<br />
einer Plattform für einen regen<br />
Meinungsaustausch über moderne<br />
deutsche und belarussische Literatur<br />
werden sollen.<br />
LIebesGesCHICHTe<br />
Das IfD präsentierte außerdem<br />
zum ersten Mal die Seminarreihe<br />
„IfD-Filmstudio“ und stellte dem<br />
Publikum den Film „Franz + Polina“<br />
vor. Die Regisseurin Natalia<br />
Adamowitsch erzählte über die<br />
Entstehung dieses Films und antwortete<br />
auf die Fragen begeisterter<br />
Zuschauer, die von der traurigen<br />
Liebesgeschichte eines deutschen<br />
Soldaten und eines belarussischen<br />
Mädchens während des Zweiten<br />
Weltkrieges zutiefst gerührt waren.<br />
Das IfD-Filmstudio plant,<br />
jeden Monat bedeutende Filme mit<br />
Deutschlandbezug vorzuführen,<br />
die Gelegenheit zur Diskussion<br />
geben.<br />
NOrdrHeIN-WesTfäLIsCH<br />
Traditionsgemäß präsentierte<br />
sich im Rahmen der Deutschen<br />
Woche eines der Bundesländer.<br />
Das bevölkerungsreichste Land<br />
Nordrhein-Westfalen wurde in<br />
vier Vorträgen vorgestellt: Über<br />
die politische und wirtschaftliche<br />
Lage berichtete Niels Jansen, Praktikant<br />
am IfD. Den berühmtesten<br />
Landesvater und Altbundespräsidenten<br />
Johannes Rau, sein Leben<br />
und Schaffen, stellte Astrid Sahm<br />
vor, die Direktorin der IBB. Nadine<br />
Becker, Praktikantin am TACIS-<br />
Büro in Minsk, präsentierte Essen,<br />
die europäische Kulturhauptstadt<br />
2010. Der österreichische Koch des<br />
Restaurants „Westfalia“ an der<br />
IBB, Richard Gschwandtl, übertraf<br />
an diesem Tag mit seiner Auswahl<br />
an Gerichten der wesfälischen Küche<br />
alle Erwartungen der Gäste<br />
deuTsCH uNd eurOPäIsCH<br />
Eine ganze Reihe von Veranstaltungen<br />
säumte das Kernprogramm<br />
dieses Jahr: die Eröffnung<br />
der Deutschen Ecke im Minsker<br />
Botanischen Garten, Lesungen<br />
deutscher Autoren in den Bibliotheken<br />
von Brest, Molodetschno<br />
und Vitebsk, der Tag der Konrad-<br />
Adenauer-Stiftung an der IBB. Zudem<br />
fand im Museum für moderne<br />
bildende Kunst die Ausstellung<br />
„Haltestelle Europa“ statt sowie<br />
anlässlich des 250. Geburtstages<br />
von W. A. Mozart ein Konzert in<br />
der Philharmonie. Die Besucher<br />
konnten sich auf den vielen Veranstaltungen<br />
davon überzeugen,<br />
dass deutsche und belarussische<br />
Organisationen aktiv kooperieren<br />
und eine große Kreativität an den<br />
Tag legen. Die Deutsche Woche<br />
2006 machte Lust auf das nächste<br />
Großereignis - das Deutsche<br />
Kulturjahr 2007. <strong>Belarus</strong>sen und<br />
Deutsche freuen sich auf lebendige<br />
Kulturveranstalungen und neue<br />
interessante Treffen, die uns im<br />
kommenden Jahr erwarten.<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34 1
Chronologie<br />
Chronologie vom 17.07. bis zum 15.10.2006<br />
17. bis 23. Juli<br />
Fast 30 % der belarussischen Industrie<br />
haben in den ersten fünf<br />
Monaten des Jahres rote Zahlen<br />
geschrieben, erklärt das belarussische<br />
Wirtschaftsministerium.<br />
Die EU-Kommissarin für Außenpolitik<br />
Benita Ferrero-Waldner<br />
kritisiert die Verurteilung des Oppositionellen<br />
Alexander Kosulin<br />
zu fünf Jahren Gefängnis.<br />
Bundesaußenminister Frank-<br />
Walter Steinmeier fordert <strong>Belarus</strong><br />
auf, alle politischen Gefangenen<br />
freizulassen.<br />
Der belarussische Verteidigungsminister<br />
Leonid Malzew erörtert<br />
in Havanna Möglichkeiten einer<br />
engeren militärischen Zusammenarbeit<br />
mit Kuba.<br />
Der Fonds des russischen Nobelpreisträgers<br />
Schorez Alferow<br />
vereinbart eine Zusammenarbeit<br />
mit dem belarussischen Technologiepark<br />
im Bereich der Mikroelektronik.<br />
Der venezuelische Präsident Hugo<br />
Chavez führt in Minsk Gespräche<br />
mit Alexander Lukaschenko.<br />
24. bis 30. Juli<br />
Die belarussische Polizei durchsucht<br />
die Wohnung eines lettischen<br />
Diplomaten wegen des<br />
Verdachts auf Produktion von<br />
Pornografie.<br />
Eine Delegation des belarussichen<br />
Parlamentes besucht Indien.<br />
<strong>Belarus</strong> und China einigen sich<br />
nach Unstimmigkeiten auf einen<br />
Preis für Kalidünger. Bis Ende<br />
2006 sollen 1,7 Mio. Tonnen exportiert<br />
werden.<br />
Präsident Lukaschenko verkündet,<br />
er werde die Holz verarbeitende<br />
Industrie nationalisieren.<br />
Der belarussische Vizepremier<br />
Wladimir Semaschko erklärt, <strong>Belarus</strong><br />
müsse mehr nach Amerika und<br />
Afrika exportieren.<br />
31. Juli bis 6. August<br />
Alexander Lukaschenko erklärt,<br />
<strong>Belarus</strong> stünde unter westlichem<br />
Druck wegen seiner gestiegenen<br />
geopolitischen Bedeutung.<br />
Das belarussische Justizministerium<br />
fordert die oppositionelle Partei<br />
der <strong>Belarus</strong>sischen Kommunisten<br />
(PBK) auf, ihre Mitgliederlisten<br />
zu übergeben. Die PBK lehnt dies<br />
als gesetzeswidrig ab.<br />
Der lettische Außenminister Artis<br />
Pabriks beruft seine Botschafterin<br />
aus <strong>Belarus</strong> wegen des Skandals<br />
um angebliche Pornofilme eines<br />
lettischen Diplomaten ab.<br />
Ein Minsker Gericht verurteilt vier<br />
Mitarbeiter der NGO „Partnerschaft“<br />
zu Gefängnisstrafen. Die<br />
USA drohen <strong>Belarus</strong> deswegen<br />
mit Einreiseverboten für die Verantwortlichen<br />
des Urteils.<br />
Alexander Lukaschenko beruft<br />
die belarussischen Botschafter aus<br />
Russland, Großbritannien und<br />
Kasachstan ab.<br />
7. bis 13. August<br />
Die belarussische Lebensmittelindustrie<br />
müsse innerhalb von zwei<br />
Jahren modernisiert werden, fordert<br />
Präsident Lukaschenko.<br />
Sergej Karganow, Leiter des Russischen<br />
Rates für Außen- und<br />
Sicherheitspolitik, sagt in einem<br />
Interview, <strong>Belarus</strong> werde „immer<br />
instabiler und unvorhersehbarer“<br />
für Russland.<br />
Alexander Lukaschenko fordert,<br />
dass der „Vertrag über die kollektive<br />
Sicherheit“ von GUS-Ländern<br />
zu einem selbstständigen Subjekt<br />
der internationalen Beziehungen<br />
werden solle.<br />
Der iranische Industrieminister<br />
Tachmasebi erklärt in Minsk, sein<br />
Land wolle enger wirtschaftlich<br />
mit <strong>Belarus</strong> zusammenarbeiten.<br />
Das russische Energieministerium<br />
geht davon aus, dass <strong>Belarus</strong> 2007<br />
maximal 95 Dollar für Gas zahlt<br />
- nur halb so viel, wie „Gasprom“<br />
gefordert hatte.<br />
14. bis 20. August<br />
Die belarussische Regierung beschließt<br />
eine Stärkung kleinerer<br />
und mittlerer Unternehmen.<br />
Das belarussische Unterhaus erarbeitet<br />
eine Gesetzesvorlage zum<br />
Verbot der Werbung für Alkohol<br />
und Tabak in <strong>Belarus</strong>.<br />
Die Mitgliedsstaaten der Eurasischen<br />
Wirtschaftsgemeinschaft<br />
treffen sich informell in Sotschi.<br />
EU und USA erklären sich besorgt<br />
über die Menschenrechtssituation<br />
in <strong>Belarus</strong>.<br />
Mehrere Mitglieder der „Union<br />
der Polen in <strong>Belarus</strong>“ werden festgenommen.<br />
Das polnische Außenministerium<br />
ruft Minsk dazu auf,<br />
die „Verfolgung“ einzustellen.<br />
<strong>Belarus</strong>sische Experten gehen<br />
davon aus, dass der belarussische<br />
Wald in 40 Jahren um 10 %<br />
zunehmen wird. Grund sei die<br />
Erwärmung des Klimas.<br />
21. bis 27. August<br />
Die oppositionellen Vereinten Demokratischen<br />
Kräfte verabschieden<br />
einen geheimen Aktionsplan<br />
für das laufende Jahr.<br />
In Kasachstan finden große Manöver<br />
des GUS-Militärbündnisses<br />
„Vertrag über die kollektive<br />
Sicherheit“ statt.<br />
Die Bevollmächtigte der Ukraine<br />
in <strong>Belarus</strong>, Oxana Kizun, erklärt,<br />
ihr Land wolle weiter einen konstruktiven<br />
Dialog mit Minsk.<br />
Das belarussische Automobilwerk<br />
MAS will dieses Jahr seine Busse in<br />
Skandinavien vermarkten.<br />
28. August bis 3. september<br />
Alexander Lukaschenko unterzeichnet<br />
einen Erlass zur staatlichen<br />
Stimulierung des Exportes<br />
durch Kredite und Sicherheiten.<br />
1 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34
Der belarussische Außenminister<br />
Sergej Martynow reist mit einer<br />
Delegation nach Südafrika.<br />
Die oppositionelle „<strong>Belarus</strong>sische<br />
Volksfront“ schlägt einen Plan zur<br />
Überwindung der Krise im Oppositionsbündnisses<br />
vor.<br />
Alexander Lukaschenko feiert<br />
seinen 52. Geburtstag.<br />
Die Internationale <strong>Bildungs</strong>- und<br />
Begegnungsstätte Minsk wird in<br />
IBB „Johannes Rau“ umbenannt.<br />
Sri Lanka und <strong>Belarus</strong> wollen ihre<br />
Handelsbeziehungen intensivieren,<br />
erklären die Botschafter beider<br />
Länder in Russland.<br />
Wladimir Semaschko, belarussischer<br />
Vizepremier, warnt vor<br />
einer Heizungspreiserhöhung von<br />
über 30 Dollar, falls der russische<br />
Gaspreis ansteigen werde.<br />
4. bis 10. september<br />
Der Bau der deutsch-russischen<br />
Gaspipeline, die <strong>Belarus</strong> umgeht,<br />
wird auf 2010 verschoben.<br />
Das ukrainische Wirtschaftsministerium<br />
sieht vorläufig von einer<br />
Strompreiserhöhung für <strong>Belarus</strong><br />
ab, weil <strong>Belarus</strong> mit einer eigenen<br />
Produktion droht.<br />
Eine belarussische Delegation unter<br />
Vizepremier Semaschko reist<br />
zu Gesprächen nach Venezuela.<br />
Schimon Peres, israelischer Vizepremier,<br />
strebt eine Intensivierung<br />
der israelisch-belarussischen Wirtschaftsbeziehungen<br />
an.<br />
Der iranische Außenminister<br />
Manutschehr Mottaki besucht<br />
<strong>Belarus</strong>.<br />
Die oppositionelle Partei der <strong>Belarus</strong>sischen<br />
Kommunisten kritisiert<br />
in einem Brief an 50 linke Parteien<br />
der Welt die angebliche Alleinherrschaft<br />
Lukaschenkos.<br />
11. bis 17. september<br />
Der Oppositionsführer Alexander<br />
Milinkewitsch erklärt, freie Wahlen<br />
seien in <strong>Belarus</strong> nur mit Hilfe<br />
friedlicher Proteste zu erreichen.<br />
Alexander Lukaschenko nimmt in<br />
Havanna an der Konferenz der Bewegung<br />
Blockfreier Staaten teil.<br />
Der Vorsitzende der illegalen oppositionellen<br />
Jugendorganisation<br />
„Junge Front“, Dmitrij Daschkewitsch,<br />
wird festgenommen.<br />
Der Staatssekretär des russischbelarussischen<br />
Unionsstaats erklärt,<br />
<strong>Belarus</strong> erfülle nicht dessen<br />
Vereinbarungen über Eigentum.<br />
Knapp 5000 Teilnehmer kommen<br />
in Minsk zum oppositionellen<br />
„Jeansfest“.<br />
Die neue US-Botschafterin Karin<br />
Stuart trifft in Minsk ein.<br />
18. bis 24. september<br />
Alexander Lukaschenko gibt der<br />
russischen BBC ein Interview.<br />
Oppositionsführer Alexander Milinkewitsch<br />
besucht Finnland.<br />
Der schwedische Europaabgeordnete<br />
Christofer Fjellner erklärt,<br />
sein Land werde jetzt intensiver<br />
die Demokratisierung von <strong>Belarus</strong><br />
fördern.<br />
Viktor Schejman, Vorsitzender<br />
des belarussischen Sicherheitsrates,<br />
verkündet, dass Venezuela<br />
in <strong>Belarus</strong> Militärtechnik im Wert<br />
von über 1 Mrd. Dollar in Auftrag<br />
gegeben hat.<br />
„Nascha Niwa“, die erste belarussischsprachige<br />
Zeitung, feiert<br />
ihren 100. Geburtstag.<br />
In Minsk konstituiert sich der neue<br />
Jugendverband der oppositionellen<br />
„<strong>Belarus</strong>sischen Volksfront“.<br />
25. september bis 1. Oktober<br />
In Vilnius debattieren europäische<br />
und belarussische Vertreter aus<br />
Medien und Politik die Perspektiven<br />
unabhängiger Radio- und<br />
Fernsehanstalten für <strong>Belarus</strong>.<br />
Die Führer von vier Oppositionsparteien<br />
einigen sich in Minsk auf<br />
eine Koordination des Wahlkampfes<br />
für die Regionalwahlen.<br />
Der belarussische Außenminister<br />
Sergej Martynow erklärt vor<br />
Chronologie<br />
der UNO-Vollversammlung die<br />
Selbstbestimmung von Staaten zur<br />
wichtigsten Ideologie der Welt.<br />
Alexander Lukaschenko erklärt,<br />
er wolle den KGB stärken, um die<br />
Staatssicherheit zu verbessern.<br />
Der UN-Sonderberichterstatter<br />
Adrian Severin erklärt, die Menschenrechtslage<br />
in <strong>Belarus</strong> habe<br />
sich verschlechtert.<br />
2. bis 8. Oktober<br />
Das belarussische Unterhaus ratifiziert<br />
die internationale Konvention<br />
gegen Atomterrorismus.<br />
Alexander Lukaschenko erklärt,<br />
die GUS brauche eine konstruktive<br />
Reform.<br />
<strong>Belarus</strong> einigt sich mit Russland<br />
darauf, die Einfuhrbegrenzungen<br />
für Bier aufzuheben.<br />
Der russische Gastransit durch<br />
<strong>Belarus</strong> wird bis 2010 um 50 %<br />
ansteigen, erklärt Energieminister<br />
Alexander Osnarez.<br />
<strong>Belarus</strong>sische Grenzschützer haben<br />
in diesem Jahr schon über 60<br />
Mio. Euro mehr Zölle eingetrieben<br />
als im Vorjahreszeitraum.<br />
9. bis 15. Oktober<br />
Der belarussische Premier Sergej<br />
Sidorski reist zu Gesprächen in das<br />
russische Altaj-Gebiet.<br />
Alexander Milinkewitsch trifft in<br />
Prag den früheren tschechischen<br />
Präsdidenten Vaclav Havel.<br />
Präsident Lukaschenko legt die<br />
belarussischen Regionalwahlen<br />
auf den 14. Januar fest.<br />
Alexander Milinkewitsch erhält<br />
die Sergio-Vierra-de-Miello-Auszeichnung<br />
des UN-Menschenrechtskommissars.<br />
Polen, Lettland, Litauen, Griechenland<br />
und Zypern setzen in<br />
der Europäischen Kommission<br />
fortgesetzte Handelspräferenzen<br />
für <strong>Belarus</strong> durch.<br />
Alexander Lukaschenko erklärt,<br />
die Erfüllung des laufenden Fünfjahresplanes<br />
sei sehr schwierig.<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34 1
NGOs & Gesellschaft<br />
Nachruf auf Eva Balke<br />
(Burkhard Homeyer, „Den Kindern<br />
von Tschernobyl“, Münster)<br />
Traurigen Herzens nehmen wir<br />
Abschied von einer lieben Freundin<br />
der Tschernobyl- und <strong>Belarus</strong>arbeit.<br />
Eben feierten wir den<br />
70. Geburtstag von Eva Balke in<br />
Detmold, in der Nacht zum Donnerstag,<br />
25.8., erlag sie dann ihrem<br />
schweren Leiden. Jeder wusste<br />
schon lange, welchen Weg Eva<br />
vor sich hatte. Der Krebs in ihrem<br />
Körper befand sich in einem tödlichen<br />
Stadium. Sie wusste darum.<br />
Tapfer nahm sie seit Jahren die Untersuchungen<br />
und Therapien hin,<br />
schwankend zwischen Hoffnung<br />
und Einsicht. Und mit unglaublicher<br />
Zähigkeit setzte sie sich trotz<br />
allem Ziele, als wenn Energien frei<br />
würden, sie auch zu erreichen.<br />
KINder VON TsCHerNObyL<br />
Damit sind wir bei den „Kindern<br />
von Tschernobyl“ und dem Thema<br />
<strong>Belarus</strong>. Eva ist eine Frau der<br />
ersten Stunde - sie kam von der<br />
christlichen Friedensbewegung.<br />
Als Mitglied der „Solidarischen<br />
Kirche Westfalen/Lippe“ nahm<br />
sie wie ihr Mann - auf dem Höhepunkt<br />
des „Kalten Krieges“ - an<br />
einem Prozess der kleinen Schritte<br />
von unten teil, der nach Brücken<br />
der Verständigung für ein neues<br />
Verhältnis zur Sowjetunion suchte<br />
und sich im Aufbruch vieler Initiativen<br />
nach Osten konkretisierte.<br />
Darunter auch das IBB.<br />
Eva hatte schnell erkannt, wie<br />
„Tschernobyl“ als neue Art des<br />
Krieges, als „unsichtbarer“ Krieg<br />
nach dem Leben der Menschheit<br />
griff, zugleich aber zu einer neuen<br />
Art von Solidarität ohne Grenzen<br />
herausforderte. Nicht von ungefähr<br />
fand sie schnell den Weg<br />
zur belarussischen Bürger- und<br />
Selbsthilfebewegung und damit<br />
zu deren Tschernobylkomitee, der<br />
späteren <strong>Belarus</strong>sischen Gemeinnützigen<br />
Stiftung „Den Kindern<br />
von Tschernobyl“.<br />
KINder Auf reIseN<br />
Eva engagierte sich sofort für die<br />
Kinder, wurde zum treibenden<br />
Motor der örtlichen Partnerschaft<br />
von Detmold und Mozyr, gehörte<br />
als Gründungsmitglied der<br />
Bundesarbeitsgemeinschaft „Den<br />
Kindern von Tschernobyl“ in<br />
Deutschland bis zuletzt dem Vorstand<br />
an, beteiligte sich am Aufbau<br />
eines europäischen, ja weltweiten<br />
Netzwerkes, dem Internationalen<br />
Rat „Für die Kinder von Tschernobyl“<br />
(ICCOC) - alles in engster<br />
Partnerschaft zur <strong>Belarus</strong>sischen<br />
Gemeinnützigen Stiftung. Als<br />
Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft<br />
der Tschernobylinitiativen<br />
in NRW, die sie mit ins Leben<br />
rief, hielt sie die Hauptrede zum<br />
20. Jahrestag von Tschernobyl im<br />
Düsseldorfer Landtag. Eva lagen<br />
vor allem die Kinderreisen am<br />
Herzen - wie zuletzt noch sichtbar<br />
geworden in ihrer Mitarbeit bei der<br />
Partnerschaftstagung 2006 des IBB<br />
in Geseke. In der Bundesarbeitsgemeinschaft<br />
war sie die Hauptansprechpartnerin<br />
für diese Arbeit,<br />
stand vielen Initiativen mit Rat<br />
und Tat zur Seite, erarbeitete pädagogisches<br />
Material, präsentierte<br />
die „Kinder von Tschernobyl“ bei<br />
Kirchentagen und ökumenischen<br />
Versammlungen. Sie kämpfte mit<br />
für eine demokratische, wirklich<br />
unabhängige NGO-Bewegung<br />
in <strong>Belarus</strong> und eine gemeinsame<br />
Tschernobylbewegung in Ost und<br />
West.<br />
Über die Kinder entstanden unzählig<br />
viele Brücken der Völkerverständigung,<br />
von Mensch zu<br />
Mensch, Familie zu Familie, Ort<br />
zu Ort - Friedensbrücken, Brücken<br />
der Versöhnung. Sie als Christin,<br />
die sich im kirchlichen Raum in<br />
vielerlei Weise engagierte, konnte<br />
in den Abgrund von Schuld<br />
deutscher Geschichte gerade in<br />
<strong>Belarus</strong> im festen Glauben an einen<br />
Neuanfang schauen, nicht in<br />
ignoranter Verdrängung und<br />
selbstherrlicher Verharmlosung,<br />
sondern als Geschenk - das ihr in<br />
vielen Begegnungen mit belarussischen<br />
Menschen zuteil wurde.<br />
CHANCe deM frIedeN<br />
Sie entstammte einer Generation,<br />
die als Kind selbst noch von Naziherrschaft<br />
und Kriegsschrecken<br />
geprägt war und sich anschließend<br />
weithin durch den „Kalten Krieg“<br />
und seine Propaganda blenden<br />
ließ. Das war Hintergrund für ihr<br />
Friedensengagement unter dem<br />
Motto „Nie wieder“. Es verknüpfte<br />
sich mit dem Engagement für<br />
die belarussischen Kinder, die<br />
Kinder von „Tschernobyl“, das<br />
zu gemeinsamem Handeln der<br />
zivilgesellschaftlichen Kräfte in<br />
Ost und West herausfordert: Den<br />
Kindern eine Zukunft - eine Chance<br />
dem Frieden.<br />
Eva übermittelte vor Jahren das<br />
Gedicht eines Tschernobylkindes.<br />
Lina Michailowa schreibt:<br />
„Ich wünsche mir einen sauberen<br />
Himmel, ich wünsche hellen Sonnenschein,<br />
ich wünsche, dass die<br />
belarussischen Kinder lachen und<br />
glücklich leben können.“<br />
So könnte Eva selbst gesprochen<br />
haben. Der lange gemeinsame<br />
Weg mit ihr erfüllt uns mit großem<br />
Dank. Die Saat geht langsam<br />
auf. Eva hat einen neuen Weg vor<br />
sich mit einem neuen Ziel. Ihr<br />
Vermächtnis aber wird uns auch<br />
in Zukunft begleiten.<br />
Burkhard.Homeyer@t-online.de, www.<br />
bag-tschernobyl.net<br />
1 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34
Streitfall Waisenkind<br />
NGOs & Gesellschaft<br />
(Larisa Netrebko, Minsk) Anfang september kam es in Italien zum skandal um das zehnjährige belarussische<br />
Waisenkind Wika Moroz. Ihre Gastfamilie wollte sie nicht zurückschicken, weil sie angeblich<br />
misshandelt worden sei. belarus holte das Kind mit Hilfe italienischer Gerichte dennoch zurück.<br />
Alessandro Djusto und Maria-<br />
Chiara Bornachin konnten es<br />
nicht fassen, als die Polizei Wika<br />
Moroz in ihrem Versteck bei ihren<br />
italienischen „Großeltern“<br />
aufgespürt hatte. Kurz darauf war<br />
das Mädchen wieder in <strong>Belarus</strong>.<br />
Eine Woche Medienskandal und<br />
Gerichtsverhandlung waren vorüber,<br />
während derer das Ehepaar<br />
Wika versteckt hatte. Djusto und<br />
Bornachin hatten das Kind nicht<br />
zurückschicken wollen, weil sie<br />
angeblich Spuren von Verbrennungen<br />
und Misshandlungen an<br />
ihrem Körper entdeckt hatten.<br />
Wika nannte sie seit Jahren „Mama<br />
und Papa“ und freute sich immer<br />
wieder, wenn sie ihre Gastfamilie<br />
besuchen konnte. Insgesamt siebenmal<br />
war sie in Italien.<br />
VerZWeIfeLTe „eLTerN“<br />
Das Ehepaar entschloss sich anhand<br />
der Spuren von Gewaltanwendung<br />
zu einer Verzweiflungstat:<br />
Djusto und Bornachin<br />
weigerten sich auf Wikas Bitten<br />
hin, das Kind zurück in die Heimat<br />
zu schicken. Ein Fall von Kindesentführung.<br />
Italienische Zeitungen<br />
hatten zudem ein Bild von Wika<br />
publiziert, auf dem sie sich an<br />
einen Stuhl gefesselt dargestellt<br />
hatte. Schnell hatte das Ehepaar<br />
die italienische Öffentlichkeit<br />
hinter sich - mit Ausnahme der<br />
Gerichte und jener Familien, die<br />
selbst ein belarussisches Kind über<br />
die Ferien aufnehmen oder gar<br />
adoptieren wollen.<br />
reAKTION des sTAATes<br />
Denn die belarussische Seite reagierte<br />
erwartungsgemäß mit aller<br />
Härte. Um Druck auf die italienischen<br />
Behörden auszuüben, setzte<br />
Minsk vorübergehend die Reisen<br />
belarussischer Kindergruppen<br />
nach Italien aus. Gleichzeitig reichte<br />
der belarussische Botschafter in<br />
Italien, Alexej Skripko, Klage bei<br />
einem Gericht in Genua ein. „Wir<br />
haben uns an den Wortlaut des Gesetzes<br />
gehalten“, erklärte Skripko.<br />
„Gleichzeitig haben wir sehr eng<br />
mit den italienischen Behörden<br />
kooperiert.“ Empört hatte sich der<br />
Direktor des Vilejker Kinderheimes<br />
gegen die Vorwürfe gewehrt,<br />
Wika sei in seinem Heim misshandelt<br />
worden. Michael Woltschkov<br />
bezeichnete die Anspielungen von<br />
Wika Moroz auf Misshandlungen<br />
als Anzeichen für eine „lebhafte<br />
Kinderfantasie“.<br />
ALTerNATIVeN?<br />
Es stellt sich vor allem die Frage,<br />
ob es möglich gewesen wäre, den<br />
Konflikt anders zu lösen, ohne<br />
dass Wika Moroz zwischen die<br />
Fronten staatlicher und privater<br />
Interessen hätte geraten müssen?<br />
Ein Runder Tisch mit Beteiligung<br />
aller Betroffenen sowie der Behörden<br />
hätte Sinn gemacht. Besonders<br />
vor dem Hintergrund, dass zehntausende<br />
belarussischer Kinder<br />
jährlich zu italienischen Gastfamilien<br />
fahren. Niemand machte<br />
sich die Mühe, die beiden Seiten<br />
an einen Tisch zu holen, weder<br />
in Italien noch in <strong>Belarus</strong>. Dabei<br />
haben Waisenkinder in <strong>Belarus</strong><br />
nur geringe Chancen, sich in die<br />
Gesellschaft zu integrieren, wie<br />
selbst Präsident Lukaschenko im<br />
letzten Jahr konstatierte.<br />
POLITIsIeruNG<br />
Es ist verständlich, dass die belarussischen<br />
Behörden sich an die<br />
präsidiale Vorgabe halten müssen,<br />
die Adoptionszahlen herunterzufahren.<br />
Ihre Bemühungen sind<br />
von Erfolg gekrönt: Während 2003<br />
noch über siebenhundert bela-<br />
russische Kinder von Italienern<br />
adoptiert wurden, waren es im<br />
letzten Jahr nur noch zwei. Es ist<br />
auch kein Wunder, dass der Präsident<br />
das Thema auf die politische<br />
Tagesordnung setzte. Als Staatsoberhaupt<br />
muss er ein Interesse<br />
daran haben, dass Kinder sich in<br />
<strong>Belarus</strong> heimisch fühlen und eine<br />
Perspektive haben. Allerdings ist<br />
es traurig, dass in Ermangelung<br />
einer Perspektive der Staat Besitzansprüche<br />
auf ein Kind geltend<br />
macht, um nicht eingestehen zu<br />
müssen, dass es dem Kind im Ausland<br />
besser gehen könnte.<br />
fOLGeN<br />
Das Kind wurde ins Internat<br />
zurückgebracht. Die Behörden<br />
haben eine Sitzung einberufen mit<br />
Vertretern des <strong>Bildungs</strong>ministeriums,<br />
des Außenministeriums und<br />
des Departements für humanitäre<br />
Hilfe. <strong>Belarus</strong>sische NGOs, die jahrelang<br />
erfolgreich mit italienischen<br />
Familien zusammenarbeiten, wurden<br />
dazu nicht eingeladen. Zweifellos<br />
sind die belarussischen<br />
Behörden erschrocken über den<br />
Skandal und wollen sich gegen<br />
weitere solche Fälle absichern, was<br />
auch richtig ist. Aber dabei sollten<br />
sie nicht automatisch allen misstrauen,<br />
die ebenso ein Interesse an<br />
schönen Erholungsreisen belarussischer<br />
Kinder nach Italien haben:<br />
tausende italienischer Eltern und<br />
jene humanitären NGOs, die diese<br />
Urlaubsreisen organisieren. Alessandro<br />
Djusto und Maria-Chiara<br />
Bornachin sind eine solche Gastfamilie<br />
gewesen. Sie mögen überreagiert<br />
und illegal gehandelt haben,<br />
aber Eltern handeln so, wenn sie<br />
ein Kind in Gefahr sehen. Djusto<br />
und Bornachin ist kein moralischer<br />
Vorwurf zu machen: Sie glaubten<br />
lediglich den Worten eines Kindes,<br />
das sie lieben.<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34 1
NGOs & Gesellschaft<br />
Nachhaltige Wohnungswirtschaft in <strong>Belarus</strong><br />
bernhard schwarz ist bei der Initiative Wohnungswirtschaft Osteuropa (IWO) e.V. zuständig für ein<br />
Projekt in der belarussischen Kleinstadt schodino. Ziel: Private Gemeinschaften von Wohneigentümern<br />
zu fördern, damit diese ihre Gebäude nach modernen Energiestandards sanieren. Im Interview erklärt<br />
schwarz, wie Gebäudesanierung „von unten“ funktioniert und was der belarussische staat davon hält.<br />
Das Interview führte Martin Schön.<br />
Herr Schwarz, wer braucht in <strong>Belarus</strong><br />
eigentlich Eigentümergemeinschaften?<br />
Bereits ab 1992 leitete <strong>Belarus</strong> per<br />
Gesetz die Privatisierung des staatlichen<br />
Wohnungsbestandes ein. Im<br />
Ergebnis sind bisher etwa 80 Prozent<br />
des vormals staatlichen Wohnungsbestandes<br />
in private Hand<br />
übergegangen. Die Privateigentümer<br />
sind jedoch nicht gemeinsam<br />
organisiert. Deshalb verkommt die<br />
Bausubstanz, bei der nachhaltigen<br />
Nutzung der Immobilien gibt es keine<br />
sichtbaren Fortschritte. Es bestehen<br />
weiter ungeklärte Eigentumsverhältnisse<br />
an Grund und Boden,<br />
aber auch am Gemeinschafts- und<br />
Sondereigentum.<br />
Aber gerade die Bildung neuer<br />
Eigentümerstrukturen ist Voraussetzung<br />
für den nachhaltigen Umgang<br />
mit dem Wohnungsbestand.<br />
Die Eigentümergemeinschaften<br />
übernehmen die Verwaltung. Sie<br />
entscheiden über die Höhe der<br />
Mietzahlungen, die Zahlungen<br />
gehen auf einem eigenen Konto<br />
der Eigentümergemeinschaft ein.<br />
Sie beschließen über die Verwendung<br />
der Gelder, den künftigen<br />
Verwalter, ausstehende Sanierungsmaßnahmen<br />
an den Gebäuden. Die<br />
Verwendung der Finanzen wird<br />
transparent, denn die Kontrolle erfolgt<br />
durch gewählte Revisoren.<br />
Diese Eigentümergemeinschaften<br />
übernehmen die Bestandssicherung<br />
ihrer Immobilien und lassen sie sanieren.<br />
Die entscheidende Aufgabe<br />
dabei ist die energetische Gebäudesanierung.<br />
Mit ihrer Hilfe müssen<br />
erhebliche Energieeinspareffekte<br />
und Reduzierungen von Energieverlusten<br />
erreicht werden.<br />
Sie wollten den Einwohnern eines Schodiner<br />
Plattenbaus helfen, sich gemeinsam<br />
zu organisieren. Hat es geklappt?<br />
Ja. Wir haben es gemeinsam mit den<br />
Projektpartnern geschafft, durch<br />
den Transfer von Know-how einen<br />
nachhaltigen Ansatz für die Bildung<br />
von Wohneigentümergemeinschaften<br />
in Mehrfamilienhäusern zu<br />
schaffen. Dazu führten wir gemeinsame<br />
Beratungen, Workshops und<br />
Schulungsveranstaltungen durch.<br />
Unsere Experten waren vor Ort<br />
tätig. Wir analysierten die Rahmenbedingungen,<br />
leiteten Handlungsempfehlungen<br />
ab, entwickelten<br />
Methoden zur Gründung der Gemeinschaften<br />
und begleiteten vor<br />
Ort die Bürger bei der Bildung der<br />
Eigentümergemeinschaft in der Derewjanko-Straße.<br />
Die Einwohner haben<br />
deutlich gemacht, dass sie eine<br />
Komplettsanierung des Gebäudes<br />
von der Stadtverwaltung erwarten<br />
- was genau unseren Zielen energiewirtschaftlicher<br />
Nachhaltigkeit entspricht.<br />
Damit haben nach unserer<br />
Kenntnis erstmals ehemalige Mieter<br />
eine Eigentümergemeinschaft in<br />
einem belarussischen Plattenbau gegründet.<br />
Jetzt benötigt der gewählte<br />
Vorstand nachhaltige Unterstützung<br />
beim Aufbau des kaufmännischen<br />
Managements und der technischen<br />
Bestandssicherung der Immobilie.<br />
Der Bürgermeister von Schodino<br />
hat seine Hilfe zugesagt.<br />
Für ein nachhaltiges Projekt braucht es<br />
zuverlässige Partner. Wer ist das für<br />
die IWO?<br />
Wir kooperieren in Schodino mit<br />
dem „Bürger-Informationsbüro“,<br />
dass für eines unserer vorherigen<br />
Projekte geschaffen wurde. Dessen<br />
Mitarbeiter haben bereits Erfahrung<br />
dabei, Bürger bei der Bildung von<br />
Eigentümergemeinschaften zu<br />
begleiten. Es hat sich zum stabilen<br />
Ansprechpartner für Bewohner,<br />
städtische Wohnungswirtschaft,<br />
Stadtverwaltung und Netzwerkpartner<br />
wie der Eigentümergemeinschaft<br />
„Otschag“ in Minsk<br />
entwickelt. Zudem arbeiten wir mit<br />
der Minsker Abteilung der Internationalen<br />
Umweltakademie und der<br />
staatlichen Wohnungsverwaltung<br />
in Schodino zusammen. Durch diese<br />
vielfältigen Kontakte auf staatlicher<br />
und nichtstaatlicher Ebene ist ein<br />
erfolgreicher Ablauf des Projektes<br />
möglich gewesen.<br />
Wie können andere belarusssische<br />
Wohneigentümer von ihrem Projekt<br />
profitieren?<br />
Die Projektergebnisse sind in eine<br />
russischsprachige Broschüre aufgenommen.<br />
Diese bietet einen<br />
Handlungsleitfaden für alle, die eine<br />
Eigentümergemeinschaft gründen<br />
wollen. Soweit wir einschätzen können,<br />
ist der Handlungsleitfaden als<br />
erstes diesbezügliches Hilfsmittel<br />
in <strong>Belarus</strong> erschienen. Die bisherigen<br />
Reaktionen von Wohneigentümern,<br />
Netzwerkpartnern und<br />
der Stadtverwaltung Schodino<br />
sind dementsprechend positiv.<br />
Eine neue, überarbeitete Auflage<br />
sollte gesammelte Erfahrungen<br />
von Eigentümergemeinschaften<br />
zusammenfassen: kaufmännisches<br />
Management, energetische Sanierung<br />
und rechtliche Konflikte.<br />
Nach dem Workshop sind bereits<br />
erste Synergieeffekte eingetreten.<br />
So informierte das Bürger-Informationsbüro<br />
die Stadtverwaltung Soligorsk<br />
über die Projektergebnisse.<br />
Des Weiteren wandten sich elf gründungswillige<br />
Wohneigentümer der<br />
Koslow-Straße aus Minsk an IWO<br />
0 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34
e.V. mit der Bitte um Unterstützung<br />
bei der Gründung ihrer Eigentümergemeinschaft.<br />
Sie fordern vor allem<br />
die energetische Komplettsanierung<br />
ihres Gebäudes. Damit vertreten sie<br />
genau dieselben wirtschaftlichen<br />
Ziele wie die Bewohner der Derewjanko-Straße.<br />
Würde sich denn energetische Gebäudesanierung<br />
für die frischgebackene<br />
Schodiner Eigentümergemeinschaft<br />
lohnen?<br />
Unser Projektpartner, die Energieagentur<br />
der Investitionsbank Schleswig-Holstein,<br />
hat eine Sanierungsanalyse<br />
des Wohngebäudes an die<br />
belarussichen Partner übergeben.<br />
Diese stellt bezüglich des Ist-Zustandes<br />
des Gebäudes hohe Umwandlungsverluste,<br />
mangelnde<br />
Regelungstechnik, hohen Wärmebedarf,<br />
mangelnde Dämmqualitäten,<br />
schlechten Gebäudezustand, hohen<br />
Instandsetzungsbedarf, fehlende<br />
ökologische und ökonomische Perspektiven<br />
fest. Eine Sanierung wäre<br />
optimal - allein der Endenergieverbrauch<br />
mit Hilfsenergie könnte bis<br />
auf etwa 30 Prozent des derzeitigen<br />
Standes reduziert werden. Die reale<br />
Einsparung hängt allerdings auch<br />
wesentlich vom Nutzerverhalten ab.<br />
Hier soll das Bürger-Informationsbüro<br />
den Einwohnern helfen.<br />
Wenn die Eigentümer diese Maßnahmen<br />
umsetzen, könnten sie ein<br />
Zeichen in ganz <strong>Belarus</strong> dafür setzen,<br />
dass sich energetische Gebäudesanierung<br />
auch volkswirtschaftlich<br />
lohnt. Die verbesserte Wärmebilanz<br />
würde zu wirtschaftlichen Vorteilen<br />
für die Bewohner führen, besonders<br />
bei zu erwartenden Energiepreissteigerungen.<br />
<strong>Belarus</strong> wird von NGOs oft als schwieriges<br />
Pflaster bezeichnet. Auf welche<br />
Probleme stießen Sie bei ihrer Arbeit?<br />
Rechtlich ist die Gründung von<br />
Eigentümergemeinschaften kein<br />
Problem. Um aber diese neuen wohnungswirtschaftlichen<br />
Strukturen<br />
auf breiter Basis zu entwickeln, bedarf<br />
es insbesondere besserer wirtschaftlicher<br />
Rahmenbedingungen,<br />
klarer rechtlicher Regelungen ihrer<br />
Tätigkeit sowie der finanziellen<br />
Förderung der Gründung und der<br />
energetischen Sanierung. Es muss<br />
auch Fachpersonal für die Wohneigentumsverwaltung<br />
ausgebildet<br />
werden.<br />
Der belarussische Staat fördert Gebäudesanierung<br />
im vorhandenen<br />
Wohnungsbestand nicht. Es gibt<br />
auch keine Förderkredite mit günstigem<br />
Zinssatz und entsprechendem<br />
Kreditlaufzeitraum. Und dies,<br />
obwohl ein Großteil der <strong>Belarus</strong>sen<br />
in Plattenbauten lebt.<br />
Nicht zuletzt ist eine Eigentümergemeinschaft<br />
für praktisch alle belarussischen<br />
Wohnungseigentümer<br />
absolutes Neuland - es gibt keine<br />
entsprechenden Traditionen.<br />
Die schwache staatliche Unterstützung<br />
ist doch sicher ein Problem. Kann das<br />
Projekt in Schodino denn wirklich<br />
Schule machen?<br />
Der Staat unternimmt durchaus<br />
Schritte in die richtige Richtung. Anfang<br />
Juni beschloss die Regierung<br />
ein Programm für die Entwicklung<br />
der Wohnungs- und Kommunal-<br />
NGOs & Gesellschaft<br />
wirtschaft für 2006 bis 2010. Darin<br />
ist vorgesehen, dass die Wohneigentümer<br />
schrittweise ihre Gebäude<br />
selbst verwalten werden. Aus einem<br />
Erlass des Präsidenten vom Oktober<br />
geht hervor, dass in allen Mehrfamilienhäusern<br />
in <strong>Belarus</strong> bis zum Januar<br />
2009 Eigentümergemeinschaften<br />
zu bilden sind. Diese Ziele sollen<br />
vom Staat gefördert werden.<br />
Wir wurden informiert, dass eine<br />
Rechtsvorschrift über die staatliche<br />
Förderung der energetischen<br />
Gebäudesanierung in Arbeit ist. Es<br />
wäre gut, wenn das nicht weiter<br />
vertagt würde. Die Erwartungshaltung<br />
der Wohneigentümer an eine<br />
Unterstützung durch den Staat ist<br />
hoch. Viele Bewohner werden ihre<br />
Mitarbeit davon abhängig machen,<br />
ob die energetische Sanierung des<br />
Hauses, in dem sie wohnen, bald<br />
zustande kommt.<br />
Andererseits zeigen die Beispiele<br />
der etwa 340 bereits funktionierenden<br />
Eigentümergemeinschaften,<br />
dass erste wirtschaftliche Ergebnisse<br />
eintreten, wenn man den Anfang<br />
wagt. Es spricht für sich, dass sich<br />
bereits Minsker Wohneigentümer<br />
an uns mit der Bitte um Unterstützung<br />
gewandt haben. Die Gründer<br />
warten auf Beispiele, Information<br />
und Anleitung.<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34 1
Nach Tschernobyl<br />
Austausch erwünscht<br />
(dr. Helmut domke/Monika Tharann, berlin) bürgerinitiativen, Vereine, schulen, Kirchengemeinden<br />
sowie Kinderheime aus deutschland und ihre Partnerorganisationen aus belarus und der ukraine waren<br />
vom 3. bis 6. Oktober 2006 nach Minsk zur Tagung „Von der Hilfe zu Partnerschaften - Perspektiven und<br />
Zusammenarbeit 20 Jahre nach Tschernobyl“ geladen.<br />
Organisatoren waren die Stiftung<br />
West-Östliche Begegnungen und<br />
das Internationale <strong>Bildungs</strong>- und<br />
Begegnungswerk Dortmund. Die<br />
Gäste aus Deutschland setzen<br />
sich seit Jahren selbstlos und mit<br />
großem Engagement für die Linderung<br />
der Folgen der Tschernobyl-Katastrophe<br />
ein, hatten jedoch<br />
bisher wenig oder keine Gelegenheit,<br />
am Austausch von Erfahrungen<br />
teilzunehmen und gemeinsam<br />
mit anderen Engagierten Ideen<br />
für eine Zusammenarbeit zu entwickeln.<br />
Wichtige Kooperationspartner<br />
der Veranstalter waren die<br />
Friedrich-Ebert-Stiftung und die<br />
Konrad-Adenauer-Stiftung, die<br />
nicht nur finanziell, sondern auch<br />
durch inhaltliche Beiträge zum<br />
Gelingen der Konferenz beitrugen,<br />
sowie das „Deutsch-Ukrainische<br />
Netz Nichtstaatlicher Organisationen“<br />
aus Kiew.<br />
20 JAHre dANACH<br />
Die Idee, 20 Jahre nach Tschernobyl<br />
eine Tagung durchzuführen<br />
zu den besonderen Herausforderungen<br />
für zivilgesellschaftliches<br />
Handeln heute, wurde von den<br />
Teilnehmern aus drei Ländern<br />
mit großem Interesse aufgegriffen.<br />
Wie viele der Tagungsteilnehmer<br />
feststellen konnten, war die Internationale<br />
<strong>Bildungs</strong>- und Begegnungsstätte<br />
(IBB) „Johannes Rau“<br />
in Minsk ideal für die Tagung. Seit<br />
zwölf Jahren ist die IBB ein Ort des<br />
Austauschs zwischen <strong>Belarus</strong> und<br />
Deutschland, getragen vom Gedanken<br />
der Versöhnung nach zwei<br />
von Deutschland ausgegangenen<br />
Kriegen. Durch die Tschernobyl-<br />
Katastrophe ist <strong>Belarus</strong> erneut<br />
heimgesucht worden, mitten im<br />
Frieden. Damit wurden aber auch<br />
zahlreiche langfristige zivilgesellschaftliche<br />
Aktivitäten ausgelöst.<br />
Mehr als 500.000 Kinder aus den<br />
verstrahlten Regionen konnten<br />
sich seit der Reaktorkatastrophe<br />
in Deutschland erholen. Allein<br />
die Stiftung West-Östliche Begegnungen<br />
hat in den zwölf Jahren<br />
ihres Bestehens mehrere hundert<br />
Projekte mit Bezug zu Tschernobyl<br />
gefördert. Zahlreiche Vorhaben<br />
der sozialen Arbeit, des Umweltschutzes<br />
und der Bildung sind<br />
entstanden. So ist Tschernobyl<br />
auch zum Ausgangspunkt einer<br />
unabhängigen Bürgerbewegung<br />
in der Ukraine, in <strong>Belarus</strong> und in<br />
Russland geworden und hat eine<br />
grenzüberschreitende Zusammenarbeit<br />
angestoßen.<br />
ersTe TAGuNG IHrer ArT<br />
Die Tagung zeichnete sich durch<br />
drei Besonderheiten aus:<br />
- Sie war die erste trilaterale Konferenz<br />
in Minsk, die Organisationen<br />
der humanitären Hilfe und<br />
sozialen Arbeit aus <strong>Belarus</strong>, der<br />
Ukraine und Deutschland zusammenbrachte.<br />
- Sie ermöglichte Vertretern staatlicher<br />
und nichtstaatlicher Institutionen<br />
aus <strong>Belarus</strong>, der Ukraine und<br />
Deutschland, miteinander nationale,<br />
bilaterale und multinationale<br />
Möglichkeiten für gemeinsames<br />
Wirken zu diskutieren.<br />
- Sie bot den meisten bilateralen<br />
Partnerschaften erstmalig die<br />
Gelegenheit, andere Gruppen<br />
kennenzulernen, die in ähnlicher<br />
Weise engagiert sind, sowie<br />
Modelle für Kooperationen von<br />
nichtstaatlichen Organisationen<br />
(NGOs) untereinander oder mit<br />
Behörden und Verantwortungsträgern<br />
zu besprechen.<br />
Der deutsche Botschafter Herr Dr.<br />
Martin Hecker, der Vizepräsident<br />
der Nationalversammlung der<br />
Republik <strong>Belarus</strong> Herr Sergej Sabolotetz<br />
und weitere belarussische<br />
und ukrainische Parlamentsabgeordnete<br />
sowie der ehemalige<br />
Leiter der OSZE-Mission in Minsk,<br />
Botschafter a. D. Herr Dr. Eberhard<br />
Heyken beschrieben am ersten Tag<br />
der Konferenz die politischen Beziehungen<br />
zwischen den Ländern<br />
und staatliches Handeln im Blick<br />
auf die Rahmenbedingungen für<br />
nichtstaatliche Organisationen.<br />
Sie betonten übereinstimmend,<br />
dass bei den zwischen Deutschland<br />
und <strong>Belarus</strong> seit zehn Jahren<br />
stagnierenden offiziellen Beziehungen<br />
den zivilgesellschaftlichen<br />
Aktivitäten besondere Bedeutung<br />
zukomme.<br />
dIsKussION MIT exPerTeN<br />
Gastgeber der Arbeitsgruppen<br />
„Humanitäre Hilfe und soziale<br />
Projektarbeit“, „Umweltprojekte“<br />
und „Bildung und internationale<br />
Begegnungen“ waren jeweils<br />
kompetente Einrichtungen aus<br />
Minsk: die orthodoxe Gemeinde<br />
„Aller Trauernder Freude“, die<br />
Internationale Sacharow-Umwelt-<br />
Universität und das Institut für Berufliche<br />
Weiterbildung. Mit ihnen<br />
wurden konkrete Aktivitäten vorgestellt<br />
und diskutiert. Besonders<br />
wertvoll war die Anwesenheit des<br />
belarussischen Atomenergie-Experten<br />
Prof. Wassilij Nesterenko,<br />
dessen unabhängiges Institut für<br />
Strahlensicherheit BELRAD dabei<br />
hilft, durch einfache Mittel die<br />
Strahlenbelastung für Kinder zu<br />
verringern. Eine besonders nachhaltige<br />
Projektarbeit wird hier von<br />
deutschen Schulen geleistet, die<br />
im Rahmen ihrer Partnerschaften<br />
Messstellen an belarussischen<br />
Schulen betreiben und unterstützen.<br />
Prägend für die Tagung war<br />
der starke Wunsch nach Kommu-<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34
nikation: Der „Open Space“ wurde<br />
tatsächlich zu einem „Offenen<br />
Raum“, in dem die Teilnehmer<br />
intensiv ins Gespräch kamen,<br />
neue Ideen entwickelten und erste<br />
praktische Schritte dazu konkret<br />
verabredeten.<br />
PArTNersCHAfT...<br />
Das zentrale Thema der Tagung<br />
„Von der Hilfe zur Partnerschaft“<br />
berührte wesentliche Fragen in der<br />
grenzüberschreitenden Zusammenarbeit:<br />
Wie können insbesondere<br />
Kindererholungsaufenthalte,<br />
Ferienlager, Krankenbetreuungen<br />
und Workcamps mit bisher ausschließlich<br />
karitativem Ansatz<br />
eine stärker partnerschaftliche<br />
Ausrichtung erhalten? Welche Einschränkungen<br />
sind dabei im Blick<br />
auf strahlungsbelastete Gebiete<br />
zu berücksichtigen? Wie kann ein<br />
breites gesellschaftliches Umfeld<br />
gewonnen und wie können die<br />
Projekte finanziell stabilisiert<br />
und damit langfristig gesichert<br />
werden? Und welche Formen der<br />
Kooperation von Bürgerinitiativen<br />
untereinander, national und<br />
international, mit <strong>Bildungs</strong>einrichtungen<br />
und Forschungsinstituten<br />
sowie mit staatlichen Behörden<br />
und politischen Verantwortungsträgern<br />
können dabei helfen?<br />
...uNd NACHHALTIGKeIT<br />
Für die Stiftung West-Östliche<br />
Begegnungen, die seit Jahren für<br />
Kinder aus strahlungsbelasteten<br />
Gebieten Erholungsaufenthalte<br />
in Deutschland oder in nicht verstrahlten<br />
Regionen in <strong>Belarus</strong> bzw.<br />
anderen GUS-Ländern fördert,<br />
ist die Frage der Nachhaltigkeit<br />
humanitärer Maßnahmen von besonderer<br />
Bedeutung. Die Tagung<br />
gab der Stiftung die Möglichkeit,<br />
mit den über viele Jahre geförderten<br />
Vereinen und Aktivitäten<br />
näher in Kontakt zu kommen und<br />
gemeinsam zu überlegen, wie Projekte<br />
im humanitären und sozialen<br />
Bereich nachhaltiger gestaltet und<br />
unterstützt werden können, so<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34<br />
dass karitative<br />
Patenschaften<br />
zu wirklichen<br />
Partnerschaft<br />
e n w e r d e n<br />
können.<br />
Zu den wichtigstenErgebnissen<br />
der Konferenz<br />
gehört<br />
zweifelsohne,<br />
dass sie einen<br />
multilateralen<br />
Dialog in Gang<br />
gesetzt hat zwischen<br />
NGOs aus drei Ländern<br />
und politisch Verantwortlichen<br />
über die Zusammenarbeit und<br />
nachhaltige Projektgestaltung in<br />
dem von der Reaktorkatastrophe<br />
betroffenen Gebiet. Die Intensität,<br />
mit der von den Beteiligten aller<br />
Seiten dieser Dialog und seine<br />
Fortsetzung befürwortet wurde,<br />
hat die Veranstalter überrascht<br />
und zeigt einen dringenden Bedarf<br />
an, der insbesondere auch für<br />
die Arbeit von Stiftungen in der<br />
Ukraine und in <strong>Belarus</strong> Aufmerksamkeit<br />
verdient. Künftig sollten<br />
auch russische Partner zu solchen<br />
Treffen eingeladen werden. Der<br />
Abgeordnete des ukrainischen<br />
Parlaments und Präsident der<br />
Kulturvereinigungen der Ukraine<br />
Alexander Feldmann schlug<br />
vor, die nächste multilaterale<br />
NGO-Konferenz über Fragen der<br />
nachhaltigen Entwicklung in und<br />
um die Tschernobylzone und<br />
angrenzende Regionen in Kiew<br />
oder Charkov durchzuführen. Die<br />
Vertreter deutscher Vereine und<br />
die Stiftung West-Östliche Begegnungen<br />
regten an, ein Fachtreffen<br />
in Deutschland zur Erweiterung<br />
von Projektarbeit im humanitären<br />
und sozialen Bereich durch<br />
<strong>Bildungs</strong>- und Umweltinhalte<br />
durchzuführen.<br />
sOrGeN WeGeN VIsA<br />
Die Teilnehmer der Tagung brachten<br />
ihre Sorge zum Ausdruck,<br />
dass eine mögliche Erhöhung der<br />
Nach Tschernobyl<br />
Visumgebühren und weitere Erschwernisse<br />
in der Visumerteilung<br />
auf deutscher Seite zu massiven Behinderungen<br />
im Jugendaustausch<br />
und bei der Zusammenarbeit mit<br />
zivilgesellschaftlichen Organisationen<br />
in den Partnerländern führen<br />
würden. Die Teilnehmer hoffen,<br />
dass die Praxis der kostenlosen<br />
Visumerteilung für Kinderreisen<br />
nach Deutschland erhalten bleibt,<br />
die Visumgebühren nicht erhöht<br />
werden und gemeinnützige deutsche<br />
Vereine weiterhin Einladungen<br />
aussprechen dürfen.<br />
HAus IM bAu<br />
Für alle Teilnehmer war es ein<br />
besonderes Erlebnis, Gast im<br />
avantgardistischen Gebäude der<br />
Internationalen <strong>Bildungs</strong>- und<br />
Begegnungsstätte „Johannes Rau“<br />
zu sein, in dem - mit den Worten<br />
des Architekten Richard Pierschke<br />
- nach Vorlage des Bildes „Haus<br />
im Bau“ von Kasimir Malewitsch<br />
„voller Elan eine neue Gesellschaftsordnung<br />
sozial, städtebaulich,<br />
konstruktiv und ästhetisch<br />
mit einer neuen Architektur verbunden<br />
wurde“. Der große Dank<br />
der Teilnehmer gilt dem IBB-Team<br />
in Minsk, das seiner Gastgeberrolle<br />
in hervorragender Weise gerecht<br />
wurde und wesentlich dazu beigetragen<br />
hat, das Haus zu einer<br />
gastlichen Heimstatt für unsere<br />
grenzüberschreitende trilaterale<br />
Tagung zu machen.
Kultur & Wissenschaft<br />
Neue Regeln für die Muttersprache<br />
(Alexander dautin, Minsk) Alexander Lukaschenko hat sich entschlossen, die belarussische sprache zu<br />
reformieren. An der situation wird das kaum etwas ändern: Immer weniger schüler werden auf belarussisch<br />
unterrichtet und die meisten Menschen sprechen den russisch-belarussischen dialekt „Trasjanka“.<br />
<strong>Bildungs</strong>minister Alexander Radkov<br />
begründete die Notwendigkeit<br />
einer Sprachreform im September<br />
damit, dass die letzte Reform<br />
bereits fast 50 Jahre her sei. Die<br />
Sprache habe sich jedoch „gleich<br />
einem lebendigen Organismus“ in<br />
dieser Zeit weiterentwickelt. „Wir<br />
wollen, dass die Geschäfts- und<br />
Staatsveröffentlichungen sowie die<br />
Lehrbücher gemeinsame Regeln<br />
haben. An diese Normen müssen<br />
sich alle halten, einschließlich der<br />
Schüler und der Massenmedien“,<br />
erklärte der Minister. Das Reformprojekt<br />
haben nach seinen Worten<br />
bereits Vertreter der Zivilgesellschaft,<br />
Lehrer, Professoren und<br />
Mitarbeiter der „Lehrerzeitung“<br />
ausgearbeitet. „Es spiegelt den<br />
modernen Entwicklungsstand<br />
unserer Muttersprache wieder“,<br />
versicherte Radkov.<br />
sCHLeCHTe erfAHruNG<br />
Vertreter der Intelligenz machen<br />
sich indes Sorgen um eventuelle<br />
negative Folgen der Reform für<br />
ihre Muttersprache. Alle bisherigen<br />
Reformen hatten eine Russifizierung<br />
des <strong>Belarus</strong>sischen zum<br />
Ziel. Im Jahr 1933 ließ Josef Stalin<br />
parallel zur Reform die national<br />
gesinnten Gründungsväter der<br />
belarussischen Sowjetrepublik<br />
unterdrücken. Bis zu diesem<br />
Zeitpunkt wurde die Grammatik<br />
von Branislaw Taraschkewitsch<br />
verwendet, die die phonetischen<br />
Besonderheiten des <strong>Belarus</strong>sischen<br />
vor allem durch zusätzliche Weichheitszeichen<br />
berücksichtigt. Trotz<br />
Verbots überlebte sein Regelwerk,<br />
die „Taraschkewiza“, in Kreisen<br />
nationalbewusster Intellektueller.<br />
Die neue Schreibweise (nach dem<br />
Volkskommissariat für Bildung<br />
„Narkomowka“ genannt) glich<br />
das <strong>Belarus</strong>sische auch durch zahlreiche<br />
lexikologische Veränderun-<br />
gen an das Russische an. Mit der<br />
Unabhängigkeit wurde auch die<br />
„Taraschkewiza“ wieder erlaubt,<br />
Vertreter beider Schreibweisen<br />
traten in einen Dialog - der mit<br />
dem Machtantritt von Präsident<br />
Lukaschenko und der Verhärtung<br />
der politisch-kulturellen Fronten<br />
wieder abbrach.<br />
sPrACHeNGeWIrr<br />
Im Ergebnis sieht die Sprachensituation<br />
in <strong>Belarus</strong> heute folgendermaßen<br />
aus: Die staatstreue<br />
Intelligenz benutzt in der Regel<br />
die „Narkomowka“, die Mehrheit<br />
der Bevölkerung indes, die nach<br />
Umfragen <strong>Belarus</strong>sisch für ihre<br />
Muttersprache hält, spricht „Trasjanka“<br />
- ein dörfliches Mischmasch<br />
aus Russisch und <strong>Belarus</strong>sisch, mit<br />
dem auch Präsident Lukaschenko<br />
gerne kokettiert, um seine Volksnähe<br />
zu beweisen. Beamte, Geschäftsleute<br />
und Mittelklasse sprechen<br />
in erster Linie die „große und<br />
mächtige“ Sprache des russischen<br />
Nachbarn. Die alternative Jugend<br />
und ein großer Teil der Opposition<br />
benutzt die „Taraschkewiza“ weiterhin.<br />
Besonders sie sind es, die<br />
fürchten, im Zuge der Reform könne<br />
die „Taraschkewiza“ offiziell<br />
verboten werden, die für moderne<br />
Literatur und die oppositionelle<br />
Wochenzeitung „Nascha Niwa“<br />
verwendet wird.<br />
KeINe GefAHr?<br />
Allerdings verkündete der Direktor<br />
des Institutes für Sprachwissenschaft<br />
der <strong>Belarus</strong>sischen<br />
Akademie der Wissenschaften,<br />
Alexander Lukaschetz, im Interview<br />
mit „Nascha Niwa“ beschwichtigend,<br />
die neuen Orthographie-<br />
und Interpunktionsregeln<br />
wären lediglich als leichte<br />
Verbesserung der Reform von<br />
1957 gedacht. Dennoch schob der<br />
oberste staatliche Sprachhüter eine<br />
Provokation an die national gesinnte<br />
Opposition hinterher: Wenn<br />
es an ihm, Lukaschetz, läge, würde<br />
er selbstverständlich die „Taraschkewiza“<br />
verbieten, um Ordnung<br />
in die belarussische Sprachenlandschaft<br />
zu bringen. Dass die<br />
belarussische Sprache, wie jede<br />
andere auch, von Zeit zu Zeit reformiert<br />
werden muss, findet auch<br />
der Leiter der NGO „Gesellschaft<br />
für <strong>Belarus</strong>sische Sprache“, Oleg<br />
Trusow. Allerdings, bemängelt<br />
Trusow, würde in demokratischen<br />
Ländern eine solche Reform in der<br />
Öffentlichkeit über einen längeren<br />
Zeitraum diskutiert.<br />
LANGsAMer rüCKZuG<br />
Ob die neue Reform und die Art,<br />
wie sie diskutiert wird, allerdings<br />
wesentlich die Sprachensituation<br />
im Lande beeinflussen, ist fraglich.<br />
Für Millionen von <strong>Belarus</strong>sen<br />
ist <strong>Belarus</strong>sisch schon zur<br />
Fremdsprache geworden - und es<br />
werden immer mehr. Die Zahl der<br />
„belarussischsprachigen“ Schulen<br />
fällt stetig. Diese Tendenz begann<br />
mit dem Referendum von 1995,<br />
als sich eine Mehrheit der <strong>Belarus</strong>sen<br />
für eine Gleichstellung der<br />
belarussischen und der russischen<br />
Sprache aussprach - mit der Folge,<br />
dass die Zahl der Erstklässler, die<br />
<strong>Belarus</strong>sisch lernen, von damals 70<br />
auf heute 20 Prozent gesunken ist.<br />
In der südbelarussischen Gebietshauptstadt<br />
Molodetschno lernen<br />
die Schüler sogar ausschließlich<br />
in der Unterrichtssprache Russisch<br />
(abgesehen vom Fach <strong>Belarus</strong>sische<br />
Literatur). Diesen Schülern,<br />
wie auch vielen Studenten, dürfte<br />
deshalb die Sprachenreform relativ<br />
gleichgültig sein - sie bauchen<br />
<strong>Belarus</strong>sisch weder im Alltag noch<br />
in der Ausbildung.<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34
Immer mehr „Stalin-Linien“<br />
(Andrej Alexandrowitsch, Minsk) bei Polozk hat das belarussische Verteidigungsministerium das zweite<br />
Museum zur sowjetischen Verteidigungslinie im Zweiten Weltkrieg eröffnet. In Witebsk folgt in Kürze<br />
ein militärisch eingefärbtes „Zentrum für die patriotische erziehung der Jugend“. doch schon die von<br />
Alexander Lukaschenko persönlich im letzten Jahr eröffnete „Stalin-Linie“ wurde von Geschichtswissenschaftlern<br />
als historisch nicht fundiert kritisiert.<br />
Nach Worten der Polozker Museumsleitung<br />
war die Polozker<br />
Verteidigungslinie eine der ersten<br />
Befestigungen vor dem Beginn des<br />
„Großen Vaterländischen Krieges“<br />
und konnte ihre Funktion<br />
erfüllen. Die Polozker Verteidiger<br />
waren die einzigen auf dem<br />
Territorium der <strong>Belarus</strong>sischen<br />
Sowjetrepublik, die 1941 gegen<br />
die Wehrmacht weiterkämpften,<br />
obwohl sie sich bereits auf feindlichem<br />
Territorium befanden. Nach<br />
verschiedenen Quellen hielten die<br />
Verteidiger zwei bis vier Wochen<br />
durch. Die neue Gedenkanlage<br />
wurde „Feld der Ehre unserer<br />
Truppen“ genannt. Soldaten der<br />
Polozker Garnison sowie Mitglieder<br />
des militärpatriotischen Clubs<br />
„Suche“ rekonstruierten die Verteidigungsanlage.<br />
„rAuM des ruHMes“<br />
Das „Feld der Ehre unserer Truppen“<br />
wird wohl kaum der „Stalin-Linie“<br />
bei Minsk Konkurrenz<br />
machen, zu der Alexander Lukaschenko<br />
regelmäßig ausländische<br />
Gäste einlädt. Umgekehrt trägt<br />
die „Stalin-Linie“ als Exempel für<br />
die Erziehung der Jugend zu militärisch-patriotischer<br />
Gesinnung<br />
bereits erste Früchte. Der Ausstellungspark<br />
sowjetischen Militärgerätes<br />
der „Stalin-Linie“ macht<br />
Schule. Beispielsweise in Witebsk,<br />
wo gerade das erste belarussische<br />
„Zentrum für die patriotische<br />
Erziehung der Jugend“ entsteht.<br />
Im Rahmen des Zentrums wird es<br />
auch ein „Raum des Militärischen<br />
Ruhmes“ geben sowie eine Ausstellung<br />
von Militärtechnik unter<br />
freiem Himmel. In dem Raum<br />
werden Informationstafeln angebracht,<br />
auf denen die Etappen und<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34<br />
die Entwicklung der Partisanenbewegung<br />
in <strong>Belarus</strong> zur Zeit des<br />
„Großen Vaterländischen Krieges“<br />
ebenso dargestellt werden wie<br />
die Befreiung von Witebsk und<br />
einzelne Episoden aus dem Afghanistan-Krieg.<br />
Natürlich dürfen<br />
auch die Leistungen der modernen<br />
belarussischen Militärindustrie in<br />
diesem „Ruhmesraum“ nicht fehlen.<br />
Außerdem werden in Witebsk<br />
persönliche Dinge, Waffen und<br />
sonstige Gegenstände ausgestellt,<br />
die bei Ausgrabungen an Schauplätzen<br />
des Krieges gefunden wurden.<br />
Das patriotische „Erziehungszentrum“<br />
wird umgerechnet etwa<br />
50.000 Euro kosten. Vier Fünftel<br />
der Summe wird das Verteidigungsministerium<br />
aufbringen,<br />
den Rest die Stadtverwaltung.<br />
„reANIMATION des<br />
sTALINIsMus“<br />
Gleichzeitig wird auch der populäre<br />
Gedenkkomplex „Stalin-Linie“<br />
erneuert. Vor kurzem wurde dort<br />
eine Büste des ehemaligen sowjetischen<br />
Staatsführers Josef Stalin<br />
aufgestellt. Der bekannte Historiker<br />
Igor Kusnezow, der sich auf die<br />
Stalin‘schen Repressionen spezialisiert<br />
hat, nannte dies in einem Interview<br />
mit der Nachrichtenagentur<br />
„BelaPAN“ eine „Reanimation<br />
des Stalinismus“. Die Büste hatte<br />
eine Odysee hinter sich, die die<br />
politischen Paradigmenwechsel<br />
in <strong>Belarus</strong> nachzeichnet: Bis Mitte<br />
der 1950er Jahre stand die Büste<br />
des „Führers der Völker“ auf dem<br />
zentralen Platz des Dorfes Iwanez<br />
im Minsker Gebiet. Im Jahr 1961,<br />
nach der berühmten Rede von<br />
Nikita Chruschtschow gegen den<br />
Personenkult von Stalin, wurde<br />
die Büste entfernt. Sie stand nun<br />
Kultur & Wissenschaft<br />
in einer staatlichen Baufirma - bis<br />
der venezuelische Präsident Hugo<br />
Chavez im Juli nach <strong>Belarus</strong> kam.<br />
Aus diesem Anlass wanderte die<br />
Büste zur „Stalin-Linie“. Allerdings<br />
kam sie mit einer leichten<br />
Beschädigung an ihrem Bestimmungsort<br />
an: Ein Unbekannter<br />
hatte ihr die Ohren abgeschlagen.<br />
Die Bewohner des Dorfes Iwanez<br />
sind der Überzeugung, dass der<br />
Übeltäter ein ehemaliges Opfer der<br />
Stalin‘schen Repressionen war, der<br />
nach Stalins Tod aus dem GULAG<br />
zurückkehrte.<br />
KeINe „sTALIN-LINIe“<br />
„Tatsächlich hatte Stalin keinerlei<br />
Bezug zu den Verteidigungsanlagen,<br />
die heute fälschlicherweise<br />
„Stalin-Linie“ genannt werden“,<br />
unterstreicht der Historiker Igor<br />
Kusnezow. „Zudem war Stalin<br />
niemals persönlich in diesem<br />
Gebiet und besuchte zur Zeit des<br />
Großen Vaterländischen Krieges<br />
kein einziges Mal die Front.“<br />
Deshalb, findet Kusnezow, würde<br />
ein Denkmal für die gefallenen<br />
Soldaten oder einen konkreten<br />
sowjetischen Feldherren an dieser<br />
Stelle wesentlich mehr Sinn<br />
machen, als ein Denkmal für Josef<br />
Stalin. Allerdings scheint bei den<br />
Gedenkkomplexen in Polozk,<br />
Witebsk und Minsk weniger die<br />
historische Exaktheit im Vordergrund<br />
zu stehen als die politische<br />
Botschaft. <strong>Belarus</strong> sieht sich als<br />
Erbe des großen sowjetischen<br />
Sieges und soll auch in Zukunft<br />
„das Pulver trocken halten“, wie<br />
es Präsident Lukaschenko vor<br />
zwei Jahren bei den Feiern zum<br />
„Siegestag“ formulierte.
Kultur & Wissenschaft<br />
Zwei Schriftstellerverbände<br />
(Alexander dautin, Minsk) die Polizei hat im August das Haus des regimekritischen Verbandes der<br />
belarussischen schriftsteller (Vbs) wegen Mietrückständen geräumt. Gleichzeitig unterstützt Präsident<br />
Lukaschenko mit Geldern den vom staat initiierten „Verband der schriftsteller von belarus“ (Vsb).<br />
Der regimetreue VSB wird nun<br />
hauptsächlich auf Kosten der belarussischen<br />
Steuerzahler finanziert.<br />
Nach Meinung des VSB-Vorsitzenden<br />
und Parlamentsabgeordneten<br />
Nikolaj Tscherginez ist dies völlig<br />
normal. „Wir haben die Aufgabe,<br />
gute Schriftsteller zusammenzubringen.<br />
Sie sollen Literatur<br />
schreiben, die das Volk braucht...<br />
Natürlich wird der Staat versuchen,<br />
Literatur zu fördern, die<br />
sozusagen dem Geist des Volkes<br />
entspricht. Unsere Aufgabe: so viel<br />
wie möglich schreiben.“ Gleichzeitig<br />
empfahl Tscherginez seinen<br />
Kollegen des regimekritischen<br />
VBS, sich nicht mit Politik, sondern<br />
mit Literatur zu beschäftigen.<br />
POLITIK uNd LITerATur<br />
Die Vorsitzende des VBS, Svetlana<br />
Alexejewitsch, nannte diese Äußerung<br />
heuchlerisch, da Tscherginez<br />
selbst Politiker ist. „Soweit ich<br />
weiß, ist kein einziger ernsthafter,<br />
vom Volk geschätzter Schriftsteller<br />
in diesen neuen Verband<br />
eingetreten. Wenn man uns sagt:<br />
‚Macht keine Politik‘, dann soll<br />
das heißen: ‚Verhaltet euch loyal<br />
zur Staatsmacht‘.“ Sie erklärte außerdem,<br />
der Staat hoffe vor allem<br />
auf jene Schriftsteller, die auch<br />
über <strong>Belarus</strong> hinaus bekannt seien.<br />
Alexejewitsch selbst ist die meistgelesene<br />
belarussische Schriftstellerin<br />
in Europa. Sie meint, dass es<br />
„bei uns genügend ehrliche Leute<br />
gibt, die vielleicht nicht das ‚Haus<br />
der Literatur‘ gegen die Räumung<br />
verteidigen wollten, aber zumindest<br />
ihre Ehre verteidigen.“ Ihr<br />
stimmte der bekannte belarussische<br />
Poet Genadij Burawkin zu.<br />
Der 70-Jährige erklärte, Präsident<br />
Lukaschenko teile mit seiner Politik<br />
die Schriftsteller in „richtige“<br />
und „falsche“ auf. Der VBS stand<br />
Neue staatliche Universität<br />
zu Beginn des Jahres kurz vor der<br />
Schließung (BP berichtete).<br />
ZWeIerLeI MAss?<br />
Burawkin hält er es für unerhört,<br />
dass ein Schriftstellerverband aus<br />
seinem Domizil vertrieben werde,<br />
während der andere staatliche<br />
Unterstützung erfahre. Der Staat,<br />
findet er, richte sich in seiner<br />
Beziehung zu den Schriftstellern<br />
nach seinen politischen Ambitionen.<br />
Eine ganze Reihe namhafter<br />
belarussischer Schriftsteller der<br />
VBS, darunter auch der kürzlich<br />
verstorbene Vasil Bykow, hatten<br />
sich in der Opposition engagiert.<br />
Über den Platz eines Schriftstellers<br />
in der belarussischen Kultur,<br />
meint Burawkin, entscheide jedoch<br />
nur sein Talent, unabhängig<br />
von der politischen Linie. Und<br />
dieses Talent müsse der Staat auch<br />
unterstützen.<br />
(Andrej Alexandrowitsch, Minsk) Alexander Lukaschenko hat im september in Pinsk eine neue universität<br />
eröffnet. Diese soll Ökonomen ausbilden und ist Teil des Programmes zur Stärkung der Regionen.<br />
Nach Baranowitschi ist dies die<br />
zweite neue Universität des unabhängigen<br />
<strong>Belarus</strong>. Dass der<br />
Staat mit der neuen Hochschule<br />
Hoffnungen für die belarussische<br />
Ausbildungslandschaft verbindet,<br />
zeigt die Tatsache, dass sie vom<br />
Vorsitzenden der Nationalbank<br />
Petr Prokopowitsch geplant wurde.<br />
Die Universität ist Teil des<br />
Plans zur Entwicklung der Regionen,<br />
der kleinen und mittleren<br />
Städte des Landes. Dies erklärte<br />
Lukaschenko bei der Eröffnung.<br />
reGIONALes POTeNZIAL<br />
„Der Reichtum unseres Vaterlandes<br />
wird gemehrt durch Regio-<br />
nen, die eine starke Ressource für<br />
die Schaffung eines blühenden<br />
<strong>Belarus</strong> darstellen - eines Staates<br />
für unser Volk“, verkündete der<br />
Präsident. Um diese Ressourcen<br />
zu nutzen, erklärte er, seien Spezialisten<br />
nötig, die hart arbeiteten<br />
und in jedem Dorf und jeder Stadt<br />
moderne Lebensbedingungen<br />
schüfen. „Wir müssen eine Jugend<br />
erziehen, für die das Glück<br />
der Heimat höher steht als jedes<br />
ausländische Paradies“ untestrich<br />
Lukaschenko.<br />
GuTe AusbILduNG<br />
In der neuen Hochschule bestehen<br />
tatsächlich gute Bedingungen,<br />
dass die Studenten eine hochwertige<br />
Ausbildung bekommen, sich<br />
moderne Informationstechnologien<br />
aneignen und sich erholen können.<br />
Kein Zweifel - an Studenten<br />
wird es Pinsk nicht mangeln. In<br />
den letzten Jahren lässt sich ein<br />
interessanter Prozess beobachten:<br />
Minsker Abiturienten wollen in<br />
der Provinz eine Hochschulausbildung<br />
erhalten. Das mag in erster<br />
Linie an den Studiengebühren<br />
liegen. Mit der neuen Pinsker Universität<br />
wird dieser Prozess weiter<br />
angeregt, so dass die Minsker<br />
Hochschulen wenigstens teilweise<br />
vom Andrang entlastet werden,<br />
der an den Wirtschaftswissenschaftlichen<br />
Fakultäten herrscht.<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34
Nach Europa?<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34<br />
Kultur & Wissenschaft<br />
(Ms) die evangelische Akademie in Wittenberg hat Mitte september die Konferenz „belarus zwischen<br />
eu und russland“durchgeführt. Vertreter aus Medien, NGOs, Kultur und Politik zeichneten ein facettenreiches<br />
Bild des Landes und waren sich in einem Punkt einig: <strong>Belarus</strong> gehört nach Europa.<br />
Ales Kudryzki, Kulturmanager<br />
der Robert-Bosch-Stiftung und<br />
gemeinsam mit der Evangelischen<br />
Akademie Organisator der Veranstaltung,<br />
betonte die Vielfältigkeit<br />
des Publikums: „Es sind Menschen<br />
gekommen, die Begegnungen mit<br />
<strong>Belarus</strong> organisieren, andere, die<br />
Politik machen, dritte, die aus<br />
dem Medienbereich kommen.“<br />
Tatsächlich fanden über 50 Teilnehmer<br />
aus ganz Deutschland<br />
den Weg in die Kleinstadt in Sachsen-Anhalt.<br />
Zur Eröffnung war<br />
auch der Deutsche Botschafter in<br />
<strong>Belarus</strong> Martin Hecker gekommen.<br />
Die Reihe mehrerer Podiumsgespräche<br />
eröffnete der ehemalige<br />
Leiter der OSZE-Mission in Minsk<br />
Hans-Georg Wieck. Er forderte,<br />
die EU müsse sich stärker für einen<br />
politischen Wandel in <strong>Belarus</strong><br />
engagieren.<br />
GeseLLsCHAfT WICHTIG<br />
Die schwierige Situation der belarussischen<br />
Presse stellte der deutsche<br />
Journalist Ingo Petz zusammen<br />
mit Andrej Dynko dar, dem<br />
Chefredakteur der belarussischen<br />
Kulturzeitung „Nascha Niwa“.<br />
Der ehemalige Leiter der OSZE-Mission in Minsk, Hans-Georg<br />
Wieck, im Gespräch mit dem Direktor der Evangelischen Akademie,<br />
Stephan Dorgerloh.<br />
Wie wichtig zivilgesellschaftliches<br />
Engagement in <strong>Belarus</strong> für eine<br />
stärkere Öffnung des Landes nach<br />
Europa ist, unterstrich die Hamburger<br />
Politikwissenschaftlerin<br />
Imke Hansen. Es gehe dabei um<br />
die Entwicklung eines Problembewusstseins,<br />
aber auch um ein größeres<br />
Vertrauen der Bürger in die<br />
eigenen Möglichkeiten. Hansen<br />
pflichtete ihr Gesprächspartner<br />
Andrej Kuseltschuk bei, Vertreter<br />
der Grodnoer NGO „Ratuscha“. Er<br />
unterstrich, dass es in <strong>Belarus</strong> fast<br />
900 NGOs gebe, mehr als in jedem<br />
anderen GUS-Land. Gleichzeitig,<br />
betonte Kuseltschuk, übe der belarussische<br />
Staat starken Druck auf<br />
viele von ihnen aus. Deshalb seien<br />
die zivilgesellschaftlichen Strukturen<br />
besonders auf Unterstützung<br />
aus Europa angewiesen.<br />
„sPrACHe“ sTATT „KIrCHe“<br />
Am dritten Konferenztag konnten<br />
sich die Teilnehmer auf thematische<br />
Arbeitsgruppen verteilen.<br />
Die Gruppe zu „Kirche in <strong>Belarus</strong>“<br />
kam leider nicht zustande, da dem<br />
Vizepräsidenten des Minsker Orthodoxen<br />
Zentrums Method und<br />
Cyrill, Grigorij<br />
Dovgijallo,<br />
die Teilnahme<br />
vom belarussischenMetropolitenFilaret<br />
untersagt<br />
worden war.<br />
Im Bereich des<br />
interkonfessionellen<br />
Dialogs<br />
müsse demnach<br />
noch viel<br />
getan werden,<br />
meinte dazu<br />
der Direktor<br />
der EvangelischenAkademie,<br />
Stephan<br />
Dorgerloh. Dafür interessierten<br />
sich viele Teilnehmer für die<br />
Arbeitsgruppe zu belarussischer<br />
Sprache, Religion und Kultur, die<br />
der Chefredakteur von „Nascha<br />
Niwa“ Andrej Dynko leitete. Er<br />
erklärte den neugierigen Teilnehmern<br />
bereitwillig die komplizierte<br />
Situation, in der sich die belarussische<br />
Sprache heute befindet: Von<br />
den <strong>Belarus</strong>sen als Muttersprache<br />
bezeichnet, vielfach totgesagt, ist<br />
sie nach Dynkos Worten dennoch<br />
Teil einer lebendigen Jugendkultur<br />
und Intellektuellenszene.<br />
beGeGNuNG<br />
Dass <strong>Belarus</strong> nicht nur sprachlich<br />
und politisch interessant ist,<br />
sondern auch als Begegnungsort<br />
im Herzen Europas, konnten<br />
die Teilnehmer am Abend des<br />
letzten Konferenztags erfahren.<br />
Jugendliche aus Estland und<br />
Deutschland zeigten einen Film<br />
über ihre trinationale Radtour<br />
von Minsk ins Baltikum, die die<br />
Evangelische Akademie im Sommer<br />
dieses Jahres organisert hatte.<br />
Die Jugendlichen erzählten, wie<br />
sie die gemeinsame Fahrt durch<br />
die belarussiche Natur über alle<br />
Sprachbarrieren hinweg einander<br />
näher gebracht hatte. Am letzten<br />
Tag erklärte der Vorsitzende der<br />
oppositionellen Partei der <strong>Belarus</strong>sischen<br />
Kommunisten, Sergej Kaljakin,<br />
dass Europa nicht nur eine<br />
zwischenmenschliche und zivilgesellschaftliche,<br />
sondern auch eine<br />
wirtschaftliche Perspektive für<br />
<strong>Belarus</strong> darstelle. Kaljakin meinte,<br />
die enge Anbindung an Russland<br />
habe zwar in der Vergangenheit<br />
dem Land große wirtschaftliche<br />
Vorteile gebracht. Allerdings sei<br />
es mit den billigen russischen Energieressourcen<br />
wohl bald vorbei<br />
- und dann müsse sich <strong>Belarus</strong><br />
stärker nach Europa orientieren.
Kultur & Wissenschaft<br />
„Weg von den Klischees“<br />
(Gerhard ende, berlin) Anfang Oktober hat in berlin das belarussische Kulturfestival „good.by“ stattgefunden.<br />
Hunderte Interessierte konnten eine ganze Woche lang belarussische Kultur erleben: von Performance<br />
über Spielfilm, Dichterlesung bis zur Bilderausstellung war praktisch das gesamt Sprektrum alternativer,<br />
sehenswerter belarussicher Kultur abgedeckt.<br />
„Viele Europäer kennen heute<br />
<strong>Belarus</strong>“, meinte die junge <strong>Belarus</strong>sin<br />
Marija Nestserava, eine<br />
der Hauptorganisatorinnen der<br />
Veranstaltungsreihe, bei der Eröffnung.<br />
Allerdings würden viele<br />
Menschen <strong>Belarus</strong> ausschließlich<br />
als politischen Brennpunkt wahrnehmen.<br />
„Wir wollten den Menschen<br />
zeigen, dass die moderne<br />
belarussische Kultur für sich wertvoll<br />
ist, ohne den Beigeschmack<br />
von Politik.“ Vierzig belarussische<br />
Künstler waren der Einladung von<br />
Nestseravas Kulturinitiative „In<br />
Common“ gefolgt. Die drei jungen<br />
<strong>Belarus</strong>sinnen von „In Common“<br />
hatten das Festival zusammen<br />
mit der deutsch-belarussischen<br />
Studenteninitiative „Lahoda“ aus<br />
Frankfurt an der Oder und der<br />
belarussischen Künstlergruppe<br />
„Funlab“ auf die Beine gestellt.<br />
Das Konzept hatte sowohl den<br />
Fonds „Jugend für Europa“ der EU<br />
als auch die Stiftung „Erinnerung<br />
und Zukunft“ der Bundesregierung<br />
überzeugt.<br />
Auch die etablierte Minsker Theatergruppe<br />
des „Modernen Kunsttheaters“<br />
bekam die Möglichkeit,<br />
ihre Interpretation des Shakespeare-Lustspieles<br />
„Was ihr wollt“<br />
auf die Bühne der Berliner „Brotfabrik“<br />
zu bringen. Fünfzehn<br />
Schauspieler zeigten den Berliner<br />
Zuschauern, dass Shakespeare<br />
auch heute noch Spaß macht,<br />
und brannten ein Feuerwerk aus<br />
Späßen, Gesängen und Klangintermezzos<br />
ab. Ihre Requisiten<br />
waren simpel, doch universal zu<br />
verwenden: Mit Blechtöpfen ließen<br />
sich sowohl Ritterhelme als<br />
auch Brüste darstellen, die neben<br />
Strohalmen als Bärte ein zentrales<br />
Element für die Verwechslungskomödie<br />
waren. Das Publikum bog<br />
sich vor Lachen.<br />
100 Jahre unabhängige Presse<br />
Unter den Künstlern waren auch<br />
Stars der belarussischen Kulturszene<br />
wie die Percussion-Band<br />
„Drum Extasy“. Deren Mitglied<br />
Fillip Tschmyr erklärte, zwar sei<br />
die gesamte belarussiche Kulturszene<br />
mehr oder weniger durch<br />
die angespannte Lage politisiert.<br />
Dennoch unterstrich Tschmyr,<br />
seine Band habe „mit Politik<br />
nichts zu tun“. Ihm pflichtete der<br />
bekannteste postmoderne Dichter<br />
des Landes Andrej Chadanowitsch<br />
bei und freute sich, nicht gleich<br />
mit dem Klischee des Oppositionsdichters<br />
versehen worden zu<br />
sein. „Wir wollten alternativen<br />
Künstlern eine Bühne geben, auf<br />
der sie auch als Künstler wahrgenommen<br />
werden“, unterstrich<br />
Marija Nestserava. Das Festival<br />
war ein voller Erfolg - nun freut<br />
sich Nestserava schon auf weitere<br />
Projekte rund um <strong>Belarus</strong>, die sie<br />
mit ihren Kolleginnen plant.<br />
(Gerhard ende, berlin) die Kulturzeitung „Nascha Niva“ hat dieses Jahr ihren 100. Geburtstag gefeiert.<br />
die deutsch-belarussische Gesellschaft (dbg) organisierte dazu im september Lesungen in berlin.<br />
Die Abende standen unter dem<br />
Motto „100 Jahre Nascha Niva -<br />
eine starke Stimme aus <strong>Belarus</strong>“.<br />
„Denn trotz schwieriger politischer<br />
Bedingungen“, so sagte der<br />
Organisator und Kulturbeauftragte<br />
der dbg, Ingo Petz, „ist es der<br />
Zeitung immer wieder gelungen,<br />
starke journalistische und kulturelle<br />
Stimmen hervorzubringen.“<br />
Mit dieser Meinung stand Petz<br />
nicht alleine. Denn die Veranstaltung<br />
hatte neben der Robert-<br />
Bosch-Stiftung und der Deutschen<br />
Welle als hochkarätige finanzielle<br />
Unterstützer auch die Deutsche<br />
Botschaft Minsk als Schirmherrn<br />
gewinnen können.<br />
In der LiteraturWerkstatt leitete<br />
Rainer Lindner, Vorsitzender der<br />
dbg, den Abend mit einem kurzen<br />
Referat über die Gründungsgeschichte<br />
der Zeitung ein. Der heutige<br />
Chefredakteur von „Nascha<br />
Niva“ Andrej Dynko trug einen<br />
Essay zum Thema „Freiheit“ vor.<br />
Darin kritisierte er vor allem die<br />
Intelligenz in seinem Land, die<br />
sich zwischen 1995 und 2000 von<br />
hehren, doch irrationalen Ideen<br />
habe leiten lassen. Dynko sieht die<br />
Rolle von Nascha Niva darin, „den<br />
Idealisten zu mehr Bodenhaftung“<br />
zu verhelfen. „Und den Realisten<br />
bringen wir ein bisschen das Träumen<br />
und das Fliegen bei. All das<br />
tun wir für ein Ziel: den Aufbau<br />
eines demokratischen <strong>Belarus</strong>.“<br />
Danach trug Andrej Chadanowitsch,<br />
einer der bekanntesten jungen<br />
Dichter des Landes, eine Reihe<br />
seiner teils ironisch-spielerischen,<br />
teils offen gesellschaftskritischen<br />
Werke vor. Musikalisch begleitet<br />
wurde der Abend von dem berühmtesten<br />
belarussischen Rocksänger<br />
und Songschreiber, Ljavon<br />
Volski. „Ich bin vollkommen<br />
begeistert“, sagte eine Zuschauerin,<br />
„ich wusste nicht, dass es in<br />
Weißrussland solche interessanten<br />
Töne und Stimmen gibt. Bitte mehr<br />
davon.“<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34
Neuntes Minsk Forum<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34<br />
Publikationen<br />
(MS) Das neunte Minsk Forum findet vom 9. bis 11. November in der IBB „Johannes Rau“ statt. Die Tagesordnung<br />
der wichtigsten belarus-Konferenz wird von einreiseverboten überschattet.<br />
Gleich am Eröffnungstag wird<br />
CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla<br />
die sicherheitspolitischen Herausforderungen<br />
erläutern, denen<br />
sich Deutschland während seiner<br />
EU-Ratspräsidentschaft stellen<br />
muss. Am zweiten Tag werden sich<br />
die Teilnehmer in Arbeitsgruppen<br />
aufteilen. Die erste widmet sich<br />
außen- und sicherheitspolitschen<br />
Fragen. Wie beim Minsk-Forum<br />
üblich, kommen deutsche und<br />
baltische mit belarussischen und<br />
russischen Vertretern zusammen,<br />
um gemeinsame Schnittmengen<br />
auszuloten und Differenzen klar<br />
zu erkennen. Auch die zweite<br />
Arbeitsgruppe zur belarussischen<br />
Wirtschaft verspricht spannende<br />
Diskussionen: Der stellvertretende<br />
belarussische Wirtschaftsminister<br />
Andrej Tur hat seine Teilnahme<br />
ebenso zugesagt wie der stellvertretende<br />
Vorsitzende der Vereinten<br />
Bürgerpartei und erklärte<br />
Liberale Jaroslaw Romantschuk. In<br />
der dritten Arbeitsgruppe finden<br />
sich die Teilnehmer zusammen,<br />
um über die belarussiche Gesellschaft<br />
zu sprechen. Humanitäres<br />
Engagement wird hier ebenso Thema<br />
sein wie die belarussische <strong>Bildungs</strong>landschaft.<br />
Für thematische<br />
Abwechslung wird sicherlich der<br />
Runde Tisch zu Jugendkultur sorgen.<br />
Am letzten Tag wird Bilanz<br />
aus der gemeinsamen Arbeit gezogen.<br />
Kurz vor Redkationsschluss<br />
wurde bekannt, dass Marieluise<br />
Beck (MdB Grüne) und Georg<br />
Schirmbeck (MdB CDU) sowie<br />
dem freien Journalisten Ingo Petz<br />
und der Programmleiterin der<br />
Deutschen Welle Cornelia Rabitz<br />
die Einreise verweigert wurde.<br />
Sommerlager für Menschen mit Kanten<br />
(ulrike dünnbier/Lisa soeldner, Minsk) Vier zitternde füße, zwei schwankende bretter darunter, ein Paar<br />
gereichte Hände und kurz darauf der Jubel von über fünfzig Menschen. so kann ein erfolgserlebnis mitten<br />
im Wald aussehen, wenn sich völlig verschiedene Menschen zusammenfinden, um einander bei einem<br />
sommerlager kennenzulernen: behinderte, nichtbehinderte, deutschsprachige und russischsprachige junge<br />
Menschen mit den verschiedensten biographien.<br />
Wer macht solche Lager? Dazu<br />
bedarf es einer engagierten jungen<br />
Organisation wie Raznije-Ravnije<br />
(Verschiedene-Gleiche), die sich<br />
lange im Voraus mit der Planung<br />
beschäftigt hat. Raznije-Ravnije<br />
fand 16 Freiwillige, die sich bereits<br />
Anfang Juni in den Wald begaben,<br />
um aus einem einfachen Waldstück<br />
ein behindertengerechtes und bewohnbares<br />
Terrain zu machen.<br />
Wir bauten eine Küche, Behelfstoiletten,<br />
einen „Speisesaal“ und<br />
ein großes Schlafzelt. Interessant<br />
an den ersten fünf Tagen waren<br />
die kulturellen und sprachlichen<br />
Differenzen der Freiwilligen, denn<br />
den Aufbau mussten <strong>Belarus</strong>sen,<br />
Deutsche und eine Östereicherin<br />
zusammen bewältigen. Vielleicht<br />
war es gerade deswegen oft besonders<br />
lustig. Am 10. Juni wurde<br />
es mit der Anreise der anderen<br />
vierzig Teilnehmer dann noch einmal<br />
richtig spannend - der bunte<br />
Haufen für die nächsten zehn Tage<br />
war komplett.<br />
Was sich genau in dieser Zeit<br />
abgespielt hat, lässt sich schwer<br />
in Worte fassen. Oft haben wir<br />
spielend versucht, Barrieren zu<br />
überwinden - meist gelang das<br />
auch. Beispielsweise beim oben<br />
erwähnten Hindernislauf. Dabei<br />
sollten alle Teilnehmer, ohne den<br />
Boden zu berühren, über zwei parallele<br />
Holzwippen gelangen. Zusätzlich<br />
legte der Spielleiter immer<br />
wieder neu fest, wieviele Personen<br />
sich gleichzeitig auf den Wippen<br />
befinden dürfen - Abwechslung<br />
und gemeinsamer Spaß waren<br />
garantiert. In weiteren Spielen lösten<br />
wir ähnliche Probleme - zum<br />
Beispiel erbauten wir ein Dorf mit<br />
Kastensystem. Neben dem täglichen<br />
Programm war es auch eine<br />
angenehme Abwechslung in dem<br />
angrenzenden See zu toben oder<br />
abends den Tag gemeinsam beim<br />
Lagerfeuerr ausklingen zu lassen.<br />
Insgesamt war es schön zu sehen,<br />
wie im Laufe der Zeit die Barrieren<br />
fielen und das Verhältnis der<br />
Teilnehmer untereinander enger<br />
wurde.<br />
Ein Sommerlager ist eine einmalige<br />
Möglichkeit, einander in<br />
besonderem Umfeld kennenzulernen:<br />
Sommer, Natur, Wasser,<br />
Bewegung, aber auch der Alltag<br />
- Zähneputzen, Waschen, Essen,<br />
Schlafen - am See und im Wald<br />
schweißen zusammen. So konnten<br />
nicht nur <strong>Belarus</strong>sen und Deutsche,<br />
sondern auch Behinderte und<br />
Nichtbehinderte einander schätzen<br />
lernen. An die entspannte Atmosphäre<br />
und die tollen Leute werden<br />
wir noch lange denken müssen.<br />
Wir wissen, dass die Finanzierung<br />
bis zuletzt sehr unsicher war und<br />
hoffen, dass es im nächsten Jahr<br />
weniger Probleme geben wird.<br />
Ein großes Dankeschön an alle<br />
Menschen, die sowohl finanziell<br />
als auch persönlich dieses Lager<br />
ermöglicht haben.<br />
Aktion Sühnezeichen: www.asf-ev.de
Publikationen<br />
Provinzidylle contra Apokalypse: „Die Wolke“<br />
(MS) Bereits der Beginn des Filmes<br />
ist ein bitterer Vorgeschmack auf<br />
die unheimlichen Ereignisse, die<br />
bevorstehen. Eine schwarz-weißes,<br />
verschwommenes Bild zeigt den<br />
Innenraum eines Kernkraftwerkes.<br />
Wir hören die gleichgültigen Stimmen<br />
der Techniker: „Der Druck<br />
steigt. Der Druck steigt weiter...“<br />
Die deutsche Provinzstadt, in der<br />
die Handlung stattfindet, bildet einen<br />
surrealen Kontrast zu der unheimlichen<br />
Einstiegsszene: Sauber<br />
herausgeputzte Fachwerkhäuser,<br />
satter Wohlstand, die Kleinstadt ist<br />
in bürgerlicher Idylle versunken.<br />
Die 16-jährige Schülerin Hannah<br />
ist von dem verschlafenen Ort genervt,<br />
wie man es als Jugendlicher<br />
in der Provinz ist. Bis sie auf Elmar<br />
aufmerksam wird, den stillen Mitschüler<br />
von der letzten Bank. Der<br />
erste Kuss der beiden wird vom<br />
Heulen der Alarmsirenen unterbrochen.<br />
Im Atomkraftwerk hat<br />
es einen Unfall gegeben.<br />
LIebe uNd KATAsTrOPHe<br />
Regisseur Gregor Schnitzler hat<br />
auf der Basis von Gudrun Pausewangs<br />
Jugendbuch-Klassiker von<br />
1987 eine Mischung aus Liebes-<br />
und Katastrophenfilm gedreht, der<br />
den Zuschauer in ein Wechselbad<br />
der Gefühle stürzt. Denn immer<br />
wieder mischt sich unter die<br />
Liebesgeschichte von Elmar und<br />
Hannah die grausame Wirklichtkeit<br />
des Super-GAUs. Liebe und<br />
Katastrophe - das ist eine typische<br />
Hollywood-Mischung, die immer<br />
Gefahr läuft, in dramatischen<br />
Kitsch abzugleiten. Hannah-Darstellerin<br />
Paula Kalenberg meistert<br />
den Rollenspagat zwischen dem<br />
lebensfreudigen Teenager und<br />
dem jugendlichen Opfer jedoch<br />
bravourös. Ihre Ernstaftigkeit<br />
wirkt ebenso natürlich wie ihr verliebtes<br />
Lächeln, als sie Elmar nach<br />
dem GAU wiedertrifft - so bewahrt<br />
Kalenberg den Film davor, allzu<br />
durchschaubar zu werden.<br />
PANIK uNd sTILLe<br />
Das Drehbuch birgt eine solche<br />
Gefahr durchaus. In einigen<br />
Momenten wirkt der Gegensatz<br />
Provinzidylle - Apokalypse etwas<br />
künstlich. Was an der Sache selbst<br />
liegt: Man lässt sich als Zuschauer<br />
anfangs gerne auf den typischen<br />
Tennagerfilm ein, weil er sympathisch<br />
und abwechslungsreich<br />
erzählt wird - fällt dann aber um so<br />
tiefer in den Schock des atomaren<br />
GAUs. Dieser Moment entscheidet<br />
über die Qualität des Filmes - neben<br />
der starken Hauptdarstellerin<br />
rettet ihn auch die gute Kameraführung<br />
und der ausgewogene<br />
Rhythmus. Auf Massenpanikszenen<br />
folgen Momente der stillen<br />
Verzweiflung, in denen Hannah<br />
dem sauren Regen mit Todessehnsucht<br />
entgegengeht. Auch eine<br />
andere Szene vergisst man nicht so<br />
schnell: Ein Zeitungsjunge drückt<br />
einer durch die Chemotherapie<br />
kahl gewordenen jungen Frau die<br />
druckfrische Zeitung in die Hand:<br />
„Die verstrahlte Zone drei um den<br />
Reaktor soll wieder für die Bewohner<br />
geöffnet werden“. Parallelen<br />
zu osteuropäischen Ländern rein<br />
zufällig.<br />
Die Kinoversion wurde auf DVD<br />
um die üblichen Extras ergänzt.<br />
Interviews mit den Darstellern<br />
und der Buchautorin Gudrun<br />
Pausewang runden ein melancholisches<br />
Liebesdrama ab, das jungen<br />
Menschen das geben kann, was<br />
keine Informationen können: Sie<br />
machen den Schrecken der Katastrophe<br />
lebendig.<br />
„Die Wolke“, Concorde-Filmverleih, circa<br />
14 Euro.<br />
„Kontaminiert“: Bildersturm aus Tschernobyl<br />
(Michael Ebert-Hanke, Kassel)<br />
Zwanzig Jahre nach dem verheerenden<br />
nuklearen Unfall in<br />
Tschernobyl sind zwar viele Fragen<br />
Impressum:<br />
Herausgeber:<br />
Peter Junge-Wentrup, <strong>Internationales</strong><br />
<strong>Bildungs</strong>- und Begegnungswerk gGmbH<br />
Dortmund<br />
redaktion:<br />
Martin Schön, Frankfurt/Oder,<br />
Dr. Edith Spielhagen, IBB Minsk,<br />
Michael Rüben, IBB Dortmund,<br />
Kai-Uwe Dosch, Hamm<br />
druck:<br />
Montania Druck, Dortmund<br />
beantwortet, die wichtigste - nach<br />
der Sinnhaftigkeit und den Risiken<br />
der Atomenergie - jedoch nicht.<br />
Auch vier Design-Studenten der<br />
redaktionsadresse:<br />
IBB gGmbH, <strong>Belarus</strong>-Perspektiven,<br />
Thomasstr. 1, 44135 Dortmund,<br />
� 0231-952096-0, Fax: 0231-521233,<br />
E-Mail: info@ibb-d.de,<br />
Website: www.ibb-d.de<br />
Gekennzeichnete Artikel entsprechen<br />
nicht unbedingt der Meinung der Redaktion.<br />
Einzelpreis: 4,00 Euro, Jahresabonnement<br />
incl. Versand: 15,00 Euro.<br />
Muthesius Kunsthochschule Kiel<br />
haben sich dieser Frage gestellt,<br />
allerdings nähern sie sich der<br />
Problematik ausschließlich durch<br />
Kunst. Innerhalb eines einjährigen<br />
Projekts entstand „Kontaminiert“<br />
- bestehend aus einem Bildband<br />
mit 24 großformatigen, computergenerierten<br />
Illustrationen, sowie<br />
einem umfangreichen Textband,<br />
der sowohl den Hergang des Unglücks<br />
detailliert schildert als auch<br />
die vielen Augenzeugenberichte<br />
wiedergibt, die die Grundlage der<br />
Bilder darstellen (IBB, ca. 30 Euro)<br />
0 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34
Deutsche Ordnung in <strong>Belarus</strong><br />
Publikationen<br />
W. CurILLA: dIe deuTsCHe OrdNuNGsPOLIZeI uNd der HOLOCAusT IM bALTIKuM uNd<br />
IN WeIssrussLANd 1941-1944<br />
(Jan Clauss/Tanja Fichtner, Bonn)<br />
Der Autor bietet mit seinem Monumentalwerk,<br />
welches bereits<br />
in der zweiten Auflage erschien,<br />
„harte Kost“: Er untersucht die<br />
bisher historiographisch kaum<br />
aufgearbeitete Verflechtung der<br />
deutschen Ordnungspolizei mit<br />
der Geheimen Staatspolizei, der<br />
Kriminalpolizei sowie Reservisten<br />
der Waffen-SS im deutsch besetzten<br />
<strong>Belarus</strong>. Vom Sommer 1941 an<br />
führten deutsche Schutzpolizisten<br />
systematisch Massenerschießungen<br />
der Einwohner des Minsker<br />
Ghettos durch, allein zwischen<br />
dem 14. und dem 19.7.1941 sollen<br />
3386 Personen ermordet worden<br />
sein.<br />
Das ist nur eine von tausenden<br />
akribisch aufgeführten Opferzahlen,<br />
die das unvorstellbare<br />
Ausmaß der damals in <strong>Belarus</strong><br />
verübten Verbrechen deutlich machen.<br />
Aufschlussreich sind auch<br />
die Meldungen der Einsatzgruppe:<br />
„Vor allem haben sich die Liquidierungen<br />
eingespielt, die jetzt täglich<br />
in größerem Maße erfolgen. [...] In<br />
Doppelter Dialog<br />
Minsk ist nunmehr die gesamte jüdische<br />
Intelligenzschicht (Lehrer,<br />
Professoren, Rechtsanwälte usw.<br />
mit Ausnahme der Mediziner)<br />
liquidiert worden“ (S. 464).<br />
Das 1000-seitige Kompendium des<br />
Juristen und langjährigen ehemaligen<br />
Hamburger Senators Wolfgang<br />
Curilla besteht aber nicht<br />
nur aus Zahlen, Gerichtsurteilen<br />
und Dienstvorgängen. Eingestreut<br />
in nüchterne Auflistungen wirken<br />
die wenigen Augenzeugenberichte<br />
um so schockierender. Als<br />
1942 auch die ins Minsker Ghetto<br />
deportierten westeuropäischen<br />
Juden ermordet werden sollten,<br />
fürchtete man, Erschießungen<br />
würden zu lange dauern und<br />
setzte deshalb Gaswagen ein: „Das<br />
Wageninnere bot ein schreckliches<br />
Bild. Die Leichen waren über und<br />
über mit Blut, Erbrochenen und<br />
Exkrementen beschmutzt, auf dem<br />
Boden lagen Brillen, Gebisse und<br />
Haarbüschel“ (S. 486).<br />
Nicht nur Juden fielen dem Treiben<br />
der deutschen Ordnungspolizei in<br />
<strong>Belarus</strong> zum Opfer. Im September<br />
1941 wurden über 200 Psychiatriepatienten<br />
der Heilanstalt Nowinki<br />
bei Minsk vergast, erschossen<br />
und in die Luft gesprengt. Den<br />
Befehl dazu gab Heinrich Himmler,<br />
Reichsführer SS und Chef der<br />
Deutschen Polizei, persönlich,<br />
nachdem er Nowinki im August<br />
1941 besucht hatte.<br />
Das gründlich recherchierte, auf<br />
Gerichts- und Staatsanwaltlichen<br />
Entscheidungen 1949-1995<br />
basierende Werk bietet neben<br />
diesen Schilderungen einen umfangreichen<br />
wissenschaftlichen<br />
Apparat (insgesamt knapp 100<br />
Seiten), darunter ca. 40 Seiten Literaturverzeichnis,<br />
45 Seiten Orts-,<br />
Personen- Einheiten- und Dienststellenregister<br />
sowie zwei Seiten<br />
topographisch exakte Karten der<br />
besetzten Gebiete.<br />
Curilla, Wolfgang: Die deutsche Ordnungspolizei<br />
und der Holocaust im<br />
Baltikum und in Weißrußland 1941-1944,<br />
Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn,<br />
2., durchgesehene Auflage 2006, ISBN-10:<br />
3-506-71787-1, 1041 S., 68.- €,<br />
H. TIMMerMANN: dIe beZIeHuNGeN deuTsCHLANd-beLArus IM eurOPäIsCHeN KONTexT<br />
(MS) Wie gestaltet Deutschland<br />
seine außenpolitischen Beziehungen<br />
zu <strong>Belarus</strong>? Die Frage ist nicht<br />
einfach zu beantworten, weil die<br />
Bundesrepublik einerseits als Vertreter<br />
der EU in <strong>Belarus</strong> auftritt,<br />
sie aber andererseits aufgrund<br />
der guten zivilgesellschaftlichen<br />
Beziehungen eine Vorreiterrolle in<br />
Europa spielt. Deshalb ist Deutschland<br />
nicht zufällig „Vorkämpfer<br />
einer Politik, die die asymetrische<br />
doppelte Dialogstrategie gegenüber<br />
<strong>Belarus</strong> fortsetzt“, wie Heinz<br />
Timmermann es treffend in seiner<br />
Broschüre formuliert.<br />
Timmermann setzt sich als freier<br />
Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft<br />
und Politik seit geraumer<br />
Zeit mit der belarussischen Außenpolitik<br />
auseinander - sowohl<br />
im europäischen, als auch im<br />
russischen Kontext. Dadurch ist es<br />
ihm möglich, in seine sachkundige<br />
Analyse den wichtigen russischen<br />
Faktor einfließen zu lassen.<br />
Auf der einen Seite unterhält<br />
Deutschland Kontakte auf der zivilgeselschaftlichen<br />
und niederen<br />
Verwaltungsebene, andererseits<br />
übt es auf Regierungsebene un-<br />
zweideutige Kritik an der Verletzung<br />
von OSZE-Standards. Wie<br />
diese Strategie sich entwickelt hat,<br />
ist ebenso Thema der Broschüre<br />
wie die Perspektiven einer deutschen<br />
Demokratieförderung in<br />
<strong>Belarus</strong>. So ist sie sowohl für <strong>Belarus</strong>-Experten,<br />
als auch für Neulinge<br />
ein ausgezeichnetes Hilfsmittel,<br />
um die deutsch-belarussischen<br />
Beziehungen zu erfassen.<br />
Timmermann, Heinz: Die Beziehungen<br />
Deutschland-<strong>Belarus</strong> im europäischen<br />
Kontext. Mit einem Vorwort von Eberhard<br />
Heyken. Dortmund: IBB, 2006..<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34 1
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(Orthodoxe, Katholiken, Baptisten; 2001/<br />
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(von U. Gartenschläger; 2002 / 12 Euro)<br />
� die beziehungen deutschland-belarus<br />
im europäischen Kontext)<br />
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(von Paul Kohl; 2003 / 8 Euro)<br />
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<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Nr. 34<br />
Vernichtungslager Trostenez<br />
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Trostenez? Die NS-Todeslager in<br />
Polen sind bekannt, doch die in der<br />
früheren UdSSR kaum. Das heißt<br />
nicht, dass jene weniger schrecklich<br />
waren oder keine eigene Geschichte<br />
hatten. Und Erinnerung<br />
bedeutet Verständigung mit den<br />
Opfern der Deutschen in <strong>Belarus</strong>.<br />
Dieses Ziel verfolgen das IBB<br />
Dortmund als Herausgeber und<br />
Paul Kohl, Schriftsteller und Mitarbeiter<br />
der Geschichtswerkstatt<br />
Minsk, als Autor. Den Weg dazu<br />
bilden eine äußerst wissensreiche<br />
Einführung und ausgewählte Augenzeugenberichte<br />
zu den Verbrechen<br />
zwischen 1941 und 1944. Die<br />
Tatsachen sprechen für sich...<br />
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der IBB Minsk<br />
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