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Belarus- - Internationales Bildungs

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K 46699, Nr. 34<br />

IBB<br />

<strong>Internationales</strong><br />

<strong>Bildungs</strong>- und<br />

Begegnungswerk<br />

LIebe LeserINNeN uNd Leser,<br />

<strong>Belarus</strong> orientiert sich außenpolitisch<br />

schon lange nicht mehr an<br />

seinen europäischen Nachbarn.<br />

Priorität haben neben den Beziehungen<br />

zu Russland Länder<br />

wie China, Venezuela und Iran,<br />

mit denen Minsk das autoritäre<br />

Staatsverständnis teilt. Nun setzt<br />

Präsident Lukaschenko verstärkt<br />

auch auf eine wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />

mit den Präsidenten<br />

Chavez und Achmadinedschad,<br />

um sich gegen Unwägbarkeiten bei<br />

der russsischen Energieversorgung<br />

abzusichern. Ob diese Versuche erfolgversprechend<br />

sind, analysiert<br />

Andrej Alexandrowitsch in seinem<br />

Artikel „Brücken bauen und Öl<br />

fördern“ auf Seite 12. Alexander<br />

Dautin zeigt in seiner Analyse des<br />

Treffens der blockfreien Staaten<br />

in Havanna, wie <strong>Belarus</strong> sich im<br />

internationalen Kontext mit Hilfe<br />

seiner Verbündeten zu positionieren<br />

gedenkt - auf Seite 2.<br />

Seit mehr als einem Jahr schon<br />

sprechen politische Beobachter<br />

davon, Präsident Lukaschenko<br />

könnte einen weiteren Schritt zur<br />

Festigung seiner Macht unternehmen<br />

und eine Staatspartei nach<br />

Vorbild des Putin‘schen „Einigen<br />

Russland“ gründen. Warum ein<br />

solches Szenario jedoch weiterhin<br />

unwahrscheinlich bleibt, erläutert<br />

Andrej Alexandrowitsch in seinem<br />

Artikel „Das habe ich nicht nötig“<br />

auf Seite 6.<br />

Dass <strong>Belarus</strong> trotz seiner Außenpolitischen<br />

Prioritäten seinen festen<br />

Platz in Europa hat, zeigen eine<br />

ganze Reihe von zivilgesellschaft-<br />

Herbst 2006<br />

<strong>Belarus</strong>-<br />

Perspektiven<br />

lichen und kulturellen Veranstaltungen,<br />

die in den letzten Monaten<br />

stattfanden. Zunächst wurde in<br />

einem Festakt die IBB Minsk in IBB<br />

„Johannes Rau“ umbenannt - der<br />

Vorschlag dazu wurde unterbreitet<br />

vom stellvertretenden belarussischen<br />

Außenminister, was zeigt,<br />

dass der belarussische Staat sich<br />

im Dialog um Versöhnung und<br />

Begegnung zu engagieren weiß.<br />

Anfang Oktober fand dann in der<br />

frisch getauften IBB „Johannes<br />

Rau“ die Tagung „Von der Hilfe<br />

zu Partnerschaften - Perspektiven<br />

und Zusammenarbeit 20 Jahre<br />

nach Tschernobyl“ statt, auf der<br />

sich deutsche, belarussische und<br />

ukrainische Tschernobyl-Initiativen<br />

austauschen und Projekte<br />

entwickeln konnten. (Seite 22)<br />

Aber auch die belarussische Kultur<br />

brachte in diesem Herbst<br />

viele Menschen in Deutschland<br />

zusammen: bei dem Kulturfestival<br />

„good.by“ und den Lesungen zum<br />

100. Jubiläum der Zeitung „Nascha<br />

Niva“ in Berlin oder bei der <strong>Belarus</strong>-Konferenz<br />

der Evangelischen<br />

Akademie in Wittenberg. Dass Begegnung<br />

manchmal auch einfach<br />

nur junge, engagierte Menschen<br />

braucht, zeigt das Sommerlager<br />

der Aktion Sühnezeichen, bei dem<br />

Behinderte und Nichtbehinderte<br />

aus Deutschland, <strong>Belarus</strong> und<br />

Österreich zusammenkamen. (Artikel<br />

auf Seite 29) Von solchem Engagement<br />

leben die Beziehungen<br />

zwischen <strong>Belarus</strong>, Deutschland<br />

und Europa.<br />

Ihre Redaktion<br />

In dieser Ausgabe Seite<br />

Außenpolitik<br />

„Blockfreie“ und Verstoßene 2<br />

Diplomatische Skandale 3<br />

Kein Zollunion in Sicht 4<br />

Radio hat Zukunft 5<br />

Innenpolitik<br />

„Das habe ich nicht nötig“ 6<br />

Mehr Waisen? 7<br />

Sicherheitsrat 8<br />

„Manchmal verschiedene Ziele“ 9<br />

Oppositionelle Kommunisten 9<br />

Wirtschaft<br />

<strong>Belarus</strong> und EU 10<br />

Brücken bauen und Öl fördern 12<br />

Weltbank kritisiert <strong>Belarus</strong> 13<br />

NGOs & Gesellschaft<br />

Johannes-Rau-Haus 14<br />

Deutsche Woche 2006 15<br />

Nachruf auf Eva Balke 18<br />

Streitfall Waisenkind 19<br />

Nachhaltige Wohnungswirtschaft 20<br />

Nach Tschernobyl<br />

Austausch erwünscht 22<br />

Kultur & Wissenschaft<br />

Regeln für die Muttersprache 24<br />

Immer mehr „Stalin-Linien“ 25<br />

Zwei Schriftstellerverbände 26<br />

Neue staatliche Universität 26<br />

Nach Europa? 27<br />

„Weg von den Klischees“ 28<br />

100 Jahre unabhängige Presse 28<br />

Neuntes Minsk Forum 29<br />

Menschen mit Kanten 29<br />

Publikationen<br />

„Die Wolke“ 30<br />

„Kontaminiert“ 30<br />

Deutsche Ordnung 31<br />

Doppelter Dialog 31<br />

Chronologie 16<br />

Impressum 30<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Nr. 34


Außenpolitik<br />

„Blockfreie“ und Verstoßene<br />

(Alexander dautin, Minsk) Mitte september fand die Konferenz des „bewegung der blockfreien staaten“<br />

in Havanna statt. unter den 118 delegationen aus aller Welt waren auch „stars“ der blockfreien Welt wie<br />

die Präsidenten Achmadinedschad aus dem Iran, Chavez aus Venezuela sowie Manmohan singh (Indien)<br />

und Pervez Musharraf (Pakistan). sie debattierten über die schaffung einer neuen „multipolaren“ Weltordung.<br />

Lukaschenko rief die delegierten dazu auf, wirtschaftlich enger zusammenzuarbeiten.<br />

Die Konferenz der blockfreien<br />

Staaten ist eines der wenigen<br />

internationalen Foren, auf denen<br />

Alexander Lukaschenko nach<br />

wie vor auftreten kann. Deshalb<br />

nutzte der belarussische Präsident<br />

diese Bühne, um seine Sicht zu<br />

verkünden. Dazu gehörte auch die<br />

„besondere Mission“, die <strong>Belarus</strong><br />

nach seinen Worten auf der Konferenz<br />

zu erfüllen hatte. „Wir sind<br />

eure Vertreter in der alten Welt,<br />

in Europa!“ rief Lukaschenko den<br />

Delegierten zu und erntete Beifall.<br />

Er forderte die Teilnehmer auf,<br />

„aktiver an der Schaffung einer<br />

neuen, gerechteren Weltordung“<br />

zu arbeiten. Seiner Meinung nach<br />

zeige sich, dass die heutige monopolare<br />

Welt nicht lebensfähig sei.<br />

Es sei an der Zeit, ein „eindeutiges<br />

Programm zur stetigen, aber unabdingbaren<br />

Schaffung einer multipolaren<br />

Welt“ auszuarbeiten.<br />

Neue POLITIsCHe KrAfT?<br />

Um dies zu erreichen, müssten<br />

die blockfreien Staaten „ein selbstständiges<br />

Zentrum politischer<br />

Kraft in der Welt werden“. Zu<br />

diesem Zweck, meinte der belarussische<br />

Präsident, müssten sich<br />

die Staaten vor allem solidarisch<br />

miteinander zeigen. Solidarität<br />

sei ein außerordentlich wichtiges<br />

Instrument bei der Verteidigung<br />

kleiner und schutzloser Staaten.<br />

„Die blockfreien Staaten sollten<br />

ihre Mitglieder entschieden verteidigen,<br />

wenn diese zu Opfern des<br />

Druckes oder der Aggression von<br />

außen werden“, meinte er.<br />

MeHr ZusAMMeNArbeIT<br />

Der erste Schritt müsse jedoch eine<br />

stärkere wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />

zwischen den Block-<br />

freien Staaten sein, erklärte Lukaschenko.<br />

Dazu gehörten unter<br />

anderem Handelspräferenzen,<br />

aber auch die Schaffung einer<br />

gemeinsamen „Bank wirtschaftlicher<br />

Informationen, die zu einer<br />

Informationsplattform für Projekte<br />

der Zusammenarbeit und einer interaktive<br />

Datenbank über die Interessen<br />

und Probleme unserer Staaten“<br />

werden würde. Lukaschenko<br />

hält es dabei für ein Primärziel,<br />

das „Informationsmonopol des<br />

Westens“ zu überwinden.<br />

WICHTIGe GesPräCHe<br />

Lukaschenko bekam zwei Mal<br />

Gelegenhiet, vor den Delegierten<br />

zu sprechen. Zudem traf sich das<br />

belarussische Staatsoberhaupt<br />

mit einer Reihe ausländischer<br />

Staats- und Regierungschefs zu<br />

bilateralen Gesprächen. Unter<br />

Lukaschenkos Gesprächspartnern<br />

war auch der iranische Präsident<br />

Machmud Achmadinedschad, mit<br />

dem Lukaschenko ein „Programm<br />

zur Aktivisierung der Zusammenarbeit<br />

im strategischen Bereich“<br />

besprach und mit ihm offizielle Visiten<br />

abstimmte. Lukaschenko und<br />

sein venezuelischer<br />

Kollege<br />

Hugo Chavez<br />

unterschrieben<br />

indes ein Memurandum<br />

des<br />

zur Schaffung<br />

einer gemeinsamenKommission<br />

auf höchster<br />

politischer<br />

Ebene. Weitere<br />

GesprächspartnerLukaschenkos<br />

waren die<br />

Staatschefs von<br />

Südafrika, Al-<br />

gerien und Malaysia. Der belarussische<br />

Präsident plant zudem<br />

Visiten nach Vietnam, Bolivien<br />

und Ägypten.<br />

PrObLeMe<br />

Allerdings ist es gut möglich,<br />

dass Lukaschenkos Appelle zur<br />

Schaffung einer „gerechteren<br />

Weltordnung“ ungehört verhallten.<br />

Schließlich sind die Mitglieder<br />

des Bündnis Blockfreier<br />

Staaten keinesfalls „Big Player“<br />

auf der internationalen politischen<br />

Bühne. Dazu kommt, dass viele<br />

Staaten dem Bündnis nicht beitreten<br />

wollen, weil sie durch einige<br />

Mitgliedsländer mit schlechtem<br />

Ruf abgeschreckt werden. Analytiker<br />

weisen darauf hin, dass<br />

ein Beitritt zu dem Bündnis in<br />

vielerlei Hinsicht bedeutet, einem<br />

Block von in der westlichen Welt<br />

geächteten Staatschefs wie Achmadimedschad,<br />

Chavez oder auch<br />

Alexander Lukaschenko bedeutet.<br />

Selbst wenn das Bündnis Blockfreier<br />

Staaten zu einem Pol der<br />

Weltpolitik wird - dieser Pol dürfte<br />

kaum sehr anziehend auf politisch<br />

neutrale Staaten wirken.<br />

A. Lukaschenko, M. Achmadinedschad und H. Chavez in Havanna.<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34


Diplomatische Skandale ohne Folgen<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34<br />

Außenpolitik<br />

(Alexander dautin, Minsk) ende August kam ein litauischer Geheimdienstler in brest unter zweifelhaften<br />

umständen zu Tode. die beziehungen zwischen dem baltischen eu-staat und belarus litten darunter<br />

jedoch nicht. Im Gegenteil: Litauen sprach sich im rat der europäischen union gemeinsam mit Polen und<br />

Lettland gegen Wirtschaftssanktionen gegen belarus aus und erntete dafür beifall aus Minsk.<br />

In der Nacht vom 22. auf den 23.<br />

August stürzte Vitautas Patiunas<br />

aus dem neunten Stock des Hotels<br />

„Intourist“ in Brest. Patiunas war<br />

nicht nur Mitarbeiter der lettischen<br />

Botschaft in <strong>Belarus</strong>, sondern arbeitete<br />

auch für den litauischen<br />

Geheimdienst. Dementsprechend<br />

schnell kamen Gerüchte über<br />

einen gewaltsamen Tod des Diplomaten<br />

auf. Die belarussische<br />

Polizei erklärte, Patiunas sei beim<br />

Sturz schwer alkoholisiert gewesen.<br />

In der litauischen Presse hieß<br />

es dagegen, er habe grundsätzlich<br />

keinen Alkohol getrunken. Bereits<br />

einige Wochen zuvor hatte<br />

es einen Skandal um einen Mitarbeiter<br />

der lettischen Botschaft<br />

gegeben. <strong>Belarus</strong> hatte ihm die<br />

Produktion von pornografischen<br />

Filmen vorgeworfen hatte und ihn<br />

ausgewiesen. Dieses Mal schienen<br />

beide Seiten jedoch kein Interesse<br />

an einer Eskalation zu haben: Die<br />

belarussische Staatsanwaltschaft<br />

geht von einem Unfall aus, plant<br />

aber dennoch, den Fall noch einmal<br />

eingehend zu prüfen.<br />

bessere beZIeHuNGeN<br />

Litauen indessen setzte sich im Rat<br />

der Europäischen Union für Handelspräferenzen<br />

für <strong>Belarus</strong> ein.<br />

Die Wirtschaftssanktionen gegen<br />

<strong>Belarus</strong> waren auf die Tagesordnung<br />

gesetzt worden, weil <strong>Belarus</strong><br />

die Regeln zur Gewerkschaftsfreiheit<br />

innerhalb der Internationalen<br />

Arbeitsorganisation verletzt hatte.<br />

Der litauische Premier Kirkilas erklärte,<br />

sein Land werde sich auch<br />

in Zukunft gegen Wirtschaftssanktionen<br />

aussprechen.<br />

KeINe sANKTIONeN<br />

„Wir sind für ernsthafte politische<br />

Maßnahmen gegen <strong>Belarus</strong>, wer-<br />

den Wirtschaftssanktionen jedoch<br />

nicht zustimmen. Sie würden das<br />

Leben des belarussischen Volkes<br />

erschweren“, verkündete Kirkilas.<br />

„Wenn es als unbedingt nötig<br />

erscheint, die Sanktionen gegen<br />

Minsk zu verschärfen, könnte man<br />

auch einfach die EU-Einreiseverbote<br />

für belarussische Beamte auf<br />

ein- bis zweitausend Personen<br />

ausweiten“, meinte der litauische<br />

Premier. Die EU solle nach Meinung<br />

Kirkilas‘ auch von einer Verteuerung<br />

ihrer Visa für <strong>Belarus</strong>sen<br />

absehen. Neben Wirtschaftssanktionen<br />

führe auch dieses Mittel nur<br />

„zu einer Isolation des Landes,<br />

was für das Regime von großem<br />

Vorteil ist. Unser Vorschlag stattdessen:<br />

Die EU sollte die Europäische<br />

Nachbarschaftspolitik wieder<br />

auf <strong>Belarus</strong> anwenden und Mittel<br />

ergreifen, die die illegitime Lukaschenko-Diktatur<br />

direkt treffen,<br />

nicht das belarussische Volk“.<br />

Tatsächlich hat Litauen handfeste<br />

wirtschaftliche Interessen daran,<br />

dass die Handelspräferenzen zwischen<br />

der EU und <strong>Belarus</strong> nicht<br />

aufgehoben werden. Experten<br />

rechneten im Fall einer Aufhebung<br />

mit Millionenverlusten für litauische<br />

Geschäftsleute, die in <strong>Belarus</strong><br />

tätig sind.<br />

ANGesTrebTe sTAbILITäT<br />

Der litauische Außenminister Pjatras<br />

Vaitekunas erklärte zu den<br />

Beziehungen zwischen beiden<br />

Ländern: „Wir wünschen, dass<br />

sich <strong>Belarus</strong> wie ein ungefährliches,<br />

stabiles und demokratisches<br />

Land entwickelt.“ Vaitekunas<br />

bekräftigte, dass die Beziehungen<br />

seines Landes zu <strong>Belarus</strong> nach<br />

dem Beitritt zur EU an Bedeutung<br />

gewonnen hätten. Litauen<br />

kooperiere mit <strong>Belarus</strong> in den<br />

Bereichen der Grenzsicherheit, der<br />

Ausschöpfung des wirtschaftlichen<br />

und touristischen Potenzials,<br />

des Umweltschutzes sowie des<br />

Kampfes mit illegaler Migration,<br />

organisierter Kriminalität und<br />

Menschenhandel. „Es ist uns klar,<br />

wie wichtig zwischenmenschliche<br />

Kontakte in den Beziehungen zwischen<br />

Litauen und <strong>Belarus</strong> sowie<br />

der EU und <strong>Belarus</strong> sind“, erklärte<br />

der litauische Außenminister auch<br />

in Anspielung auf die Forderung<br />

innerhalb der EU, die Visapreise<br />

für <strong>Belarus</strong>sen auf den EU-Standard<br />

von 60 Euro anzuheben.<br />

dANKbAre reAKTION<br />

Indes bedankte sich der belarussische<br />

Präsident Alexander Lukaschenko<br />

offiziell bei Litauen und<br />

Lettland für deren Unterstützung<br />

im Rat der Europäischen Union.<br />

„Ich bin nicht nur den Geschäftsleuten,<br />

sondern auch einigen<br />

Amtsleitern unserer Nachbarn<br />

zu Dank verpflichtet.“ Sie alle<br />

verstünden, dass eine Aufhebung<br />

der Handelspräferenzen zu großen<br />

Verlusten auch auf eigener<br />

Seite führen würden. Lukaschenko<br />

reagierte zudem darauf, dass in<br />

Brüssel das Thema Aufhebung der<br />

Handelspräferenzen noch nicht<br />

vom Tisch ist. „Wenn Sanktionen<br />

kommen, ist unsere Antwort klar:<br />

Das werden wir überleben. Wir<br />

haben schon schlimmeres überlebt“,<br />

erklärte der belarussische<br />

Präsident. Expertenschätzungen<br />

zu Folge könnten die Verluste für<br />

<strong>Belarus</strong> dabei bis zu 250 Millionen<br />

Euro im Jahr betragen. Ob es Sanktionen<br />

geben wird oder nicht - das<br />

hängt vor allem davon ab, ob die<br />

diplomatischen Skandale zwischen<br />

Polen und den baltischen Ländern<br />

auch weiterhin keine negativen<br />

Folgen für die Wirtschaftsbeziehungen<br />

haben werden.


Außenpolitik<br />

Kein Zollunion in Sicht<br />

(Pauljuk bykowski, Minsk) Im August trafen sich die staats- und regierungschefs der eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft<br />

(eurAseC) in sotschi. sie wollten sich unter anderem auf eine Zollunion einigen<br />

- erfolglos, wie bereits im Juni in Minsk und in den letzten zehn Jahren des russisch-belarussischen „Integrationsprozesses“.<br />

Zudem sehen Wirtschaftsexperten nun in der eurAseC für belarus kaum Vorteile.<br />

Die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft<br />

ist, ähnlich wie der belarussisch-russische<br />

Unionsstaat, ein<br />

formaler Zusammenschluss mit<br />

großer Bürokratie und regelmäßigen<br />

Lippenbekenntnissen zum<br />

Integrationsprozess. Zwar hat<br />

die EURASEC den Status einer<br />

Wirtschaftsgemeinschaft, denn<br />

ihre formalen Ziele sind mit denen<br />

ähnlicher Organisationen<br />

in Nordamerika oder Asien vergleichbar:<br />

Ein Zusammenwachsen<br />

der Märkte durch Zollunion und<br />

gemeinsame Wirtschaftspolitik.<br />

Allerdings sind keinesfalls alle<br />

Mitgliedsländer an der Verwirklichung<br />

dieser Ziele interessiert.<br />

Die Gemeinschaft ging aus der<br />

1996 ins Leben gerufenen Zollunion<br />

zwischen Russland, <strong>Belarus</strong>,<br />

Kasachstan und Kirgisien hervor.<br />

Im Jahre 2000 unterschrieben die<br />

Staats- und Regierungschefs der<br />

sechs Mitgliedsländer in Kasachstan<br />

den EURASEC-Vertrag. Drei<br />

Jahre später wurde die EURASEC<br />

als Beobachter in der Generalversammlung<br />

der UNO zugelassen;<br />

ihre Beamten genießen seither<br />

parlamentarische Immunität.<br />

GrOsse VOrsäTZe<br />

Die EURASEC gruppiert sich<br />

um einen „Kern“, bestehend aus<br />

Russland, <strong>Belarus</strong> und Kasachstan.<br />

Daneben sind noch die Republiken<br />

Kirgisien, Tadschikistan<br />

und Usbekistan Mitglieder des<br />

Bündnisses, während Moldau, die<br />

Ukraine und Armenien als Beobachter<br />

zugelassen sind. Bereits vor<br />

drei Jahren versprachen die Staats-<br />

und Regierungschefs, bis heute<br />

eine Zollunion zu schaffen und<br />

so den Wahrenverkehr zwischen<br />

den Mitgliedsstaaten wesentlich<br />

zu vereinfachen. Tatsächlich wurde<br />

von über 70 Punkten, die man<br />

sich damals vornahm, bisher nicht<br />

einmal ein Drittel erfüllt.<br />

VersCHLePPuNG<br />

Kritiker bemängeln, dass die<br />

Mitglieder der EURASEC zu unterschiedlichen<br />

Interessen haben,<br />

um sich auf eine Zollunion einigen<br />

zu können, geschweige denn auf<br />

eine gemeinsame Wirtschaftspolitik.<br />

Denn alle EURASEC-Staaten<br />

werden autoritär regiert. Eine Abgabe<br />

der Zollhoheit würde einen<br />

Machtverlust der bürokratischen<br />

Apparate bedeuten. Daneben hat<br />

sich in der EURASEC inzwischen<br />

eine eigene Bürokratie entwickelt,<br />

die um ihre Pfründe kämpft, um<br />

nicht in der völligen Bedeutungslosigkeit<br />

zu versinken - einer der<br />

Gründe für die regelmäßigen<br />

Treffen.<br />

sCHLeCHTes VOrbILd<br />

Russland und <strong>Belarus</strong> haben bereits<br />

1995 einen Vertrag über eine<br />

Zollunion unterzeichnet, doch die<br />

Ergebnisse sind nach über zehn<br />

Jahren äußerst mager. Experten<br />

sprechen sogar von keiner echten<br />

Zollunion . „Eine tatsächliche Zollunion<br />

- das bedeutet gemeinsame<br />

Einfuhrzölle, keine Einschränkungen<br />

für den Warenverkehr<br />

innerhalb der Union. Das alles gibt<br />

es zwischen <strong>Belarus</strong> und Russland<br />

nicht“, erklärt der Wirtschaftswissenschaftler<br />

Leonid Slotnikov vom<br />

belarussischen Analysezentrum<br />

„Alternative 21“: „Die Zollunion<br />

existiert nur teilweise. Denn für<br />

mehr als tausend Waren gibt es<br />

nach wie vor unterschiedliche<br />

belarussische und russische Einfuhrzölle.“<br />

Zudem, unterstreicht<br />

Slotnikov, würden <strong>Belarus</strong> und<br />

Russland ihre Zollpolitik nicht untereinander<br />

abstimmen. Russland<br />

ignoriere sogar die belarussischen<br />

Interessen, so z. B. bei den Einfuhrzöllen<br />

für gebrauchte LKW,<br />

was den belarussischen Handel<br />

ernsthaft gefährde.<br />

KeINe VOrTeILe<br />

Sollte die EURASEC-Zollunion<br />

umgesetzt werden, so Slotnikov<br />

weiter, werde das kaum Vorteile<br />

für die belarussische Wirtschaft<br />

bringen. Denn neben Russland<br />

und <strong>Belarus</strong> engagiert sich vor allem<br />

Kasachstan in der EURASEC.<br />

Das Land liegt jedoch zu weit von<br />

<strong>Belarus</strong> entfernt, um als direkter<br />

Handelspartner von großem Interesse<br />

sein zu können. Es bleibt<br />

jedenfalls unwahrscheinlich, dass<br />

die Union jemals zustande kommt,<br />

denn die Hälfte der Mitglieder<br />

interessiert sich mehr dafür, Abkommen<br />

über die gemeinsame<br />

Nutzung von Wasser- und Energieressourcen<br />

in Zentralasien abzuschließen.<br />

Neutrale Beobachter<br />

fragen sich deshalb nach dem Sinn<br />

und Zweck dieser Organisation,<br />

die die Schaffung einer Zollunion<br />

als eines ihrer Ziele ausgibt.<br />

ZufrIedeNHeIT<br />

Dennoch ist <strong>Belarus</strong> mit dem<br />

Treffen in Sotschi zufrieden. „Man<br />

kann sagen, dass das Treffen, das<br />

ja zuerst als informeller Austausch<br />

gedacht war, einen weiteren wichtigen<br />

Beitrag zur Stärkung des<br />

Integrationsprozesses auf postsowjetischem<br />

Territorium geleistet<br />

hat“, erklärte nach dem Treffen<br />

der Beauftragte des belarussischen<br />

Präsidenten, Valentin Rybakov.<br />

„Soweit mir bekannt ist, hat der<br />

Präsident die Ergebnisse des Treffens<br />

zu schätzen gewusst.“<br />

EURASEC-Website: www.evrazes.com<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34


Radio hat Zukunft, Fernsehen kaum<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34<br />

Außenpolitik<br />

In Vilnius diskutierten im september Medien- und Politikvertreter aus belarus und der eu über die Zukunft<br />

unabhängiger radio- und fernsehsender für belarus. Wir baten den Leiter des belarus-Programmes<br />

der deutschen Welle, Viktor Agajev, die ergebnisse der Konferenz zusammenzufassen.<br />

(Viktor Agajev, Bonn) Der Europarat,<br />

die Litauische Bürgerschutz-<br />

Stiftung und das oppositionelle<br />

Komitee der Demokratischen<br />

Kräfte hatten den Runden Tisch organisiert,<br />

damit über die Probleme<br />

und Möglichkeiten des „alternativen“<br />

Fernsehens und Hörfunks in<br />

<strong>Belarus</strong> diskutiert werden konnte.<br />

<strong>Belarus</strong>sische Oppositionspolitiker<br />

konnten Meinungen von<br />

Medienexperten kennenlernen<br />

und mit ihnen die Konzepte für<br />

unabhängige Radio- und Fernsehsender<br />

erörtern. Die Vertreter<br />

der belarussischen Opposition<br />

formulierten ihre Ziele folgendermaßen:<br />

Es müsse ein Fernseh- und<br />

Hörfunksystem entwickelt werden,<br />

das Dissidenten, aber auch<br />

einfache Bürger mit objektiven<br />

und zuverlässigen Information<br />

versorgt; <strong>Belarus</strong>sen müssten für<br />

demokratische Ideale gewonnen<br />

werden; die belarussische Kultur<br />

müsse gefördert werden; es müsse<br />

eine Bühne für die demokratischen<br />

Politiker aus <strong>Belarus</strong> und anderen<br />

Ländern entstehen. Teilnehmer<br />

der Diskussion waren sich darin<br />

einig, dass die personelle Ausstattung<br />

des alternativen Hörfunks<br />

und Fernsehens keine unlösbare<br />

Frage sei, es mangele jedoch an<br />

Technik und Sendekapazitäten.<br />

VIer rAdIOseNder<br />

Momentan senden nur vier von<br />

Lukaschenkos Regierung unabhängige<br />

Hörfunksender für <strong>Belarus</strong>:<br />

Die Deutsche Welle (DW), das<br />

amerikanisch finanzierte Radio<br />

Liberty (RL) sowie die polnischen<br />

Sender Radio Raziya und das Europäische<br />

Radio für <strong>Belarus</strong>. Die<br />

DW und RL senden im Kurz- und<br />

Mittelwellenbereich sowie über<br />

Satellit und im Internet. Radio<br />

Raziya sendet auf UKW, allerdings<br />

können <strong>Belarus</strong>sen den Sender<br />

wegen seines schwachen Signals<br />

nur im direkten Grenzbereich zu<br />

Polen empfangen. Eine Internetübertragung<br />

ist im Aufbau. Das<br />

Europäische Radio für <strong>Belarus</strong><br />

wird übers Internet übertragen<br />

sowie über Mittelwelle. In <strong>Belarus</strong><br />

kann man es schlecht empfangen.<br />

Das Problem besteht darin, dass<br />

<strong>Belarus</strong>sen vornehmlich UKW-<br />

Radio hören, die Sendeplätze<br />

aber vom belarussischen Staat<br />

vergeben werden. Die Reichweite<br />

von UKW-Sendern ist indes zu gering.<br />

Für den Kurzwellenempfang<br />

werden recht teure Empfänger<br />

benötigt, die in <strong>Belarus</strong> nur noch<br />

Radioliebhaber nutzen. Billigere<br />

Geräte garantieren keine gute<br />

Empfangsqualität. Gleichzeitig<br />

wurden aber durch Sparmaßnahmen<br />

die Frequenzen der DW und<br />

RL reduziert, was zu Lasten der<br />

Empfangsqualität geht. Internet<br />

und Satellit sind ebenfalls keine<br />

Alternativen, weil beide von <strong>Belarus</strong>sen<br />

kaum zum Radioempfang<br />

genutzt werden und relativ gering<br />

verbreitet sind.<br />

VersTäNdIGuNG<br />

Die vier Radiosender strahlen derzeit<br />

ihre Sendungen - neben den<br />

bereits genannten Verbreitungswegen<br />

- auch auf Mittelwelle aus,<br />

über eine Sendeanlage von Radio<br />

Baltic Waves in Litauen. Die Leistung<br />

dieser Anlage reicht jedoch<br />

nicht aus, um das gesamte Territorium<br />

von <strong>Belarus</strong> abzudecken.<br />

Die Teilnehmer der Diskussion in<br />

Vilnius haben sich darauf verständigt,<br />

dass es sinnvoller wäre, die<br />

Kräfte aller beteiligten elektronischen<br />

Medien und der Sponsoren<br />

zu bündeln, um einen leistungsfähigeren<br />

Sender bei Radio Baltic<br />

Waves zu installieren und ein<br />

gemeinsames Übertragungsnetz<br />

zu schaffen. Eine derartige Zusam-<br />

menarbeit hätte auch inhaltliche<br />

Synergieeffekte zur Folge - die<br />

Sender könnten sich auf Themenbereiche<br />

spezialisieren und inhaltliche<br />

Dopplungen vermeiden. Das<br />

Europäische Radio für <strong>Belarus</strong> will<br />

sich als Musik- und Informationssender<br />

für Jugendliche profilieren,<br />

die DW und RL würden schwerpunktmäßig<br />

neben aktuellen<br />

Informationssendungen auch analytische<br />

Programme ausstrahlen.<br />

Dabei ist zu beachten, dass RL nur<br />

auf <strong>Belarus</strong>sisch sendet, während<br />

die DW auf Russisch und <strong>Belarus</strong>sisch<br />

ausgestrahlt wird - was die<br />

tatsächliche Sprachsituation im<br />

Zielland widerspiegelt.<br />

ferNseHeN<br />

Das Satellitenfernsehen wurde<br />

auf der Konferenz als zukunftsträchtiges<br />

Medium betrachtet, weil<br />

immer mehr <strong>Belarus</strong>sen Satellitenanlagen<br />

benutzen. Allerdings<br />

stagniert die Anzahl der Satellitenempfangsanlagen<br />

momentan bei<br />

ca. 5 % der Gesamtbevölkerung.<br />

Eines der Hauptprobleme des<br />

Mediums Fernsehens sind die<br />

Finanzen. Es fehlt ein professionelles<br />

Fernsehzentrum für <strong>Belarus</strong><br />

im Ausland, in dem technisch als<br />

auch inhaltlich hochwertige Sendungen<br />

produziert und per Satellit<br />

ausgestrahlt werden könnten.<br />

Eine Akkreditierung bei den entsprechenden<br />

Behörden in <strong>Belarus</strong><br />

ist zudem unabdingbar, weil die<br />

Journalisten sonst eine Verhaftung<br />

riskieren. Selbst für die Einfuhr einer<br />

Kamera aus dem Ausland wird<br />

eine spezielle Erlaubnis benötigt.<br />

Der Wunsch der Teilnehmer des<br />

Runden Tisches, ein unabhängiges<br />

Fernsehen für <strong>Belarus</strong> ins Leben<br />

zu rufen, scheint angesichts dieser<br />

Hürden - vor allem angesichts der<br />

finanziellen Erfordernisse - kaum<br />

realisierbar.


Innenpolitik<br />

„Das habe ich nicht nötig“<br />

LuKAsCHeNKO WILL KeINe KüNsTLICHe sTAATsPArTeI<br />

(Andrej Alexandrowitsch, Minsk). Alexander Lukaschenko hat im August einer belarussischen „Partei<br />

der Macht“ nach russischem Vorbild eine klare Absage erteilt. Lukschenko meinte, er wolle keine solche<br />

Partei „von oben“ schaffen. somit lässt der Präsident bewusst spielraum für Initiativen „von unten“.<br />

Bereits seit einigen Jahren unternimmt<br />

der belarussische Staat regelmäßig<br />

den einen oder anderen<br />

Versuch, eine „Partei der Macht“<br />

zu schaffen. Da bisher allerdings<br />

kein klarer Befehl vom Präsidenten<br />

kam, sind die Aktivitäten alle im<br />

Sande verlaufen. Das jüngste Beispiel<br />

stammt aus dem Jahre 2004:<br />

Die Grodnoer NGO „Belaja Rus“.<br />

Fabrikchefs, Chefärzte und andere<br />

hochgestellte Staatsbedienstete<br />

schufen die Organisation, die sich<br />

wortgetreu an Slogans wie „Für<br />

ein starkes und blühendes <strong>Belarus</strong>“<br />

hielt. Den Präsidenten schien<br />

das jedoch kalt zu lassen. Alexander<br />

Lukaschenko machte keine<br />

Anstalten, sich persönlich für „Belaja<br />

Rus“ stark zu machen, so dass<br />

die Organisation auf das Grodnoer<br />

Gebiet beschränkt blieb.<br />

Treues VOLK<br />

Im Juni dann machte Lukaschenko<br />

klar, dass er auch weiterhin keine<br />

Partei braucht: „Ich habe das nicht<br />

nötig. Das Volk wird mir sowieso<br />

nie etwas abschlagen“, erklärte<br />

der Staatschef. Allerdings, ließ<br />

Lukaschenko durchblicken, habe<br />

er grundsätzlich nichts dagegen.<br />

Im August dann schien sich der<br />

Präsident von dem Gedanken<br />

doch endgültig verabschiedet zu<br />

haben. „Ich würde in <strong>Belarus</strong> kein<br />

„Einiges <strong>Belarus</strong>“ schaffen“ erklärte<br />

er auf einer Pressekonferenz für<br />

russische Journalisten und spielte<br />

dabei auf die russische Staatspartei<br />

„Einiges Russland“ an. „Ich<br />

als Historiker habe mich dem<br />

Studium des Parteiaufbaus sehr<br />

intensiv während meiner Zeit am<br />

Institut für Marxismus-Leninismus<br />

widmen können. Und eines<br />

habe dabei gelernt: Eine beliebige<br />

Partei oder Organisation wird nur<br />

dann vernünftig funktionieren,<br />

wenn sie nicht von oben künstlich<br />

geschaffen wird. Alles muss von<br />

selber wachsen und reifen.“<br />

sCHWACHe PArTeIeN<br />

Lukaschenko stellte zudem fest,<br />

dass trotz seiner Unterstützung<br />

für „viele einzelne Parteien“ diese<br />

Strukturen „irgendwie nicht wachsen“.<br />

„Ich bin überzeugt, dass es<br />

diese Tendenz auch in Russland<br />

gibt“, meinte der Präsident zu den<br />

Journalisten. Dies sei nur einer der<br />

Gründe, warum es keinen Sinn<br />

mache, eine „Partei der Macht“ zu<br />

gründen. Zudem würde eine solche<br />

Partei in jedem Fall zu einem<br />

Sammelbecken für Staatsangestellte.<br />

„Wozu soll ich heute künstlich<br />

eine Partei schaffen - damit die<br />

Staatsbeamten neben staatlichen<br />

auch noch auf den Sesseln von<br />

Parteien und NGOs sitzen?“ Die<br />

Macht im Lande habe er bereits mit<br />

Hife seiner staatlichen „Vertikale“<br />

ausgezeichnet im Griff, bemerkte<br />

Lukaschenko. „Wenn du die<br />

Macht behalten willst, halte sie mit<br />

Hilfe dieser Vertikale!“ erkäuterte<br />

er den russischen Journalisten.<br />

VOrsICHTIGer sTAATsCHef<br />

Experten vermuten indessen, dass<br />

Lukaschenko schlichtweg Angst<br />

davor hat, seinen Namen mit einer<br />

Partei zu verbinden, da keine von<br />

den heute existierenden sich einer<br />

soliden Popularität erfreue. Zudem,<br />

meinen die politischen Beobachter,<br />

sei die Gefahr einer Blamage<br />

relativ hoch, denn die Zahl der<br />

aktiven Mitglieder einer solchen<br />

Partei zeige der Öffentlichkeit,<br />

wie viele engagierte Mitsreiter der<br />

Präsidenten tatsächlich habe. Sollte<br />

sich der Präsident jedoch seiner<br />

„Vertikale“ bedienen, um Mitglieder<br />

zwangsweise zu rekrutieren,<br />

laufe er Gefahr, einen Koloss auf<br />

tönernen Füßen zu schaffen. Denn<br />

falls der politische Druck auf Lukaschenko<br />

steigt, würde die Partei<br />

ihm keinen nötigen Rückhalt bieten.<br />

Aus diesem Grunde wohl geht<br />

der Präsident nur sehr vorsichtig<br />

mit seiner Jugendorganisation um<br />

- der <strong>Belarus</strong>sischen Republikanischen<br />

Union der Jugend (BRSM).<br />

Lukaschenko scheint sich bewusst<br />

zu sein, dass die Hunderttausenden<br />

von Mitgliedern, die mit<br />

Hilfe administrativen Drucks und<br />

Preisnachlässen für Diskotheken<br />

angeworben wurden, keine sehr<br />

verlässliche Basis für schwere<br />

Stunden sind.<br />

KONTrOLLVerLusT?<br />

Außerdem besteht die Gefahr,<br />

dass die Mitglieder einer solchen<br />

Partei eigenes politisches Engagement<br />

entwickeln, unabhängig<br />

von präsidialen Vorgaben. Längerfristig<br />

könnte die Partei so ihren<br />

Führer „absägen“. Lukaschenko<br />

weiß sehr gut, dass die heute existierenden<br />

Ideologieabteilungen im<br />

Prinzip bereits „Parteiaufgaben“<br />

erfüllen, ohne dabei Gefahr zu laufen,<br />

allzu selbstständig zu werden,<br />

weil sie direkt in die „Vertikale“<br />

eingegliedert sind. Zwar, meinen<br />

Experten, könnte eine „Partei der<br />

Macht“ entstehen, falls beispielsweise<br />

demokratisch eingestellte<br />

Parlamentsabgeordnete die Initiative<br />

dazu ergreifen. Allerdings<br />

erscheint diese Perspektive bei den<br />

passiven, staatstreuen belarussischen<br />

Abgeordneten heutzutage<br />

dermaßen unrealistisch, dass es<br />

tatsächlich keinen Sinn machen<br />

würde, eine künstliche „Partei der<br />

Macht“ zu schaffen.<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34


Mehr Waisen und weniger Kriminelle?<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34<br />

Innenpolitik<br />

(Andrej Netrebko, Minsk) Alexander Lukaaschenko hat entmündigte eltern durch ein dekret dazu gezwungen,<br />

ab 2007 die staatliche fürsorge für ihre Kinder selber zu bezahlen. Alkoholiker sollen notfalls<br />

zur Arbeit gezwungen werden. Gleichzeitig wird die schnelle entmündigung vereinfacht.<br />

„Es reicht jetzt mit der Schönrednerei<br />

und den theoretischen Überlegungen.<br />

Eltern, die ihre Kinder<br />

gegen Alkohol, Drogen und ein<br />

wildes Leben eingetauscht haben,<br />

sollten nicht nur hart, sondern brutal<br />

behandelt werden!“. Mit diesen<br />

Worten charakterisierte Alexander<br />

Lukaschenko sein neues Dekret,<br />

dass die Staatskasse schonen und<br />

„den sozialen Abstieg von Familien“<br />

verhindern soll.<br />

KINder IN GefAHr<br />

Indes hat der belarussische <strong>Bildungs</strong>minister<br />

Alexander Radkov<br />

erschreckende Zahlen vorgelegt:<br />

26.000 belarussische Kinder werden<br />

von ihren Eltern nicht ausreichend<br />

mit Nahrung und Kleidung<br />

versorgt. Der Staat gebe deshalb<br />

über 60 Mio. Euro jährlich für die<br />

Unterstützung dieser Familien<br />

aus. Somit sei das neue Dekret ein<br />

Schritt in die richtige Richtung, um<br />

unmotivierte und alkoholkranke<br />

Eltern zur Verantwortung zu ziehen<br />

und gleichzeitig das Budget zu<br />

entlasten, findet Radkov. Der Staat<br />

müsse zudem rechtzeitig die Kinder<br />

aus solchen Problemfamilien<br />

herausholen wenn nötig, erklärte<br />

der <strong>Bildungs</strong>minister.<br />

VOLLe NACHZAHLuNG<br />

Momentan wird das Dekret in<br />

der Präsidialadministration überarbeitet.<br />

Zum 1. Januar 2007 soll<br />

es in Kraft treten. Dann werden<br />

entmündigte Eltern den Unterhalt<br />

ihrer Kinder voll tragen müssen.<br />

Der Staat soll zu diesem Zweck<br />

sogar zu einem für <strong>Belarus</strong> neuen<br />

Mittel greifen: bezahlte Zwangsarbeit.<br />

Dies verkündete die stellvertretende<br />

Leiterin der Präsidialadministration,<br />

Natalja Petkewitsch,<br />

auf einer Sitzung zu Fragen des<br />

staatlichen Kinderschutzes.<br />

eNTMüNdIGuNG uNd<br />

GefäNGNIs<br />

Außerdem , erklärte die Vizechefin<br />

der Präsidialadministration,<br />

würden Entmündigungen vereinfacht<br />

werden, um Kinder aus<br />

Problemfamilien zu schützen.<br />

Nach dem Dekret könne nun die<br />

lokale Verwaltung über die Entmündigung<br />

zunächst ohne ein<br />

richterliches Urteil entscheiden.<br />

Erst nach drei Monaten müsse<br />

sich die Behörde entweder an ein<br />

Gericht wenden oder das Kind an<br />

die Familie zurückgeben. Alexander<br />

Lukaschenko bekräftigte, dass<br />

zahlungsunwillige oder -unfähige<br />

Eltern ein Strafverfahren erwarte.<br />

„Wenn sie nicht zahlen können,<br />

dann müssen wir sie - wie grob das<br />

auch klingen mag - ins Gefängnis<br />

stecken und von dort aus arbeiten<br />

schicken.“<br />

KrITIK der OPPOsITION<br />

Vertreter der belarussischen Opposition<br />

halten das Projekt für einen<br />

Fehler. Es könne niemanden vor<br />

der Verwaisung schützen, erklärte<br />

der Vorsitzende der Vereinigten<br />

Bürgerpartei, Anatolij Lebedko.<br />

Seiner Meinung nach müsse der<br />

Staat sich vielmehr darum kümmern,<br />

gute Lebens- und Arbeitsbedinungen<br />

für seine Bürger zu<br />

schaffen. Deren Fehlen bringe die<br />

Menschen dazu zu trinken und<br />

ihre Kinder in Heime abzuschieben.<br />

Die Zahl der Waisenkinder<br />

werde wohl kaum dadurch sinken,<br />

dass man ihre Eltern ins Gefängnis<br />

wirft, bemängelt Lebedko das präsidiale<br />

Dekret.<br />

„sIebeN TAGe dIe WOCHe“<br />

Lukaschenko hingegen ist überzeugt,<br />

dass die Abschreckung<br />

wirken wird. Außerdem könne<br />

der Staatshaushalt durch die<br />

Zahlungen der Eltern entlastet<br />

werden, denn es gebe in <strong>Belarus</strong><br />

genug Arbeit für verantwortungslose<br />

Eltern. „Schickt sie in<br />

die Kolchosen, auf den Bau, lasst<br />

sie schwerste Arbeit verrichten,<br />

unabhängig von ihrer Ausbildung.<br />

Sie sollen arbeiten, 24 Stunden am<br />

Tag, sieben Tage die Woche.“ Der<br />

Staat, meinte Lukaschenko, habe<br />

genug zu tragen an den Kosten für<br />

jene Waisenkinder, deren Eltern<br />

in Erfüllung ihrer bürgerlichen<br />

Pflichten starben. Er könne nicht<br />

auch noch die Kosten für jene tragen,<br />

deren Eltern kein Gefühl für<br />

Verantwortung hätten.<br />

sTAATLICHe KONTrOLLe<br />

Lukaschenko beauftragte deshalb<br />

das Innenministerium damit,<br />

dafür zu sorgen, dass die betroffenen<br />

Eltern am zugewiesenen Arbeitsplatz<br />

erschienen. „Das wird<br />

strengstens kontrolliert werden.<br />

Das Dekret muss funktionieren“,<br />

verkündete Lukaschenko. Auch<br />

das belarussische Arbeitsamt<br />

stehe in der Verantwortung: „Die<br />

Regierung muss das Amt vor konkrete<br />

Aufgaben stellen und es für<br />

deren Erfüllung verantwortlich<br />

machen, ansonsten wird es geschlossen!“,<br />

drohte der Präsident.<br />

Die Rechnung der Staatsführung<br />

muss jedoch nicht unbedingt<br />

aufgehen. Nach Meinung von<br />

Experten werde das Staatsbudget<br />

zwar einerseits durch das Dekret<br />

entlastet. Allerdings rechnen Analytiker<br />

auch mit einem Anstieg<br />

der Staatsausgaben aufgrund der<br />

neuen Gefängnisinsassen. Denn<br />

etwa zehntausend Eltern wären in<br />

<strong>Belarus</strong> ab Januar von dem Dekret<br />

betroffen und dürften sich in naher<br />

Zukunft hinter Gittern wiederfinden.<br />

Eine nicht zu unterschätzende<br />

Belastung für den Staatshaushalt.


Innenpolitik<br />

Sicherheitsrat kümmert sich um Radio<br />

(Alexander dautin, Minsk) Präsident Lukaschenko hat die Verantwortlichkeiten in der belarussischen<br />

radiolandschaft neu verteilt. Mit dem Anweisung Nr. 473 wird die Kontrolle von radiokanälen nicht<br />

mehr dem Ministerium für Kommunikation unterstehen, sondern dem sicherheitsrat.<br />

Die neue geschaffene Kommission<br />

im Sicherheitsrat der Republik<br />

<strong>Belarus</strong> hat nun das Recht, Entscheidungen<br />

der alten Kommission<br />

des Informationsministeriums<br />

rückgängig zumachen. Dies tat der<br />

Sicherheitsrat jedoch wohlweislich<br />

nicht. Bereits heute werden 98<br />

Prozent der Radiokanäle von den<br />

belarussischen Sicherheitsorganen<br />

genutzt. Verständlicherweise<br />

wollte der Sicherheitsrat den eigenen<br />

Interessenvertretern nicht<br />

Sendeplätze wegnehmen, um sie<br />

den Bürgern zur Verfügung zu<br />

stellen. Warum verlegte Präsident<br />

Lukaschenko also die Zuständigkeit<br />

für die Sendeplätze?<br />

Neue eINNAHMequeLLe<br />

Beobachter gehen davon aus,<br />

dass Lukaschenko den Sicherheitsrat<br />

mit mehr Verantwortung<br />

und mehr finanziellen Mitteln<br />

ausstatten wollte. Denn mit den<br />

Sendeplätzen verdient der belarussische<br />

Staat viel Geld. Bis vor<br />

kurzem hatte der Sicherheitsrat<br />

zwar Einfluss auf die Verteilung<br />

der Sendeplätze, bekam jedoch<br />

keinen Anteil an den Einnahmen.<br />

Deshalb unterschrieb Alexander<br />

Lukaschenko im April diesen<br />

Jahres die Anweisung Nummer<br />

240, nach der nachwirkend ab dem<br />

ersten Januar 2006 die Nutzer von<br />

Radiosendeplätzen für ihr Privileg<br />

zahlen mussten.<br />

KOMPLIZIerTes sysTeM<br />

Staatliche Einrichtungen wurden,<br />

wie so oft, verschont. Sie müssen<br />

einen symbolischen Beitrag von<br />

etwa 150 Euro im Jahr zahlen.<br />

Für private Eigentümer von Radiokanälen<br />

wurde eine jährliche<br />

Zahlung eingeführt, deren Höhe<br />

„von der Art des Radiodienstes,<br />

der Technik, des kommerziellen<br />

Erfolges und den<br />

Zielen der Nutzung abhängt,<br />

außerdem von der Weite der<br />

Radiowellen, dem erreichten<br />

Gebiet und dem Standort des<br />

Radiosendegerätes sowie der<br />

Zeit, für die das Recht einer<br />

Nutzung vorliegt.“ Die Beamten<br />

berücksichtigten praktisch<br />

alle Faktoren, die auch nur in<br />

entferntester Weise mit der<br />

Nutzung von Radiokanälen zu<br />

tun haben. Allerdings schien<br />

das noch nicht genug zu sein. Das<br />

Informationsministerium überarbeitete<br />

das Papier, so dass die<br />

Regierung im Juli eine Anweisung<br />

verabschiedete, die mehr Ähnlichkeit<br />

mit einem Universitätslehrbuch<br />

für Algebra denn mit einem<br />

Gesetz hat. Tatsächlich gelang es<br />

dem Ministerium, eine Formel<br />

für die Errechnung der Gebühr zu<br />

ersinnen. Sie enthält im Gegensatz<br />

zu dem ersten Entwurf zusätzliche<br />

Koeffizienten, die noch Sendeart<br />

und Sendeort berücksichtigen.<br />

Interessanterweise ist sogar der<br />

niedrigste Koeffizient (im Grodnoer<br />

Gebiet) höher als 1, so dass<br />

sich die Gebühr für alle privaten<br />

Sender automatisch erhöhte. Eine<br />

andere interessante Kleinigkeit ist<br />

die Abhängigkeit von der Höhe, in<br />

der die Sendestation angebracht<br />

ist.<br />

GOLdeseL MObILfuNK<br />

Für die belarussischen Mobilfunkanbieter<br />

wurde der höchste<br />

Koeffizient eingeführt. Ihre Gebühr<br />

erhöht sich automatisch um<br />

das zehnfache. Gleichzeitig fordert<br />

das Informationsministerium von<br />

den Anbietern immer bessere<br />

Netze, so dass auch belarussische<br />

Bauern in der Provinz am Mobilzeitalter<br />

teilhaben können. Bereits<br />

heute können <strong>Belarus</strong>sen in allen<br />

Kleinstädten mobil telefonieren.<br />

Kleine Siedlungen in das Sendekonzept<br />

miteinzubeziehen, lohnte<br />

sich bisher für die Anbieter nicht.<br />

Mit der Einführung der Gebühr<br />

würde es zu einem grandiosen<br />

Verlustgeschäft. Somit verdient<br />

der Staat zwar mehr an den Anbietern,<br />

verhindert gleichzeitig<br />

jedoch, dass sich der Handyempfang<br />

auf dem Land verbessert.<br />

sTAATLICHe PrIOrITäTeN<br />

Beobachter weisen vor allem<br />

darauf hin, dass der Präsident<br />

nicht zufällig eine der wichtigsten<br />

sicherheitspolitischen Strukturen<br />

des Landes mit neuen Kompetenzen<br />

und Einflussmöglichkeiten<br />

ausgestattet hat. Der Sicherheitsrat<br />

gewinnt somit an Gewicht im<br />

politischen System von <strong>Belarus</strong>,<br />

in dem zentralistische staatliche<br />

Einrichtungen untereinander um<br />

Einfluss und Finanzmittel konkurrieren.<br />

So stärkt der Präsident die<br />

Sicherheitspolitiker und entzieht<br />

der „zivilen“ Exekutive, hier dem<br />

Informationsministerium, bedeutende<br />

Ressourcen.<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34


„Manchmal verschiedene Ziele“<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34<br />

Innenpolitik<br />

(Ms) Vor den regionalwahlen haben sich vier Oppositionsparteien unter Ausschluss der „Volksfront“<br />

auf ein Wahlbündnis geeinigt. der „Volksfront“-Vorsitzende Wintschuk Wjatschorka bezeichnete die<br />

Gruppe als „Koalition der Moskautreuen“. bricht die oppositionelle Koalition entzwei?<br />

Es scheint, als sei die belarussische<br />

Opposition wieder dort angekommen,<br />

wo sie vor einem Jahr war: In<br />

traditioneller Zerstrittenheit und<br />

jahrelang gepflegter Lagermentalität.<br />

Die Partei der <strong>Belarus</strong>sischen<br />

Kommunisten, die Vereinte Bürgerpartei,<br />

die Sozialdemokratische<br />

Partei (Versammlung) sowie die<br />

illegale Partei der Arbeit einigten<br />

sich Ende August auf eine gemeinsame<br />

Strategie bei den für Januar<br />

angesetzten Regionalwahlen. Was<br />

diese eint, ist ihre Unzufriedenheit<br />

mit der <strong>Belarus</strong>sischen Volks-<br />

front (BNF) und dem Führer der<br />

Oppositionskoalition Alexander<br />

Milinkewitsch. Der BNF-Vorsitzende<br />

Wintschuk Wjatschorka<br />

warf den vier Parteien denn auch<br />

vor, sie wollten sich „von der Front<br />

getrennt positionieren und die<br />

Kräfteverteilung in der Koalition<br />

zerstören“. Der Wahlkampfleiter<br />

der Bürgerpartei Anatolij Pawlow<br />

erklärte daraufhin, es gebe in der<br />

Koalition schlichtweg unterschiedliche<br />

Einstellungen zu den Wahlen:<br />

„Während andere noch reden,<br />

handeln wir“. Oppostionsführer<br />

Milinkewitsch indessen bekannte<br />

im Interview mit der Zeitung<br />

„BelGazeta“, es gebe eine handfeste<br />

Krise in der Koalition. Dies<br />

liegt nach seiner Meinung daran,<br />

dass die Koalitionäre „teilweise<br />

unterschiedliche Ziele“ hätten.<br />

Anscheinend ist eingetreten, was<br />

Beobachter des Oppositionsbündnisses<br />

von Anfang an vermutet<br />

hatten: Ein Auseinanderdriften<br />

aufgrund chronischer inhaltlicher<br />

Inkompatibilität der Parteien und<br />

persönlicher Ambitionen, die Gift<br />

für jede Koalition sind.<br />

Oppositionelle Kommunisten vor dem Aus<br />

(MS) Die oppositionelle Partei der <strong>Belarus</strong>sischen Kommunisten (PBK) steht wohl kurz vor ihrer Auflösung<br />

durch das Justizministerium. Noch war keiner der staatlichen Versuche erfolgreich - aber die Parteiführung<br />

plant schon für die Zeit nach dem Verbot. Ihr Ziel: die schaffung eines blockes linker Parteien.<br />

Gleich mehrere staatstreue Einrichtungen<br />

nahmen sich einer der<br />

größten oppositionellen Parteien<br />

des Landes an. Zunächst hatte<br />

die regimetreue <strong>Belarus</strong>sische<br />

Kommunistische Partei (BKP)<br />

einen Parteitag zur Vereinigung<br />

der beiden Parteien initiiert. Der<br />

Versuch schlug fehl, denn die<br />

Oppositionellen blieben dem<br />

Parteitag fern. Nun ließ das belarussische<br />

Justizministerium Mitte<br />

August verlauten, die Partei habe<br />

sich bei der Registrierung ihres<br />

Minsker Büros 1999 nicht an das<br />

Gesetz „Über die Parteien“ von<br />

2005 gehalten. Ein offensichtliches<br />

Paradox, auf das auch der Sekretär<br />

der Oppositionspartei Valerij<br />

Uchnalev hinwies. „Man muss<br />

kein Jurist sein, um zu wissen, dass<br />

Gesetze nicht rückwirkend angewandt<br />

werden können“, erklärte<br />

der Politiker.<br />

Diese Unsauberkeit schien auch<br />

dem Ministerium unangenehm<br />

zu sein, so dass es bald mit einem<br />

neuen Trumpf aufwartete: Die<br />

PBK solle vollständige Listen ihrer<br />

Mitglieder vorlegen. Die Partei<br />

weigerte sich erwartungsgemäß<br />

und strengte einen Prozess gegen<br />

das Ministerium an. Parteiführer<br />

Sergej Kaljakin erklärte der<br />

Nachrichtenagentur BelaPAN,<br />

die Forderung sei gesetzeswidrig:<br />

„Im Gesetz ist davon keine Rede.<br />

Im Gegenteil, die Bürger dürfen<br />

nach belarussischem Recht nicht<br />

gezwungen werden, in offiziellen<br />

Papieren ihre Parteizugehörigkeit<br />

anzugeben“, meinte Kaljakin. Er<br />

fürchtet, dass mit Hilfe der Listen<br />

politischer Druck auf Mitglieder<br />

ausgeübt werden könne. Indessen<br />

scheint sich auch Kaljakin bewusst<br />

zu sein, dass seine Partei im Streit<br />

mit dem Staat unterliegen wird.<br />

Deshalb sieht sich der Chef der<br />

größten linken Oppositionspartei<br />

nach Mitstreitern um - und findet<br />

offene Türen. „Die Zeit ist reif,<br />

eine Union der linken Parteien zu<br />

schaffen“ erklärte Alexander Ko-<br />

sulin, Vorsitzender der <strong>Belarus</strong>sischen<br />

Sozialdemokratischen Partei<br />

und Ex-Präsidentschaftskandidat.<br />

Kosulin verbüßt gerade eine<br />

fünfeinhalbjährige Haftstrafe und<br />

ist politisch kaltgestellt. Somit ist<br />

er genauso auf Verbündete angewiesen<br />

wie die Kommunisten. Die<br />

harte Linie des Staates könnte also<br />

mittelfristig zur Konsolidierung<br />

des zersplitterten linken Flügels<br />

im Lande führen. Anscheinend<br />

spielen die Parteien das Szenario<br />

schon sehr konkret durch, denn<br />

der Pressesprecher der Kommunisten<br />

Sergej Vasnjak erklärte<br />

Ende September, seine Partei spreche<br />

sich für eine „Union der linken<br />

Kräfte aus, die neu registriert wird<br />

und legal arbeiten kann“. Wenn<br />

die Parteiführer tatsächlich ihre<br />

Ambitionen zugunsten eines solchen<br />

Bündnisses ablegen, könnte<br />

dieses durchaus Perspektive haben.<br />

Denn viele <strong>Belarus</strong>sen befürworten<br />

„linke“ Programmpunkte<br />

wie soziale Gleichheit und einen<br />

starken Staat.


Wirtschaft<br />

<strong>Belarus</strong> und EU auf Integrationskurs<br />

(stepan Antonowitsch, Minsk) Trotz politischer eiszeit sind die wirtschaftlichen beziehungen zwischen<br />

belarus und der eu so lebendig wie nie zuvor. Jetzt ist die eu zum wichtigsten Handelspartner von belarus<br />

geworden - weit vor russland. das Geheimnis des boomenden Handels zwischen Minsk und den eustaaten<br />

liegt einerseits an billigem russischen Öl - andererseits an den belarussischen bestrebungen, die<br />

eigene Industrie zu modernisieren.<br />

Im ersten Quartal diesen Jahres<br />

war die EU wichtigster Handelspartner<br />

von <strong>Belarus</strong> - über 50 Prozent<br />

des belarussischen Exportes<br />

gingen in EU-Länder. Im Vergleich<br />

zur entsprechenden Vorjahresperiode<br />

stieg der belarussische Export<br />

in die EU um beeindruckende<br />

25 Prozent an und betrug mehr<br />

als 5 Mrd. Euro. Währenddessen<br />

exportierte <strong>Belarus</strong> zum gleichen<br />

Zeitraum nur für etwas über<br />

3 Mrd. Euro Waren nach Russland.<br />

Somit ist die EU zum primären Absatzmarkt<br />

belarussischer Produkte<br />

avanciert. Und nicht nur das. Der<br />

Handel mit der EU weist aus<br />

belarussischer Sicht zudem den<br />

höchsten Überschuss auf: Allein<br />

im ersten Quartal diesen Jahres<br />

machte <strong>Belarus</strong> über 2,5 Mrd. Euro<br />

Gewinn beim Handel mit der EU.<br />

In keine andere Region der Welt<br />

exportiert <strong>Belarus</strong> heute in so großem<br />

Umfang seine Waren wie in<br />

die Europäische Union.<br />

Wichtigste Absatzmärkte von<br />

belarus Januar – Juli 2006<br />

1. Russland<br />

2. Niederlande<br />

3. Großbritannien<br />

4. Ukraine<br />

5 Polen<br />

6. Deuschland<br />

7. Schweden<br />

8. USA<br />

9. Litauen<br />

10. Lettland<br />

11. Frankreich<br />

12. Kasachstan<br />

13. China<br />

14. Italien<br />

NeGATIVe...<br />

Beispielsweise fiel die belarussische<br />

Handelsbilanz mit den Ländern<br />

Ostasiens (China, Taiwan,<br />

Korea und Japan) durchweg negativ<br />

aus - insgesamt importierte<br />

<strong>Belarus</strong> aus diesen Ländern für<br />

150 Mio. Euro mehr Waren, als es<br />

nach Ostasien ausführte. Sogar der<br />

Handel mit der Volksrepublik China,<br />

die vom belarussischen Staat<br />

als einer der wichtigsten Partner<br />

des Landes angesehen wird, weist<br />

eine negative Handelsbilanz von<br />

knapp 100 Mio. EU auf. Dies mag<br />

damit zusammenhängen, dass zu<br />

Beginn des Jahres die Ausfuhr<br />

des belarussischen Exportschlagers<br />

Kalidünger nach China zum<br />

Erliegen kam, weil sich beide<br />

Seiten nicht auf einen Verkaufspreis<br />

einigen konnten. Allerdings<br />

würde selbst eine schnelle Wiederaufnahme<br />

der Lieferungen dem<br />

belarussischen Export kein mit<br />

dem EU-Handel vergleichbares<br />

Wachstum bescheren.<br />

...uNd POsITIVe bILANZ<br />

Bislang kann <strong>Belarus</strong> in den Handelsbeziehungen<br />

zu einer Reihe<br />

anderer Staaten in der Welt punkten.<br />

Ein posititives Saldo weist beispielsweise<br />

der Handel mit Süd-<br />

und Zentralasien auf. Vor allem<br />

Indien, Pakistan, Sri Lanka und<br />

einige ehemalige sowjetische Staaten<br />

kauften für mehr als 150 Mio.<br />

Euro mehr belarussische Waren,<br />

als sie in die Republik ausführten.<br />

Bescheidener, aber dennoch positiv<br />

fällt das Plus im Außenhandel<br />

mit den südostasiatischen Ländern<br />

aus - Vietnam, Indonesien<br />

und Malaysia bescheren <strong>Belarus</strong><br />

einen Überschuss von etwas über<br />

3 Mio. Euro. Aus dem Handel mit<br />

westasiatischen Ländern - Aserbaidschan,<br />

Israel, Syrien und der<br />

Türkei - bleiben über 30 Mio. Euro<br />

in <strong>Belarus</strong>. Afrika steht mit etwa<br />

45 Mio. Euro Handelsüberschuss<br />

weiter oben auf der belarussischen<br />

Exportliste. Eher mager: der Überschuss<br />

aus dem Handel mit Nord-<br />

und Südamerika, der lediglich<br />

10 Mio. Euro beträgt. Interessanterweise<br />

führt die Länderwertung<br />

in Amerika jedoch nach Handelskriterien<br />

der polititsche Erzfeind<br />

von Alexander Lukaschenko an.<br />

Der Handel zwischen <strong>Belarus</strong> und<br />

den USA betrug im ersten Quartal<br />

2006 über 350 Mio. Euro. 230 Mio.<br />

Euro belarussicher Export in die<br />

USA stehen nur 110 Mio. Euro<br />

US-Import gegenüber.<br />

eNerGIe Aus russLANd<br />

Zweifellos kompensiert <strong>Belarus</strong><br />

mit den Exporten in die EU seine<br />

gigantische negative Handelsbilanz<br />

zu Russland, die in erster<br />

Linie den Energieimporten anzulasten<br />

ist. Im ersten Halbjahr 2006<br />

überstiegen russische Importe<br />

nach <strong>Belarus</strong> die Exporte um<br />

etwa 3,5 Mrd. Euro. Nur durch<br />

das deutliche Plus im Handel mit<br />

Europa schmolz dieser negative<br />

Handelsüberschuss auf unter<br />

1 Mrd. Euro.<br />

HANdeL MIT OsTeurOPA<br />

Auf den ersten Blick scheint es, als<br />

habe die belarussische Wirtschaft<br />

ihre Exporterfolge in erster Linie<br />

den neuen osteuropäischen EU-<br />

Mitgliedern zu verdanken. Dies<br />

entspräche auch der Logik postsowjetischerWirtschaftsbeziehungen,<br />

denn mit Polen, Tschechien<br />

und anderen ehemaligen sowjetischen<br />

„Blockstaaten“ unterhielt<br />

10 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34


<strong>Belarus</strong> noch zu RGW-Zeiten aktive<br />

Geschäftskontakte. Nach wie<br />

vor gehören viele dieser Länder<br />

zu den wichtigsten belarussischen<br />

Handelspartnern in der Welt.<br />

Polen ist beispielsweise in der<br />

Liste der international wichtigsten<br />

belarussischen Handelspartner<br />

auf Platz sechs, Litauen auf Platz<br />

zehn, Lettland an dreizehnter und<br />

Tschechien immerhin an achtzehnter<br />

Stelle. Zwischen <strong>Belarus</strong> und<br />

Polen flossen im ersten Halbjahr<br />

2006 Waren im Wert von 800 Mio.<br />

Euro (der Handelsübeschuss zu<br />

belarussischen Gunsten beträgt<br />

über 100 Mio. Euro). Nicht umsonst<br />

sprachen sich Polen, Lettland<br />

und Litauen gegen EU-Wirtschaftssanktionen<br />

gegen <strong>Belarus</strong><br />

aus (siehe Artikel S. 3). <strong>Belarus</strong><br />

kann sich grundsätzlich der wohlwollenden<br />

Hilfe dieser Länder in<br />

wirtschaftlichen Fragen der EU sicher<br />

sein - seit Jahren unterstützen<br />

sie die Republik bei der Festlegung<br />

der EU-Importquoten für belarussische<br />

Textilien.<br />

NIederLANde VOrNe<br />

Dennoch sind diese ehemaligen<br />

„Blockstaaten“ nicht der Grund<br />

für die Exporterfolge von <strong>Belarus</strong><br />

in der EU. Die wichtigsten<br />

Handelspartner von Minsk sind<br />

in Europa gerade die „alten“<br />

EU-Länder: Die Niederlande,<br />

Deutschland, Großbritannien<br />

und (nach Polen) Italien. Gleichzeitig<br />

stiegen die Niederlande in<br />

diesem Jahr nach Russland zum<br />

zweitwichtigsten Handelspartner<br />

von <strong>Belarus</strong> in der Welt auf, dicht<br />

gefolgt von Großbritannien, dem<br />

drittwichtigsten Absatzmarkt<br />

belarussischer Waren weltweit.<br />

Allein im ersten Halbjahr 2006<br />

exportierte <strong>Belarus</strong> Waren im<br />

Wert von über 2 Mrd. Euro in die<br />

Niederlande, was einem Plus im<br />

Vergleich zum Vorjahreszeitraum<br />

von fast 90 Prozent entspricht.<br />

Nach Russland exportierte <strong>Belarus</strong><br />

im gleichen Zeitraum zwar<br />

für 1,2 Mrd. Euro mehr Waren als<br />

in die EU - allerdings betrug das<br />

Wachstum hier nur 16 Prozent. Es<br />

scheint also, als liege die Zukunft<br />

des belarussischen Außenhandels<br />

in Westeuropa.<br />

bILLIGe eNerGIe<br />

Der rasante Anstieg des belarussischen<br />

Exportes nach Westeuropa<br />

lässt sich ebenso einfach erklären<br />

wie die Tatsache, dass die Niederlande<br />

Deutschland von der Spitzenposition<br />

ebenso verdrängten,<br />

wie Großbritannien und Italien:<br />

<strong>Belarus</strong> ist in den letzten Jahren<br />

zu einem der größten Exporteure<br />

von Waren der ölverarbeitenden<br />

Industrie nach Europa geworden.<br />

Dieser Erfolg ist, wie Experten seit<br />

geraumer Zeit zu Bedenken geben,<br />

vor allem den niedrigen russischen<br />

Ölpreisen für <strong>Belarus</strong> zu danken.<br />

Zudem belegt <strong>Belarus</strong> Produkte<br />

der ölverarbeitenden Industrie<br />

mit einer viermal geringeren<br />

Exportsteuer, als sein östlicher<br />

Nachbar und kann so Benzine<br />

und Schmieröle zu sehr günstigen<br />

Preisen anbieten. Allein im ersten<br />

Halbjahr 2006 exportierte <strong>Belarus</strong><br />

für über 3,5 Mrd. Euro Produkte<br />

der ölverarbeitenden Industrie.<br />

Hauptabnehmer sind die Niederlande<br />

und Großbritannien. Was<br />

die traditionellen belarussischen<br />

Wirtschaft<br />

Handelspartner in Europa angeht<br />

- Deutschland und Italien - so lässt<br />

sich auch hier ein Anstieg der<br />

Handelsaktivitäten beobachten.<br />

Das Handelsvolumen mit Deuschland<br />

wuchs im ersten Halbjahr um<br />

knapp 40 Prozent an, mit Italien<br />

waren es knapp 20 Prozent. Allerdings<br />

übertrifft in den Handelsbeziehungen<br />

zwischen <strong>Belarus</strong> und<br />

den beiden Ländern der Import<br />

den Export, so dass das negative<br />

Handelssaldo aus belarussischer<br />

Sicht im deutschen Fall etwa 250<br />

Mio. Euro beträgt, im italienischen<br />

etwa 100 Mio.<br />

ÖL GeGeN MAsCHINeN<br />

<strong>Belarus</strong> importiert mehr aus<br />

Deutschland und Italien, als es<br />

exportiert, weil die beiden Länder<br />

die wichtigsten Lieferanten<br />

für technische Ausrüstung zur<br />

Modernisierung der veralteten<br />

belarussischen Industrieanlagen<br />

sind. <strong>Belarus</strong> konzentriert sich im<br />

letzten Jahr auf diesen Bereich,<br />

um beim Produktionsniveau im<br />

europäischen Vergleich nicht zurückzufallen.<br />

Im Ergebnis der ersten<br />

neun Monate des Jahres 2006<br />

investierten belarussische Betriebe<br />

30 Prozent mehr in ihre technische<br />

Ausrüstung als im Vorjahr. Hauptfinancier<br />

dieser Großeinkäufe<br />

ist der belarussische Staat - der<br />

das Geld seinerseits durch den<br />

Handelsüberschuss mit der EU<br />

erwirtschaftet. Es ergibt sich also<br />

folgendes Schema: <strong>Belarus</strong> nutzt<br />

billiges russisches Öl zur Produktion<br />

konkurrenzfähiger Ölprodukte<br />

und investiert die entsprechenden<br />

Gewinne aus deren Verkauf in die<br />

Modernisierung seiner Industrie.<br />

Wichtigste Handelspartner von belarus in der eu Januar – Juli 2006 (Angaben gerundet in Euro)<br />

Land Handelsvolumen Export Import Saldo Anteil am Handelsvolumen<br />

Niederlande 2000000 1900000 90700 1800000 10,40%<br />

Deutschland 1077000 403000 666300 -260000 5,60%<br />

Großbritannien 819000 738000 80800 657000 4,30%<br />

Polen 816000 473000 343000 130000 4,20%<br />

Italien 295000 89200 205000 -116000 1,50%<br />

Litauen 280000 194000 86000 107000 1,50%<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34 11


Wirtschaft<br />

Brücken bauen und Öl fördern<br />

(Andrej Alexandrowitsch, Minsk) belarus unterhält seit längerem gute beziehungen zu weitgehend isolierten<br />

staaten. Venezuela und Iran stehen seit neuestem weit oben auf der Prioritätenliste. doch bringen<br />

diese beziehungen auch den gewünschten Vorteil und die entlastung von russischen energieträgern?<br />

Als eine belarussische Delegation<br />

im September in der venezuelischen<br />

Hauptstadt Caracas eintraf,<br />

hatten die Vertreter von ihrem<br />

Präsidenten einen klaren Auftrag<br />

bekommen: Sie sollten ein belarussisch-venezuelisches<br />

Joint Venture<br />

zur Ölgewinnung und -verarbeitung<br />

schaffen. Weniger konkret<br />

war der kurz darauf folgende<br />

Besuch des iranischen Außenministers<br />

Manutschehr Mottaki in<br />

Minsk. Er kam vor allem, um sich<br />

der Freundschaft von <strong>Belarus</strong> zu<br />

versichern. Präsident Lukaschenko<br />

erklärte beim Treffen mit Mottaki,<br />

er sei an einer Intensivierung<br />

der Beziehungen interessiert. Bis<br />

vor einem Jahr noch hatte <strong>Belarus</strong><br />

intensive Beziehungen zum iranischen<br />

Erzfeind Irak gepflegt.<br />

sTANdOrT VeNeZueLA<br />

Die belarussische Führung will es<br />

im Bereich der wirtschaftlichen<br />

Zusammenarbeit mit Venezuela<br />

jedoch nicht bei der Ölförderung<br />

und -verarbeitung belassen.<br />

Minsk hofft, mehr Kalidünger<br />

nach Venezuela zu exportieren<br />

und aus Caracas Phosphordünger<br />

einzuführen. Zudem will die Regierung<br />

Venezuela als ständigen<br />

Lieferanten von Phosphaten und<br />

Apatiten gewinnen - Rohstoffe, die<br />

das Gomeler Chemiewerk benötigt.<br />

Minsk plant weiterhin, nach<br />

Südamerika Industrieprodukte<br />

und Agrartechnik zu liefern. Ein<br />

solch umfassender Wunschzettel<br />

mutet seltsam an, wenn man sich<br />

verdeutlicht, dass das Handelsvolumen<br />

zwischen beiden Ländern<br />

im vergangenen Jahr lediglich 13<br />

Mio. Euro betrug. Der plötzliche<br />

Aktionismus auf beiden Seiten war<br />

politisch motiviert: Er resultierte<br />

aus dem Treffen zwischen Hugo<br />

Chavez und Alexander Luka-<br />

schenko im Juli diesen Jahres, bei<br />

dem beide Präsidenten ein großes<br />

Interesse an engerer Zusammenarbeit<br />

bekundet hatten.<br />

„ALTerNATIVe“ eNerGIe?<br />

Seither setzt <strong>Belarus</strong> sehr viel<br />

auf die venezuelische Karte. Die<br />

Erwartungen sind, wie der Aufgabenkatalog<br />

der Minsker Delegation<br />

im September zeigte, hoch.<br />

Vielleicht zu hoch, wenn man<br />

berücksichtigt, dass belarussische<br />

Staatsbetriebe keinerlei Erfahrungen<br />

mit dem venezuelischen<br />

Investitionsklima haben. Andererseits:<br />

Die Auswahl an Ländern, die<br />

sich nicht nur wirtschaftlich, sondern<br />

auch politisch als verlässliche<br />

Partner für das heutige <strong>Belarus</strong><br />

erweisen könnten, ist wahrhaftig<br />

nicht groß. Selbst der „große Bruder“<br />

Russland droht immer öfter<br />

Erhöhungen der Energiepreise<br />

an, die sich <strong>Belarus</strong> nicht leisten<br />

kann. Deshalb muss sich Minsk<br />

nach neuen Energielieferanten<br />

umsehen. Hugo Chavez‘ Venezuela<br />

bietet sich an, denn es ähnelt<br />

in Staatsverständnis und Antiamerikanismus<br />

dem <strong>Belarus</strong> Lukaschenkos.<br />

Allerdings ist auch das<br />

venezuelische Investitionsklima<br />

teilweise mit dem belarussischen<br />

vergleichbar - vor allem, was die<br />

Unberechenbarkeit des Staates angeht.<br />

Erst vor kurzem verkündete<br />

der Präsident der Finanzkomission<br />

des venezuelischen Parlamentes,<br />

Rodrigo Kabesas, dass Venezuela<br />

vier Ölquellen privatisieren könne.<br />

Kabesas unterstrich, dass es für<br />

den Staat eine „Erniedrigung“ sei,<br />

bei den Ölförderungsprojekten<br />

lediglich einen Minoritätsanteil zu<br />

halten. <strong>Belarus</strong> drängt ungeachtet<br />

dessen mit verstärkter Kraft auf<br />

den venezuelischen Markt. Ein<br />

riskantes Unterfangen - wer weiß,<br />

wie lange Chavez seine Nationalisierer<br />

unter Kontrolle hat.<br />

sTANdOrT IrAN<br />

Eine ähnliche Situation ergibt sich<br />

in den Beziehungen zum Iran. Je<br />

dichter sich über dem islamischen<br />

Land die Wolken eines Embargos<br />

zusammenziehen, desto intensiver<br />

gestaltet es seine Wirtschaftsbeziehungen<br />

zu <strong>Belarus</strong>. Heute gibt es<br />

im Iran bereits einen Standort für<br />

den Zusammenbau von Teilen des<br />

belarussischen LKWs „MAZ“, ein<br />

ähnliches Projekt für den Traktor<br />

„<strong>Belarus</strong>“ ist in Arbeit. <strong>Belarus</strong> versucht<br />

außerdem verstärkt, sich auf<br />

dem Markt für Ölprodukte und<br />

Baumaterialien im Iran zu etablieren.<br />

Im Gegenzug eröffnete Iran<br />

vor kurzem ein Werk für seinen<br />

Kleinwagen „Samand“ bei Minsk.<br />

Die Aktivität darf nicht über die<br />

offensichtlichen Gefahren hinwegtäuschen:<br />

Falls im Zusammenhang<br />

mit dem iranischen Atomprogramm<br />

tatsächlich ein Embargo<br />

gegen den Iran verhängt werden<br />

sollte, wären, wie im Fall Irak, alle<br />

außenpolitischen Anstrengungen<br />

der <strong>Belarus</strong>sen umsonst gewesen.<br />

Venezuela und Iran haben als<br />

Standorte ihre Tücken - Investitionen<br />

sind aufgrund politischer Unwägsamkeiten<br />

immer mit einem<br />

Risiko verbunden. Gleichzeitig hat<br />

jedoch die belarussische Führung<br />

gute Kontakte zu jenen, die über<br />

Geld in beiden Ländern entscheiden:<br />

den Präsidenten. Das zeigten<br />

auch die Ergebnisse des Besuches<br />

der belarussischen Delegation<br />

in Caracas: Sie unterzeichneten<br />

Papiere zur Schaffung des von<br />

<strong>Belarus</strong> ersehnten Joint Ventures<br />

zur Förderung und Verarbeitung<br />

von Öl in einem Fördergebiet, das<br />

Präsident Chavez als „das größte<br />

der Welt“ bezeichnete.<br />

1 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34


Weltbank kritisiert Standort <strong>Belarus</strong><br />

Wirtschaft<br />

(elena rakova, Minsk) die Weltbank analysiert jährlich die bedingungen für privates business in der ganzen<br />

Welt und erstellt ein rating von 175 Ländern. belarus nimmt den 129sten Platz ein. Warum schneidet<br />

das Land regelmäßig dermaßen schlecht in der bewertung ab, und woran liegt es, dass sich seine Position<br />

dieses Mal sogar um fünf Plätze verschlechtert hat?<br />

Während die postsowjetischen<br />

Nachbarländer Ukraine und Russland<br />

sich in dem Rating um vier<br />

bzw. einen Platz nach oben verbessern,<br />

bleiben die Bedingungen<br />

für privates Business in <strong>Belarus</strong><br />

schlecht. Zwar verbesserte sich<br />

das Land im Bereich von vier Kriterien<br />

der WB (siehe Tabelle). Eine<br />

Firma zu eröffnen, zu lizensieren<br />

und zu schließen ist demnach in<br />

<strong>Belarus</strong> leichter geworden, ebenso<br />

das Anstellen neuer Arbeitskräfte.<br />

Dennoch wurde es schwerer für<br />

private Geschäftsleute, ihr Eigentum<br />

zu deklarieren. Auch die<br />

Einbindung von <strong>Belarus</strong> in den<br />

Welthandel ist nach Meinung der<br />

Experten der WB noch schlechter<br />

geworden. Zudem werden die<br />

Interessen von Investoren unzureichend<br />

geschützt. Das größte<br />

Problem des Standortes <strong>Belarus</strong>,<br />

meint die Weltbank, ist die Verfügbarkeit<br />

von Krediten. Hier stürzte<br />

das Land förmlich ab: Vom 76-ten<br />

Platz 2005 auf den 117-ten für das<br />

laufende Jahr. Das entspricht einer<br />

Abstufung um 41 Plätze.<br />

eWIGe PrObLeMe<br />

Besonders häufig klagen Geschäftsleute<br />

in <strong>Belarus</strong> über das<br />

komplizierte Steuersystem und die<br />

hohen Steuersätze - 38 Steuer- und<br />

Abgabenformen, für die jeweils<br />

monatlich Rechenschaft abgelegt<br />

werden muss, bedeuten einen<br />

großen bürokratischen Aufwand<br />

für kleine Firmen und Ein-Mann-<br />

Betriebe. Dazu kommt, dass der<br />

Staat die Zahlungsbedingungen<br />

für Mehrwertsteuer, Gewinnsteuer<br />

und Zölle ständig verändert.<br />

Das treibt die Verwaltungskosten<br />

nach oben, weil kleine und mittlere<br />

Unternehmen immer höher qualifizierte<br />

Buchhalter und Juristen<br />

einstellen müssen. Außerdem werden<br />

Geschäfte dadurch riskanter<br />

- hohe Strafen und häufige Kontrollen<br />

der Steuerorgane haben<br />

nicht selten Existenzen zerstört,<br />

fast immer führen sie zu Bestechung.<br />

Kein Wunder also, dass das<br />

belarussische Finanzministerium<br />

Ende Oktober feststellte, dass<br />

zwei Drittel der Unternehmen die<br />

Steuergesetzgebung verletzen.<br />

Viele Unternehmer sind der Meinung,<br />

dass eine formal korrekte<br />

Geschäftstätigkeit unter den gegebenen<br />

Bedingungen gar nicht<br />

möglich ist: Massen von Zertifikaten,<br />

behördlichen Genehmigungen<br />

und vielen anderen Papieren<br />

erschweren die Geschäftstätigkeit<br />

zusätzlich.<br />

Veränderung der bedingungen für Geschäftstätigkeit in belarus<br />

Bereich Platz 2005 Platz 2006 Veränderung<br />

Eröffnung einer Firma 153 148 +5<br />

Lizensierung 88 84 +4<br />

Einstellungen 36 31 +5<br />

Eigentumsregistration 91 96 -5<br />

Kreditvergabe 76 117 -41<br />

Schutz von Investoren 141 142 -1<br />

Steuerzahlungen 175 175 0<br />

Internationaler Handel 106 113 -7<br />

Umsetzung von Verträgen 36 36 0<br />

Schließen einer Firma 97 91 +6<br />

Gesamtrating 124 129 -5<br />

PreIse uNd KredITe<br />

Nach wie vor nimmt der belarussische<br />

Staat starken Einfluss auf<br />

die Preisentwicklung in <strong>Belarus</strong>: er<br />

reguliert die Höhe der Preise, bestimmt<br />

die Zusammensetzung der<br />

Ausgaben von Unternehmen und<br />

deren Rentabilität. Kredite bleiben<br />

das Sorgenkind belarussischer Geschäftsleute.<br />

Denn sie sind teuer,<br />

die Banken fordern übermäßig<br />

hohe Sicherheiten und Garantien<br />

von anderen Firmen.<br />

KAuM uNTersTüTZuNG<br />

Staatliche Unterstützung für die<br />

Privatwirtschaft erweist sich somit<br />

oft als Lippenbekenntnis.<br />

Gleichzeitig hat der Ministerrat<br />

Mitte August einen Maßnahmenkatalog<br />

für kleine und mittlere<br />

Unternehmen verabschiedet, der<br />

im Zeitrahmen 2006-2010 greifen<br />

soll. Ziel ist, den Anteil der Privatwirtschaft<br />

an der belarussischen<br />

Volkswirtschaft zu erhöhen, was<br />

Teil des Regierungsprogramms für<br />

die sozialwirtschaftliche Entwicklung<br />

des Landes für die nächsten<br />

vier Jahre ist. Demnach soll der<br />

Anteil kleiner und mittlerer Unternehmen<br />

am BSP von derzeit<br />

etwa 20 auf 30 Prozent ansteigen.<br />

Die Anzahl der Unternehmen<br />

legten die staatlichen Planer auf<br />

zwischen 44 und 46 Tausend fest,<br />

was bedeuten würde, dass in etwa<br />

zehntausend neue Unternehmen<br />

entstehen müssten. Um dieses<br />

Ziel allerdings nicht nur formal<br />

(durch statistische Fälschung),<br />

sondern auch real zu erreichen,<br />

muss der Staat unbedingt seine<br />

Regulierungsschrauben lockern<br />

und die Kreditvergabe für kleinere<br />

und mittlere Unternehmen<br />

erleichtern.<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34 1


NGOs & Gesellschaft<br />

IBB Minsk wird zu Johannes-Rau-Haus<br />

(edith spielhagen, Minsk) seit dem 1. 9. 2006 trägt die Internationale bildungs- und begegnungsstätte in<br />

Minsk einen neuen Namen. In einem festakt wurde sie in Ibb „Johannes rau“ Minsk umbenannt.<br />

zu. Für die<br />

IBB Minsk<br />

i s t d i e s<br />

eine große<br />

Ehre und<br />

Verpflichtung,<br />

sich<br />

weiterhin<br />

für Versöhnung<br />

und<br />

Verständigungzwischen<strong>Belarus</strong>sen<br />

und<br />

Deutschen<br />

im gemeinsamen<br />

Haus Europa einzusetzen.<br />

W. Skworzow, M. Stolpe, A. Rau, C. Rau, S. Martynow, M. Hecker,<br />

H. Schnoor beim Festakt in Minsk (v.l.)<br />

Etwa 250 Personen versammelten<br />

sich am Tag des Friedens in der<br />

IBB Minsk, um der feierlichen Umbenennung<br />

beizuwohnen. Zu den<br />

Gästen gehörten die Witwe des<br />

Altbundespräsidenten Christina<br />

Rau und Tochter Anna, Staatsminister<br />

a. D. Herbert Schnoor,<br />

Außenminister Sergej Martynow,<br />

Minister a. D. Manfred Stolpe,<br />

Metropolit Filaret, der Vorsitzende<br />

der Jüdischen Gemeinde in <strong>Belarus</strong><br />

Leonid Lewin und Botschafter<br />

Dr. Martin Hecker sowie weitere<br />

hochrangige Persönlichkeiten. Aus<br />

Deutschland waren eigens zu diesem<br />

Ereignis neben Vertretern des<br />

Bundestages und des Landtages<br />

von NRW fast fünfzig Vertreter<br />

von zivilgesellschaftlichen Kooperationsprojekten<br />

mit <strong>Belarus</strong><br />

angereist.<br />

beLArussIsCHe Idee<br />

Der stellvertretende belarussische<br />

Außenminister hatte die<br />

Umbenennung auf der Minsker<br />

Trauerfeier für den Altbundespräsidenten<br />

angeregt. Nach einer Anfrage<br />

der Teilhaber der IBB Minsk<br />

und nachdem sie sich überzeugt<br />

hatte, dass die IBB Beispielhaftes<br />

zur Umsetzung der Lebensziele<br />

ihres Mannes leistet, stimmte<br />

Christina Rau der Namensgebung<br />

GeMeINsAMe ZIeLe<br />

Während der Festveranstaltung<br />

zeigten alle Redner auf, wie sehr<br />

das politische Vermächtnis von<br />

Johannes Rau mit den Aufgaben<br />

der IBB Minsk übereinstimmt.<br />

Der belarussische Außenminister<br />

Sergej Martynow war überzeugt,<br />

dass die IBB Minsk auch weiter<br />

eine Schlüsselrolle bei den belarussisch-deutschen<br />

Beziehungen<br />

spielen werde. Der deutsche Botschafter<br />

Martin Hecker erinnerte<br />

an Raus Devise „Versöhnen statt<br />

Spalten“ und an den Auftrag der<br />

IBB: „Es gilt, das Gemeinsame zu<br />

suchen und nicht nur das Trennende<br />

zu betonen.“<br />

OrTe des GedeNKeNs<br />

Im Rahmen des Programms besuchten<br />

die Gäste die Geschichtswerkstatt,<br />

belarussisch-deutsche<br />

Partnerschaftsprojekte und Gedenkorte<br />

an die Verbrechen des<br />

Zweiten Weltkrieges. Neben Chatyn,<br />

der Gedenkstätte für die vernichteten<br />

belarussischen Dörfer,<br />

war auch Krasnyj Bereg im Bezirk<br />

Slobin, wo gerade ein neues<br />

Mahnmal für ermordete Kinder<br />

entsteht, ein wichtiges Besuchsziel<br />

der deutschen Gäste. Auf dem<br />

Gelände des ehemaligen Minsker<br />

Ghettos und in der 2003 von der<br />

IBB und dem Verband jüdischer<br />

Gemeinden eröffneten Geschichtswerkstatt<br />

führten sie Gespräche<br />

mit Zeitzeugen.<br />

sOZIALe uNd<br />

ÖKOLOGIsCHe PrOJeKTe<br />

Der Besuch der Kinderklinik<br />

Nr. 1 war ein weiteres zentrales<br />

Ereignis der Veranstaltung. Ihre<br />

Entwicklung zu einem leistungsfähigen<br />

chirurgischen Zentrum ist<br />

insbesondere dem Minister a. D.<br />

Schnoor und seiner verstorbenen<br />

Frau zu verdanken, aber auch der<br />

finanziellen Unterstützung des<br />

Landes NRW unter Johannes Rau.<br />

Weitere Projektbesuche galten den<br />

Lehmhäusern für Tschernobyl-<br />

Umsiedler in Lepel, dem Rehabilitations-<br />

und Erholungszentrum<br />

für Tschernobylkinder Nadeshda,<br />

den Behindertenwerkstätten in<br />

der Gemeinde „Aller Trauernder<br />

Freude“, dem Diakonie-Zentrum<br />

in Tarassowo, dem Krisenzentrum<br />

für Frauen in Malinowka sowie<br />

der Sacharow-Universität.<br />

rAT für dIe ZuKuNfT<br />

In einem abschließenden Working<br />

Dinner gaben Weggefährten von<br />

Johannes Rau der IBB Minsk aus<br />

ihrer Sicht wichtige Ratschläge<br />

für die Zukunft. Dabei wurde<br />

nicht nur deutlich, dass die IBB<br />

sich bereits auf dem richtigen Weg<br />

befindet, den Herbert Schnoor mit<br />

einem „Weiter so!“ bekräftigte,<br />

sondern dass es gilt, mit neuen<br />

Elementen die <strong>Bildungs</strong>arbeit<br />

weiter zu qualifizieren, um dem<br />

Anspruch einer aktiven Brücke<br />

zwischen Ost und West weiter<br />

gerecht zu werden. Dazu sollen<br />

künftig auch Johannes-Rau-Abende<br />

angeboten werden.<br />

1 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34


Deutsche Woche 2006<br />

NGOs & Gesellschaft<br />

(Irina Narkewitsch, Minsk) Vom 29. 9. bis zum 8. 10. fand in Minsk zum vierten Mal die deutsche Woche<br />

statt. Hunderte kamen zu Lesungen, Vorführungen und seminaren rund um deutschland. besucher und<br />

Organisationen hatten dabei auch Gelegenheit, neue Kontakte zu knüpfen.<br />

Dank der Bemühungen der Organisatoren<br />

ist die Deutsche Woche<br />

zum wichtigsten Treffen deutscher<br />

und belarussischer Kulturmittlern<br />

in <strong>Belarus</strong> geworden. Mehr als<br />

ein Dutzend Veranstaltungen in<br />

Minsk und anderen Städten zeigten<br />

von neuem, dass zwischen beiden<br />

Ländern ein reger Austausch<br />

und großes Interesse besteht.<br />

rANG uNd NAMeN<br />

Die wichtigsten deutschen Organisationen<br />

in Minsk hatten die Deutsche<br />

Woche gemeinsam mit ihren<br />

belarussischen Partnern sorgfälltig<br />

vorbereitet: Der Deutsche<br />

Akademische Austausch-Dienst<br />

(DAAD), das Goethe-Institut (GI),<br />

das Institut für Deutschlandstudien<br />

(IfD) und die Internationale<br />

<strong>Bildungs</strong>- und Begegnungsstätte<br />

(IBB). Auch dieses Jahr stand die<br />

Deutsche Woche wieder unter der<br />

Schirmherrschaft der Deutschen<br />

Botschaft in Minsk. Gastgeberin<br />

der Eröffnung war die Minsker<br />

Staatliche Linguistische Universität,<br />

deren Chor für den Rahmen<br />

bei der Feier sorgte. Auf dem<br />

Programm standen zudem landeskundliche<br />

Seminare zum Tag<br />

der Deutschen Einheit, vorbereitet<br />

von IfD, DAAD und Lektoren<br />

der Robert-Bosch-Stiftung, sowie<br />

kreative Workshops mit einem<br />

Deutschlandquiz, das Mitarbeiter<br />

des DAAD organisiert hatten.<br />

OffeNe TüreN<br />

Botschafter Dr. Martin Hecker lud<br />

anlässlich des Tages der Deutschen<br />

Einheit in die Staatliche<br />

Philharmonie ein. Seine Gäste<br />

konnten nicht nur die kulinarischen<br />

Exklusivitäten des Abends,<br />

sondern auch einige musikalische<br />

Leckerbissen genießen, die das<br />

„Minsk Orchestra“ unter der<br />

Leitung des Deutschen Wilhelm<br />

Keitel präsentierte. Sowohl das<br />

Goethe-Institut als auch Institut<br />

für Deutschlandstudien veranstalteten<br />

zum Abschluss der großen<br />

Reihe einen Tag der offenen Tür.<br />

„HÖrbuCH“<br />

Neue Kulturprojekte standen<br />

zudem im Mittelpunkt des Programmes:<br />

Im „Literarischen Café“,<br />

einem Gemeinschaftsprojekt des<br />

Instituts für Deutschlandstudien<br />

und des Goethe-Instituts, las Jens<br />

Sparschuh aus seinem Roman<br />

„Der Zimmerspringbrunnen“.<br />

Das Interesse war groß, so dass<br />

sich die Organisatoren in ihren<br />

Plänen bestätigt sahen, weitere<br />

Treffen zu organisieren, die zu<br />

einer Plattform für einen regen<br />

Meinungsaustausch über moderne<br />

deutsche und belarussische Literatur<br />

werden sollen.<br />

LIebesGesCHICHTe<br />

Das IfD präsentierte außerdem<br />

zum ersten Mal die Seminarreihe<br />

„IfD-Filmstudio“ und stellte dem<br />

Publikum den Film „Franz + Polina“<br />

vor. Die Regisseurin Natalia<br />

Adamowitsch erzählte über die<br />

Entstehung dieses Films und antwortete<br />

auf die Fragen begeisterter<br />

Zuschauer, die von der traurigen<br />

Liebesgeschichte eines deutschen<br />

Soldaten und eines belarussischen<br />

Mädchens während des Zweiten<br />

Weltkrieges zutiefst gerührt waren.<br />

Das IfD-Filmstudio plant,<br />

jeden Monat bedeutende Filme mit<br />

Deutschlandbezug vorzuführen,<br />

die Gelegenheit zur Diskussion<br />

geben.<br />

NOrdrHeIN-WesTfäLIsCH<br />

Traditionsgemäß präsentierte<br />

sich im Rahmen der Deutschen<br />

Woche eines der Bundesländer.<br />

Das bevölkerungsreichste Land<br />

Nordrhein-Westfalen wurde in<br />

vier Vorträgen vorgestellt: Über<br />

die politische und wirtschaftliche<br />

Lage berichtete Niels Jansen, Praktikant<br />

am IfD. Den berühmtesten<br />

Landesvater und Altbundespräsidenten<br />

Johannes Rau, sein Leben<br />

und Schaffen, stellte Astrid Sahm<br />

vor, die Direktorin der IBB. Nadine<br />

Becker, Praktikantin am TACIS-<br />

Büro in Minsk, präsentierte Essen,<br />

die europäische Kulturhauptstadt<br />

2010. Der österreichische Koch des<br />

Restaurants „Westfalia“ an der<br />

IBB, Richard Gschwandtl, übertraf<br />

an diesem Tag mit seiner Auswahl<br />

an Gerichten der wesfälischen Küche<br />

alle Erwartungen der Gäste<br />

deuTsCH uNd eurOPäIsCH<br />

Eine ganze Reihe von Veranstaltungen<br />

säumte das Kernprogramm<br />

dieses Jahr: die Eröffnung<br />

der Deutschen Ecke im Minsker<br />

Botanischen Garten, Lesungen<br />

deutscher Autoren in den Bibliotheken<br />

von Brest, Molodetschno<br />

und Vitebsk, der Tag der Konrad-<br />

Adenauer-Stiftung an der IBB. Zudem<br />

fand im Museum für moderne<br />

bildende Kunst die Ausstellung<br />

„Haltestelle Europa“ statt sowie<br />

anlässlich des 250. Geburtstages<br />

von W. A. Mozart ein Konzert in<br />

der Philharmonie. Die Besucher<br />

konnten sich auf den vielen Veranstaltungen<br />

davon überzeugen,<br />

dass deutsche und belarussische<br />

Organisationen aktiv kooperieren<br />

und eine große Kreativität an den<br />

Tag legen. Die Deutsche Woche<br />

2006 machte Lust auf das nächste<br />

Großereignis - das Deutsche<br />

Kulturjahr 2007. <strong>Belarus</strong>sen und<br />

Deutsche freuen sich auf lebendige<br />

Kulturveranstalungen und neue<br />

interessante Treffen, die uns im<br />

kommenden Jahr erwarten.<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34 1


Chronologie<br />

Chronologie vom 17.07. bis zum 15.10.2006<br />

17. bis 23. Juli<br />

Fast 30 % der belarussischen Industrie<br />

haben in den ersten fünf<br />

Monaten des Jahres rote Zahlen<br />

geschrieben, erklärt das belarussische<br />

Wirtschaftsministerium.<br />

Die EU-Kommissarin für Außenpolitik<br />

Benita Ferrero-Waldner<br />

kritisiert die Verurteilung des Oppositionellen<br />

Alexander Kosulin<br />

zu fünf Jahren Gefängnis.<br />

Bundesaußenminister Frank-<br />

Walter Steinmeier fordert <strong>Belarus</strong><br />

auf, alle politischen Gefangenen<br />

freizulassen.<br />

Der belarussische Verteidigungsminister<br />

Leonid Malzew erörtert<br />

in Havanna Möglichkeiten einer<br />

engeren militärischen Zusammenarbeit<br />

mit Kuba.<br />

Der Fonds des russischen Nobelpreisträgers<br />

Schorez Alferow<br />

vereinbart eine Zusammenarbeit<br />

mit dem belarussischen Technologiepark<br />

im Bereich der Mikroelektronik.<br />

Der venezuelische Präsident Hugo<br />

Chavez führt in Minsk Gespräche<br />

mit Alexander Lukaschenko.<br />

24. bis 30. Juli<br />

Die belarussische Polizei durchsucht<br />

die Wohnung eines lettischen<br />

Diplomaten wegen des<br />

Verdachts auf Produktion von<br />

Pornografie.<br />

Eine Delegation des belarussichen<br />

Parlamentes besucht Indien.<br />

<strong>Belarus</strong> und China einigen sich<br />

nach Unstimmigkeiten auf einen<br />

Preis für Kalidünger. Bis Ende<br />

2006 sollen 1,7 Mio. Tonnen exportiert<br />

werden.<br />

Präsident Lukaschenko verkündet,<br />

er werde die Holz verarbeitende<br />

Industrie nationalisieren.<br />

Der belarussische Vizepremier<br />

Wladimir Semaschko erklärt, <strong>Belarus</strong><br />

müsse mehr nach Amerika und<br />

Afrika exportieren.<br />

31. Juli bis 6. August<br />

Alexander Lukaschenko erklärt,<br />

<strong>Belarus</strong> stünde unter westlichem<br />

Druck wegen seiner gestiegenen<br />

geopolitischen Bedeutung.<br />

Das belarussische Justizministerium<br />

fordert die oppositionelle Partei<br />

der <strong>Belarus</strong>sischen Kommunisten<br />

(PBK) auf, ihre Mitgliederlisten<br />

zu übergeben. Die PBK lehnt dies<br />

als gesetzeswidrig ab.<br />

Der lettische Außenminister Artis<br />

Pabriks beruft seine Botschafterin<br />

aus <strong>Belarus</strong> wegen des Skandals<br />

um angebliche Pornofilme eines<br />

lettischen Diplomaten ab.<br />

Ein Minsker Gericht verurteilt vier<br />

Mitarbeiter der NGO „Partnerschaft“<br />

zu Gefängnisstrafen. Die<br />

USA drohen <strong>Belarus</strong> deswegen<br />

mit Einreiseverboten für die Verantwortlichen<br />

des Urteils.<br />

Alexander Lukaschenko beruft<br />

die belarussischen Botschafter aus<br />

Russland, Großbritannien und<br />

Kasachstan ab.<br />

7. bis 13. August<br />

Die belarussische Lebensmittelindustrie<br />

müsse innerhalb von zwei<br />

Jahren modernisiert werden, fordert<br />

Präsident Lukaschenko.<br />

Sergej Karganow, Leiter des Russischen<br />

Rates für Außen- und<br />

Sicherheitspolitik, sagt in einem<br />

Interview, <strong>Belarus</strong> werde „immer<br />

instabiler und unvorhersehbarer“<br />

für Russland.<br />

Alexander Lukaschenko fordert,<br />

dass der „Vertrag über die kollektive<br />

Sicherheit“ von GUS-Ländern<br />

zu einem selbstständigen Subjekt<br />

der internationalen Beziehungen<br />

werden solle.<br />

Der iranische Industrieminister<br />

Tachmasebi erklärt in Minsk, sein<br />

Land wolle enger wirtschaftlich<br />

mit <strong>Belarus</strong> zusammenarbeiten.<br />

Das russische Energieministerium<br />

geht davon aus, dass <strong>Belarus</strong> 2007<br />

maximal 95 Dollar für Gas zahlt<br />

- nur halb so viel, wie „Gasprom“<br />

gefordert hatte.<br />

14. bis 20. August<br />

Die belarussische Regierung beschließt<br />

eine Stärkung kleinerer<br />

und mittlerer Unternehmen.<br />

Das belarussische Unterhaus erarbeitet<br />

eine Gesetzesvorlage zum<br />

Verbot der Werbung für Alkohol<br />

und Tabak in <strong>Belarus</strong>.<br />

Die Mitgliedsstaaten der Eurasischen<br />

Wirtschaftsgemeinschaft<br />

treffen sich informell in Sotschi.<br />

EU und USA erklären sich besorgt<br />

über die Menschenrechtssituation<br />

in <strong>Belarus</strong>.<br />

Mehrere Mitglieder der „Union<br />

der Polen in <strong>Belarus</strong>“ werden festgenommen.<br />

Das polnische Außenministerium<br />

ruft Minsk dazu auf,<br />

die „Verfolgung“ einzustellen.<br />

<strong>Belarus</strong>sische Experten gehen<br />

davon aus, dass der belarussische<br />

Wald in 40 Jahren um 10 %<br />

zunehmen wird. Grund sei die<br />

Erwärmung des Klimas.<br />

21. bis 27. August<br />

Die oppositionellen Vereinten Demokratischen<br />

Kräfte verabschieden<br />

einen geheimen Aktionsplan<br />

für das laufende Jahr.<br />

In Kasachstan finden große Manöver<br />

des GUS-Militärbündnisses<br />

„Vertrag über die kollektive<br />

Sicherheit“ statt.<br />

Die Bevollmächtigte der Ukraine<br />

in <strong>Belarus</strong>, Oxana Kizun, erklärt,<br />

ihr Land wolle weiter einen konstruktiven<br />

Dialog mit Minsk.<br />

Das belarussische Automobilwerk<br />

MAS will dieses Jahr seine Busse in<br />

Skandinavien vermarkten.<br />

28. August bis 3. september<br />

Alexander Lukaschenko unterzeichnet<br />

einen Erlass zur staatlichen<br />

Stimulierung des Exportes<br />

durch Kredite und Sicherheiten.<br />

1 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34


Der belarussische Außenminister<br />

Sergej Martynow reist mit einer<br />

Delegation nach Südafrika.<br />

Die oppositionelle „<strong>Belarus</strong>sische<br />

Volksfront“ schlägt einen Plan zur<br />

Überwindung der Krise im Oppositionsbündnisses<br />

vor.<br />

Alexander Lukaschenko feiert<br />

seinen 52. Geburtstag.<br />

Die Internationale <strong>Bildungs</strong>- und<br />

Begegnungsstätte Minsk wird in<br />

IBB „Johannes Rau“ umbenannt.<br />

Sri Lanka und <strong>Belarus</strong> wollen ihre<br />

Handelsbeziehungen intensivieren,<br />

erklären die Botschafter beider<br />

Länder in Russland.<br />

Wladimir Semaschko, belarussischer<br />

Vizepremier, warnt vor<br />

einer Heizungspreiserhöhung von<br />

über 30 Dollar, falls der russische<br />

Gaspreis ansteigen werde.<br />

4. bis 10. september<br />

Der Bau der deutsch-russischen<br />

Gaspipeline, die <strong>Belarus</strong> umgeht,<br />

wird auf 2010 verschoben.<br />

Das ukrainische Wirtschaftsministerium<br />

sieht vorläufig von einer<br />

Strompreiserhöhung für <strong>Belarus</strong><br />

ab, weil <strong>Belarus</strong> mit einer eigenen<br />

Produktion droht.<br />

Eine belarussische Delegation unter<br />

Vizepremier Semaschko reist<br />

zu Gesprächen nach Venezuela.<br />

Schimon Peres, israelischer Vizepremier,<br />

strebt eine Intensivierung<br />

der israelisch-belarussischen Wirtschaftsbeziehungen<br />

an.<br />

Der iranische Außenminister<br />

Manutschehr Mottaki besucht<br />

<strong>Belarus</strong>.<br />

Die oppositionelle Partei der <strong>Belarus</strong>sischen<br />

Kommunisten kritisiert<br />

in einem Brief an 50 linke Parteien<br />

der Welt die angebliche Alleinherrschaft<br />

Lukaschenkos.<br />

11. bis 17. september<br />

Der Oppositionsführer Alexander<br />

Milinkewitsch erklärt, freie Wahlen<br />

seien in <strong>Belarus</strong> nur mit Hilfe<br />

friedlicher Proteste zu erreichen.<br />

Alexander Lukaschenko nimmt in<br />

Havanna an der Konferenz der Bewegung<br />

Blockfreier Staaten teil.<br />

Der Vorsitzende der illegalen oppositionellen<br />

Jugendorganisation<br />

„Junge Front“, Dmitrij Daschkewitsch,<br />

wird festgenommen.<br />

Der Staatssekretär des russischbelarussischen<br />

Unionsstaats erklärt,<br />

<strong>Belarus</strong> erfülle nicht dessen<br />

Vereinbarungen über Eigentum.<br />

Knapp 5000 Teilnehmer kommen<br />

in Minsk zum oppositionellen<br />

„Jeansfest“.<br />

Die neue US-Botschafterin Karin<br />

Stuart trifft in Minsk ein.<br />

18. bis 24. september<br />

Alexander Lukaschenko gibt der<br />

russischen BBC ein Interview.<br />

Oppositionsführer Alexander Milinkewitsch<br />

besucht Finnland.<br />

Der schwedische Europaabgeordnete<br />

Christofer Fjellner erklärt,<br />

sein Land werde jetzt intensiver<br />

die Demokratisierung von <strong>Belarus</strong><br />

fördern.<br />

Viktor Schejman, Vorsitzender<br />

des belarussischen Sicherheitsrates,<br />

verkündet, dass Venezuela<br />

in <strong>Belarus</strong> Militärtechnik im Wert<br />

von über 1 Mrd. Dollar in Auftrag<br />

gegeben hat.<br />

„Nascha Niwa“, die erste belarussischsprachige<br />

Zeitung, feiert<br />

ihren 100. Geburtstag.<br />

In Minsk konstituiert sich der neue<br />

Jugendverband der oppositionellen<br />

„<strong>Belarus</strong>sischen Volksfront“.<br />

25. september bis 1. Oktober<br />

In Vilnius debattieren europäische<br />

und belarussische Vertreter aus<br />

Medien und Politik die Perspektiven<br />

unabhängiger Radio- und<br />

Fernsehanstalten für <strong>Belarus</strong>.<br />

Die Führer von vier Oppositionsparteien<br />

einigen sich in Minsk auf<br />

eine Koordination des Wahlkampfes<br />

für die Regionalwahlen.<br />

Der belarussische Außenminister<br />

Sergej Martynow erklärt vor<br />

Chronologie<br />

der UNO-Vollversammlung die<br />

Selbstbestimmung von Staaten zur<br />

wichtigsten Ideologie der Welt.<br />

Alexander Lukaschenko erklärt,<br />

er wolle den KGB stärken, um die<br />

Staatssicherheit zu verbessern.<br />

Der UN-Sonderberichterstatter<br />

Adrian Severin erklärt, die Menschenrechtslage<br />

in <strong>Belarus</strong> habe<br />

sich verschlechtert.<br />

2. bis 8. Oktober<br />

Das belarussische Unterhaus ratifiziert<br />

die internationale Konvention<br />

gegen Atomterrorismus.<br />

Alexander Lukaschenko erklärt,<br />

die GUS brauche eine konstruktive<br />

Reform.<br />

<strong>Belarus</strong> einigt sich mit Russland<br />

darauf, die Einfuhrbegrenzungen<br />

für Bier aufzuheben.<br />

Der russische Gastransit durch<br />

<strong>Belarus</strong> wird bis 2010 um 50 %<br />

ansteigen, erklärt Energieminister<br />

Alexander Osnarez.<br />

<strong>Belarus</strong>sische Grenzschützer haben<br />

in diesem Jahr schon über 60<br />

Mio. Euro mehr Zölle eingetrieben<br />

als im Vorjahreszeitraum.<br />

9. bis 15. Oktober<br />

Der belarussische Premier Sergej<br />

Sidorski reist zu Gesprächen in das<br />

russische Altaj-Gebiet.<br />

Alexander Milinkewitsch trifft in<br />

Prag den früheren tschechischen<br />

Präsdidenten Vaclav Havel.<br />

Präsident Lukaschenko legt die<br />

belarussischen Regionalwahlen<br />

auf den 14. Januar fest.<br />

Alexander Milinkewitsch erhält<br />

die Sergio-Vierra-de-Miello-Auszeichnung<br />

des UN-Menschenrechtskommissars.<br />

Polen, Lettland, Litauen, Griechenland<br />

und Zypern setzen in<br />

der Europäischen Kommission<br />

fortgesetzte Handelspräferenzen<br />

für <strong>Belarus</strong> durch.<br />

Alexander Lukaschenko erklärt,<br />

die Erfüllung des laufenden Fünfjahresplanes<br />

sei sehr schwierig.<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34 1


NGOs & Gesellschaft<br />

Nachruf auf Eva Balke<br />

(Burkhard Homeyer, „Den Kindern<br />

von Tschernobyl“, Münster)<br />

Traurigen Herzens nehmen wir<br />

Abschied von einer lieben Freundin<br />

der Tschernobyl- und <strong>Belarus</strong>arbeit.<br />

Eben feierten wir den<br />

70. Geburtstag von Eva Balke in<br />

Detmold, in der Nacht zum Donnerstag,<br />

25.8., erlag sie dann ihrem<br />

schweren Leiden. Jeder wusste<br />

schon lange, welchen Weg Eva<br />

vor sich hatte. Der Krebs in ihrem<br />

Körper befand sich in einem tödlichen<br />

Stadium. Sie wusste darum.<br />

Tapfer nahm sie seit Jahren die Untersuchungen<br />

und Therapien hin,<br />

schwankend zwischen Hoffnung<br />

und Einsicht. Und mit unglaublicher<br />

Zähigkeit setzte sie sich trotz<br />

allem Ziele, als wenn Energien frei<br />

würden, sie auch zu erreichen.<br />

KINder VON TsCHerNObyL<br />

Damit sind wir bei den „Kindern<br />

von Tschernobyl“ und dem Thema<br />

<strong>Belarus</strong>. Eva ist eine Frau der<br />

ersten Stunde - sie kam von der<br />

christlichen Friedensbewegung.<br />

Als Mitglied der „Solidarischen<br />

Kirche Westfalen/Lippe“ nahm<br />

sie wie ihr Mann - auf dem Höhepunkt<br />

des „Kalten Krieges“ - an<br />

einem Prozess der kleinen Schritte<br />

von unten teil, der nach Brücken<br />

der Verständigung für ein neues<br />

Verhältnis zur Sowjetunion suchte<br />

und sich im Aufbruch vieler Initiativen<br />

nach Osten konkretisierte.<br />

Darunter auch das IBB.<br />

Eva hatte schnell erkannt, wie<br />

„Tschernobyl“ als neue Art des<br />

Krieges, als „unsichtbarer“ Krieg<br />

nach dem Leben der Menschheit<br />

griff, zugleich aber zu einer neuen<br />

Art von Solidarität ohne Grenzen<br />

herausforderte. Nicht von ungefähr<br />

fand sie schnell den Weg<br />

zur belarussischen Bürger- und<br />

Selbsthilfebewegung und damit<br />

zu deren Tschernobylkomitee, der<br />

späteren <strong>Belarus</strong>sischen Gemeinnützigen<br />

Stiftung „Den Kindern<br />

von Tschernobyl“.<br />

KINder Auf reIseN<br />

Eva engagierte sich sofort für die<br />

Kinder, wurde zum treibenden<br />

Motor der örtlichen Partnerschaft<br />

von Detmold und Mozyr, gehörte<br />

als Gründungsmitglied der<br />

Bundesarbeitsgemeinschaft „Den<br />

Kindern von Tschernobyl“ in<br />

Deutschland bis zuletzt dem Vorstand<br />

an, beteiligte sich am Aufbau<br />

eines europäischen, ja weltweiten<br />

Netzwerkes, dem Internationalen<br />

Rat „Für die Kinder von Tschernobyl“<br />

(ICCOC) - alles in engster<br />

Partnerschaft zur <strong>Belarus</strong>sischen<br />

Gemeinnützigen Stiftung. Als<br />

Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft<br />

der Tschernobylinitiativen<br />

in NRW, die sie mit ins Leben<br />

rief, hielt sie die Hauptrede zum<br />

20. Jahrestag von Tschernobyl im<br />

Düsseldorfer Landtag. Eva lagen<br />

vor allem die Kinderreisen am<br />

Herzen - wie zuletzt noch sichtbar<br />

geworden in ihrer Mitarbeit bei der<br />

Partnerschaftstagung 2006 des IBB<br />

in Geseke. In der Bundesarbeitsgemeinschaft<br />

war sie die Hauptansprechpartnerin<br />

für diese Arbeit,<br />

stand vielen Initiativen mit Rat<br />

und Tat zur Seite, erarbeitete pädagogisches<br />

Material, präsentierte<br />

die „Kinder von Tschernobyl“ bei<br />

Kirchentagen und ökumenischen<br />

Versammlungen. Sie kämpfte mit<br />

für eine demokratische, wirklich<br />

unabhängige NGO-Bewegung<br />

in <strong>Belarus</strong> und eine gemeinsame<br />

Tschernobylbewegung in Ost und<br />

West.<br />

Über die Kinder entstanden unzählig<br />

viele Brücken der Völkerverständigung,<br />

von Mensch zu<br />

Mensch, Familie zu Familie, Ort<br />

zu Ort - Friedensbrücken, Brücken<br />

der Versöhnung. Sie als Christin,<br />

die sich im kirchlichen Raum in<br />

vielerlei Weise engagierte, konnte<br />

in den Abgrund von Schuld<br />

deutscher Geschichte gerade in<br />

<strong>Belarus</strong> im festen Glauben an einen<br />

Neuanfang schauen, nicht in<br />

ignoranter Verdrängung und<br />

selbstherrlicher Verharmlosung,<br />

sondern als Geschenk - das ihr in<br />

vielen Begegnungen mit belarussischen<br />

Menschen zuteil wurde.<br />

CHANCe deM frIedeN<br />

Sie entstammte einer Generation,<br />

die als Kind selbst noch von Naziherrschaft<br />

und Kriegsschrecken<br />

geprägt war und sich anschließend<br />

weithin durch den „Kalten Krieg“<br />

und seine Propaganda blenden<br />

ließ. Das war Hintergrund für ihr<br />

Friedensengagement unter dem<br />

Motto „Nie wieder“. Es verknüpfte<br />

sich mit dem Engagement für<br />

die belarussischen Kinder, die<br />

Kinder von „Tschernobyl“, das<br />

zu gemeinsamem Handeln der<br />

zivilgesellschaftlichen Kräfte in<br />

Ost und West herausfordert: Den<br />

Kindern eine Zukunft - eine Chance<br />

dem Frieden.<br />

Eva übermittelte vor Jahren das<br />

Gedicht eines Tschernobylkindes.<br />

Lina Michailowa schreibt:<br />

„Ich wünsche mir einen sauberen<br />

Himmel, ich wünsche hellen Sonnenschein,<br />

ich wünsche, dass die<br />

belarussischen Kinder lachen und<br />

glücklich leben können.“<br />

So könnte Eva selbst gesprochen<br />

haben. Der lange gemeinsame<br />

Weg mit ihr erfüllt uns mit großem<br />

Dank. Die Saat geht langsam<br />

auf. Eva hat einen neuen Weg vor<br />

sich mit einem neuen Ziel. Ihr<br />

Vermächtnis aber wird uns auch<br />

in Zukunft begleiten.<br />

Burkhard.Homeyer@t-online.de, www.<br />

bag-tschernobyl.net<br />

1 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34


Streitfall Waisenkind<br />

NGOs & Gesellschaft<br />

(Larisa Netrebko, Minsk) Anfang september kam es in Italien zum skandal um das zehnjährige belarussische<br />

Waisenkind Wika Moroz. Ihre Gastfamilie wollte sie nicht zurückschicken, weil sie angeblich<br />

misshandelt worden sei. belarus holte das Kind mit Hilfe italienischer Gerichte dennoch zurück.<br />

Alessandro Djusto und Maria-<br />

Chiara Bornachin konnten es<br />

nicht fassen, als die Polizei Wika<br />

Moroz in ihrem Versteck bei ihren<br />

italienischen „Großeltern“<br />

aufgespürt hatte. Kurz darauf war<br />

das Mädchen wieder in <strong>Belarus</strong>.<br />

Eine Woche Medienskandal und<br />

Gerichtsverhandlung waren vorüber,<br />

während derer das Ehepaar<br />

Wika versteckt hatte. Djusto und<br />

Bornachin hatten das Kind nicht<br />

zurückschicken wollen, weil sie<br />

angeblich Spuren von Verbrennungen<br />

und Misshandlungen an<br />

ihrem Körper entdeckt hatten.<br />

Wika nannte sie seit Jahren „Mama<br />

und Papa“ und freute sich immer<br />

wieder, wenn sie ihre Gastfamilie<br />

besuchen konnte. Insgesamt siebenmal<br />

war sie in Italien.<br />

VerZWeIfeLTe „eLTerN“<br />

Das Ehepaar entschloss sich anhand<br />

der Spuren von Gewaltanwendung<br />

zu einer Verzweiflungstat:<br />

Djusto und Bornachin<br />

weigerten sich auf Wikas Bitten<br />

hin, das Kind zurück in die Heimat<br />

zu schicken. Ein Fall von Kindesentführung.<br />

Italienische Zeitungen<br />

hatten zudem ein Bild von Wika<br />

publiziert, auf dem sie sich an<br />

einen Stuhl gefesselt dargestellt<br />

hatte. Schnell hatte das Ehepaar<br />

die italienische Öffentlichkeit<br />

hinter sich - mit Ausnahme der<br />

Gerichte und jener Familien, die<br />

selbst ein belarussisches Kind über<br />

die Ferien aufnehmen oder gar<br />

adoptieren wollen.<br />

reAKTION des sTAATes<br />

Denn die belarussische Seite reagierte<br />

erwartungsgemäß mit aller<br />

Härte. Um Druck auf die italienischen<br />

Behörden auszuüben, setzte<br />

Minsk vorübergehend die Reisen<br />

belarussischer Kindergruppen<br />

nach Italien aus. Gleichzeitig reichte<br />

der belarussische Botschafter in<br />

Italien, Alexej Skripko, Klage bei<br />

einem Gericht in Genua ein. „Wir<br />

haben uns an den Wortlaut des Gesetzes<br />

gehalten“, erklärte Skripko.<br />

„Gleichzeitig haben wir sehr eng<br />

mit den italienischen Behörden<br />

kooperiert.“ Empört hatte sich der<br />

Direktor des Vilejker Kinderheimes<br />

gegen die Vorwürfe gewehrt,<br />

Wika sei in seinem Heim misshandelt<br />

worden. Michael Woltschkov<br />

bezeichnete die Anspielungen von<br />

Wika Moroz auf Misshandlungen<br />

als Anzeichen für eine „lebhafte<br />

Kinderfantasie“.<br />

ALTerNATIVeN?<br />

Es stellt sich vor allem die Frage,<br />

ob es möglich gewesen wäre, den<br />

Konflikt anders zu lösen, ohne<br />

dass Wika Moroz zwischen die<br />

Fronten staatlicher und privater<br />

Interessen hätte geraten müssen?<br />

Ein Runder Tisch mit Beteiligung<br />

aller Betroffenen sowie der Behörden<br />

hätte Sinn gemacht. Besonders<br />

vor dem Hintergrund, dass zehntausende<br />

belarussischer Kinder<br />

jährlich zu italienischen Gastfamilien<br />

fahren. Niemand machte<br />

sich die Mühe, die beiden Seiten<br />

an einen Tisch zu holen, weder<br />

in Italien noch in <strong>Belarus</strong>. Dabei<br />

haben Waisenkinder in <strong>Belarus</strong><br />

nur geringe Chancen, sich in die<br />

Gesellschaft zu integrieren, wie<br />

selbst Präsident Lukaschenko im<br />

letzten Jahr konstatierte.<br />

POLITIsIeruNG<br />

Es ist verständlich, dass die belarussischen<br />

Behörden sich an die<br />

präsidiale Vorgabe halten müssen,<br />

die Adoptionszahlen herunterzufahren.<br />

Ihre Bemühungen sind<br />

von Erfolg gekrönt: Während 2003<br />

noch über siebenhundert bela-<br />

russische Kinder von Italienern<br />

adoptiert wurden, waren es im<br />

letzten Jahr nur noch zwei. Es ist<br />

auch kein Wunder, dass der Präsident<br />

das Thema auf die politische<br />

Tagesordnung setzte. Als Staatsoberhaupt<br />

muss er ein Interesse<br />

daran haben, dass Kinder sich in<br />

<strong>Belarus</strong> heimisch fühlen und eine<br />

Perspektive haben. Allerdings ist<br />

es traurig, dass in Ermangelung<br />

einer Perspektive der Staat Besitzansprüche<br />

auf ein Kind geltend<br />

macht, um nicht eingestehen zu<br />

müssen, dass es dem Kind im Ausland<br />

besser gehen könnte.<br />

fOLGeN<br />

Das Kind wurde ins Internat<br />

zurückgebracht. Die Behörden<br />

haben eine Sitzung einberufen mit<br />

Vertretern des <strong>Bildungs</strong>ministeriums,<br />

des Außenministeriums und<br />

des Departements für humanitäre<br />

Hilfe. <strong>Belarus</strong>sische NGOs, die jahrelang<br />

erfolgreich mit italienischen<br />

Familien zusammenarbeiten, wurden<br />

dazu nicht eingeladen. Zweifellos<br />

sind die belarussischen<br />

Behörden erschrocken über den<br />

Skandal und wollen sich gegen<br />

weitere solche Fälle absichern, was<br />

auch richtig ist. Aber dabei sollten<br />

sie nicht automatisch allen misstrauen,<br />

die ebenso ein Interesse an<br />

schönen Erholungsreisen belarussischer<br />

Kinder nach Italien haben:<br />

tausende italienischer Eltern und<br />

jene humanitären NGOs, die diese<br />

Urlaubsreisen organisieren. Alessandro<br />

Djusto und Maria-Chiara<br />

Bornachin sind eine solche Gastfamilie<br />

gewesen. Sie mögen überreagiert<br />

und illegal gehandelt haben,<br />

aber Eltern handeln so, wenn sie<br />

ein Kind in Gefahr sehen. Djusto<br />

und Bornachin ist kein moralischer<br />

Vorwurf zu machen: Sie glaubten<br />

lediglich den Worten eines Kindes,<br />

das sie lieben.<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34 1


NGOs & Gesellschaft<br />

Nachhaltige Wohnungswirtschaft in <strong>Belarus</strong><br />

bernhard schwarz ist bei der Initiative Wohnungswirtschaft Osteuropa (IWO) e.V. zuständig für ein<br />

Projekt in der belarussischen Kleinstadt schodino. Ziel: Private Gemeinschaften von Wohneigentümern<br />

zu fördern, damit diese ihre Gebäude nach modernen Energiestandards sanieren. Im Interview erklärt<br />

schwarz, wie Gebäudesanierung „von unten“ funktioniert und was der belarussische staat davon hält.<br />

Das Interview führte Martin Schön.<br />

Herr Schwarz, wer braucht in <strong>Belarus</strong><br />

eigentlich Eigentümergemeinschaften?<br />

Bereits ab 1992 leitete <strong>Belarus</strong> per<br />

Gesetz die Privatisierung des staatlichen<br />

Wohnungsbestandes ein. Im<br />

Ergebnis sind bisher etwa 80 Prozent<br />

des vormals staatlichen Wohnungsbestandes<br />

in private Hand<br />

übergegangen. Die Privateigentümer<br />

sind jedoch nicht gemeinsam<br />

organisiert. Deshalb verkommt die<br />

Bausubstanz, bei der nachhaltigen<br />

Nutzung der Immobilien gibt es keine<br />

sichtbaren Fortschritte. Es bestehen<br />

weiter ungeklärte Eigentumsverhältnisse<br />

an Grund und Boden,<br />

aber auch am Gemeinschafts- und<br />

Sondereigentum.<br />

Aber gerade die Bildung neuer<br />

Eigentümerstrukturen ist Voraussetzung<br />

für den nachhaltigen Umgang<br />

mit dem Wohnungsbestand.<br />

Die Eigentümergemeinschaften<br />

übernehmen die Verwaltung. Sie<br />

entscheiden über die Höhe der<br />

Mietzahlungen, die Zahlungen<br />

gehen auf einem eigenen Konto<br />

der Eigentümergemeinschaft ein.<br />

Sie beschließen über die Verwendung<br />

der Gelder, den künftigen<br />

Verwalter, ausstehende Sanierungsmaßnahmen<br />

an den Gebäuden. Die<br />

Verwendung der Finanzen wird<br />

transparent, denn die Kontrolle erfolgt<br />

durch gewählte Revisoren.<br />

Diese Eigentümergemeinschaften<br />

übernehmen die Bestandssicherung<br />

ihrer Immobilien und lassen sie sanieren.<br />

Die entscheidende Aufgabe<br />

dabei ist die energetische Gebäudesanierung.<br />

Mit ihrer Hilfe müssen<br />

erhebliche Energieeinspareffekte<br />

und Reduzierungen von Energieverlusten<br />

erreicht werden.<br />

Sie wollten den Einwohnern eines Schodiner<br />

Plattenbaus helfen, sich gemeinsam<br />

zu organisieren. Hat es geklappt?<br />

Ja. Wir haben es gemeinsam mit den<br />

Projektpartnern geschafft, durch<br />

den Transfer von Know-how einen<br />

nachhaltigen Ansatz für die Bildung<br />

von Wohneigentümergemeinschaften<br />

in Mehrfamilienhäusern zu<br />

schaffen. Dazu führten wir gemeinsame<br />

Beratungen, Workshops und<br />

Schulungsveranstaltungen durch.<br />

Unsere Experten waren vor Ort<br />

tätig. Wir analysierten die Rahmenbedingungen,<br />

leiteten Handlungsempfehlungen<br />

ab, entwickelten<br />

Methoden zur Gründung der Gemeinschaften<br />

und begleiteten vor<br />

Ort die Bürger bei der Bildung der<br />

Eigentümergemeinschaft in der Derewjanko-Straße.<br />

Die Einwohner haben<br />

deutlich gemacht, dass sie eine<br />

Komplettsanierung des Gebäudes<br />

von der Stadtverwaltung erwarten<br />

- was genau unseren Zielen energiewirtschaftlicher<br />

Nachhaltigkeit entspricht.<br />

Damit haben nach unserer<br />

Kenntnis erstmals ehemalige Mieter<br />

eine Eigentümergemeinschaft in<br />

einem belarussischen Plattenbau gegründet.<br />

Jetzt benötigt der gewählte<br />

Vorstand nachhaltige Unterstützung<br />

beim Aufbau des kaufmännischen<br />

Managements und der technischen<br />

Bestandssicherung der Immobilie.<br />

Der Bürgermeister von Schodino<br />

hat seine Hilfe zugesagt.<br />

Für ein nachhaltiges Projekt braucht es<br />

zuverlässige Partner. Wer ist das für<br />

die IWO?<br />

Wir kooperieren in Schodino mit<br />

dem „Bürger-Informationsbüro“,<br />

dass für eines unserer vorherigen<br />

Projekte geschaffen wurde. Dessen<br />

Mitarbeiter haben bereits Erfahrung<br />

dabei, Bürger bei der Bildung von<br />

Eigentümergemeinschaften zu<br />

begleiten. Es hat sich zum stabilen<br />

Ansprechpartner für Bewohner,<br />

städtische Wohnungswirtschaft,<br />

Stadtverwaltung und Netzwerkpartner<br />

wie der Eigentümergemeinschaft<br />

„Otschag“ in Minsk<br />

entwickelt. Zudem arbeiten wir mit<br />

der Minsker Abteilung der Internationalen<br />

Umweltakademie und der<br />

staatlichen Wohnungsverwaltung<br />

in Schodino zusammen. Durch diese<br />

vielfältigen Kontakte auf staatlicher<br />

und nichtstaatlicher Ebene ist ein<br />

erfolgreicher Ablauf des Projektes<br />

möglich gewesen.<br />

Wie können andere belarusssische<br />

Wohneigentümer von ihrem Projekt<br />

profitieren?<br />

Die Projektergebnisse sind in eine<br />

russischsprachige Broschüre aufgenommen.<br />

Diese bietet einen<br />

Handlungsleitfaden für alle, die eine<br />

Eigentümergemeinschaft gründen<br />

wollen. Soweit wir einschätzen können,<br />

ist der Handlungsleitfaden als<br />

erstes diesbezügliches Hilfsmittel<br />

in <strong>Belarus</strong> erschienen. Die bisherigen<br />

Reaktionen von Wohneigentümern,<br />

Netzwerkpartnern und<br />

der Stadtverwaltung Schodino<br />

sind dementsprechend positiv.<br />

Eine neue, überarbeitete Auflage<br />

sollte gesammelte Erfahrungen<br />

von Eigentümergemeinschaften<br />

zusammenfassen: kaufmännisches<br />

Management, energetische Sanierung<br />

und rechtliche Konflikte.<br />

Nach dem Workshop sind bereits<br />

erste Synergieeffekte eingetreten.<br />

So informierte das Bürger-Informationsbüro<br />

die Stadtverwaltung Soligorsk<br />

über die Projektergebnisse.<br />

Des Weiteren wandten sich elf gründungswillige<br />

Wohneigentümer der<br />

Koslow-Straße aus Minsk an IWO<br />

0 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34


e.V. mit der Bitte um Unterstützung<br />

bei der Gründung ihrer Eigentümergemeinschaft.<br />

Sie fordern vor allem<br />

die energetische Komplettsanierung<br />

ihres Gebäudes. Damit vertreten sie<br />

genau dieselben wirtschaftlichen<br />

Ziele wie die Bewohner der Derewjanko-Straße.<br />

Würde sich denn energetische Gebäudesanierung<br />

für die frischgebackene<br />

Schodiner Eigentümergemeinschaft<br />

lohnen?<br />

Unser Projektpartner, die Energieagentur<br />

der Investitionsbank Schleswig-Holstein,<br />

hat eine Sanierungsanalyse<br />

des Wohngebäudes an die<br />

belarussichen Partner übergeben.<br />

Diese stellt bezüglich des Ist-Zustandes<br />

des Gebäudes hohe Umwandlungsverluste,<br />

mangelnde<br />

Regelungstechnik, hohen Wärmebedarf,<br />

mangelnde Dämmqualitäten,<br />

schlechten Gebäudezustand, hohen<br />

Instandsetzungsbedarf, fehlende<br />

ökologische und ökonomische Perspektiven<br />

fest. Eine Sanierung wäre<br />

optimal - allein der Endenergieverbrauch<br />

mit Hilfsenergie könnte bis<br />

auf etwa 30 Prozent des derzeitigen<br />

Standes reduziert werden. Die reale<br />

Einsparung hängt allerdings auch<br />

wesentlich vom Nutzerverhalten ab.<br />

Hier soll das Bürger-Informationsbüro<br />

den Einwohnern helfen.<br />

Wenn die Eigentümer diese Maßnahmen<br />

umsetzen, könnten sie ein<br />

Zeichen in ganz <strong>Belarus</strong> dafür setzen,<br />

dass sich energetische Gebäudesanierung<br />

auch volkswirtschaftlich<br />

lohnt. Die verbesserte Wärmebilanz<br />

würde zu wirtschaftlichen Vorteilen<br />

für die Bewohner führen, besonders<br />

bei zu erwartenden Energiepreissteigerungen.<br />

<strong>Belarus</strong> wird von NGOs oft als schwieriges<br />

Pflaster bezeichnet. Auf welche<br />

Probleme stießen Sie bei ihrer Arbeit?<br />

Rechtlich ist die Gründung von<br />

Eigentümergemeinschaften kein<br />

Problem. Um aber diese neuen wohnungswirtschaftlichen<br />

Strukturen<br />

auf breiter Basis zu entwickeln, bedarf<br />

es insbesondere besserer wirtschaftlicher<br />

Rahmenbedingungen,<br />

klarer rechtlicher Regelungen ihrer<br />

Tätigkeit sowie der finanziellen<br />

Förderung der Gründung und der<br />

energetischen Sanierung. Es muss<br />

auch Fachpersonal für die Wohneigentumsverwaltung<br />

ausgebildet<br />

werden.<br />

Der belarussische Staat fördert Gebäudesanierung<br />

im vorhandenen<br />

Wohnungsbestand nicht. Es gibt<br />

auch keine Förderkredite mit günstigem<br />

Zinssatz und entsprechendem<br />

Kreditlaufzeitraum. Und dies,<br />

obwohl ein Großteil der <strong>Belarus</strong>sen<br />

in Plattenbauten lebt.<br />

Nicht zuletzt ist eine Eigentümergemeinschaft<br />

für praktisch alle belarussischen<br />

Wohnungseigentümer<br />

absolutes Neuland - es gibt keine<br />

entsprechenden Traditionen.<br />

Die schwache staatliche Unterstützung<br />

ist doch sicher ein Problem. Kann das<br />

Projekt in Schodino denn wirklich<br />

Schule machen?<br />

Der Staat unternimmt durchaus<br />

Schritte in die richtige Richtung. Anfang<br />

Juni beschloss die Regierung<br />

ein Programm für die Entwicklung<br />

der Wohnungs- und Kommunal-<br />

NGOs & Gesellschaft<br />

wirtschaft für 2006 bis 2010. Darin<br />

ist vorgesehen, dass die Wohneigentümer<br />

schrittweise ihre Gebäude<br />

selbst verwalten werden. Aus einem<br />

Erlass des Präsidenten vom Oktober<br />

geht hervor, dass in allen Mehrfamilienhäusern<br />

in <strong>Belarus</strong> bis zum Januar<br />

2009 Eigentümergemeinschaften<br />

zu bilden sind. Diese Ziele sollen<br />

vom Staat gefördert werden.<br />

Wir wurden informiert, dass eine<br />

Rechtsvorschrift über die staatliche<br />

Förderung der energetischen<br />

Gebäudesanierung in Arbeit ist. Es<br />

wäre gut, wenn das nicht weiter<br />

vertagt würde. Die Erwartungshaltung<br />

der Wohneigentümer an eine<br />

Unterstützung durch den Staat ist<br />

hoch. Viele Bewohner werden ihre<br />

Mitarbeit davon abhängig machen,<br />

ob die energetische Sanierung des<br />

Hauses, in dem sie wohnen, bald<br />

zustande kommt.<br />

Andererseits zeigen die Beispiele<br />

der etwa 340 bereits funktionierenden<br />

Eigentümergemeinschaften,<br />

dass erste wirtschaftliche Ergebnisse<br />

eintreten, wenn man den Anfang<br />

wagt. Es spricht für sich, dass sich<br />

bereits Minsker Wohneigentümer<br />

an uns mit der Bitte um Unterstützung<br />

gewandt haben. Die Gründer<br />

warten auf Beispiele, Information<br />

und Anleitung.<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34 1


Nach Tschernobyl<br />

Austausch erwünscht<br />

(dr. Helmut domke/Monika Tharann, berlin) bürgerinitiativen, Vereine, schulen, Kirchengemeinden<br />

sowie Kinderheime aus deutschland und ihre Partnerorganisationen aus belarus und der ukraine waren<br />

vom 3. bis 6. Oktober 2006 nach Minsk zur Tagung „Von der Hilfe zu Partnerschaften - Perspektiven und<br />

Zusammenarbeit 20 Jahre nach Tschernobyl“ geladen.<br />

Organisatoren waren die Stiftung<br />

West-Östliche Begegnungen und<br />

das Internationale <strong>Bildungs</strong>- und<br />

Begegnungswerk Dortmund. Die<br />

Gäste aus Deutschland setzen<br />

sich seit Jahren selbstlos und mit<br />

großem Engagement für die Linderung<br />

der Folgen der Tschernobyl-Katastrophe<br />

ein, hatten jedoch<br />

bisher wenig oder keine Gelegenheit,<br />

am Austausch von Erfahrungen<br />

teilzunehmen und gemeinsam<br />

mit anderen Engagierten Ideen<br />

für eine Zusammenarbeit zu entwickeln.<br />

Wichtige Kooperationspartner<br />

der Veranstalter waren die<br />

Friedrich-Ebert-Stiftung und die<br />

Konrad-Adenauer-Stiftung, die<br />

nicht nur finanziell, sondern auch<br />

durch inhaltliche Beiträge zum<br />

Gelingen der Konferenz beitrugen,<br />

sowie das „Deutsch-Ukrainische<br />

Netz Nichtstaatlicher Organisationen“<br />

aus Kiew.<br />

20 JAHre dANACH<br />

Die Idee, 20 Jahre nach Tschernobyl<br />

eine Tagung durchzuführen<br />

zu den besonderen Herausforderungen<br />

für zivilgesellschaftliches<br />

Handeln heute, wurde von den<br />

Teilnehmern aus drei Ländern<br />

mit großem Interesse aufgegriffen.<br />

Wie viele der Tagungsteilnehmer<br />

feststellen konnten, war die Internationale<br />

<strong>Bildungs</strong>- und Begegnungsstätte<br />

(IBB) „Johannes Rau“<br />

in Minsk ideal für die Tagung. Seit<br />

zwölf Jahren ist die IBB ein Ort des<br />

Austauschs zwischen <strong>Belarus</strong> und<br />

Deutschland, getragen vom Gedanken<br />

der Versöhnung nach zwei<br />

von Deutschland ausgegangenen<br />

Kriegen. Durch die Tschernobyl-<br />

Katastrophe ist <strong>Belarus</strong> erneut<br />

heimgesucht worden, mitten im<br />

Frieden. Damit wurden aber auch<br />

zahlreiche langfristige zivilgesellschaftliche<br />

Aktivitäten ausgelöst.<br />

Mehr als 500.000 Kinder aus den<br />

verstrahlten Regionen konnten<br />

sich seit der Reaktorkatastrophe<br />

in Deutschland erholen. Allein<br />

die Stiftung West-Östliche Begegnungen<br />

hat in den zwölf Jahren<br />

ihres Bestehens mehrere hundert<br />

Projekte mit Bezug zu Tschernobyl<br />

gefördert. Zahlreiche Vorhaben<br />

der sozialen Arbeit, des Umweltschutzes<br />

und der Bildung sind<br />

entstanden. So ist Tschernobyl<br />

auch zum Ausgangspunkt einer<br />

unabhängigen Bürgerbewegung<br />

in der Ukraine, in <strong>Belarus</strong> und in<br />

Russland geworden und hat eine<br />

grenzüberschreitende Zusammenarbeit<br />

angestoßen.<br />

ersTe TAGuNG IHrer ArT<br />

Die Tagung zeichnete sich durch<br />

drei Besonderheiten aus:<br />

- Sie war die erste trilaterale Konferenz<br />

in Minsk, die Organisationen<br />

der humanitären Hilfe und<br />

sozialen Arbeit aus <strong>Belarus</strong>, der<br />

Ukraine und Deutschland zusammenbrachte.<br />

- Sie ermöglichte Vertretern staatlicher<br />

und nichtstaatlicher Institutionen<br />

aus <strong>Belarus</strong>, der Ukraine und<br />

Deutschland, miteinander nationale,<br />

bilaterale und multinationale<br />

Möglichkeiten für gemeinsames<br />

Wirken zu diskutieren.<br />

- Sie bot den meisten bilateralen<br />

Partnerschaften erstmalig die<br />

Gelegenheit, andere Gruppen<br />

kennenzulernen, die in ähnlicher<br />

Weise engagiert sind, sowie<br />

Modelle für Kooperationen von<br />

nichtstaatlichen Organisationen<br />

(NGOs) untereinander oder mit<br />

Behörden und Verantwortungsträgern<br />

zu besprechen.<br />

Der deutsche Botschafter Herr Dr.<br />

Martin Hecker, der Vizepräsident<br />

der Nationalversammlung der<br />

Republik <strong>Belarus</strong> Herr Sergej Sabolotetz<br />

und weitere belarussische<br />

und ukrainische Parlamentsabgeordnete<br />

sowie der ehemalige<br />

Leiter der OSZE-Mission in Minsk,<br />

Botschafter a. D. Herr Dr. Eberhard<br />

Heyken beschrieben am ersten Tag<br />

der Konferenz die politischen Beziehungen<br />

zwischen den Ländern<br />

und staatliches Handeln im Blick<br />

auf die Rahmenbedingungen für<br />

nichtstaatliche Organisationen.<br />

Sie betonten übereinstimmend,<br />

dass bei den zwischen Deutschland<br />

und <strong>Belarus</strong> seit zehn Jahren<br />

stagnierenden offiziellen Beziehungen<br />

den zivilgesellschaftlichen<br />

Aktivitäten besondere Bedeutung<br />

zukomme.<br />

dIsKussION MIT exPerTeN<br />

Gastgeber der Arbeitsgruppen<br />

„Humanitäre Hilfe und soziale<br />

Projektarbeit“, „Umweltprojekte“<br />

und „Bildung und internationale<br />

Begegnungen“ waren jeweils<br />

kompetente Einrichtungen aus<br />

Minsk: die orthodoxe Gemeinde<br />

„Aller Trauernder Freude“, die<br />

Internationale Sacharow-Umwelt-<br />

Universität und das Institut für Berufliche<br />

Weiterbildung. Mit ihnen<br />

wurden konkrete Aktivitäten vorgestellt<br />

und diskutiert. Besonders<br />

wertvoll war die Anwesenheit des<br />

belarussischen Atomenergie-Experten<br />

Prof. Wassilij Nesterenko,<br />

dessen unabhängiges Institut für<br />

Strahlensicherheit BELRAD dabei<br />

hilft, durch einfache Mittel die<br />

Strahlenbelastung für Kinder zu<br />

verringern. Eine besonders nachhaltige<br />

Projektarbeit wird hier von<br />

deutschen Schulen geleistet, die<br />

im Rahmen ihrer Partnerschaften<br />

Messstellen an belarussischen<br />

Schulen betreiben und unterstützen.<br />

Prägend für die Tagung war<br />

der starke Wunsch nach Kommu-<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34


nikation: Der „Open Space“ wurde<br />

tatsächlich zu einem „Offenen<br />

Raum“, in dem die Teilnehmer<br />

intensiv ins Gespräch kamen,<br />

neue Ideen entwickelten und erste<br />

praktische Schritte dazu konkret<br />

verabredeten.<br />

PArTNersCHAfT...<br />

Das zentrale Thema der Tagung<br />

„Von der Hilfe zur Partnerschaft“<br />

berührte wesentliche Fragen in der<br />

grenzüberschreitenden Zusammenarbeit:<br />

Wie können insbesondere<br />

Kindererholungsaufenthalte,<br />

Ferienlager, Krankenbetreuungen<br />

und Workcamps mit bisher ausschließlich<br />

karitativem Ansatz<br />

eine stärker partnerschaftliche<br />

Ausrichtung erhalten? Welche Einschränkungen<br />

sind dabei im Blick<br />

auf strahlungsbelastete Gebiete<br />

zu berücksichtigen? Wie kann ein<br />

breites gesellschaftliches Umfeld<br />

gewonnen und wie können die<br />

Projekte finanziell stabilisiert<br />

und damit langfristig gesichert<br />

werden? Und welche Formen der<br />

Kooperation von Bürgerinitiativen<br />

untereinander, national und<br />

international, mit <strong>Bildungs</strong>einrichtungen<br />

und Forschungsinstituten<br />

sowie mit staatlichen Behörden<br />

und politischen Verantwortungsträgern<br />

können dabei helfen?<br />

...uNd NACHHALTIGKeIT<br />

Für die Stiftung West-Östliche<br />

Begegnungen, die seit Jahren für<br />

Kinder aus strahlungsbelasteten<br />

Gebieten Erholungsaufenthalte<br />

in Deutschland oder in nicht verstrahlten<br />

Regionen in <strong>Belarus</strong> bzw.<br />

anderen GUS-Ländern fördert,<br />

ist die Frage der Nachhaltigkeit<br />

humanitärer Maßnahmen von besonderer<br />

Bedeutung. Die Tagung<br />

gab der Stiftung die Möglichkeit,<br />

mit den über viele Jahre geförderten<br />

Vereinen und Aktivitäten<br />

näher in Kontakt zu kommen und<br />

gemeinsam zu überlegen, wie Projekte<br />

im humanitären und sozialen<br />

Bereich nachhaltiger gestaltet und<br />

unterstützt werden können, so<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34<br />

dass karitative<br />

Patenschaften<br />

zu wirklichen<br />

Partnerschaft<br />

e n w e r d e n<br />

können.<br />

Zu den wichtigstenErgebnissen<br />

der Konferenz<br />

gehört<br />

zweifelsohne,<br />

dass sie einen<br />

multilateralen<br />

Dialog in Gang<br />

gesetzt hat zwischen<br />

NGOs aus drei Ländern<br />

und politisch Verantwortlichen<br />

über die Zusammenarbeit und<br />

nachhaltige Projektgestaltung in<br />

dem von der Reaktorkatastrophe<br />

betroffenen Gebiet. Die Intensität,<br />

mit der von den Beteiligten aller<br />

Seiten dieser Dialog und seine<br />

Fortsetzung befürwortet wurde,<br />

hat die Veranstalter überrascht<br />

und zeigt einen dringenden Bedarf<br />

an, der insbesondere auch für<br />

die Arbeit von Stiftungen in der<br />

Ukraine und in <strong>Belarus</strong> Aufmerksamkeit<br />

verdient. Künftig sollten<br />

auch russische Partner zu solchen<br />

Treffen eingeladen werden. Der<br />

Abgeordnete des ukrainischen<br />

Parlaments und Präsident der<br />

Kulturvereinigungen der Ukraine<br />

Alexander Feldmann schlug<br />

vor, die nächste multilaterale<br />

NGO-Konferenz über Fragen der<br />

nachhaltigen Entwicklung in und<br />

um die Tschernobylzone und<br />

angrenzende Regionen in Kiew<br />

oder Charkov durchzuführen. Die<br />

Vertreter deutscher Vereine und<br />

die Stiftung West-Östliche Begegnungen<br />

regten an, ein Fachtreffen<br />

in Deutschland zur Erweiterung<br />

von Projektarbeit im humanitären<br />

und sozialen Bereich durch<br />

<strong>Bildungs</strong>- und Umweltinhalte<br />

durchzuführen.<br />

sOrGeN WeGeN VIsA<br />

Die Teilnehmer der Tagung brachten<br />

ihre Sorge zum Ausdruck,<br />

dass eine mögliche Erhöhung der<br />

Nach Tschernobyl<br />

Visumgebühren und weitere Erschwernisse<br />

in der Visumerteilung<br />

auf deutscher Seite zu massiven Behinderungen<br />

im Jugendaustausch<br />

und bei der Zusammenarbeit mit<br />

zivilgesellschaftlichen Organisationen<br />

in den Partnerländern führen<br />

würden. Die Teilnehmer hoffen,<br />

dass die Praxis der kostenlosen<br />

Visumerteilung für Kinderreisen<br />

nach Deutschland erhalten bleibt,<br />

die Visumgebühren nicht erhöht<br />

werden und gemeinnützige deutsche<br />

Vereine weiterhin Einladungen<br />

aussprechen dürfen.<br />

HAus IM bAu<br />

Für alle Teilnehmer war es ein<br />

besonderes Erlebnis, Gast im<br />

avantgardistischen Gebäude der<br />

Internationalen <strong>Bildungs</strong>- und<br />

Begegnungsstätte „Johannes Rau“<br />

zu sein, in dem - mit den Worten<br />

des Architekten Richard Pierschke<br />

- nach Vorlage des Bildes „Haus<br />

im Bau“ von Kasimir Malewitsch<br />

„voller Elan eine neue Gesellschaftsordnung<br />

sozial, städtebaulich,<br />

konstruktiv und ästhetisch<br />

mit einer neuen Architektur verbunden<br />

wurde“. Der große Dank<br />

der Teilnehmer gilt dem IBB-Team<br />

in Minsk, das seiner Gastgeberrolle<br />

in hervorragender Weise gerecht<br />

wurde und wesentlich dazu beigetragen<br />

hat, das Haus zu einer<br />

gastlichen Heimstatt für unsere<br />

grenzüberschreitende trilaterale<br />

Tagung zu machen.


Kultur & Wissenschaft<br />

Neue Regeln für die Muttersprache<br />

(Alexander dautin, Minsk) Alexander Lukaschenko hat sich entschlossen, die belarussische sprache zu<br />

reformieren. An der situation wird das kaum etwas ändern: Immer weniger schüler werden auf belarussisch<br />

unterrichtet und die meisten Menschen sprechen den russisch-belarussischen dialekt „Trasjanka“.<br />

<strong>Bildungs</strong>minister Alexander Radkov<br />

begründete die Notwendigkeit<br />

einer Sprachreform im September<br />

damit, dass die letzte Reform<br />

bereits fast 50 Jahre her sei. Die<br />

Sprache habe sich jedoch „gleich<br />

einem lebendigen Organismus“ in<br />

dieser Zeit weiterentwickelt. „Wir<br />

wollen, dass die Geschäfts- und<br />

Staatsveröffentlichungen sowie die<br />

Lehrbücher gemeinsame Regeln<br />

haben. An diese Normen müssen<br />

sich alle halten, einschließlich der<br />

Schüler und der Massenmedien“,<br />

erklärte der Minister. Das Reformprojekt<br />

haben nach seinen Worten<br />

bereits Vertreter der Zivilgesellschaft,<br />

Lehrer, Professoren und<br />

Mitarbeiter der „Lehrerzeitung“<br />

ausgearbeitet. „Es spiegelt den<br />

modernen Entwicklungsstand<br />

unserer Muttersprache wieder“,<br />

versicherte Radkov.<br />

sCHLeCHTe erfAHruNG<br />

Vertreter der Intelligenz machen<br />

sich indes Sorgen um eventuelle<br />

negative Folgen der Reform für<br />

ihre Muttersprache. Alle bisherigen<br />

Reformen hatten eine Russifizierung<br />

des <strong>Belarus</strong>sischen zum<br />

Ziel. Im Jahr 1933 ließ Josef Stalin<br />

parallel zur Reform die national<br />

gesinnten Gründungsväter der<br />

belarussischen Sowjetrepublik<br />

unterdrücken. Bis zu diesem<br />

Zeitpunkt wurde die Grammatik<br />

von Branislaw Taraschkewitsch<br />

verwendet, die die phonetischen<br />

Besonderheiten des <strong>Belarus</strong>sischen<br />

vor allem durch zusätzliche Weichheitszeichen<br />

berücksichtigt. Trotz<br />

Verbots überlebte sein Regelwerk,<br />

die „Taraschkewiza“, in Kreisen<br />

nationalbewusster Intellektueller.<br />

Die neue Schreibweise (nach dem<br />

Volkskommissariat für Bildung<br />

„Narkomowka“ genannt) glich<br />

das <strong>Belarus</strong>sische auch durch zahlreiche<br />

lexikologische Veränderun-<br />

gen an das Russische an. Mit der<br />

Unabhängigkeit wurde auch die<br />

„Taraschkewiza“ wieder erlaubt,<br />

Vertreter beider Schreibweisen<br />

traten in einen Dialog - der mit<br />

dem Machtantritt von Präsident<br />

Lukaschenko und der Verhärtung<br />

der politisch-kulturellen Fronten<br />

wieder abbrach.<br />

sPrACHeNGeWIrr<br />

Im Ergebnis sieht die Sprachensituation<br />

in <strong>Belarus</strong> heute folgendermaßen<br />

aus: Die staatstreue<br />

Intelligenz benutzt in der Regel<br />

die „Narkomowka“, die Mehrheit<br />

der Bevölkerung indes, die nach<br />

Umfragen <strong>Belarus</strong>sisch für ihre<br />

Muttersprache hält, spricht „Trasjanka“<br />

- ein dörfliches Mischmasch<br />

aus Russisch und <strong>Belarus</strong>sisch, mit<br />

dem auch Präsident Lukaschenko<br />

gerne kokettiert, um seine Volksnähe<br />

zu beweisen. Beamte, Geschäftsleute<br />

und Mittelklasse sprechen<br />

in erster Linie die „große und<br />

mächtige“ Sprache des russischen<br />

Nachbarn. Die alternative Jugend<br />

und ein großer Teil der Opposition<br />

benutzt die „Taraschkewiza“ weiterhin.<br />

Besonders sie sind es, die<br />

fürchten, im Zuge der Reform könne<br />

die „Taraschkewiza“ offiziell<br />

verboten werden, die für moderne<br />

Literatur und die oppositionelle<br />

Wochenzeitung „Nascha Niwa“<br />

verwendet wird.<br />

KeINe GefAHr?<br />

Allerdings verkündete der Direktor<br />

des Institutes für Sprachwissenschaft<br />

der <strong>Belarus</strong>sischen<br />

Akademie der Wissenschaften,<br />

Alexander Lukaschetz, im Interview<br />

mit „Nascha Niwa“ beschwichtigend,<br />

die neuen Orthographie-<br />

und Interpunktionsregeln<br />

wären lediglich als leichte<br />

Verbesserung der Reform von<br />

1957 gedacht. Dennoch schob der<br />

oberste staatliche Sprachhüter eine<br />

Provokation an die national gesinnte<br />

Opposition hinterher: Wenn<br />

es an ihm, Lukaschetz, läge, würde<br />

er selbstverständlich die „Taraschkewiza“<br />

verbieten, um Ordnung<br />

in die belarussische Sprachenlandschaft<br />

zu bringen. Dass die<br />

belarussische Sprache, wie jede<br />

andere auch, von Zeit zu Zeit reformiert<br />

werden muss, findet auch<br />

der Leiter der NGO „Gesellschaft<br />

für <strong>Belarus</strong>sische Sprache“, Oleg<br />

Trusow. Allerdings, bemängelt<br />

Trusow, würde in demokratischen<br />

Ländern eine solche Reform in der<br />

Öffentlichkeit über einen längeren<br />

Zeitraum diskutiert.<br />

LANGsAMer rüCKZuG<br />

Ob die neue Reform und die Art,<br />

wie sie diskutiert wird, allerdings<br />

wesentlich die Sprachensituation<br />

im Lande beeinflussen, ist fraglich.<br />

Für Millionen von <strong>Belarus</strong>sen<br />

ist <strong>Belarus</strong>sisch schon zur<br />

Fremdsprache geworden - und es<br />

werden immer mehr. Die Zahl der<br />

„belarussischsprachigen“ Schulen<br />

fällt stetig. Diese Tendenz begann<br />

mit dem Referendum von 1995,<br />

als sich eine Mehrheit der <strong>Belarus</strong>sen<br />

für eine Gleichstellung der<br />

belarussischen und der russischen<br />

Sprache aussprach - mit der Folge,<br />

dass die Zahl der Erstklässler, die<br />

<strong>Belarus</strong>sisch lernen, von damals 70<br />

auf heute 20 Prozent gesunken ist.<br />

In der südbelarussischen Gebietshauptstadt<br />

Molodetschno lernen<br />

die Schüler sogar ausschließlich<br />

in der Unterrichtssprache Russisch<br />

(abgesehen vom Fach <strong>Belarus</strong>sische<br />

Literatur). Diesen Schülern,<br />

wie auch vielen Studenten, dürfte<br />

deshalb die Sprachenreform relativ<br />

gleichgültig sein - sie bauchen<br />

<strong>Belarus</strong>sisch weder im Alltag noch<br />

in der Ausbildung.<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34


Immer mehr „Stalin-Linien“<br />

(Andrej Alexandrowitsch, Minsk) bei Polozk hat das belarussische Verteidigungsministerium das zweite<br />

Museum zur sowjetischen Verteidigungslinie im Zweiten Weltkrieg eröffnet. In Witebsk folgt in Kürze<br />

ein militärisch eingefärbtes „Zentrum für die patriotische erziehung der Jugend“. doch schon die von<br />

Alexander Lukaschenko persönlich im letzten Jahr eröffnete „Stalin-Linie“ wurde von Geschichtswissenschaftlern<br />

als historisch nicht fundiert kritisiert.<br />

Nach Worten der Polozker Museumsleitung<br />

war die Polozker<br />

Verteidigungslinie eine der ersten<br />

Befestigungen vor dem Beginn des<br />

„Großen Vaterländischen Krieges“<br />

und konnte ihre Funktion<br />

erfüllen. Die Polozker Verteidiger<br />

waren die einzigen auf dem<br />

Territorium der <strong>Belarus</strong>sischen<br />

Sowjetrepublik, die 1941 gegen<br />

die Wehrmacht weiterkämpften,<br />

obwohl sie sich bereits auf feindlichem<br />

Territorium befanden. Nach<br />

verschiedenen Quellen hielten die<br />

Verteidiger zwei bis vier Wochen<br />

durch. Die neue Gedenkanlage<br />

wurde „Feld der Ehre unserer<br />

Truppen“ genannt. Soldaten der<br />

Polozker Garnison sowie Mitglieder<br />

des militärpatriotischen Clubs<br />

„Suche“ rekonstruierten die Verteidigungsanlage.<br />

„rAuM des ruHMes“<br />

Das „Feld der Ehre unserer Truppen“<br />

wird wohl kaum der „Stalin-Linie“<br />

bei Minsk Konkurrenz<br />

machen, zu der Alexander Lukaschenko<br />

regelmäßig ausländische<br />

Gäste einlädt. Umgekehrt trägt<br />

die „Stalin-Linie“ als Exempel für<br />

die Erziehung der Jugend zu militärisch-patriotischer<br />

Gesinnung<br />

bereits erste Früchte. Der Ausstellungspark<br />

sowjetischen Militärgerätes<br />

der „Stalin-Linie“ macht<br />

Schule. Beispielsweise in Witebsk,<br />

wo gerade das erste belarussische<br />

„Zentrum für die patriotische<br />

Erziehung der Jugend“ entsteht.<br />

Im Rahmen des Zentrums wird es<br />

auch ein „Raum des Militärischen<br />

Ruhmes“ geben sowie eine Ausstellung<br />

von Militärtechnik unter<br />

freiem Himmel. In dem Raum<br />

werden Informationstafeln angebracht,<br />

auf denen die Etappen und<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34<br />

die Entwicklung der Partisanenbewegung<br />

in <strong>Belarus</strong> zur Zeit des<br />

„Großen Vaterländischen Krieges“<br />

ebenso dargestellt werden wie<br />

die Befreiung von Witebsk und<br />

einzelne Episoden aus dem Afghanistan-Krieg.<br />

Natürlich dürfen<br />

auch die Leistungen der modernen<br />

belarussischen Militärindustrie in<br />

diesem „Ruhmesraum“ nicht fehlen.<br />

Außerdem werden in Witebsk<br />

persönliche Dinge, Waffen und<br />

sonstige Gegenstände ausgestellt,<br />

die bei Ausgrabungen an Schauplätzen<br />

des Krieges gefunden wurden.<br />

Das patriotische „Erziehungszentrum“<br />

wird umgerechnet etwa<br />

50.000 Euro kosten. Vier Fünftel<br />

der Summe wird das Verteidigungsministerium<br />

aufbringen,<br />

den Rest die Stadtverwaltung.<br />

„reANIMATION des<br />

sTALINIsMus“<br />

Gleichzeitig wird auch der populäre<br />

Gedenkkomplex „Stalin-Linie“<br />

erneuert. Vor kurzem wurde dort<br />

eine Büste des ehemaligen sowjetischen<br />

Staatsführers Josef Stalin<br />

aufgestellt. Der bekannte Historiker<br />

Igor Kusnezow, der sich auf die<br />

Stalin‘schen Repressionen spezialisiert<br />

hat, nannte dies in einem Interview<br />

mit der Nachrichtenagentur<br />

„BelaPAN“ eine „Reanimation<br />

des Stalinismus“. Die Büste hatte<br />

eine Odysee hinter sich, die die<br />

politischen Paradigmenwechsel<br />

in <strong>Belarus</strong> nachzeichnet: Bis Mitte<br />

der 1950er Jahre stand die Büste<br />

des „Führers der Völker“ auf dem<br />

zentralen Platz des Dorfes Iwanez<br />

im Minsker Gebiet. Im Jahr 1961,<br />

nach der berühmten Rede von<br />

Nikita Chruschtschow gegen den<br />

Personenkult von Stalin, wurde<br />

die Büste entfernt. Sie stand nun<br />

Kultur & Wissenschaft<br />

in einer staatlichen Baufirma - bis<br />

der venezuelische Präsident Hugo<br />

Chavez im Juli nach <strong>Belarus</strong> kam.<br />

Aus diesem Anlass wanderte die<br />

Büste zur „Stalin-Linie“. Allerdings<br />

kam sie mit einer leichten<br />

Beschädigung an ihrem Bestimmungsort<br />

an: Ein Unbekannter<br />

hatte ihr die Ohren abgeschlagen.<br />

Die Bewohner des Dorfes Iwanez<br />

sind der Überzeugung, dass der<br />

Übeltäter ein ehemaliges Opfer der<br />

Stalin‘schen Repressionen war, der<br />

nach Stalins Tod aus dem GULAG<br />

zurückkehrte.<br />

KeINe „sTALIN-LINIe“<br />

„Tatsächlich hatte Stalin keinerlei<br />

Bezug zu den Verteidigungsanlagen,<br />

die heute fälschlicherweise<br />

„Stalin-Linie“ genannt werden“,<br />

unterstreicht der Historiker Igor<br />

Kusnezow. „Zudem war Stalin<br />

niemals persönlich in diesem<br />

Gebiet und besuchte zur Zeit des<br />

Großen Vaterländischen Krieges<br />

kein einziges Mal die Front.“<br />

Deshalb, findet Kusnezow, würde<br />

ein Denkmal für die gefallenen<br />

Soldaten oder einen konkreten<br />

sowjetischen Feldherren an dieser<br />

Stelle wesentlich mehr Sinn<br />

machen, als ein Denkmal für Josef<br />

Stalin. Allerdings scheint bei den<br />

Gedenkkomplexen in Polozk,<br />

Witebsk und Minsk weniger die<br />

historische Exaktheit im Vordergrund<br />

zu stehen als die politische<br />

Botschaft. <strong>Belarus</strong> sieht sich als<br />

Erbe des großen sowjetischen<br />

Sieges und soll auch in Zukunft<br />

„das Pulver trocken halten“, wie<br />

es Präsident Lukaschenko vor<br />

zwei Jahren bei den Feiern zum<br />

„Siegestag“ formulierte.


Kultur & Wissenschaft<br />

Zwei Schriftstellerverbände<br />

(Alexander dautin, Minsk) die Polizei hat im August das Haus des regimekritischen Verbandes der<br />

belarussischen schriftsteller (Vbs) wegen Mietrückständen geräumt. Gleichzeitig unterstützt Präsident<br />

Lukaschenko mit Geldern den vom staat initiierten „Verband der schriftsteller von belarus“ (Vsb).<br />

Der regimetreue VSB wird nun<br />

hauptsächlich auf Kosten der belarussischen<br />

Steuerzahler finanziert.<br />

Nach Meinung des VSB-Vorsitzenden<br />

und Parlamentsabgeordneten<br />

Nikolaj Tscherginez ist dies völlig<br />

normal. „Wir haben die Aufgabe,<br />

gute Schriftsteller zusammenzubringen.<br />

Sie sollen Literatur<br />

schreiben, die das Volk braucht...<br />

Natürlich wird der Staat versuchen,<br />

Literatur zu fördern, die<br />

sozusagen dem Geist des Volkes<br />

entspricht. Unsere Aufgabe: so viel<br />

wie möglich schreiben.“ Gleichzeitig<br />

empfahl Tscherginez seinen<br />

Kollegen des regimekritischen<br />

VBS, sich nicht mit Politik, sondern<br />

mit Literatur zu beschäftigen.<br />

POLITIK uNd LITerATur<br />

Die Vorsitzende des VBS, Svetlana<br />

Alexejewitsch, nannte diese Äußerung<br />

heuchlerisch, da Tscherginez<br />

selbst Politiker ist. „Soweit ich<br />

weiß, ist kein einziger ernsthafter,<br />

vom Volk geschätzter Schriftsteller<br />

in diesen neuen Verband<br />

eingetreten. Wenn man uns sagt:<br />

‚Macht keine Politik‘, dann soll<br />

das heißen: ‚Verhaltet euch loyal<br />

zur Staatsmacht‘.“ Sie erklärte außerdem,<br />

der Staat hoffe vor allem<br />

auf jene Schriftsteller, die auch<br />

über <strong>Belarus</strong> hinaus bekannt seien.<br />

Alexejewitsch selbst ist die meistgelesene<br />

belarussische Schriftstellerin<br />

in Europa. Sie meint, dass es<br />

„bei uns genügend ehrliche Leute<br />

gibt, die vielleicht nicht das ‚Haus<br />

der Literatur‘ gegen die Räumung<br />

verteidigen wollten, aber zumindest<br />

ihre Ehre verteidigen.“ Ihr<br />

stimmte der bekannte belarussische<br />

Poet Genadij Burawkin zu.<br />

Der 70-Jährige erklärte, Präsident<br />

Lukaschenko teile mit seiner Politik<br />

die Schriftsteller in „richtige“<br />

und „falsche“ auf. Der VBS stand<br />

Neue staatliche Universität<br />

zu Beginn des Jahres kurz vor der<br />

Schließung (BP berichtete).<br />

ZWeIerLeI MAss?<br />

Burawkin hält er es für unerhört,<br />

dass ein Schriftstellerverband aus<br />

seinem Domizil vertrieben werde,<br />

während der andere staatliche<br />

Unterstützung erfahre. Der Staat,<br />

findet er, richte sich in seiner<br />

Beziehung zu den Schriftstellern<br />

nach seinen politischen Ambitionen.<br />

Eine ganze Reihe namhafter<br />

belarussischer Schriftsteller der<br />

VBS, darunter auch der kürzlich<br />

verstorbene Vasil Bykow, hatten<br />

sich in der Opposition engagiert.<br />

Über den Platz eines Schriftstellers<br />

in der belarussischen Kultur,<br />

meint Burawkin, entscheide jedoch<br />

nur sein Talent, unabhängig<br />

von der politischen Linie. Und<br />

dieses Talent müsse der Staat auch<br />

unterstützen.<br />

(Andrej Alexandrowitsch, Minsk) Alexander Lukaschenko hat im september in Pinsk eine neue universität<br />

eröffnet. Diese soll Ökonomen ausbilden und ist Teil des Programmes zur Stärkung der Regionen.<br />

Nach Baranowitschi ist dies die<br />

zweite neue Universität des unabhängigen<br />

<strong>Belarus</strong>. Dass der<br />

Staat mit der neuen Hochschule<br />

Hoffnungen für die belarussische<br />

Ausbildungslandschaft verbindet,<br />

zeigt die Tatsache, dass sie vom<br />

Vorsitzenden der Nationalbank<br />

Petr Prokopowitsch geplant wurde.<br />

Die Universität ist Teil des<br />

Plans zur Entwicklung der Regionen,<br />

der kleinen und mittleren<br />

Städte des Landes. Dies erklärte<br />

Lukaschenko bei der Eröffnung.<br />

reGIONALes POTeNZIAL<br />

„Der Reichtum unseres Vaterlandes<br />

wird gemehrt durch Regio-<br />

nen, die eine starke Ressource für<br />

die Schaffung eines blühenden<br />

<strong>Belarus</strong> darstellen - eines Staates<br />

für unser Volk“, verkündete der<br />

Präsident. Um diese Ressourcen<br />

zu nutzen, erklärte er, seien Spezialisten<br />

nötig, die hart arbeiteten<br />

und in jedem Dorf und jeder Stadt<br />

moderne Lebensbedingungen<br />

schüfen. „Wir müssen eine Jugend<br />

erziehen, für die das Glück<br />

der Heimat höher steht als jedes<br />

ausländische Paradies“ untestrich<br />

Lukaschenko.<br />

GuTe AusbILduNG<br />

In der neuen Hochschule bestehen<br />

tatsächlich gute Bedingungen,<br />

dass die Studenten eine hochwertige<br />

Ausbildung bekommen, sich<br />

moderne Informationstechnologien<br />

aneignen und sich erholen können.<br />

Kein Zweifel - an Studenten<br />

wird es Pinsk nicht mangeln. In<br />

den letzten Jahren lässt sich ein<br />

interessanter Prozess beobachten:<br />

Minsker Abiturienten wollen in<br />

der Provinz eine Hochschulausbildung<br />

erhalten. Das mag in erster<br />

Linie an den Studiengebühren<br />

liegen. Mit der neuen Pinsker Universität<br />

wird dieser Prozess weiter<br />

angeregt, so dass die Minsker<br />

Hochschulen wenigstens teilweise<br />

vom Andrang entlastet werden,<br />

der an den Wirtschaftswissenschaftlichen<br />

Fakultäten herrscht.<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34


Nach Europa?<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34<br />

Kultur & Wissenschaft<br />

(Ms) die evangelische Akademie in Wittenberg hat Mitte september die Konferenz „belarus zwischen<br />

eu und russland“durchgeführt. Vertreter aus Medien, NGOs, Kultur und Politik zeichneten ein facettenreiches<br />

Bild des Landes und waren sich in einem Punkt einig: <strong>Belarus</strong> gehört nach Europa.<br />

Ales Kudryzki, Kulturmanager<br />

der Robert-Bosch-Stiftung und<br />

gemeinsam mit der Evangelischen<br />

Akademie Organisator der Veranstaltung,<br />

betonte die Vielfältigkeit<br />

des Publikums: „Es sind Menschen<br />

gekommen, die Begegnungen mit<br />

<strong>Belarus</strong> organisieren, andere, die<br />

Politik machen, dritte, die aus<br />

dem Medienbereich kommen.“<br />

Tatsächlich fanden über 50 Teilnehmer<br />

aus ganz Deutschland<br />

den Weg in die Kleinstadt in Sachsen-Anhalt.<br />

Zur Eröffnung war<br />

auch der Deutsche Botschafter in<br />

<strong>Belarus</strong> Martin Hecker gekommen.<br />

Die Reihe mehrerer Podiumsgespräche<br />

eröffnete der ehemalige<br />

Leiter der OSZE-Mission in Minsk<br />

Hans-Georg Wieck. Er forderte,<br />

die EU müsse sich stärker für einen<br />

politischen Wandel in <strong>Belarus</strong><br />

engagieren.<br />

GeseLLsCHAfT WICHTIG<br />

Die schwierige Situation der belarussischen<br />

Presse stellte der deutsche<br />

Journalist Ingo Petz zusammen<br />

mit Andrej Dynko dar, dem<br />

Chefredakteur der belarussischen<br />

Kulturzeitung „Nascha Niwa“.<br />

Der ehemalige Leiter der OSZE-Mission in Minsk, Hans-Georg<br />

Wieck, im Gespräch mit dem Direktor der Evangelischen Akademie,<br />

Stephan Dorgerloh.<br />

Wie wichtig zivilgesellschaftliches<br />

Engagement in <strong>Belarus</strong> für eine<br />

stärkere Öffnung des Landes nach<br />

Europa ist, unterstrich die Hamburger<br />

Politikwissenschaftlerin<br />

Imke Hansen. Es gehe dabei um<br />

die Entwicklung eines Problembewusstseins,<br />

aber auch um ein größeres<br />

Vertrauen der Bürger in die<br />

eigenen Möglichkeiten. Hansen<br />

pflichtete ihr Gesprächspartner<br />

Andrej Kuseltschuk bei, Vertreter<br />

der Grodnoer NGO „Ratuscha“. Er<br />

unterstrich, dass es in <strong>Belarus</strong> fast<br />

900 NGOs gebe, mehr als in jedem<br />

anderen GUS-Land. Gleichzeitig,<br />

betonte Kuseltschuk, übe der belarussische<br />

Staat starken Druck auf<br />

viele von ihnen aus. Deshalb seien<br />

die zivilgesellschaftlichen Strukturen<br />

besonders auf Unterstützung<br />

aus Europa angewiesen.<br />

„sPrACHe“ sTATT „KIrCHe“<br />

Am dritten Konferenztag konnten<br />

sich die Teilnehmer auf thematische<br />

Arbeitsgruppen verteilen.<br />

Die Gruppe zu „Kirche in <strong>Belarus</strong>“<br />

kam leider nicht zustande, da dem<br />

Vizepräsidenten des Minsker Orthodoxen<br />

Zentrums Method und<br />

Cyrill, Grigorij<br />

Dovgijallo,<br />

die Teilnahme<br />

vom belarussischenMetropolitenFilaret<br />

untersagt<br />

worden war.<br />

Im Bereich des<br />

interkonfessionellen<br />

Dialogs<br />

müsse demnach<br />

noch viel<br />

getan werden,<br />

meinte dazu<br />

der Direktor<br />

der EvangelischenAkademie,<br />

Stephan<br />

Dorgerloh. Dafür interessierten<br />

sich viele Teilnehmer für die<br />

Arbeitsgruppe zu belarussischer<br />

Sprache, Religion und Kultur, die<br />

der Chefredakteur von „Nascha<br />

Niwa“ Andrej Dynko leitete. Er<br />

erklärte den neugierigen Teilnehmern<br />

bereitwillig die komplizierte<br />

Situation, in der sich die belarussische<br />

Sprache heute befindet: Von<br />

den <strong>Belarus</strong>sen als Muttersprache<br />

bezeichnet, vielfach totgesagt, ist<br />

sie nach Dynkos Worten dennoch<br />

Teil einer lebendigen Jugendkultur<br />

und Intellektuellenszene.<br />

beGeGNuNG<br />

Dass <strong>Belarus</strong> nicht nur sprachlich<br />

und politisch interessant ist,<br />

sondern auch als Begegnungsort<br />

im Herzen Europas, konnten<br />

die Teilnehmer am Abend des<br />

letzten Konferenztags erfahren.<br />

Jugendliche aus Estland und<br />

Deutschland zeigten einen Film<br />

über ihre trinationale Radtour<br />

von Minsk ins Baltikum, die die<br />

Evangelische Akademie im Sommer<br />

dieses Jahres organisert hatte.<br />

Die Jugendlichen erzählten, wie<br />

sie die gemeinsame Fahrt durch<br />

die belarussiche Natur über alle<br />

Sprachbarrieren hinweg einander<br />

näher gebracht hatte. Am letzten<br />

Tag erklärte der Vorsitzende der<br />

oppositionellen Partei der <strong>Belarus</strong>sischen<br />

Kommunisten, Sergej Kaljakin,<br />

dass Europa nicht nur eine<br />

zwischenmenschliche und zivilgesellschaftliche,<br />

sondern auch eine<br />

wirtschaftliche Perspektive für<br />

<strong>Belarus</strong> darstelle. Kaljakin meinte,<br />

die enge Anbindung an Russland<br />

habe zwar in der Vergangenheit<br />

dem Land große wirtschaftliche<br />

Vorteile gebracht. Allerdings sei<br />

es mit den billigen russischen Energieressourcen<br />

wohl bald vorbei<br />

- und dann müsse sich <strong>Belarus</strong><br />

stärker nach Europa orientieren.


Kultur & Wissenschaft<br />

„Weg von den Klischees“<br />

(Gerhard ende, berlin) Anfang Oktober hat in berlin das belarussische Kulturfestival „good.by“ stattgefunden.<br />

Hunderte Interessierte konnten eine ganze Woche lang belarussische Kultur erleben: von Performance<br />

über Spielfilm, Dichterlesung bis zur Bilderausstellung war praktisch das gesamt Sprektrum alternativer,<br />

sehenswerter belarussicher Kultur abgedeckt.<br />

„Viele Europäer kennen heute<br />

<strong>Belarus</strong>“, meinte die junge <strong>Belarus</strong>sin<br />

Marija Nestserava, eine<br />

der Hauptorganisatorinnen der<br />

Veranstaltungsreihe, bei der Eröffnung.<br />

Allerdings würden viele<br />

Menschen <strong>Belarus</strong> ausschließlich<br />

als politischen Brennpunkt wahrnehmen.<br />

„Wir wollten den Menschen<br />

zeigen, dass die moderne<br />

belarussische Kultur für sich wertvoll<br />

ist, ohne den Beigeschmack<br />

von Politik.“ Vierzig belarussische<br />

Künstler waren der Einladung von<br />

Nestseravas Kulturinitiative „In<br />

Common“ gefolgt. Die drei jungen<br />

<strong>Belarus</strong>sinnen von „In Common“<br />

hatten das Festival zusammen<br />

mit der deutsch-belarussischen<br />

Studenteninitiative „Lahoda“ aus<br />

Frankfurt an der Oder und der<br />

belarussischen Künstlergruppe<br />

„Funlab“ auf die Beine gestellt.<br />

Das Konzept hatte sowohl den<br />

Fonds „Jugend für Europa“ der EU<br />

als auch die Stiftung „Erinnerung<br />

und Zukunft“ der Bundesregierung<br />

überzeugt.<br />

Auch die etablierte Minsker Theatergruppe<br />

des „Modernen Kunsttheaters“<br />

bekam die Möglichkeit,<br />

ihre Interpretation des Shakespeare-Lustspieles<br />

„Was ihr wollt“<br />

auf die Bühne der Berliner „Brotfabrik“<br />

zu bringen. Fünfzehn<br />

Schauspieler zeigten den Berliner<br />

Zuschauern, dass Shakespeare<br />

auch heute noch Spaß macht,<br />

und brannten ein Feuerwerk aus<br />

Späßen, Gesängen und Klangintermezzos<br />

ab. Ihre Requisiten<br />

waren simpel, doch universal zu<br />

verwenden: Mit Blechtöpfen ließen<br />

sich sowohl Ritterhelme als<br />

auch Brüste darstellen, die neben<br />

Strohalmen als Bärte ein zentrales<br />

Element für die Verwechslungskomödie<br />

waren. Das Publikum bog<br />

sich vor Lachen.<br />

100 Jahre unabhängige Presse<br />

Unter den Künstlern waren auch<br />

Stars der belarussischen Kulturszene<br />

wie die Percussion-Band<br />

„Drum Extasy“. Deren Mitglied<br />

Fillip Tschmyr erklärte, zwar sei<br />

die gesamte belarussiche Kulturszene<br />

mehr oder weniger durch<br />

die angespannte Lage politisiert.<br />

Dennoch unterstrich Tschmyr,<br />

seine Band habe „mit Politik<br />

nichts zu tun“. Ihm pflichtete der<br />

bekannteste postmoderne Dichter<br />

des Landes Andrej Chadanowitsch<br />

bei und freute sich, nicht gleich<br />

mit dem Klischee des Oppositionsdichters<br />

versehen worden zu<br />

sein. „Wir wollten alternativen<br />

Künstlern eine Bühne geben, auf<br />

der sie auch als Künstler wahrgenommen<br />

werden“, unterstrich<br />

Marija Nestserava. Das Festival<br />

war ein voller Erfolg - nun freut<br />

sich Nestserava schon auf weitere<br />

Projekte rund um <strong>Belarus</strong>, die sie<br />

mit ihren Kolleginnen plant.<br />

(Gerhard ende, berlin) die Kulturzeitung „Nascha Niva“ hat dieses Jahr ihren 100. Geburtstag gefeiert.<br />

die deutsch-belarussische Gesellschaft (dbg) organisierte dazu im september Lesungen in berlin.<br />

Die Abende standen unter dem<br />

Motto „100 Jahre Nascha Niva -<br />

eine starke Stimme aus <strong>Belarus</strong>“.<br />

„Denn trotz schwieriger politischer<br />

Bedingungen“, so sagte der<br />

Organisator und Kulturbeauftragte<br />

der dbg, Ingo Petz, „ist es der<br />

Zeitung immer wieder gelungen,<br />

starke journalistische und kulturelle<br />

Stimmen hervorzubringen.“<br />

Mit dieser Meinung stand Petz<br />

nicht alleine. Denn die Veranstaltung<br />

hatte neben der Robert-<br />

Bosch-Stiftung und der Deutschen<br />

Welle als hochkarätige finanzielle<br />

Unterstützer auch die Deutsche<br />

Botschaft Minsk als Schirmherrn<br />

gewinnen können.<br />

In der LiteraturWerkstatt leitete<br />

Rainer Lindner, Vorsitzender der<br />

dbg, den Abend mit einem kurzen<br />

Referat über die Gründungsgeschichte<br />

der Zeitung ein. Der heutige<br />

Chefredakteur von „Nascha<br />

Niva“ Andrej Dynko trug einen<br />

Essay zum Thema „Freiheit“ vor.<br />

Darin kritisierte er vor allem die<br />

Intelligenz in seinem Land, die<br />

sich zwischen 1995 und 2000 von<br />

hehren, doch irrationalen Ideen<br />

habe leiten lassen. Dynko sieht die<br />

Rolle von Nascha Niva darin, „den<br />

Idealisten zu mehr Bodenhaftung“<br />

zu verhelfen. „Und den Realisten<br />

bringen wir ein bisschen das Träumen<br />

und das Fliegen bei. All das<br />

tun wir für ein Ziel: den Aufbau<br />

eines demokratischen <strong>Belarus</strong>.“<br />

Danach trug Andrej Chadanowitsch,<br />

einer der bekanntesten jungen<br />

Dichter des Landes, eine Reihe<br />

seiner teils ironisch-spielerischen,<br />

teils offen gesellschaftskritischen<br />

Werke vor. Musikalisch begleitet<br />

wurde der Abend von dem berühmtesten<br />

belarussischen Rocksänger<br />

und Songschreiber, Ljavon<br />

Volski. „Ich bin vollkommen<br />

begeistert“, sagte eine Zuschauerin,<br />

„ich wusste nicht, dass es in<br />

Weißrussland solche interessanten<br />

Töne und Stimmen gibt. Bitte mehr<br />

davon.“<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34


Neuntes Minsk Forum<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34<br />

Publikationen<br />

(MS) Das neunte Minsk Forum findet vom 9. bis 11. November in der IBB „Johannes Rau“ statt. Die Tagesordnung<br />

der wichtigsten belarus-Konferenz wird von einreiseverboten überschattet.<br />

Gleich am Eröffnungstag wird<br />

CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla<br />

die sicherheitspolitischen Herausforderungen<br />

erläutern, denen<br />

sich Deutschland während seiner<br />

EU-Ratspräsidentschaft stellen<br />

muss. Am zweiten Tag werden sich<br />

die Teilnehmer in Arbeitsgruppen<br />

aufteilen. Die erste widmet sich<br />

außen- und sicherheitspolitschen<br />

Fragen. Wie beim Minsk-Forum<br />

üblich, kommen deutsche und<br />

baltische mit belarussischen und<br />

russischen Vertretern zusammen,<br />

um gemeinsame Schnittmengen<br />

auszuloten und Differenzen klar<br />

zu erkennen. Auch die zweite<br />

Arbeitsgruppe zur belarussischen<br />

Wirtschaft verspricht spannende<br />

Diskussionen: Der stellvertretende<br />

belarussische Wirtschaftsminister<br />

Andrej Tur hat seine Teilnahme<br />

ebenso zugesagt wie der stellvertretende<br />

Vorsitzende der Vereinten<br />

Bürgerpartei und erklärte<br />

Liberale Jaroslaw Romantschuk. In<br />

der dritten Arbeitsgruppe finden<br />

sich die Teilnehmer zusammen,<br />

um über die belarussiche Gesellschaft<br />

zu sprechen. Humanitäres<br />

Engagement wird hier ebenso Thema<br />

sein wie die belarussische <strong>Bildungs</strong>landschaft.<br />

Für thematische<br />

Abwechslung wird sicherlich der<br />

Runde Tisch zu Jugendkultur sorgen.<br />

Am letzten Tag wird Bilanz<br />

aus der gemeinsamen Arbeit gezogen.<br />

Kurz vor Redkationsschluss<br />

wurde bekannt, dass Marieluise<br />

Beck (MdB Grüne) und Georg<br />

Schirmbeck (MdB CDU) sowie<br />

dem freien Journalisten Ingo Petz<br />

und der Programmleiterin der<br />

Deutschen Welle Cornelia Rabitz<br />

die Einreise verweigert wurde.<br />

Sommerlager für Menschen mit Kanten<br />

(ulrike dünnbier/Lisa soeldner, Minsk) Vier zitternde füße, zwei schwankende bretter darunter, ein Paar<br />

gereichte Hände und kurz darauf der Jubel von über fünfzig Menschen. so kann ein erfolgserlebnis mitten<br />

im Wald aussehen, wenn sich völlig verschiedene Menschen zusammenfinden, um einander bei einem<br />

sommerlager kennenzulernen: behinderte, nichtbehinderte, deutschsprachige und russischsprachige junge<br />

Menschen mit den verschiedensten biographien.<br />

Wer macht solche Lager? Dazu<br />

bedarf es einer engagierten jungen<br />

Organisation wie Raznije-Ravnije<br />

(Verschiedene-Gleiche), die sich<br />

lange im Voraus mit der Planung<br />

beschäftigt hat. Raznije-Ravnije<br />

fand 16 Freiwillige, die sich bereits<br />

Anfang Juni in den Wald begaben,<br />

um aus einem einfachen Waldstück<br />

ein behindertengerechtes und bewohnbares<br />

Terrain zu machen.<br />

Wir bauten eine Küche, Behelfstoiletten,<br />

einen „Speisesaal“ und<br />

ein großes Schlafzelt. Interessant<br />

an den ersten fünf Tagen waren<br />

die kulturellen und sprachlichen<br />

Differenzen der Freiwilligen, denn<br />

den Aufbau mussten <strong>Belarus</strong>sen,<br />

Deutsche und eine Östereicherin<br />

zusammen bewältigen. Vielleicht<br />

war es gerade deswegen oft besonders<br />

lustig. Am 10. Juni wurde<br />

es mit der Anreise der anderen<br />

vierzig Teilnehmer dann noch einmal<br />

richtig spannend - der bunte<br />

Haufen für die nächsten zehn Tage<br />

war komplett.<br />

Was sich genau in dieser Zeit<br />

abgespielt hat, lässt sich schwer<br />

in Worte fassen. Oft haben wir<br />

spielend versucht, Barrieren zu<br />

überwinden - meist gelang das<br />

auch. Beispielsweise beim oben<br />

erwähnten Hindernislauf. Dabei<br />

sollten alle Teilnehmer, ohne den<br />

Boden zu berühren, über zwei parallele<br />

Holzwippen gelangen. Zusätzlich<br />

legte der Spielleiter immer<br />

wieder neu fest, wieviele Personen<br />

sich gleichzeitig auf den Wippen<br />

befinden dürfen - Abwechslung<br />

und gemeinsamer Spaß waren<br />

garantiert. In weiteren Spielen lösten<br />

wir ähnliche Probleme - zum<br />

Beispiel erbauten wir ein Dorf mit<br />

Kastensystem. Neben dem täglichen<br />

Programm war es auch eine<br />

angenehme Abwechslung in dem<br />

angrenzenden See zu toben oder<br />

abends den Tag gemeinsam beim<br />

Lagerfeuerr ausklingen zu lassen.<br />

Insgesamt war es schön zu sehen,<br />

wie im Laufe der Zeit die Barrieren<br />

fielen und das Verhältnis der<br />

Teilnehmer untereinander enger<br />

wurde.<br />

Ein Sommerlager ist eine einmalige<br />

Möglichkeit, einander in<br />

besonderem Umfeld kennenzulernen:<br />

Sommer, Natur, Wasser,<br />

Bewegung, aber auch der Alltag<br />

- Zähneputzen, Waschen, Essen,<br />

Schlafen - am See und im Wald<br />

schweißen zusammen. So konnten<br />

nicht nur <strong>Belarus</strong>sen und Deutsche,<br />

sondern auch Behinderte und<br />

Nichtbehinderte einander schätzen<br />

lernen. An die entspannte Atmosphäre<br />

und die tollen Leute werden<br />

wir noch lange denken müssen.<br />

Wir wissen, dass die Finanzierung<br />

bis zuletzt sehr unsicher war und<br />

hoffen, dass es im nächsten Jahr<br />

weniger Probleme geben wird.<br />

Ein großes Dankeschön an alle<br />

Menschen, die sowohl finanziell<br />

als auch persönlich dieses Lager<br />

ermöglicht haben.<br />

Aktion Sühnezeichen: www.asf-ev.de


Publikationen<br />

Provinzidylle contra Apokalypse: „Die Wolke“<br />

(MS) Bereits der Beginn des Filmes<br />

ist ein bitterer Vorgeschmack auf<br />

die unheimlichen Ereignisse, die<br />

bevorstehen. Eine schwarz-weißes,<br />

verschwommenes Bild zeigt den<br />

Innenraum eines Kernkraftwerkes.<br />

Wir hören die gleichgültigen Stimmen<br />

der Techniker: „Der Druck<br />

steigt. Der Druck steigt weiter...“<br />

Die deutsche Provinzstadt, in der<br />

die Handlung stattfindet, bildet einen<br />

surrealen Kontrast zu der unheimlichen<br />

Einstiegsszene: Sauber<br />

herausgeputzte Fachwerkhäuser,<br />

satter Wohlstand, die Kleinstadt ist<br />

in bürgerlicher Idylle versunken.<br />

Die 16-jährige Schülerin Hannah<br />

ist von dem verschlafenen Ort genervt,<br />

wie man es als Jugendlicher<br />

in der Provinz ist. Bis sie auf Elmar<br />

aufmerksam wird, den stillen Mitschüler<br />

von der letzten Bank. Der<br />

erste Kuss der beiden wird vom<br />

Heulen der Alarmsirenen unterbrochen.<br />

Im Atomkraftwerk hat<br />

es einen Unfall gegeben.<br />

LIebe uNd KATAsTrOPHe<br />

Regisseur Gregor Schnitzler hat<br />

auf der Basis von Gudrun Pausewangs<br />

Jugendbuch-Klassiker von<br />

1987 eine Mischung aus Liebes-<br />

und Katastrophenfilm gedreht, der<br />

den Zuschauer in ein Wechselbad<br />

der Gefühle stürzt. Denn immer<br />

wieder mischt sich unter die<br />

Liebesgeschichte von Elmar und<br />

Hannah die grausame Wirklichtkeit<br />

des Super-GAUs. Liebe und<br />

Katastrophe - das ist eine typische<br />

Hollywood-Mischung, die immer<br />

Gefahr läuft, in dramatischen<br />

Kitsch abzugleiten. Hannah-Darstellerin<br />

Paula Kalenberg meistert<br />

den Rollenspagat zwischen dem<br />

lebensfreudigen Teenager und<br />

dem jugendlichen Opfer jedoch<br />

bravourös. Ihre Ernstaftigkeit<br />

wirkt ebenso natürlich wie ihr verliebtes<br />

Lächeln, als sie Elmar nach<br />

dem GAU wiedertrifft - so bewahrt<br />

Kalenberg den Film davor, allzu<br />

durchschaubar zu werden.<br />

PANIK uNd sTILLe<br />

Das Drehbuch birgt eine solche<br />

Gefahr durchaus. In einigen<br />

Momenten wirkt der Gegensatz<br />

Provinzidylle - Apokalypse etwas<br />

künstlich. Was an der Sache selbst<br />

liegt: Man lässt sich als Zuschauer<br />

anfangs gerne auf den typischen<br />

Tennagerfilm ein, weil er sympathisch<br />

und abwechslungsreich<br />

erzählt wird - fällt dann aber um so<br />

tiefer in den Schock des atomaren<br />

GAUs. Dieser Moment entscheidet<br />

über die Qualität des Filmes - neben<br />

der starken Hauptdarstellerin<br />

rettet ihn auch die gute Kameraführung<br />

und der ausgewogene<br />

Rhythmus. Auf Massenpanikszenen<br />

folgen Momente der stillen<br />

Verzweiflung, in denen Hannah<br />

dem sauren Regen mit Todessehnsucht<br />

entgegengeht. Auch eine<br />

andere Szene vergisst man nicht so<br />

schnell: Ein Zeitungsjunge drückt<br />

einer durch die Chemotherapie<br />

kahl gewordenen jungen Frau die<br />

druckfrische Zeitung in die Hand:<br />

„Die verstrahlte Zone drei um den<br />

Reaktor soll wieder für die Bewohner<br />

geöffnet werden“. Parallelen<br />

zu osteuropäischen Ländern rein<br />

zufällig.<br />

Die Kinoversion wurde auf DVD<br />

um die üblichen Extras ergänzt.<br />

Interviews mit den Darstellern<br />

und der Buchautorin Gudrun<br />

Pausewang runden ein melancholisches<br />

Liebesdrama ab, das jungen<br />

Menschen das geben kann, was<br />

keine Informationen können: Sie<br />

machen den Schrecken der Katastrophe<br />

lebendig.<br />

„Die Wolke“, Concorde-Filmverleih, circa<br />

14 Euro.<br />

„Kontaminiert“: Bildersturm aus Tschernobyl<br />

(Michael Ebert-Hanke, Kassel)<br />

Zwanzig Jahre nach dem verheerenden<br />

nuklearen Unfall in<br />

Tschernobyl sind zwar viele Fragen<br />

Impressum:<br />

Herausgeber:<br />

Peter Junge-Wentrup, <strong>Internationales</strong><br />

<strong>Bildungs</strong>- und Begegnungswerk gGmbH<br />

Dortmund<br />

redaktion:<br />

Martin Schön, Frankfurt/Oder,<br />

Dr. Edith Spielhagen, IBB Minsk,<br />

Michael Rüben, IBB Dortmund,<br />

Kai-Uwe Dosch, Hamm<br />

druck:<br />

Montania Druck, Dortmund<br />

beantwortet, die wichtigste - nach<br />

der Sinnhaftigkeit und den Risiken<br />

der Atomenergie - jedoch nicht.<br />

Auch vier Design-Studenten der<br />

redaktionsadresse:<br />

IBB gGmbH, <strong>Belarus</strong>-Perspektiven,<br />

Thomasstr. 1, 44135 Dortmund,<br />

� 0231-952096-0, Fax: 0231-521233,<br />

E-Mail: info@ibb-d.de,<br />

Website: www.ibb-d.de<br />

Gekennzeichnete Artikel entsprechen<br />

nicht unbedingt der Meinung der Redaktion.<br />

Einzelpreis: 4,00 Euro, Jahresabonnement<br />

incl. Versand: 15,00 Euro.<br />

Muthesius Kunsthochschule Kiel<br />

haben sich dieser Frage gestellt,<br />

allerdings nähern sie sich der<br />

Problematik ausschließlich durch<br />

Kunst. Innerhalb eines einjährigen<br />

Projekts entstand „Kontaminiert“<br />

- bestehend aus einem Bildband<br />

mit 24 großformatigen, computergenerierten<br />

Illustrationen, sowie<br />

einem umfangreichen Textband,<br />

der sowohl den Hergang des Unglücks<br />

detailliert schildert als auch<br />

die vielen Augenzeugenberichte<br />

wiedergibt, die die Grundlage der<br />

Bilder darstellen (IBB, ca. 30 Euro)<br />

0 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34


Deutsche Ordnung in <strong>Belarus</strong><br />

Publikationen<br />

W. CurILLA: dIe deuTsCHe OrdNuNGsPOLIZeI uNd der HOLOCAusT IM bALTIKuM uNd<br />

IN WeIssrussLANd 1941-1944<br />

(Jan Clauss/Tanja Fichtner, Bonn)<br />

Der Autor bietet mit seinem Monumentalwerk,<br />

welches bereits<br />

in der zweiten Auflage erschien,<br />

„harte Kost“: Er untersucht die<br />

bisher historiographisch kaum<br />

aufgearbeitete Verflechtung der<br />

deutschen Ordnungspolizei mit<br />

der Geheimen Staatspolizei, der<br />

Kriminalpolizei sowie Reservisten<br />

der Waffen-SS im deutsch besetzten<br />

<strong>Belarus</strong>. Vom Sommer 1941 an<br />

führten deutsche Schutzpolizisten<br />

systematisch Massenerschießungen<br />

der Einwohner des Minsker<br />

Ghettos durch, allein zwischen<br />

dem 14. und dem 19.7.1941 sollen<br />

3386 Personen ermordet worden<br />

sein.<br />

Das ist nur eine von tausenden<br />

akribisch aufgeführten Opferzahlen,<br />

die das unvorstellbare<br />

Ausmaß der damals in <strong>Belarus</strong><br />

verübten Verbrechen deutlich machen.<br />

Aufschlussreich sind auch<br />

die Meldungen der Einsatzgruppe:<br />

„Vor allem haben sich die Liquidierungen<br />

eingespielt, die jetzt täglich<br />

in größerem Maße erfolgen. [...] In<br />

Doppelter Dialog<br />

Minsk ist nunmehr die gesamte jüdische<br />

Intelligenzschicht (Lehrer,<br />

Professoren, Rechtsanwälte usw.<br />

mit Ausnahme der Mediziner)<br />

liquidiert worden“ (S. 464).<br />

Das 1000-seitige Kompendium des<br />

Juristen und langjährigen ehemaligen<br />

Hamburger Senators Wolfgang<br />

Curilla besteht aber nicht<br />

nur aus Zahlen, Gerichtsurteilen<br />

und Dienstvorgängen. Eingestreut<br />

in nüchterne Auflistungen wirken<br />

die wenigen Augenzeugenberichte<br />

um so schockierender. Als<br />

1942 auch die ins Minsker Ghetto<br />

deportierten westeuropäischen<br />

Juden ermordet werden sollten,<br />

fürchtete man, Erschießungen<br />

würden zu lange dauern und<br />

setzte deshalb Gaswagen ein: „Das<br />

Wageninnere bot ein schreckliches<br />

Bild. Die Leichen waren über und<br />

über mit Blut, Erbrochenen und<br />

Exkrementen beschmutzt, auf dem<br />

Boden lagen Brillen, Gebisse und<br />

Haarbüschel“ (S. 486).<br />

Nicht nur Juden fielen dem Treiben<br />

der deutschen Ordnungspolizei in<br />

<strong>Belarus</strong> zum Opfer. Im September<br />

1941 wurden über 200 Psychiatriepatienten<br />

der Heilanstalt Nowinki<br />

bei Minsk vergast, erschossen<br />

und in die Luft gesprengt. Den<br />

Befehl dazu gab Heinrich Himmler,<br />

Reichsführer SS und Chef der<br />

Deutschen Polizei, persönlich,<br />

nachdem er Nowinki im August<br />

1941 besucht hatte.<br />

Das gründlich recherchierte, auf<br />

Gerichts- und Staatsanwaltlichen<br />

Entscheidungen 1949-1995<br />

basierende Werk bietet neben<br />

diesen Schilderungen einen umfangreichen<br />

wissenschaftlichen<br />

Apparat (insgesamt knapp 100<br />

Seiten), darunter ca. 40 Seiten Literaturverzeichnis,<br />

45 Seiten Orts-,<br />

Personen- Einheiten- und Dienststellenregister<br />

sowie zwei Seiten<br />

topographisch exakte Karten der<br />

besetzten Gebiete.<br />

Curilla, Wolfgang: Die deutsche Ordnungspolizei<br />

und der Holocaust im<br />

Baltikum und in Weißrußland 1941-1944,<br />

Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn,<br />

2., durchgesehene Auflage 2006, ISBN-10:<br />

3-506-71787-1, 1041 S., 68.- €,<br />

H. TIMMerMANN: dIe beZIeHuNGeN deuTsCHLANd-beLArus IM eurOPäIsCHeN KONTexT<br />

(MS) Wie gestaltet Deutschland<br />

seine außenpolitischen Beziehungen<br />

zu <strong>Belarus</strong>? Die Frage ist nicht<br />

einfach zu beantworten, weil die<br />

Bundesrepublik einerseits als Vertreter<br />

der EU in <strong>Belarus</strong> auftritt,<br />

sie aber andererseits aufgrund<br />

der guten zivilgesellschaftlichen<br />

Beziehungen eine Vorreiterrolle in<br />

Europa spielt. Deshalb ist Deutschland<br />

nicht zufällig „Vorkämpfer<br />

einer Politik, die die asymetrische<br />

doppelte Dialogstrategie gegenüber<br />

<strong>Belarus</strong> fortsetzt“, wie Heinz<br />

Timmermann es treffend in seiner<br />

Broschüre formuliert.<br />

Timmermann setzt sich als freier<br />

Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft<br />

und Politik seit geraumer<br />

Zeit mit der belarussischen Außenpolitik<br />

auseinander - sowohl<br />

im europäischen, als auch im<br />

russischen Kontext. Dadurch ist es<br />

ihm möglich, in seine sachkundige<br />

Analyse den wichtigen russischen<br />

Faktor einfließen zu lassen.<br />

Auf der einen Seite unterhält<br />

Deutschland Kontakte auf der zivilgeselschaftlichen<br />

und niederen<br />

Verwaltungsebene, andererseits<br />

übt es auf Regierungsebene un-<br />

zweideutige Kritik an der Verletzung<br />

von OSZE-Standards. Wie<br />

diese Strategie sich entwickelt hat,<br />

ist ebenso Thema der Broschüre<br />

wie die Perspektiven einer deutschen<br />

Demokratieförderung in<br />

<strong>Belarus</strong>. So ist sie sowohl für <strong>Belarus</strong>-Experten,<br />

als auch für Neulinge<br />

ein ausgezeichnetes Hilfsmittel,<br />

um die deutsch-belarussischen<br />

Beziehungen zu erfassen.<br />

Timmermann, Heinz: Die Beziehungen<br />

Deutschland-<strong>Belarus</strong> im europäischen<br />

Kontext. Mit einem Vorwort von Eberhard<br />

Heyken. Dortmund: IBB, 2006..<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2006 Nr. 34 1


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(2003 / 10 Euro)<br />

� Märtyrer der belarussischen Christen<br />

(Orthodoxe, Katholiken, Baptisten; 2001/<br />

12 Euro)<br />

� Minsk unter deutscher besetzung<br />

(von U. Gartenschläger; 2002 / 12 Euro)<br />

� die beziehungen deutschland-belarus<br />

im europäischen Kontext)<br />

(von H. Timmermann; 2006 / 5 Euro)<br />

� das Vernichtungslager Trostenez<br />

(von Paul Kohl; 2003 / 8 Euro)<br />

� die Jacobsleiter<br />

(von J. Shepetinski; 2005 / 14,80 Euro)<br />

� „existiert das Ghetto noch?“<br />

(Jüdisches Überleben; 2003 / 15 Euro)<br />

� überleben im jüdischen Ghetto von<br />

Minsk<br />

(Unterrichts-Arbeitshilfe; 2005 / 5 Euro)<br />

� Tschernobyl: Vermächtnis und Verpflichtung<br />

(Osteuropa-Themenheft, 2005 / 15 Euro)<br />

� die Leere in slonim<br />

(L. I. Abramowitsch, H.-H. Nolte / 5 Euro)<br />

Mehr Infos erhalten Sie auf der Website<br />

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<strong>Belarus</strong>-Perspektiven ab Nr. ___<br />

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IBB gGmbH<br />

Thomasstr. 1<br />

1 Dortmund<br />

<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Nr. 34<br />

Vernichtungslager Trostenez<br />

Auschwitz, Treblinka, Majdanek...<br />

Trostenez? Die NS-Todeslager in<br />

Polen sind bekannt, doch die in der<br />

früheren UdSSR kaum. Das heißt<br />

nicht, dass jene weniger schrecklich<br />

waren oder keine eigene Geschichte<br />

hatten. Und Erinnerung<br />

bedeutet Verständigung mit den<br />

Opfern der Deutschen in <strong>Belarus</strong>.<br />

Dieses Ziel verfolgen das IBB<br />

Dortmund als Herausgeber und<br />

Paul Kohl, Schriftsteller und Mitarbeiter<br />

der Geschichtswerkstatt<br />

Minsk, als Autor. Den Weg dazu<br />

bilden eine äußerst wissensreiche<br />

Einführung und ausgewählte Augenzeugenberichte<br />

zu den Verbrechen<br />

zwischen 1941 und 1944. Die<br />

Tatsachen sprechen für sich...<br />

Seite abtrennen, hier falten und im Fensterbriefumschlag einsenden oder faxen an (0231) 52 12 33<br />

� Ich hätte gerne das Programm für<br />

<strong>Bildungs</strong>- und Begegnungsprojekte<br />

der IBB Minsk<br />

� Ich hätte gerne das Programm für<br />

<strong>Bildungs</strong>- und Begegnungsreisen<br />

des IBB Dortmund<br />

Name _____________________<br />

Initiative _____________________<br />

Straße _____________________<br />

Wohnort _____________________<br />

Telefon _____________________<br />

Einzugsermächtigung<br />

Hiermit erkläre ich mich damit einverstanden,<br />

dass die IBB gGmbH die<br />

Preise von meinem Konto abbucht.<br />

Inhaber _____________________<br />

Bank _____________________<br />

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(Die Bestellung kann innerhalb von<br />

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