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Mitteilungen Nr. 50 - Hans Henny Jahnn

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In einem weiteren Hauptkapitel berichtet der Experte Manfred Dimde darüber, wie im<br />

Mittelalter und in der Renaissance Texte verschlüsselt wurden, um sie über die Jahrhunderte<br />

hinweg zu sichern. Es war eine hoch komplizierte Technik, die selbst in der<br />

vereinfachenden Darstellung durch den Autor nicht leicht zu begreifen ist und in jedem<br />

Fall eines besonderen Spürsinns bedarf. Die consolatio von Boethlus ist mit Sicherheit<br />

ein solcher Text, der nicht nur über die Hintergründe der Verurteilung, sondern wahrscheinlich<br />

auch über die boethianischen Gesänge berichtet. Das Original ist verschollen;<br />

es existiert eine Abschrift – mit verändertem Layout – von Cassiodor, einem Zeitgenossen<br />

von Boethius, der römischer Beamter und Geschichtsschreiber war.<br />

Auf Grund seiner 20 Jahre Forschungserfahrung, z.B. an den propheties des Nostradamus<br />

und dem Text über die Falknerei von Friedrich II stellt Dimde in Aussicht, die<br />

consolatio in den nächsten Jahren mit Hilfe des Computers zu entschlüsseln. Die<br />

Spannung in dieser Kriminalgeschichte bleibt also erhalten.<br />

Im letzten Kapitel bespricht Sebnem Yavuz einige für die Rekonstruktion der boethianischen<br />

Gesänge wichtige Elemente. Nach seiner Ansicht waren die Melodien «nicht<br />

am Wort entlang komponiert», sondern klar strukturiert und aus Bausteinen nach der<br />

Formel 3 + 2 Neumen aufgebaut. Boethius soll 13 Tonarten benutzt haben (die von<br />

Gregor auf 8 reduziert wurden), nämlich ausser den vier bekannten noch die «medialen»<br />

ionisch und aeolisch, alle je authentisch und plagal, dazu eine «übergeordnete»<br />

Tonart. Yavuz glaubt, dass Boethius einerseits ein Liniensystem verwendete zur Kennzeichnung<br />

der Tonhöhen und anderseits Neumen für zusätzliche, aussermusikalische<br />

Bedeutungen der Gesänge. Wahrscheinlich gab es auch – durch Neumen signalisierte<br />

– Abschnitte mit Obertongesang. Yavuz glaubt, dass das legendäre Antiphonar von<br />

Papst Gregor tatsächlich existiert hat. Wei! es im Klerus erheblichen Widerstand gab<br />

gegen die gregorianischen Gesänge (zunächst wurden sie nur von Benediktiner-Mönchen<br />

gesungen), erschienen die ersten Notationen erst im 9. Jahrhundert.<br />

Nach der Theorie von Yavuz entsprechen die lothringischen Neumen – im Gegensatz<br />

zu den von der Wissenschaft bisher favorisierten St. Galler Neumen – am ehesten<br />

denjenigen von Boethlus. An einigen Beispielen wird deutlich gemacht, dass es sich<br />

um einen nicht nur regionalen, sondern fundamentalen Unterschied handelt. (Einer der<br />

beiden nach Italien Abgesandten Karls des Grossen, welche den gregorianischen<br />

Gesang finden sollten, hatte seine Kenntnisse in das kirchliche Zentrum Metz<br />

gebracht, und Karl hatte verfügt, dass die Metzer Gesangskunst im Frankenreich als<br />

Vorbild zu dienen habe.)<br />

Zum Abschluss weist Yavuz nochmals darauf hin, dass vieles an seiner Theorie spekulativ<br />

ist, dass er damit mehr Fragen aufwirft als beantwortet, und dass er so die Forschung<br />

anregen möchte. Zwar ist die Arbeit vor allem interessant für Gregorianik-Kundige,<br />

und sie wird in diesen Kreisen sicher zu grossen Diskussionen führen. Aber auch<br />

für Laien und von weiter her Interessierte bringt sie viel, und seien es nur die Einblicke<br />

in die Geschichte des ausgehenden Altertums und frühen Mittelalters und die<br />

Geschicke der damaligen Menschen.<br />

Das Buch ist ein Paperback, aber im Umschlag und im Satzspiegel gediegen gestaltet<br />

und ansprechend illustriert. Da ist es doppelt schade, dass sich einige Druckfehler<br />

eingeschlichen haben. Hilfreich wäre auch ein Stichwortverzeichnis: denn häufig<br />

möchte man bei der Lektüre eine frühere Stelle nachschlagen. Ernst W. Weber<br />

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