Mitteilungen Nr. 50 - Hans Henny Jahnn
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Sebnem Yavuz (Hrsg.)<br />
Eine Kriminal-Story aus dem 6. Jahrhundert<br />
Schriften zur Gregorianik-Forschung 1, Ars Gregoriana, Köln 2002, 171 S., Fr. 35.–<br />
Das Buch beginnt mit einem Übersichtsartikel von Joachim Gruber über die Boethius-<br />
Forschung der letzten 20 Jahre. Dann kommt Sebnem Yavuz zum Kern der Sache: Er<br />
stellt eine neue Theorie über den Ursprung der gregorianischen Gesänge vor und den<br />
Entwurf für eine neue Boethlus-Biografle.<br />
Nach der Überlieferung soll Boethius, römischer Adeliger und auf Grund seiner Schrift<br />
«de institutione musica» im Mittelalter «eine Art Musikheiliger und unantastbare Autorität»,<br />
(MGG) im Jahre 524 in einen Hochverratsprozess verwickelt und durch den Ostgotenkönig<br />
Theoderich I hingerichtet worden sein. Sein in der Haft geschriebenes<br />
berühmtestes Werk, die consolatio galt im Mittelalter als Inbegriff christlicher Frömmigkeit.<br />
Yavuz dagegen glaubt, dass sich Boethlus im Jahre 524 zusammen mit seiner Familie<br />
aus dem öffentlichen Leben in eine klosterähnliche Gemeinschaft zurückzog, um<br />
sich ungestört seinen musikalischen Studien widmen zu können und dass er daher<br />
seine Verurteilung und Hinrichtung – im Einverständnis mit dem Papst Johannes I und<br />
mit König Theoderich, dessen oberster Berater er war – selber vortäuschte und inszenierte.<br />
Yavuz vermutet, dass es dabei um die Erforschung der Grundlagen musikalischer<br />
Phänomene und ihrer Wirkung auf den Menschen ging. Damit verbunden war<br />
die Entwicklung des Systems der mystisch-spirituellen und äusserst tief wirkenden<br />
boethianischen Gesänge. Die Melodien, der formale Aufbau und das Tonartensystem<br />
wurden geschaffen zur Kommunikation mit Gott, wahrscheinlich auf Grund pythagoräischen<br />
Gedankengutes. Die dafür verwendeten Texte waren frühchristlich oder (nicht<br />
aus der Bibel stammende) religlöse Offenbarungstexte.<br />
Tragischerweise ist Boethlus wahrscheinlich kurz nach 546 doch hingerichtet worden,<br />
und zwar durch den 537 an die Macht gekommenen Papst Vigillus, der die boethianischen<br />
Gesänge und den wachsenden Zulauf des neuen spirituellen Zentrums fürchtete.<br />
Auch die Familie des Boethlus und seine Getreuen wurden verfolgt und hingerichtet,<br />
alle Spuren und Aufzeichnungen vernichtet oder unter Verschluss gebracht.<br />
Möglicherweise hat Papst Gregor der Grosse wenige Jahrzehnte danach aus einer<br />
Auswahl von boethianischen Gesängen und durch Unterlegung von biblischen Texten<br />
die gregorianischen Gesänge geschaffen.<br />
Der Autor listet ausführlich eine Reihe von Indizien auf, die seine Vermutungen stützen.<br />
All dies ist ja vorderhand noch wenig abgestützte Theorie, und die Quellenlage ist äusserst<br />
prekär: Es gibt bestenfalls Abschriften, die ihrerseits durchaus Fälschungen sein<br />
können. Im Mittelalter war es offenbar manchmal lebensgefährlich, die Wahrheit zu<br />
schreiben; vieles kursierte deshalb im Verborgenen oder wurde verschlüsselt. Und<br />
selbst Karl der Grosse, der mehr als 200 Jahre später Licht in das Dunkel um die<br />
boethianischen Gesänge bringen wollte, scheiterte am Widenstand des Papstes.<br />
Immerhin wurden dank dieser Bemühungen die Schriften des Boethius im Mittelalter<br />
berühmt, und der gregorianische Gesang – unterstützt durch die Legende seiner Entstehung<br />
durch eine kirchliche Autorität – wurde zum massgeblichen liturgischen<br />
Gesang der Kirche.<br />
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