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die „Bildungslandschaft“ in Deutschland ist ge - Gemeinschaft ...

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GESELLSCHAFT NAH UND FERN<br />

torität bei den jun<strong>ge</strong>n Menschen endgültig<br />

untergraben. In <strong>ge</strong>wisser Weise<br />

kann <strong>die</strong> fatwa auch als e<strong>in</strong>e Geste<br />

der Danksagung an <strong>die</strong> Protestierenden<br />

<strong>ge</strong>deutet werden. Der Sieg der<br />

revoltierenden Masse über <strong>die</strong> diktatorischen<br />

Machthaber setzte der „unfreiwilli<strong>ge</strong>n“<br />

Allianz zwischen Herrscher<br />

und Gelehrsamkeit – <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem<br />

Fall zwischen dem Regime Mubaraks<br />

und der al-Azhar-Institution – e<strong>in</strong> jähes<br />

Ende. Die theologisch <strong>ge</strong>forderte<br />

Unabhängigkeit der religiösen von<br />

der staatlichen Autorität <strong>ist</strong> e<strong>in</strong> <strong>in</strong> der<br />

islamischen Geschichte derart selten<br />

da<strong>ge</strong>wesener Status, dass dessen Erreichung<br />

als h<strong>ist</strong>orischer Moment E<strong>in</strong>gang<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong> Geschichtsbücher f<strong>in</strong>den<br />

sollte. Vor <strong>die</strong>sem H<strong>in</strong>tergrund <strong>ist</strong> <strong>die</strong><br />

Bezeichnung der fatwa als „Jahrhundert-Fatwa“<br />

seitens e<strong>in</strong>i<strong>ge</strong>r Gelehrter<br />

im arabischen Raum wohl nicht als<br />

übertrieben zu werten.<br />

Natürlich haben aber auch <strong>die</strong> al-<br />

Azhar-Gelehrten nicht unei<strong>ge</strong>nnützig<br />

<strong>ge</strong>handelt: mit ihrer Legitimierung des<br />

Volksaufstandes <strong>ge</strong><strong>ge</strong>n den un<strong>ge</strong>rechten<br />

Herrscher versuchen sie – sogar<br />

unter Inkaufnahme e<strong>in</strong>es radikalen<br />

Bruchs mit der bisheri<strong>ge</strong>n Rechtsprechung<br />

auf <strong>die</strong>sem sensiblen Gebiet<br />

islamischer Jurisprudenz – ihr an<strong>ge</strong>schla<strong>ge</strong>nes<br />

Ima<strong>ge</strong> aufzupolieren und<br />

ihre Glaubwürdigkeit bei der Bevölkerung<br />

zurückzuerobern. Vielen <strong>ge</strong>bildeten<br />

Menschen im Land war <strong>die</strong><br />

en<strong>ge</strong> Kooperation zwischen dem herrschenden<br />

Diktator und der al-Azhar-<br />

Institution bereits seit lan<strong>ge</strong>m e<strong>in</strong> Dorn<br />

im Au<strong>ge</strong>.<br />

Ohne das an<strong>ge</strong>sprochene Rechtsgutachten<br />

der al-Azhar-Gelehrten hätten<br />

<strong>die</strong> konservativen und traditionellen<br />

Kräfte <strong>in</strong> Ägypten, aber auch <strong>in</strong><br />

allen anderen Ländern, spätestens bei<br />

e<strong>in</strong>em Scheitern der Revolutionen mit<br />

dem Zei<strong>ge</strong>f<strong>in</strong><strong>ge</strong>r auf <strong>die</strong> Protestierenden<br />

<strong>ge</strong>deutet und ihnen vor<strong>ge</strong>worfen,<br />

sie hätten bei ihrem Vor<strong>ge</strong>hen religiöse<br />

Gebote übertreten und ernteten daher<br />

nur <strong>die</strong> <strong>ge</strong>rechte Strafe Gottes, nämlich<br />

<strong>die</strong> Zerschlagung ihres Protestes<br />

durch den Militär- und Sicherheitsapparat<br />

des Potentaten. Das Argument,<br />

große Sünden bestrafe der liebe Gott<br />

<strong>in</strong> bestimmten Fällen erbarmungslos<br />

und rasch, <strong>ist</strong> ke<strong>in</strong> <strong>ge</strong>nu<strong>in</strong> islamisches.<br />

Es hat allerd<strong>in</strong>gs im Verlaufe der islamischen<br />

Geschichte <strong>in</strong> vielen Fällen<br />

im Nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> zur <strong>ge</strong>sellschaftlichen<br />

Ächtung e<strong>in</strong>zelner Personen und Gruppierun<strong>ge</strong>n<br />

<strong>ge</strong>führt.<br />

Für <strong>die</strong> sich transformierenden<br />

Gesellschaften im Nahen Osten und <strong>in</strong><br />

Nordafrika führt jeglicher Diskurs über<br />

<strong>die</strong> Zukunft ihrer Staaten unwei<strong>ge</strong>rlich<br />

auf religiöses Terra<strong>in</strong>. In <strong>die</strong>ser Orientierungs-<br />

und Selbstf<strong>in</strong>dungsphase <strong>ist</strong><br />

es nur selbstverständlich, dass sich im<br />

nun freien „Markt der Ideologien“ jene<br />

Anschauung durchsetzen wird, <strong>die</strong><br />

das beste An<strong>ge</strong>bot für <strong>die</strong> Menschen<br />

unterbreitet oder zu unterbreiten behauptet.<br />

Diese <strong>ge</strong>sellschaftlichen, enttabuisierten<br />

Diskurse s<strong>in</strong>d zur Zeit <strong>in</strong><br />

vollem Gan<strong>ge</strong> und bilden zweifellos <strong>die</strong><br />

größte und – unabhängig vom letztendlichen<br />

Ausgang der Revolten – nachhaltig<br />

prä<strong>ge</strong>ndste Errun<strong>ge</strong>nschaft, <strong>die</strong><br />

<strong>die</strong> Menschen <strong>in</strong> Arabien sich tapfer<br />

erkämpft haben. Unter Nutzung aller<br />

Kommunikationsmittel und der Me<strong>die</strong>nvielfalt<br />

wird heute mehr denn je von<br />

Marokko bis Syrien über <strong>die</strong> Rolle der<br />

Frau im öffentlichen Raum, über <strong>die</strong><br />

Gleichstellung von Mann und Frau,<br />

über <strong>die</strong> Rechte von M<strong>in</strong>derheiten,<br />

über Homosexualität und über viele<br />

weitere heikle Themen diskutiert. Zu<br />

<strong>die</strong>sen Diskursthemen hat <strong>die</strong> islamische<br />

Glaubens- und Rechtslehre <strong>in</strong> der<br />

Scharia e<strong>in</strong>deuti<strong>ge</strong> Aussa<strong>ge</strong>n <strong>ge</strong>troffen,<br />

<strong>die</strong> nun e<strong>in</strong>er Revision bedürfen. An<br />

<strong>die</strong>ser Stelle muss betont werden, dass<br />

nicht <strong>die</strong> Rolle der Religion als <strong>in</strong>stitutionalisierter<br />

Machtapparat im zukünfti<strong>ge</strong>n<br />

Staat der postrevolutionären Ära<br />

diskutiert wird, sondern ausschließlich<br />

das Erfordernis der religiösen Legitimation<br />

bestimmter <strong>ge</strong>sellschaftlicher<br />

Diskurs-Er<strong>ge</strong>bnisse, damit sich <strong>die</strong>se<br />

nachhaltig im Bewusstse<strong>in</strong> der nachfol<strong>ge</strong>nden<br />

muslimischen Generationen<br />

e<strong>in</strong>n<strong>ist</strong>en können. Ohne <strong>die</strong> Islamizität<br />

und viel konkreter <strong>ge</strong>sprochen <strong>die</strong> Koranizität<br />

der Ideale, für <strong>die</strong> viele jun<strong>ge</strong><br />

Menschen <strong>in</strong> den letzten Monaten<br />

bereit waren, mit ihrem Leben zu bezahlen,<br />

können <strong>die</strong> erstrittenen Rechte<br />

wie Me<strong>in</strong>ungsfreiheit, Gleichheit und<br />

Menschenwürde nicht als <strong>ge</strong>samt<strong>ge</strong>sellschaftlich<br />

<strong>ge</strong>tra<strong>ge</strong>ne und <strong>in</strong>ternalisierte<br />

Ideale akzeptiert werden. In<br />

<strong>ge</strong>wisser Weise betrachten es <strong>die</strong> Gelehrten<br />

schließlich als ihre oberste moralische<br />

Pflicht, vor allem an<strong>ge</strong>sichts<br />

des hohen Blutzolls, den <strong>die</strong> Protestierenden<br />

bisher <strong>ge</strong>zahlt haben, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

ersten Schritt den Akt des Protests,<br />

<strong>die</strong> so<strong>ge</strong>nannte Rebellion <strong>ge</strong><strong>ge</strong>n den<br />

Herrscher (khurugh ala al-hakim) –<br />

e<strong>in</strong> <strong>in</strong> der schiitischen Lehre bereits<br />

gängi<strong>ge</strong>r Begriff – <strong>ge</strong>samt-islamisch<br />

zu legalisieren.<br />

Der scharfsichti<strong>ge</strong> Blick auf <strong>die</strong><br />

bisheri<strong>ge</strong> Geschichte der islamischen<br />

Welt zeigt vor allem e<strong>in</strong>e Sache<br />

ganz deutlich: nichts können traditionelle<br />

islamische Gelehrte besser<br />

als sich der Macht des Faktischen zu<br />

unterwerfen. Mit Blick auf <strong>die</strong> islamische<br />

Rechts<strong>ge</strong>schichte stellte <strong>die</strong><br />

Übersetzung <strong>ge</strong>sellschaftspolitischer<br />

Realitäten <strong>in</strong> theologische und ethische<br />

Normen <strong>die</strong> Religions<strong>ge</strong>lehrten<br />

vor nicht allzu großen Herausforderun<strong>ge</strong>n.<br />

Sogar das Antizipieren und<br />

vollkommene Adaptieren kulturfremden<br />

Denkens und dessen E<strong>in</strong>rahmung<br />

<strong>in</strong> den Corpus der islamischen Glaubens-<br />

und Rechtstradition bereitete<br />

den Rechts<strong>ge</strong>lehrten wenig Mühe.<br />

Diese „Tu<strong>ge</strong>nd“ der ulama, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>erseits<br />

ihre <strong>ge</strong><strong>ist</strong>i<strong>ge</strong> Flexibilität und<br />

ihre aus<strong>ge</strong>sprochen breite Ambiguitätstoleranz6<br />

dokumentiert, andererseits<br />

ihr Postulat von der Universalität<br />

und Unabänderlichkeit des göttlichen<br />

Gesetzes (Scharia) aushöhlt, sche<strong>in</strong>en<br />

<strong>die</strong> Gelehrten <strong>in</strong> Zeiten revolutionärer<br />

Umwälzun<strong>ge</strong>n mehr denn je zu brauchen.<br />

Für <strong>die</strong> Revolutionen und ihre<br />

Befürworter <strong>ist</strong> <strong>die</strong>s e<strong>in</strong> Se<strong>ge</strong>n, für <strong>die</strong><br />

ultrakonservativen Kräfte <strong>in</strong> der sunnitischen<br />

Welt e<strong>in</strong> Bruch mit dem Gesetz<br />

Gottes, den sie nur widerwillig h<strong>in</strong>nehmen<br />

werden, weil er den Stempel der<br />

al-Azhar-Gelehrten trägt und <strong>die</strong> faktischen<br />

Umstände berücksichtigt. Für<br />

den westlichen Außenbetrachter e<strong>in</strong><br />

verwirrendes Schauspiel, <strong>in</strong>sbesondere<br />

e<strong>in</strong><strong>ge</strong>denk der Tatsache, dass das auf<strong>ge</strong>hobene<br />

Dogma der absoluten Loyalität<br />

<strong>ge</strong><strong>ge</strong>nüber dem faktischen Machthaber<br />

im sunnitischen Saudi-Arabien<br />

weiterh<strong>in</strong> als <strong>in</strong>tegraler Bes tandteil orthodoxer<br />

Staatslehre se<strong>in</strong>e unbestreitbare<br />

Manifestation f<strong>in</strong>det. ❏<br />

6 Ambiguitätstoleranz (v. lat. ambiguitas<br />

„Zweideutigkeit“, „Doppels<strong>in</strong>n“),<br />

<strong>ist</strong> <strong>die</strong> Fähigkeit, Ambiguitäten, also<br />

Widersprüchlichkeiten, kulturell bed<strong>in</strong>gte<br />

Unterschiede oder mehrdeuti<strong>ge</strong><br />

Informationen, <strong>die</strong> schwer verständlich<br />

oder sogar <strong>in</strong>akzeptabel ersche<strong>in</strong>en,<br />

wahrzunehmen und nicht negativ<br />

oder – häufi g bei kulturell bed<strong>in</strong>gten<br />

Unterschieden – vorbehaltlos positiv zu<br />

bewerten. Ambiguitätstoleranz <strong>ist</strong> auch<br />

e<strong>in</strong>e Voraussetzung für <strong>die</strong> <strong>in</strong>terkulturelle<br />

Kompetenz e<strong>in</strong>es Menschen<br />

24 AUFTRAG 285 • APRIL 2012

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