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die „Bildungslandschaft“ in Deutschland ist ge - Gemeinschaft ...

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hoheit über religiöse Quellen haben.<br />

Wahrlich durchsetzen konnten sie<br />

sich mit <strong>die</strong>sem Anspruch jedoch nie.<br />

De jure mag <strong>die</strong>ses Postulat der<br />

ulama se<strong>in</strong>e Berechtigung haben, de<br />

facto hat der Primat des Politischen<br />

<strong>die</strong> islamische Geschichte dom<strong>in</strong>iert.<br />

Die Herrscher wussten e<strong>in</strong>i<strong>ge</strong> e<strong>in</strong>flussreiche<br />

Theolo<strong>ge</strong>n mit hohen Ämtern<br />

und großen f<strong>in</strong>anziellen Zuwendun<strong>ge</strong>n<br />

an ihren Höfen zu b<strong>in</strong>den und<br />

so für ihre Zwecke zu <strong>in</strong>strumentalisieren.<br />

Das wohl berühmteste islamische<br />

Gebot, das unmittelbar aus <strong>die</strong>sem<br />

Zweckbündnis zwischen Politik<br />

und Religion hervor<strong>ge</strong>gan<strong>ge</strong>n <strong>ist</strong>, bezieht<br />

sich auf das Widerstandsrecht<br />

<strong>ge</strong><strong>ge</strong>nüber dem Herrscher im islamischen<br />

Staat. Unter Berufung auf e<strong>in</strong><br />

hadith, das besagt, dass <strong>die</strong> Erduldung<br />

e<strong>in</strong>er mehrjähri<strong>ge</strong>n Zwangsherrschaft<br />

besser sei als e<strong>in</strong> Tag Chaos bzw. Anarchie,<br />

begründeten sunnitisch-orthodoxe<br />

Gelehrte e<strong>in</strong>e Treue- und Friedenspflicht<br />

der Untertanen <strong>ge</strong><strong>ge</strong>nüber<br />

der Obrigkeit, <strong>die</strong> bis zum Beg<strong>in</strong>n der<br />

Revolten im arabischen Raum am<br />

17. Dezember 2010 une<strong>in</strong><strong>ge</strong>schränkte<br />

Gültigkeit besaß. Die herrschaftstreuen<br />

Gelehrten verwiesen darüber<br />

h<strong>in</strong>aus auf den Koran, der <strong>in</strong> Sure 4,<br />

Vers 59 – ihrer Interpretation fol<strong>ge</strong>nd<br />

– den Gläubi<strong>ge</strong>n dazu auffordert, Allah,<br />

dem Propheten und den Gebietenden<br />

(Herrschern) zu <strong>ge</strong>horchen.<br />

Mit der Phobie vor der so<strong>ge</strong>nannten<br />

fitna, dem Zerfall des <strong>in</strong>neren<br />

Friedens <strong>in</strong>nerhalb der umma, etablierten<br />

<strong>die</strong> ulama e<strong>in</strong>en politischen<br />

Quietismus3 , der bis heute <strong>die</strong> Staatslehre<br />

<strong>in</strong> mehrheitlich sunnitisch-orthodox<br />

<strong>ge</strong>prägte Ländern bestimmen<br />

sollte.<br />

Die Umbrüche <strong>in</strong> der arabischen<br />

Welt, der so<strong>ge</strong>nannte arabische Frühl<strong>in</strong>g,<br />

haben e<strong>in</strong>e <strong>ge</strong>sellschaftspolitische<br />

Realität hervor<strong>ge</strong>bracht, <strong>die</strong> nun<br />

<strong>ge</strong>nau <strong>die</strong>sem Dogma widerspricht.<br />

Die renommierte sunnitische Autoritäts<strong>in</strong>stitution<br />

– der Rat der al-Azhar-<br />

Religions<strong>ge</strong>lehrten (Kairo) – sah sich<br />

an<strong>ge</strong>sichts <strong>die</strong>ser grundle<strong>ge</strong>nden La<strong>ge</strong>änderung<br />

<strong>ge</strong>zwun<strong>ge</strong>n, das über e<strong>in</strong><br />

Jahrtausend alte Dogma zu revi<strong>die</strong>-<br />

3 Politischer Quietismus oder quiet<strong>ist</strong>ischer<br />

Islam (von lat. quietus, „ruhig“,<br />

„schweigsam“) beschreibt jene<br />

Strömung des islamischen Klerus,<br />

<strong>in</strong>sbesondere der Schia, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e aktive<br />

Beteiligung der Ge<strong>ist</strong>lichkeit <strong>in</strong> der<br />

Politik ablehnt<br />

AUFTRAG 285 • APRIL 2012<br />

ren. An <strong>die</strong>sem Beispiel soll im Fol<strong>ge</strong>nden<br />

<strong>die</strong> Macht des Faktischen und<br />

damit e<strong>in</strong>her<strong>ge</strong>hend <strong>die</strong> en<strong>ge</strong> Interaktion<br />

zwischen <strong>ge</strong>sellschaftspolitischer<br />

Realität und der Setzung religiöser<br />

Dogmen durch <strong>die</strong> ulama, kritisch<br />

beleuchtet werden.<br />

Vor e<strong>in</strong>i<strong>ge</strong>n Wochen trat der Sprecher<br />

des al-Azhar-Gelehrtenrates Ahmed<br />

al-Tayyeb vor <strong>die</strong> Presse und verkündete<br />

<strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es Rechtsgutachtens<br />

(fatwa), dass das Widerstandsrecht<br />

der Bevölkerung <strong>ge</strong><strong>ge</strong>n den un<strong>ge</strong>rechten<br />

Herrscher islamisch legitimiert<br />

sei. Er begründete das Rechtsgutachten<br />

des al-Azhar-Rates u. a. mit<br />

dem Verweis auf Sure 4, Vers 59. In<br />

<strong>die</strong>sem heißt es wörtlich: „O ihr, <strong>die</strong><br />

ihr glaubt, <strong>ge</strong>horcht Gott und <strong>ge</strong>horcht<br />

dem Gesandten und denen unter euch,<br />

<strong>die</strong> <strong>ge</strong>bieten.“ Erstaunlicherweise bezo<strong>ge</strong>n<br />

sich <strong>die</strong> Gelehrten auf denselben<br />

Vers (s. o.), den <strong>die</strong> herrschende<br />

orthodoxe Lehrme<strong>in</strong>ung anführte, um<br />

<strong>die</strong> Illegitimität und eben nicht <strong>die</strong><br />

Legitimität des Widerstands <strong>ge</strong><strong>ge</strong>n<br />

den Herrscher zu begründen. Wie<br />

kann also <strong>die</strong>selbe zitierte Quelle zwei<br />

diametral ent<strong>ge</strong><strong>ge</strong>n<strong>ge</strong>setzte Rechtsgutachten<br />

beglaubi<strong>ge</strong>n? Die Antwort<br />

<strong>ist</strong> e<strong>in</strong>fach: es <strong>ist</strong> das Erfordernis der<br />

<strong>ge</strong>sellschaftspolitischen Realität, ummantelt<br />

durch den Begriff der kontextbezo<strong>ge</strong>nen<br />

Exe<strong>ge</strong>se.<br />

Die al-Azhar-Gelehrten mussten<br />

nicht sehr viel Kreativität aufbr<strong>in</strong><strong>ge</strong>n,<br />

um <strong>die</strong> bisher <strong>ge</strong>ltende Interpretation<br />

des o.g. Verses <strong>in</strong> ihr Ge<strong>ge</strong>nteil<br />

zu verkehren. Bettet man den Vers<br />

<strong>in</strong> den Gesamtkontext h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, so <strong>die</strong><br />

Argumentation der Gelehrten, kommt<br />

man zu dem Schluss, dass der voran<strong>ge</strong>hende<br />

Vers (Sure 4, Vers 58) ausdrücklich<br />

auf <strong>die</strong> Treuhänderschaft<br />

und auf das <strong>ge</strong>rechte Urteilen bzw.<br />

Handeln des Muslims h<strong>in</strong>we<strong>ist</strong>. Der<br />

im darauffol<strong>ge</strong>nden Vers <strong>ge</strong>forderte<br />

Gehorsam <strong>ge</strong><strong>ge</strong>nüber den Gebietenden<br />

<strong>ist</strong> ihnen folglich nur dann ent<strong>ge</strong><strong>ge</strong>nzubr<strong>in</strong><strong>ge</strong>n,<br />

wenn <strong>die</strong>se <strong>ge</strong>recht<br />

handelten und das ihnen Anvertraute<br />

verantwortungsvoll behandelten. Den<br />

Gehorsam sahen <strong>die</strong> Gelehrten somit<br />

nur an e<strong>in</strong>e Bed<strong>in</strong>gung <strong>ge</strong>bunden, <strong>die</strong><br />

im Jur<strong>ist</strong>enjargon als conditio s<strong>in</strong>e qua<br />

non 4 bezeichnet werden kann.<br />

4 wörtlich: „Bed<strong>in</strong>gung, ohne <strong>die</strong> nicht“;<br />

e<strong>in</strong>e Methode <strong>in</strong> der Rechtswissenschaft<br />

und Rechtspraxis sowie der Philosophie,<br />

mit der fest<strong>ge</strong>stellt wird, ob e<strong>in</strong> Vorgang<br />

GESELLSCHAFT NAH UND FERN<br />

Mit <strong>die</strong>ser fatwa leiteten <strong>die</strong> al-<br />

Azhar-Gelehrten e<strong>in</strong>e neue Ära islamisch-politischer<br />

Rechtsprechung<br />

e<strong>in</strong>. Weitere werden sicherlich fol<strong>ge</strong>n<br />

und sollten nicht unberücksichtigt<br />

bleiben, weil sie als wichti<strong>ge</strong> Indikatoren<br />

für nachhalti<strong>ge</strong>, <strong>ge</strong>sellschaftspolitische<br />

Entwicklun<strong>ge</strong>n <strong>die</strong>nen. Die<br />

öffentlichen Diskussionen hierzulande<br />

über <strong>die</strong> Bedeutung der Religion<br />

im Kontext der arabischen Revolten<br />

thematisieren im Schwerpunkt <strong>die</strong><br />

Rolle islamischer bzw. islam<strong>ist</strong>ischer<br />

Parteien <strong>in</strong> Staat und Gesellschaft,<br />

<strong>in</strong>sbesondere nach den bemerkenswerten<br />

Wahlerfol<strong>ge</strong>n <strong>in</strong> Tunesien und<br />

Ägypten. Nahezu aus<strong>ge</strong>blendet wird<br />

der Faktor Religion als Autorisierungs-<br />

und Legitimierungs<strong>in</strong>stanz für<br />

<strong>ge</strong>sellschaftlich und politisch tragfähi<strong>ge</strong><br />

Diskurser<strong>ge</strong>bnisse, für irreversible<br />

Faktizitäten, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>stitutionellen<br />

und autoritären Rechtfertigung<br />

bedürfen.<br />

Die Legitimierung des „Volksaufstandes“<br />

<strong>ge</strong><strong>ge</strong>n den un<strong>ge</strong>rechten Herrscher:<br />

e<strong>in</strong> Erklärungsversuch<br />

Vor dem H<strong>in</strong>tergrund der bisheri<strong>ge</strong>n<br />

Ausführun<strong>ge</strong>n zum Widerstandsrecht<br />

der Muslime <strong>ge</strong><strong>ge</strong>nüber<br />

dem politischen Machthaber haben<br />

<strong>die</strong> Protestierenden mit ihrem Gang<br />

auf <strong>die</strong> Straße – bewusst oder unbewusst<br />

– e<strong>in</strong> religiöses Tabu <strong>ge</strong>brochen.<br />

Ihren Protest- und Reformwillen stellten<br />

sie über das seit Jahrhunderten<br />

<strong>ge</strong>ltende islamische Recht. Freiheit,<br />

soziale Gerechtigkeit und e<strong>in</strong> menschenwürdi<strong>ge</strong>s<br />

Leben bilden <strong>die</strong> Forderun<strong>ge</strong>n<br />

der Stunde. Dogmatismus,<br />

Autoritätshörigkeit und unbed<strong>in</strong>gter<br />

Gehorsam h<strong>in</strong><strong>ge</strong><strong>ge</strong>n s<strong>in</strong>d Begriffe, <strong>die</strong><br />

<strong>in</strong> Zeiten der Revolten aus dem Wörterbuch<br />

der jun<strong>ge</strong>n Generation <strong>ge</strong>tilgt<br />

worden s<strong>in</strong>d. Indem sie vollendete<br />

Tatsachen <strong>ge</strong>schaffen haben, zwan<strong>ge</strong>n<br />

<strong>die</strong> jun<strong>ge</strong>n Menschen <strong>die</strong> Gelehrten zu<br />

e<strong>in</strong>er Reaktion, nämlich zu e<strong>in</strong>er Widerlegung<br />

bisher <strong>ge</strong>ltenden Rechts.<br />

Im Pr<strong>in</strong>zip blieb den al-Azhar-<br />

Gelehrten gar nichts anderes übrig,<br />

als den Akt des Protests und des Widerstandes<br />

<strong>ge</strong><strong>ge</strong>n den Herrscher a<br />

posteriori5 zu legitimieren. E<strong>in</strong>e anderslautende<br />

Reaktion hätte ihre Au-<br />

oder e<strong>in</strong>e Handlung ursächlich für e<strong>in</strong>e<br />

bestimmte Tatsache <strong>ist</strong><br />

5 Urteile a posteriori werden auf der Basis<br />

der Erfahrung <strong>ge</strong>fällt<br />

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