Geschlechterbeziehungen und Frauenbild in Martin Gusindes ...

Geschlechterbeziehungen und Frauenbild in Martin Gusindes ... Geschlechterbeziehungen und Frauenbild in Martin Gusindes ...

lateinamerika.studien.at
von lateinamerika.studien.at Mehr von diesem Publisher
16.01.2013 Aufrufe

gelangt Gusinde zu dem Schluss: „Einen Frauenraub im strengen Sinne übten die Selk’nam nicht.“ 83 Die Lebensweise scheint also – an westlichkatholischen Moralvorstellungen gemessen – akzeptabel gewesen zu sein. Frau und Mann haben ihre jeweilige Rolle in der Gemeinschaft wahrzunehmen. Die Trennung ist strikt und althergebracht: „Der Zusammenschluss zweier Menschen in der Ehe ist eine wirkliche Arbeitgemeinschaft, insofern einem jeden der beiden Geschlechter von uraltem Brauch ein bestimmter, deutlich umschriebener Aufgabenkreis zugewiesen wird.“ 84 „Des Mannes Welt ist das schweifende Jägerleben mit all seinen Reizen für Sinn und Gemüt.“ 85 Die Aufgaben der Frau lassen sich mit den Worten Hütte und Kind zusammenfassen. 86 Mutterschaft ist im Sinne Gusindes von der weiblichen Lebenswelt nicht loszukoppeln. Muttersein ist Lebenssinn einer jeden Frau. Solch eine Feststellung bringt Vertreter des Feminismus auf sämtliche Palmen und Barrikaden. Die Vorstellung einer treu sorgenden, liebevollen Mutter sei nicht in allen Kulturen gleichermaßen vorhanden, wird argumentiert. „Die Assoziationen, die den Begriff ‚Frau’ mit dem Begriff ‚Mutter’ verbinden, bedürfen [. . .] der genauen Untersuchung. Das gilt ganz besonders für diejenigen Autor/inn/en, die die universale Unterordnung der Frau mit ihrer scheinbar ebenso universalen Rolle als Mutter und Erzieherin der Kinder in Beziehung setzen wollen. In der westlichen Gesellschaft gibt es zwischen den Kategorien ‚Frau’ und ‚Mutter’ eindeutige Überschneidung.“ 87 Vor einer Verallgemeinerung wird gewarnt: „Selbstverständlich definieren andere Kulturen ‚Frau’ nicht auf dieselbe Art, und ebenso wenig stellen sie zwangsläufig eine enge Beziehung zwischen ‚Frau’ und Heim oder häuslicher Sphäre her, wie das in der westlichen Kultur geschieht.“ 88 Henrietta Moore zieht den Universalitätsanspruch der Verbindung Frausein-Mutterrolle in Zweifel und behauptet: „Die Assoziation zwischen ‚Frau’ und ‚Mutter’ ist also keineswegs so ‚natürlich’, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.“ 89 Dieses Argument ist wichtig und nicht von der Hand zu weisen. Ein Ethnograph darf nicht alles Gesehene durch einen im Kopf schon vorhandenen Raster laufen lassen, um so Unbekanntes mit Bekanntem zu verknüpfen. Gerade ein Ethnologe muss akzeptieren, dass fremde Kulturen 83 Ebd. S. 345. 84 Ebd. S. 348. 85 Ebd. S. 349. 86 Ebd. S. 351. 87 Henrietta L. Moore: Mensch und Frau sein. Perspektiven einer feministischen Anthropologie. – Gütersloher Verlagshaus G. Mohn: Gütersloh 1990. S. 57. 88 Ebd. S. 58. 89 Ebd. S. 58. 26

nach einem völlig konträren Muster „funktionieren“ können, er muss einsehen, dass es Geschehen geben mag, die er auch mithilfe seines bisherigen Erfahrungsschatzes nicht begreifen kann. Vermutlich hat sich Pater Martin Gusinde während seiner Feldforschung nicht ganz von seinem westlich geprägten Weltbild trennen können. Manche Passagen seiner Aufzeichnungen erwecken den Eindruck, Gusinde habe ein besseres Europa bei den Feuerlandindianern wiederfinden wollen, eine Gesellschaft, in der die abendländischen Werte in vielen Bereichen der Gesellschaft gelebt werden. Ein Vergleich mit aktuelleren Studien ist – wie schon gesagt – nicht mehr möglich. Wenn Martin Gusinde nun tatsächlich nicht völlig ohne westlich-katholisches Weltverständnis bei den Indigenen gearbeitet haben sollte, so kann ihm das nicht schwer angelastet werden. Dass Gusinde seine ethnographischen Reisen von 1918 bis 1924 unternahm, ist ihm ganz bestimmt zugute zu halten. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kristallisierte sich allmählich eine feministische Herangehensweise in der Forschung heraus. „Anfang der 70er Jahre begann die erste Welle der feministischen Kritik innerhalb der Anthropologie, bekannt als anthropology of women, die sich mit der Frage der Repräsentation von Frauen in der anthropologischen Literatur beschäftigte. Frauen spielten immer schon eine gewisse Rolle in anthropologischen Standardkapiteln, die sich mit Verwandtschaftsbeziehungen, Heiratsformen und geschlechtlicher Arbeitsteilung befassten. Diese Beschreibungen unterlagen einem einseitig männlich geprägten, ethnozentrischen Forscherblick (male bias) und zeigten eine eingeschränkte und voreingenommene Darstellung des Lebens von Frauen.“ 90 Männer wollten im Feld nur das sehen, was ihnen genehm war, sie filterten „[. . .] selektiv diejenigen Bilder heraus, die der eigenen Vorstellung entsprachen, einen Wiedererkennungswert besaßen und nicht bedrohlich wirkten.“ 91 Ein solches Gefühl kann einem beim Lesen der Gusinde’schen Schriften ebenfalls manchmal beschleichen. Eine Kritik kann ihm aber nicht vorbehaltlos gelten: „Die Wissenschafter waren nicht in der Lage, sich ein Gesellschaftsmodell vorzustellen, in dem die Aktivität von Männern und Frauen als gleichwertig angesehen wurden. [. . .] Frauen als handelnde Subjekte wurden in den von Männern verfassten Ethnographien 90 Angelika Teltscher: Männerwelt und Frauentext. Wissenschaftshistorische Überlegungen zur Ethnographie aus feministischer Perspektive. – Diplomarbeit: Wien 2000. S. 55. 91 Ebd. S. 55-56. 27

nach e<strong>in</strong>em völlig konträren Muster „funktionieren“ können, er muss<br />

e<strong>in</strong>sehen, dass es Geschehen geben mag, die er auch mithilfe se<strong>in</strong>es<br />

bisherigen Erfahrungsschatzes nicht begreifen kann.<br />

Vermutlich hat sich Pater Mart<strong>in</strong> Gus<strong>in</strong>de während se<strong>in</strong>er Feldforschung<br />

nicht ganz von se<strong>in</strong>em westlich geprägten Weltbild trennen können. Manche<br />

Passagen se<strong>in</strong>er Aufzeichnungen erwecken den E<strong>in</strong>druck, Gus<strong>in</strong>de habe e<strong>in</strong><br />

besseres Europa bei den Feuerland<strong>in</strong>dianern wiederf<strong>in</strong>den wollen, e<strong>in</strong>e<br />

Gesellschaft, <strong>in</strong> der die abendländischen Werte <strong>in</strong> vielen Bereichen der<br />

Gesellschaft gelebt werden. E<strong>in</strong> Vergleich mit aktuelleren Studien ist – wie<br />

schon gesagt – nicht mehr möglich.<br />

Wenn Mart<strong>in</strong> Gus<strong>in</strong>de nun tatsächlich nicht völlig ohne westlich-katholisches<br />

Weltverständnis bei den Indigenen gearbeitet haben sollte, so kann ihm das<br />

nicht schwer angelastet werden. Dass Gus<strong>in</strong>de se<strong>in</strong>e ethnographischen Reisen<br />

von 1918 bis 1924 unternahm, ist ihm ganz bestimmt zugute zu halten. Erst<br />

<strong>in</strong> der zweiten Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts kristallisierte sich allmählich e<strong>in</strong>e<br />

fem<strong>in</strong>istische Herangehensweise <strong>in</strong> der Forschung heraus.<br />

„Anfang der 70er Jahre begann die erste Welle der fem<strong>in</strong>istischen Kritik<br />

<strong>in</strong>nerhalb der Anthropologie, bekannt als anthropology of women, die sich<br />

mit der Frage der Repräsentation von Frauen <strong>in</strong> der anthropologischen<br />

Literatur beschäftigte. Frauen spielten immer schon e<strong>in</strong>e gewisse Rolle <strong>in</strong><br />

anthropologischen Standardkapiteln, die sich mit<br />

Verwandtschaftsbeziehungen, Heiratsformen <strong>und</strong> geschlechtlicher<br />

Arbeitsteilung befassten. Diese Beschreibungen unterlagen e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>seitig<br />

männlich geprägten, ethnozentrischen Forscherblick (male bias) <strong>und</strong> zeigten<br />

e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>geschränkte <strong>und</strong> vore<strong>in</strong>genommene Darstellung des Lebens von<br />

Frauen.“ 90 Männer wollten im Feld nur das sehen, was ihnen genehm war, sie<br />

filterten „[. . .] selektiv diejenigen Bilder heraus, die der eigenen<br />

Vorstellung entsprachen, e<strong>in</strong>en Wiedererkennungswert besaßen <strong>und</strong> nicht<br />

bedrohlich wirkten.“ 91 E<strong>in</strong> solches Gefühl kann e<strong>in</strong>em beim Lesen der<br />

Gus<strong>in</strong>de’schen Schriften ebenfalls manchmal beschleichen. E<strong>in</strong>e Kritik kann<br />

ihm aber nicht vorbehaltlos gelten: „Die Wissenschafter waren nicht <strong>in</strong> der<br />

Lage, sich e<strong>in</strong> Gesellschaftsmodell vorzustellen, <strong>in</strong> dem die Aktivität von<br />

Männern <strong>und</strong> Frauen als gleichwertig angesehen wurden. [. . .] Frauen als<br />

handelnde Subjekte wurden <strong>in</strong> den von Männern verfassten Ethnographien<br />

90 Angelika Teltscher: Männerwelt <strong>und</strong> Frauentext. Wissenschaftshistorische Überlegungen zur<br />

Ethnographie aus fem<strong>in</strong>istischer Perspektive. – Diplomarbeit: Wien 2000. S. 55.<br />

91 Ebd. S. 55-56.<br />

27

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!