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Luis González Palma - Zeit Kunstverlag

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Ausgabe 73<br />

Heft 4<br />

1. Quartal 2006<br />

B 26079<br />

Eine Edition der<br />

<strong>Zeit</strong>verlag Beteiligungs<br />

GmbH & Co. KG<br />

Künstler<br />

Kritisches Lexikon der<br />

Gegenwartskunst<br />

<strong>Luis</strong><br />

<strong>González</strong> <strong>Palma</strong>


Künstler<br />

Kritisches Lexikon der<br />

Gegenwartskunst<br />

erscheint viermal jährlich mit insgesamt<br />

28 Künstlermonografien auf über 500<br />

Text- und Bild-Seiten und kostet im<br />

Jahresabonnement einschl. Sammelordner<br />

und Schuber € 148,–,<br />

im Ausland € 158,–, frei Haus.<br />

www.weltkunst.de<br />

Postanschrift für Verlag und Redaktion<br />

<strong>Zeit</strong>verlag Beteiligungs GmbH & Co. KG<br />

Nymphenburger Straße 84<br />

D-80636 München<br />

Telefon 0 89/12 69 90-0<br />

Telefax 0 89/12 69 90-11<br />

Bankkonto: Commerzbank Stuttgart<br />

Konto-Nr. 525 55 34, BLZ 600 400 71<br />

›Künstler‹ erscheint in der<br />

<strong>Zeit</strong>verlag Beteiligungs GmbH & Co. KG<br />

Geschäftsführer<br />

Florian Wagner, Thomas Brackvogel,<br />

Dr. Rainer Esser<br />

Herausgeber<br />

Dr. Detlef Bluemler/Prof. Lothar Romain †<br />

Redaktion<br />

Dr. Detlef Bluemler (v. i. S. d. P.)<br />

Dokumentation<br />

Andreas Gröner<br />

Ständiger Redaktionsbeirat<br />

Dr. Eduard Beaucamp, Frankfurt/Main<br />

Dr. Christoph Brockhaus, Duisburg<br />

Prof. Dr. Johannes Cladders, Krefeld<br />

Prof. Rolf-Gunter Dienst, Baden-Baden<br />

Prof. Dr. Helmut Friedel, München<br />

Rainer Haarmann, Neuwittenbek/Kiel<br />

Prof. Dr. Wulf Herzogenrath, Bremen<br />

Prof. Klaus Honnef, Bonn<br />

Prof. Dr. Max Imdahl †<br />

Prof. Dr. Georg Jappe, Köln/Hamburg<br />

Prof. Dr. Jens Chr. Jensen, Hamburg<br />

Dr. Petra Kipphoff, Hamburg<br />

Dr. Ralph Köhnen, Bochum<br />

Prof. Kasper König, Köln<br />

Dr. Jochen Poetter, Köln<br />

Prof. Karl Ruhrberg, Oberstdorf<br />

Prof. Dr. Wieland Schmied, A-Vorchdorf<br />

Prof. Dr. Manfred Schneckenburger, Köln<br />

Prof. Dr. Uwe M. Schneede, Hamburg<br />

Dr. Pamela C. Scorzin, I-Mailand<br />

Dr. Dierk Stemmler, Mönchengladbach<br />

Prof. Dr. Karin Stempel, Kassel<br />

Prof. Dr. Eduard Trier, Bonn<br />

Dr. Rolf Wedewer, Leverkusen<br />

Dr. Christoph Zuschlag, Heidelberg/Berlin<br />

Prof. Dr. Armin Zweite, Düsseldorf<br />

Grafik<br />

Michael Müller<br />

Abonnement und Leserservice<br />

<strong>Zeit</strong>verlag Beteiligungs GmbH & Co. KG<br />

Nymphenburger Straße 84<br />

Postfach 19 09 18<br />

D-80609 München<br />

Telefon 0 89/12 69 90-0<br />

›Künstler‹ ist auch<br />

über den Buchhandel erhältlich<br />

Prepress<br />

Franzis print & media GmbH, München<br />

Druck<br />

Aumüller Druck KG, Regensburg<br />

Die Publikation und alle in ihr<br />

enthaltenen Beiträge und Abbildungen<br />

sind urheberrechtlich geschützt. Jede<br />

Verwertung, die nicht ausdrücklich vom<br />

Urheberrechtsgesetz zugelassen ist,<br />

bedarf der vorherigen Zustimmung des<br />

Verlages. Dies gilt insbesondere für<br />

Vervielfältigungen, Bearbeitungen,<br />

Übersetzungen, Mikroverfilmungen und<br />

die Einspeicherung und Verarbeitung<br />

in elektronischen Systemen.<br />

© <strong>Zeit</strong>verlag Beteiligungs GmbH & Co. KG,<br />

München 2006<br />

Cover<br />

La luz de la mente, 2005<br />

Kodalith, Blattgold, Silber, Harz, Lichtbox<br />

Eine von neun Abbildungen<br />

100 x 100 cm<br />

Im Besitz des Künstlers<br />

ISSN 0934-1730<br />

Mexiko, Mai 1995<br />

Ich erfinde nichts, sondern ich reproduziere,<br />

was ich sehe, das, was mich berührt,<br />

mich traurig gemacht, mich aufgewühlt hat.<br />

L. G. P.<br />

Aus: M. C. Orive, <strong>Luis</strong> <strong>González</strong> <strong>Palma</strong>, Ausstellungskatalog, La Azotea, 1993,<br />

S. 4<br />

Foto: Lourdes Almeida


Hedda Dunker<br />

über <strong>Luis</strong> <strong>González</strong> <strong>Palma</strong><br />

Schmerzlich schön und von beunruhigender Intensität – man<br />

kommt nicht umhin, die Bilder von <strong>Luis</strong> <strong>González</strong> <strong>Palma</strong> mit bedeutungsvollen<br />

Worten zu beschreiben. Angesiedelt im Grenzbereich<br />

von Fotografie und Bildender Kunst changieren seine<br />

Arbeiten zwischen objektiver Dokumentation und metaphysischer<br />

Neuerfindung des Realen. »Diese Bilder oszillieren zwischen<br />

verschiedenen Sphären, die sie betreten und wieder verlassen.<br />

[…] Sie kreuzen und vermischen ihre Zeichen zu<br />

hybriden Sprachen und apokryphen Figuren, die ganz natürlich<br />

auf den ein oder anderen Sinn verweisen.«1 Die ersten Aufnahmen<br />

des 1957 in Guatemala geborenen <strong>González</strong> <strong>Palma</strong>, der<br />

sich selbst als einen »postmodernen Romantiker«2 bezeichnet<br />

und den Dichter Lewis Carroll oder die Fotografin Julia Margaret<br />

Cameron zu seinen Vorbildern zählt, entstanden Mitte der<br />

1980er Jahre. Eher zufällig begann der studierte Architekt seine<br />

Karriere als Fotokünstler mit einer geliehenen Kamera. Seine<br />

ersten Bilder entstanden während der Proben von Tanzensembles3,<br />

die sich auf Tournee durch Guatemala befanden: »Indem<br />

ich die Bewegungen des Tanzes fotografierte, eröffnete sich mir<br />

die Möglichkeit, die Entstehung von fiktiven Atmosphären und<br />

Umgebungen auszuprobieren, menschliche Spannungen und<br />

Emotionen auszuloten und einen ausgeprägten Sinn für Raum<br />

und <strong>Zeit</strong> zu entwickeln.«4 Basierend auf diesen ersten Erfahrungen<br />

mit dem Medium Fotografie entwickelte <strong>Luis</strong> <strong>González</strong> <strong>Palma</strong><br />

in den letzten 20 Jahren ein künstlerisches Werk, das durch<br />

eine transzendente und emotional aufgeladene Bildsprache sowie<br />

die Thematisierung von Einsamkeit und Schmerz als zeitlosen,<br />

universalen Kontexten menschlicher Erfahrung gekennzeichnet<br />

ist.<br />

Die imaginäre Galerie<br />

Aufgewachsen in einem Land, in dem bürgerkriegsähnliche Zustände<br />

und Gewalt gegen die Zivilbevölkerung zur Tagesordnung<br />

gehörten5, thematisiert <strong>Luis</strong> <strong>González</strong> <strong>Palma</strong> in seiner<br />

Kunst die tiefgreifenden Auseinandersetzungen um Vergangenheit<br />

und Gegenwart eines durch historische Entwicklungen zerrissenen<br />

und – wie er selbst sagt – »rassistischen Landes«.6<br />

1989 gründete er mit befreundeten Künstlern die Galería Imaginaria,<br />

eine ›imaginäre Galerie‹ in Antigua Guatemala, der einstigen<br />

Hauptstadt und heute eine der größten Touristenattraktionen<br />

des Landes, unweit von Guatemala-Stadt. Die Gruppe<br />

schuf mit dieser Institution eines der wichtigsten guatemaltekischen<br />

Kunstzentren der damaligen <strong>Zeit</strong>. Weder Ausstellungen<br />

noch der Verkauf von Kunstwerken waren das erklärte Ziel, vielmehr<br />

diente die Galería Imaginaria als unabhängiges, künstlerisches<br />

Experimentierfeld. Hier eröffnete sich den Intellektuellen<br />

ein Raum für Diskussionen über politische und kulturhistorische<br />

Fragen im Zusammenhang mit der eigenen, ȟber Jahrhunderte<br />

von kulturellem Kolonialismus geprägten Identität«.7<br />

Fotografien der Seele<br />

Symbole<br />

In diesem Kontext entstanden auch die frühen künstlerischen<br />

Arbeiten von <strong>González</strong> <strong>Palma</strong>. Seine Porträts und Stilleben beziehen<br />

sich auf die religiösen, politischen und gesellschaftlichen<br />

Diskurse des mittelamerikanischen Kulturraumes. Doch »seine<br />

Landschaft ist nicht die von Guatemala, sondern die der Seele«,<br />

schreibt John Wood. »Die Figuren, die <strong>González</strong> <strong>Palma</strong>s mythische<br />

Welt bewohnen – Engel, Teufel, hybride Kreaturen und rätselhafte<br />

Charaktere – transzendieren <strong>Zeit</strong> und Ort, indem sie auf<br />

Mystizismus, auf Schönheit und Schmerz verweisen und<br />

menschliche Befindlichkeiten als ihren ultimativen Gegenstand<br />

ansehen.«8<br />

<strong>González</strong> <strong>Palma</strong> dokumentiert nicht, er inszeniert. 1989 stellte<br />

er aus neun Fotografien die Arbeiten ›Lotería I‹ (Abb. 1) und ›Lotería<br />

II‹ zusammen, deren Titel auf das von den spanischen Kolonialisten<br />

eingeführte Lotterie-Spiel verweist, das dazu benutzt<br />

wurde, den Indios die spanische Sprache beizubringen. ›Lotería<br />

I‹ besteht aus verschiedenen Porträtdarstellungen von Frauen<br />

und Männern, die, in Kombination mit naturalistischen oder religiösen<br />

Attributen wie Rosen oder Flügeln, zu Metaphern der<br />

verschiedenen Bestimmungen menschlichen Lebens werden:<br />

»Der König, symbolische Krönung der Außenseiter; der Tod, die<br />

Bedingung des Lebens, der Mond, Symbol für das Bild der<br />

Frau.«9<br />

<strong>González</strong> <strong>Palma</strong>s früheste Werkserien wie die Collage ›Autoconfesión‹<br />

wurden bereits 1989 in der ersten Einzelschau des<br />

Künstlers im Museum of Contemporary Hispanic Art (MOCHA)<br />

in New York präsentiert. Diese Arbeiten bestanden aus maximal<br />

20 Zentimeter großen, gerahmten Fotocollagen, jedoch sollten<br />

mit Beginn der 1990er Jahre großformatigere, sepiafarbene Abzüge<br />

zum ›Markenzeichen‹ des Guatemalteken werden. Eine<br />

1990 von der argentinischen Fotografin Sara Facio initiierte Einzelschau<br />

in Buenos Aires zeigte unter anderen Bilder wie ›La rosa‹,<br />

›La luna‹ oder ›El pájaro‹10 aus den Lotería-Serien als lebensgroße<br />

Porträts. <strong>González</strong> <strong>Palma</strong> arrangiert die Modelle<br />

dieser Porträtfotografien als personifizierte Archetypen, die aus<br />

Mythen, volkstümlichen Kulturen oder seiner eigenen poetischen<br />

Imagination zu stammen scheinen. Dabei ist es keineswegs<br />

sein erklärtes Ziel, »traurige indigene Menschen zu fotografieren«.<br />

Vielmehr intendiert er, mit seiner Kunst Fragen<br />

aufzuwerfen, die die fundamentalen Elemente der guatemaltekischen<br />

Kultur in breit angelegte universale Themen überführen,<br />

die dann wiederum in seinen Bildern als offene Fragestellungen<br />

formuliert werden.11<br />

Porträts in Sepia<br />

Von Beginn an manipulierte der Künstler seine Fotografien, um<br />

ihnen den untrüglichen nostalgischen Effekt zu verleihen. Dies<br />

gelang ihm teilweise durch die Belichtung von weißen oder spä-<br />

3


1<br />

2<br />

4<br />

1 Lotería I, 1989<br />

handbearbeiteter Silbergelatineabzug<br />

150 x 150 cm<br />

2 Retrato de niño, 1990<br />

handbearbeiteter Silbergelatineabzug<br />

55 x 100 cm<br />

3 Letanías con ángel, 1994<br />

handbearbeiteter Silbergelatineabzug,<br />

Kodalith<br />

58 x 172 cm<br />

4 Historias paralelas, 1995<br />

Filmabzüge, Einschußlöcher einer Pistole<br />

Installation in Mexiko-Stadt<br />

5 Entre raíces y aire, 1997<br />

handbearbeiteter Silbergelatineabzug,<br />

Kodalith<br />

100 x 50 cm


3<br />

4<br />

5<br />

<strong>Luis</strong><br />

<strong>González</strong> <strong>Palma</strong><br />

5


ter häufig transparenten Papieren oder Folien mit Direktpositivverfahren,<br />

wie sie in der frühen Fotografie des 19. Jahrhunderts<br />

verwendet wurden, sowie durch die anschließende Oberflächenbehandlung<br />

der Bilder mit einer Bitumenlösung.12 Durch<br />

diese nachträgliche Bearbeitung erhalten die Fotografien ihren<br />

anachronistischen, braun-grauen Ton. Der Künstler verstärkt<br />

und variiert mit diesem Verfahren den Ausdruck der Bilder.<br />

Meist behandelt er nur Teile der Bildoberfläche mit den ölig-harzigen<br />

Lösungsmitteln oder legt das ursprüngliche Weiß des<br />

Bilduntergrunds frei. Dadurch bewirkt er vor allem im Bereich<br />

der Augen eine subtile, aber sehr intensive Fokussierung, durch<br />

die eine »direkte Beziehung zwischen den Blicken der fotografierten<br />

Person und dem Betrachter«13 hergestellt wird.<br />

Christliche und weltliche Symbolik<br />

Deutlich wird dieser Effekt der Emphase beispielsweise in ›Retrato<br />

de niño‹ (Porträt eines Jungen) von 1990 (Abb. 2). Diese<br />

Fotocollage zeigt einen kleinen Jungen mit einer Dornenkrone<br />

auf dem Kopf, der den Betrachter unbeweglich anschaut. Das<br />

zur Hälfte verschattete Antlitz des Jungen ist durch die Knickfalten<br />

auf dem abgerissenen Untergrund vierfach unterteilt. Nicht<br />

nur die sichtbaren Pinselstriche des öligen Farblacks auf der<br />

Bildoberfläche, auch der beschriftete Papierfetzen in der Bildmitte<br />

sowie Falten und Eselsohren verstärken den Eindruck,<br />

daß es sich um ein Bild aus längst vergangenen <strong>Zeit</strong>en handelt.<br />

Diese ›Technik‹ führt in Verbindung mit dem Antlitz eines dornengekrönten<br />

Indio-Jungen zu der für <strong>González</strong> <strong>Palma</strong> charakteristischen,<br />

kontradiktorischen Darstellungsweise christlicher<br />

Symbolik. John Wood interpretiert das ›Retrato de niño‹ auch<br />

als politische Wirklichkeitsbetrachtung: »Politische und ökonomische<br />

Unterdrückung haben in Guatemala Leid angerichtet,<br />

haben dazu geführt, daß Menschenleben so beiläufig zerfetzt<br />

und zerrissen wurden, wie wir ein Blatt Papier zerreißen würden.<br />

Aber selbst dort, wo wie in den USA nur wenig politische Repression<br />

stattfindet, gibt es natürlich ökonomische Repression,<br />

die zehntausende zu spüren bekommen und die dazu führt, daß<br />

menschliches Leben wie Abfall behandelt wird.«14 Die meisten<br />

Arbeiten von <strong>González</strong> <strong>Palma</strong> zeichnen sich durch diese Art der<br />

feinen, komplexen und zuweilen auch sehr enigmatischen Thematisierung<br />

vergangenen und gegenwärtigen Leidens aufgrund<br />

gesellschaftlicher und politischer Unterdrückung aus. Und so<br />

sind diese schmerzvollen Momentaufnahmen zeitlose Erscheinungsbilder<br />

einer auf ewig verquickten europäischen und prekolumbinischen<br />

Kulturgeschichte.<br />

Über ein Jahrzehnt nach dem ›Retrato de niño‹ präsentierte<br />

<strong>González</strong> <strong>Palma</strong> ein ebenfalls eindringliches Porträt eines kleinen<br />

Jungen. ›Sebastián‹ (Abb. 10) aus dem Jahr 2002. Es ist ein<br />

sehr persönliches Bild, das den damals einjährigen Sohn des<br />

Künstlers zeigt. Dem nachdenklich wirkenden Kindergesicht,<br />

6<br />

das sich in dem strahlend hellen, einem Heiligenschein gleichenden<br />

Rund von dem dunklen Bildhintergrund abhebt, stellt<br />

<strong>González</strong> <strong>Palma</strong> Textauszüge aus Platons Dialogen gegenüber.<br />

Quasi als symbolische Weitergabe an seine Nachfahren thematisiert<br />

der Künstler die Verpflichtung des Menschen, Wissen und<br />

freiheitliches Denken anzustreben. Glauben wir Xavier Delpierre,<br />

dann schickt uns <strong>González</strong> <strong>Palma</strong>s mit diesem Bild bis in die<br />

»unbekanntesten Tiefen unseres westlichen Daseins.«15<br />

Identitäten<br />

In der Collage ›Letanías con ángel‹ (Litaneien mit Engel, 1994;<br />

Abb. 3) rückt <strong>González</strong> <strong>Palma</strong> die Darstellung individueller Identitäten<br />

in den Vordergrund. Die Kombination von Porträtfotografien<br />

und Textmaterial erinnert, ähnlich wie in Arbeiten des französischen<br />

Installationskünstlers Christian Boltanski (KLG<br />

4/1988) oder des Chilenen Eugenio Dittborn (KLG 69/2005), an<br />

die Identität von ›Verschwundenen‹, wie sie nicht nur in Guatemala,<br />

sondern in vielen lateinamerikanischen Diktaturen zu Tausenden<br />

traurige Berühmtheit erlangten. ›Letanías con ángel‹<br />

reiht verschwommene Bildnisse und Fürbittentexte wie die Perlen<br />

einer Gebetskette aneinander. Über die Collage dieser Bild<br />

gewordenen Litanei fließen schmale rote Bänder wie blutige<br />

Tränen. Die kleinen Fotos eines Engels auf den Textblättern<br />

sind nurmehr eine schmerzliche Bestätigung der düsteren Realität,<br />

auf die dieses Werk verweist.<br />

<strong>González</strong> <strong>Palma</strong> erreicht den palimpsestartigen Collagestil in<br />

dieser wie in vielen anderen seiner Arbeiten durch den Einsatz<br />

von Kodalith. Die Dokumente werden auf transparente Oberflächen<br />

belichtet, so daß mehrere Lagen übereinander einen<br />

Überblendungseffekt ergeben und gleichzeitig die Transparenz<br />

der einzelnen Dokumente erhalten bleibt, wie auch in der Bild-<br />

Text-Collage ›Entre raíces y aire‹ (Zwischen Wurzeln und Luft)<br />

von 1997 (Abb. 5). Die zweiteilige Arbeit verknüpft das Porträt<br />

einer jungen Frau mit italienischsprachigen Textfragmenten<br />

über christliche Nächstenliebe und mit Abbildungen von Kreuzen<br />

auf einem verwitterten Grabfeld.<br />

Der subtile, fast selbstbewußte Blick dieser ›schwarzen Madonna‹<br />

erscheint wie eine Anklage der nicht eingelösten christlichen<br />

Nächstenliebe, inszeniert in einer dieser »seelischen Landschaften«,<br />

mit denen der Künstler die narrativen Qualitäten der Fotografie<br />

auszuloten sucht.<br />

Colloquia<br />

1993 nahm <strong>González</strong> <strong>Palma</strong> an einem Artist-in-residence-Programm<br />

in der Cité des Arts in Paris teil. Dieser Aufenthalt sowie<br />

eine spätere Mitarbeit im Rahmen eines Kunstprojektes im Chateau<br />

Beychevelle in Bordeaux boten ihm Gelegenheit zum intensiven<br />

Austausch mit internationalen Kollegen. Nicht zuletzt aufgrund<br />

dieser Erfahrungen gründete der Künstler 1995 in<br />

Guatemala-Stadt das Kulturprojekt Colloquia, das für die zeit-


genössische kulturelle Entwicklung seines Landes von entscheidender<br />

Bedeutung war: »Zu Beginn war es so etwas wie ein zeitgenössisches<br />

Kunstzentrum. Und dann wurde mir klar, daß wir<br />

nicht einfach eine Kopie einer Organisation oder Funktion eines<br />

zeitgenössischen Museums zum Beispiel in den Vereinigten<br />

Staaten sein müssen, sondern daß wir uns eine andere Art Projekt<br />

ausdenken sollten, weil wir uns in einer komplett anderen Situation<br />

befinden. […] Deshalb versuchten wir, das Geld direkt zu<br />

den Künstlern zu bringen, die Arbeit mit Kuratoren zu vermeiden<br />

– wir versuchen auf andere Art zu arbeiten.« Ein anderer Aspekt<br />

von Colloquia war »eine kleine <strong>Zeit</strong>ung, die wir nur in die Randgebiete<br />

der Stadt versenden und nicht in die privilegierten Gegenden;<br />

wir legen sie in Supermärkten, bei McDonalds und ähnlichen<br />

Orten aus. Normalerweise gelangen diese Informationen<br />

nur in die Kunstzirkel, vor allem in Ländern wie Guatemala. Daher<br />

versuchen wir, die Beziehungen zu verändern. Aber zugleich<br />

senden wir ein Exemplar an Sie oder einen anderen Freund oder<br />

Künstler oder Schriftsteller. An den Direktor eines Museums in<br />

Spanien und zugleich an Menschen, die in den Outskits von<br />

Guatemala leben.«16 Colloquia existiert als Vereinigung bis heute<br />

und wird von der zeitgenössischen Generation junger Künstler<br />

unterhalten, zu denen unter anderen der bereits weltweit erfolgreiche<br />

Maler und Installationskünstler Darío Escobar zählt.<br />

Parallelgeschichten<br />

Durch das Colloquia-Projekt wurde <strong>González</strong> <strong>Palma</strong> neben seiner<br />

eigenen Tätigkeit als Künstler auch zum aktiven Kunstvermittler<br />

und somit einer der wichtigsten Akteure in der Kulturszene<br />

Guatemalas. Parallel zu diesen neuen Aufgaben hatte die<br />

internationale Rezeption seines Werkes in den 1990er Jahren<br />

deutlich zugenommen. Zahlreiche Einzelausstellungen in Lateinamerika,<br />

aber vor allem auch in den USA und Europa sicherten<br />

ihm bereits früh seinen Ruf als einem der wichtigsten lateinamerikanischen<br />

Fotokünstler.<br />

<strong>Luis</strong> <strong>González</strong> <strong>Palma</strong> entwickelte seine Techniken und Ausdrucksformen<br />

kontinuierlich weiter und präsentierte 1995 seine<br />

erste Installation unter dem Titel ›Historias paralelas‹ (Parallele<br />

Geschichten; Abb. 4). Dieses Werk, das als eine der politischsten<br />

Arbeiten des guatemaltekischen Künstlers gilt, basiert auf<br />

den Aufnahmen François Auberts, der 1867 nach der Erschießung<br />

des Kaisers Maximiliano17 dessen Hemd fotografierte.<br />

Die an Drahtseilen befestigten und mit Einschußlöchern versehenen<br />

Fotografien installierte <strong>González</strong> <strong>Palma</strong> zwischen den<br />

Rundbögen in einem ehemaligen Kloster in Mexiko-Stadt. »Die<br />

Fotos wurden ›beschossen‹ und danach als transparente Abzüge<br />

gezeigt, damit das Sonnenlicht sie auf diejenigen projizieren<br />

konnte, die die Ausstellung besuchten.«18<br />

Die Installation nimmt Bezug auf die Erschießung des letzten europäischen<br />

Monarchen, der gegen den Willen der Einwohner<br />

<strong>Luis</strong><br />

<strong>González</strong> <strong>Palma</strong><br />

Mexikos regierte und verweist damit erneut auf die blutige Kolonialgeschichte<br />

des Kontinents. Indem das Hemdmotiv jedoch<br />

aus seinem ursprünglichen Kontext gelöst und in der mexikanischen<br />

Gegenwart des 20. Jahrhunderts als vervielfachte Reproduktion<br />

installiert wird, ermöglicht diese Arbeit auch direkte Reflexionen<br />

über brutale politisch oder kulturell motivierte<br />

Konfliktherde der Gegenwart.19<br />

Ikonografie in Rot und Gold<br />

Für <strong>Luis</strong> <strong>González</strong> <strong>Palma</strong> ist die Vereinbarkeit von Schönheit und<br />

Schmerz etwas Selbstverständliches und durch die Fotografie<br />

auf verschiedenste Weise darstellbar. Vor diesem Hintergrund<br />

erreicht der Guatemalteke einen Stil, den John Wood als »metaphysische<br />

Fotografie«20 bezeichnet hat und der letztendlich einen<br />

Großteil der Arbeiten von <strong>González</strong> <strong>Palma</strong> charakterisiert.<br />

Mit diesem Stil schafft er Porträts, die menschliche Seelenzustände<br />

spiegeln, wie es in ›Time Out‹ (2000; Abb. 9) oder ›80mm<br />

f.5.6 (Juan)‹ von 1998 (Abb. 7) deutlich wird. Beide Porträts zeigen<br />

die in den 1990er Jahren weiterentwickelte Ikonografie des<br />

Künstlers, der zunehmend mit Goldgrundierungen und intensiven<br />

rotflächigen Stoff- oder Farbaufträgen arbeitete, zugleich<br />

die dunkle Färbung der Fotografien aber beibehält.<br />

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für den Einsatz von Gold<br />

und Rot im Werk von <strong>Luis</strong> <strong>González</strong> <strong>Palma</strong> stellt die Fotocoallage<br />

›80mm f.5.6 (Juan)‹ dar. Die Arbeit zeigt neben dem Porträt<br />

eines Mannes eine Fläche aus leuchtend rotem Brokatstoff. In<br />

der Mitte des mit Blumenmustern durchwirkten Seidengewebes<br />

ist in goldener Schrift der Name Juan aufgestickt. Der Verdacht<br />

liegt nahe, daß die Stickerei den Namen des porträtierten Mannes<br />

verrät, was jedoch eher untypisch wäre. Denn die Modelle<br />

der Arbeiten von <strong>Luis</strong> <strong>González</strong> <strong>Palma</strong> sind, bis auf wenige Ausnahmen<br />

wie im oben beschriebenen Fall von ›Sebastián‹, eigentlich<br />

namenlos. Ihre Individualität verbirgt sich hinter dem universellen<br />

Ausdruck. Ohne ein Zwinkern, ohne jedwede Mimik blickt<br />

auch dieser Porträtierte den Betrachter mit einem ruhigen Gesichtsausdruck<br />

an. Die Aufnahme legt den Fokus auf die Augen<br />

des Mannes, auf seine Stirn und das darumgebundene Band<br />

aus demselben Brokatstoff, mit dem die rechte Bildhälfte der Arbeit<br />

grundiert ist. Auf dem Stirnband sind kleine Buchstaben<br />

und Zahlen mit Informationen zu Brennweite und Belichtungszeit<br />

des Bildes angebracht, den notwendigen Koordinaten, um diesen<br />

hypnotischen Blick des Mannes einzufangen, der uns so unmittelbar<br />

und intensiv trifft, als könnte er in unsere Seele schauen.<br />

Indem er uns die technischen Details preisgibt, vermittelt<br />

<strong>González</strong> <strong>Palma</strong> die formalen Bedingungen, denen seine Fotografien<br />

unterliegen: die Wahl des Objektivs, die Brennschärfe<br />

und die Schnelligkeit, mit der sich die Blende öffnet. Dieser eine<br />

unbestimmte Moment, in dem auch die Konzentration des Modells<br />

ihren Höhepunkt erreicht, ist die Basis für den mystischen<br />

7


6 La mirada crítica, 1998<br />

Fotografie und Mischtechnik, Kronleuchter, Teppichboden<br />

Installation in der Galerie Martin Weinstein, Minneapolis/USA<br />

8


7 80mm f.5.6 (Juan), 1998<br />

handbearbeiteter Silbergelatineabzug, Kodalith, Stickerei<br />

38 x 98 cm<br />

8 Las raíces del paraíso, 1999<br />

Kolodium, Samtgravierungen<br />

9 Abbildungen<br />

Unterschiedliche Maße<br />

<strong>Luis</strong><br />

<strong>González</strong> <strong>Palma</strong><br />

9


Blick, von dem wir in vielen seiner Porträts inspiriert werden; ein<br />

Blick, der den Betrachter ganz direkt und auf Augenhöhe trifft.<br />

Diese Tatsache erstaunt besonders, wenn man in Betracht<br />

zieht, daß die Indios ihrem Gegenüber, vornehmlich den Europäern<br />

oder Nordamerikanern, nicht in die Augen sehen, sondern<br />

traditionell den Blick senken. Und so verleiht nicht zuletzt<br />

dieser Fakt den Bildern einen großen Nachdruck: wahrgenommen<br />

zu werden und selbst wahrzunehmen.<br />

Der kritische Blick<br />

Das Oszillieren zwischen dem Universellen und dem Individuellen<br />

baut auch das Spannungsverhältnis der Installation ›La mirada<br />

crítica‹ (Der kritische Blick) von 1998 (Abb. 6) auf. In einem<br />

mit rotem Teppich ausgelegten Raum hängen zwei prachtvolle<br />

Kronleuchter und, als zentrales Element dieser Installation, die<br />

gerahmte Fotografie eines Indiomädchens. Die Porträtierte trägt<br />

ein Maßband um den Kopf, ein Hinweis auf die Praxis der Kolonialisten,<br />

Indios zu physiognomischen Studienzwecken zu ›vermessen‹.<br />

Mit den das Foto umgebenden, luxuriösen Attributen<br />

dieser Installation schafft <strong>González</strong> <strong>Palma</strong> eine geradezu<br />

großbürgerlich eingeführte Umgebung, in der Vivianne Loría Assoziationen<br />

zu prunkvollen Kircheneinrichtungen und der damit<br />

verbundenen Kritik an der materialistischen Zurschaustellung<br />

der katholischen Kirchen herstellt, ebenso wie der Begeisterung<br />

der westlichen Welt am Exotischen als einem »rein dekorativen<br />

Wert«. Die symbolische Machtentfaltung der Kolonialzeit fand<br />

ihren Ausdruck in der barocken Üppigkeit der Gotteshäuser und<br />

der kirchlichen Zeremonien, die damals wie heute in starkem<br />

Kontrast zu Not und Armut der einheimischen Bevölkerung stehen.<br />

Dem indigenen Erbe und auch den Indios selbst wurde<br />

Platz im Bereich der Folklore und touristischen Attraktion eingeräumt,<br />

jenseits der Dessins von Prunk und Luxus.21 Sowohl in<br />

dieser Installation wie auch in den zweidimensionalen Arbeiten<br />

von <strong>González</strong> <strong>Palma</strong>, in denen er edle Stoffe mit Blattgold bearbeitete,<br />

die an byzantinische Ikonenmalerei erinnernde Collageelemente<br />

mit den eindringlichen Sepia-Porträts verbinden, wird<br />

dieser Kontrast mehr als deutlich.<br />

Kontraste offenbaren sich auch in ›Las raices del paraíso‹ (Die<br />

Wurzeln des Paradieses; Abb. 8). <strong>González</strong> <strong>Palma</strong> bezeichnet<br />

diese Serie als eine seiner wichtigsten Arbeiten, und in der Tat<br />

präsentiert sich die Reihe dieser Diptychen als eine Art Kollektion<br />

der poetischen, rituellen und religiösen Symbolik des Künstlers.<br />

Mit Samt ausgeschlagen, in ovalen Passepartouts eingefaßt<br />

oder verschnörkelt gerahmt, erinnern die Werke an alte<br />

Fotoalben oder Ikonendarstellungen und sind mit dieser Art der<br />

Präsentation angelehnt an frühe Werke wie ›Imagenes de parto<br />

y dolor‹ (Bilder von Mühe und Schmerz) von 1989. Die in ›Las<br />

raices del paraíso‹ zusammengestellten Fotografien der Rose,<br />

der düster-traurigen Frauenbildnisse oder des Fußballs aus ›El<br />

10<br />

silencio flota en el silencio‹ (Die Stille schwebt in der Stille) von<br />

1998 sind ›alte Bekannte‹ eines umfangreichen Bildrepertoires.<br />

<strong>González</strong> <strong>Palma</strong> konfrontiert uns mit der Essenz seiner Symbolik<br />

und ihren poetischen und religiösen, prosaischen oder rituellen<br />

Bedeutungen. Diese ›Wurzeln des Paradieses‹ stellen Ausschnitte<br />

dar, Momentaufnahmen oder Reliquien, die, aus ihrem<br />

Zusammenhang gerissen, nichts von ihrer Intensität und Bedeutung<br />

verlieren. Im Gegenteil: durch die Vereinzelung und Neu-<br />

Inszenierung gelingt dem Künstler eine Konzentration seiner<br />

Ästhetik des Marginalen, in der zynische Bitterkeit und hoffnungsvolle<br />

Sehnsucht nebeneinander existieren.<br />

Neue Wege<br />

<strong>Luis</strong> <strong>González</strong> <strong>Palma</strong> verlegte seinen Lebensmittelpunkt 2001<br />

nach Córdoba in Argentinien. Ob sich auch sein neues Umfeld<br />

auf die künstlerischen Arbeiten ausgewirkt hat, bleibt offen.<br />

Deutlich ist allerdings, daß der Künstler in den vergangenen<br />

Jahren vor allem hinsichtlich der ästhetischen Umsetzung neue<br />

Wege beschritten hat. Beispielsweise inszeniert er im Rahmen<br />

der 2003 begonnenen Serie ›Jerarquías de la intimidad‹ (Hierarchien<br />

der Intimität) komplexe Beziehungen in surrealistischen<br />

Landschaften und beunruhigende Interieurs wie in ›El canto después<br />

del encuentro‹ (Der Gesang nach der Begegnung, 2004;<br />

Abb. 11), ›No sabía que ella estaba pensando en‹ (Er wußte<br />

nicht, woran sie gerade dachte, 2004; Abb. 12) oder ›Como un<br />

secreto se seduce a sí mismo‹ (Wie ein Geheimnis sich selbst<br />

verführt, 2005; Abb. 14). Die Ästhetik dieser Bilder ist angefüllt<br />

von unterschwelliger Dramatik. Als wären sie Filmstills oder retouchierte<br />

Varianten des eigentlichen Bildes, lassen die Fotografien<br />

mit den prosaischen Titeln erahnen, daß weit mehr als<br />

nur das Dargestellte von Bedeutung ist, wie zum Beispiel die<br />

unheimliche Atmosphäre in ›El revés de la entrega‹ (Die Kehrseite<br />

des Engagements, 2005; Abb. 13) verdeutlicht. Die Bilder stimulieren<br />

die Vorstellungskraft des Betrachters und lassen trotz<br />

der Symbolik um die poetischen Titel verschiedenste Lesarten<br />

zu. Einsamkeit, Schmerz oder Leidenschaft manifestieren sich<br />

in den bekannten Objekten wie Rosen oder Totenschädeln.<br />

Doch darüber hinaus sind einsame Möbelstücke und menschenleere<br />

Räume die neuen Bedeutungsträger dieser dichten,<br />

beunruhigenden Bildwelten; Welten, in denen sich unsere Lebensentwürfe<br />

und Beziehungen spiegeln als vielschichtige<br />

»Hierarchien der Intimität«.<br />

Neben den weltlichen sind jedoch nach wie vor die religiösen<br />

Themen maßgeblich für die aktuellen Arbeiten von <strong>Luis</strong> <strong>González</strong><br />

<strong>Palma</strong>. Bei der diesjährigen Biennale in Venedig präsentierte<br />

er unter dem Titel ›La luz de la mente‹ (Das Licht des Geistes;<br />

Cover) acht verschiedene Darstellungen des Lendentuchs<br />

Christi. In jeweils 1x1 Meter großen Leuchtkästen präsentiert<br />

der Künstler verschiedenfarbig eingefärbte Fotografien des um


die Lenden des gekreuzigten Christus geschlungenen Tuchs.<br />

<strong>González</strong> <strong>Palma</strong> drapierte zu diesem Zweck unterschiedlich geschlungene<br />

Varianten des Lendentuchs nach dem Vorbild von<br />

Meistern der Malereigeschichte wie Rubens oder Velázquez. Indem<br />

er das sogenannte Perizoma aus dem Kontext herauslöst<br />

und farbig verändert, tränkt er es sprichwörtlich mit neuer Bedeutung<br />

beziehungsweise problematisiert die Physis Christi innerhalb<br />

unserer Reflexion des Göttlichen. Damit signalisiert <strong>Luis</strong><br />

<strong>González</strong> <strong>Palma</strong> etwas, was unsichtbar, aber doch konstant<br />

präsent ist: die Suche nach uns selbst, unserer Herkunft, dem,<br />

was wir sind.<br />

Mit dieser Arbeit, die von der Kritik äußerst kontrovers diskutiert<br />

wurde, hat <strong>Luis</strong> Gonzáelz <strong>Palma</strong> die Fotografie einmal mehr »an<br />

den Rand der Emotion gebracht.«22 Mit ›La luz de la mente‹ bewegt<br />

er sich nun im Spannungsfeld von Fotografie, Installation<br />

und Malerei. Ein geeigneter Ausgangspunkt, um seine äußerst<br />

vielversprechende Ausbeutung narrativer fotografischer Möglichkeiten<br />

weiter voranzutreiben.<br />

Die Autorin ist Romanistin und Kulturpublizistin. Sie lebt in Berlin.<br />

Anmerkungen<br />

1 T. Escobar, De imagenes híbridas y retratos<br />

mezclados, Asunción 1997<br />

2 L. G. <strong>Palma</strong>, in: E. Culbert, The Postmodern Romantic.<br />

An Interview with <strong>Luis</strong> <strong>González</strong> <strong>Palma</strong>,<br />

Raintaxi, Minneapolis 1999<br />

3 Vgl. M.C. Orive, <strong>Luis</strong> <strong>González</strong> <strong>Palma</strong>, Ausst.-<br />

Kat., La Azotea 1993, S. 3<br />

4 N. Gutiérrez, Una conversación con <strong>Luis</strong> <strong>González</strong><br />

<strong>Palma</strong>, in: Art Nexus, No. 22, Bogotá 1996,<br />

S. 91<br />

5 Den grausamen Höhepunkt der Jahrzehnte andauernden<br />

politischen Wirren in Guatemala bildete<br />

der Sturz des 1982 gewählten Präsidenten<br />

General Guevara. Die für den Putsch verantwortliche<br />

Militärjunta unter General Ríos Montt löste<br />

Parteien auf und setzte die Verfassung außer<br />

Kraft. Die gegen die Guerillatruppen gerichteten<br />

Aktivitäten des Militärs und der sogenannten Todesschwadronen<br />

in den ländlichen Gebieten<br />

weiteten sich aus, was unzählige brutale Gewaltverbrechen<br />

der Regierungstruppen zur Folge<br />

hatte. Diesen Massakern fielen vor allem Angehörige<br />

der unbewaffneten indigenen Landbevölkerung<br />

zum Opfer, was später als »<strong>Zeit</strong> der<br />

verbrannten Erde« in die Geschichte Guatemalas<br />

einging. Mitte der 1980er Jahre setzte in Guatemala<br />

ein langsamer Demokratisierungsprozeß<br />

ein, tiefgreifende Veränderungen wie das Abkommen<br />

über die Rechte der Ureinwohner Guatemalas,<br />

in dem neben einigen Verfassungsänderungen<br />

auch die Anerkennung der Identität<br />

der Indianer Guatemalas als gleichberechtigte<br />

Bevölkerungsgruppen festgeschrieben ist, wurden<br />

erst Mitte der 1990er Jahre realisiert.<br />

6 L. G. <strong>Palma</strong>, in: E. Culbert, Minneapolis 1999<br />

7 R. Cazali, Historias Paralelas, Ausst.-Kat., Guatemala<br />

1996, S. 7<br />

8 J. Wood, The Death of Romanticism, The Birth<br />

of New Science, And the Poet of Sorrows, in:<br />

<strong>Luis</strong> <strong>González</strong> <strong>Palma</strong>, Poems of Sorrow, Arena<br />

Editions, Santa Fé 1999, S. 5<br />

9 N. Gutiérrez, Bogotá 1996, S. 91<br />

<strong>Luis</strong><br />

<strong>González</strong> <strong>Palma</strong><br />

10 Deutsche Übersetzung: die Rose, der Mond, der<br />

Vogel<br />

11 Vgl. X. Delpierre, <strong>Luis</strong> <strong>González</strong> <strong>Palma</strong>, in: Art<br />

Nexus, No. 53, Bogotá 2004<br />

12 Bitumen ist ein Naturasphalt und wird auch als<br />

Erdharz oder Erdpech bezeichnet. Abgesehen<br />

von seiner Funktion als Binde- und Abdichtungsmittel<br />

in der Industrie und im Straßenbau werden<br />

Bitumenlösungen als Farbmittel seit Jahrhunderten<br />

u. a. im Bereich der Buchmalerei angewendet<br />

und bewirken das Nachdunkeln von Bildschichten.<br />

13 N. Gutiérrez, Bogotá 1996, S. 91<br />

14 J. Wood (Hrsg.), Four Metaphysical Photographers,<br />

in: 21st. The Journal of Contemporary<br />

Photography. Volume One, Brewster 1999, S. 15<br />

15 X. Delpierre, s. Anm. 11<br />

16 L. G. <strong>Palma</strong>, in: E. Culbert, Minneapolis 1999<br />

17 Der Erzherzog Maximilan von Habsburg wurde<br />

1864 von Napoleon III. als Kaiser in Mexiko eingesetzt.<br />

Der liberale Europäer traf in Mexiko auf<br />

den ersten Mestizen-Präsidenten Benito Juárez,<br />

mit dem er zwar weit mehr reformistische Ideen<br />

teilte als mit den reaktionären mexikanischen<br />

Kolonialisten. Seinen letztendlichen Rückhalt<br />

verdankte der Kaiser, der gegen den Willen des<br />

mexikanischen Volkes eingesetzt wurde, jedoch<br />

vor allem der Armee sowie den konservativen<br />

Eliten des Landes. Von Maximilian angeordnete<br />

Hinrichtungen von Rebellen sowie seine imperialistische<br />

Funktion führten 1867 zu seiner Verurteilung<br />

wegen Hochverrats und der, trotz internationaler<br />

Gnadenersuche, vollzogenen<br />

Erschießung.<br />

18 L. G. <strong>Palma</strong>, Poems of Sorrow, Santa Fé 1999,<br />

S. 151<br />

19 Ebd. und Äußerungen in N. Gutiérrez, Bogotá<br />

1996, S. 89<br />

20 Vgl. J. Wood, 1991, und seine Darstellung einer<br />

zeitgenössischen ›Schule der metaphysischen<br />

Fotografie‹<br />

21 Vgl. V. Loría, <strong>Luis</strong> <strong>González</strong> <strong>Palma</strong>, in: Lapiz, Bd.<br />

18, 157, Madrid 1999, S. 37<br />

22 C. Mena, Escenarios Subjetivos, in: Arte al Día<br />

No. 110, Miami 2005<br />

Fotonachweis<br />

Alle Abbildungen: Courtesy <strong>Luis</strong> <strong>González</strong> <strong>Palma</strong><br />

11


9<br />

10<br />

12<br />

9 Time out, 2000<br />

handbearbeiteter Silbergelatineabzug,<br />

Kodalith<br />

102 x 104 cm<br />

10 Sebastián, 2002<br />

handbearbeiteter Silbergelatineabzug,<br />

Kodalith, Blattgold<br />

110 x 50 cm<br />

11 El canto después del encuentro, 2004<br />

Kodalith, Blattgold, Harz<br />

178 x 97 cm<br />

12 No sabía que ella estaba pensando en, 2004<br />

Kodalith, Blattgold, Harz<br />

178 x 97 cm<br />

13 El revés de la entrega, 2005<br />

Kodalith, Silber, Harz<br />

120 x 100 cm


11<br />

12<br />

13<br />

<strong>Luis</strong><br />

<strong>González</strong> <strong>Palma</strong><br />

13


Ich sehe Nostalgie nicht als eine Rückkehr zu verloren gegangenen Gefühlen an. Vielmehr ist sie für<br />

mich so etwas wie ein Sprengsatz, um die Gegenwart zu reflektieren, eine Art Dialog mit und eine<br />

Infragestellung der Vergangenheit mit der Intention, aktuelle Zustände des Lebens zu verändern<br />

und neu zu konzipieren. Ich weiß zwar, daß meine Bilder eine nostalgische ›Aura‹ aus einer vergangenen<br />

<strong>Zeit</strong> haben, aber letztendlich versuche ich zu zeigen, daß die Konzeptionen der Einsamkeit,<br />

des Schmerzes und der Marginalität nicht aktuelle oder vergangene Probleme sind, sondern Bedingungen<br />

der Existenz.<br />

Für mich ist das Porträt eine Komplizenschaft, die zwischen dem Modell und dem Fotografen<br />

entsteht. Eine Art Suche nach dem Essentiellen, der Wunsch, durch die Stille der Blicke emotionale<br />

Beziehungen herzustellen.<br />

14<br />

Aus: N. Gutiérrez, Una conversación con <strong>Luis</strong> <strong>González</strong> <strong>Palma</strong>, in: Art Nexus No. 22, 1996, S. 88-91<br />

Borges hat einmal gesagt, daß wir in unserem Leben nur ein einziges Werk erschaffen; wir geben<br />

ihm nur verschiedene Namen. Ich denke, das ist auch meine Vorstellung. Ich weiß, daß ich Variationen<br />

eines immergleichen Themas mache.


<strong>Luis</strong><br />

<strong>González</strong> <strong>Palma</strong><br />

Ich wollte Beziehungen darstellen. Normalerweise sind Menschen indianischer Herkunft Außenseiter,<br />

die zu den Menschen aufsehen müssen, die auf sie hinabschauen. Für mich ist es sehr wichtig,<br />

diese Porträts in eine horizontale Blickrichtung zu bringen, horizontale Ebenen in der Kommunikation<br />

zu schaffen, so daß man direkt in das Gesicht der porträtierten Person blickt. Anfänglich war<br />

das wohl ein wenig politisch, aber mein vornehmliches Interesse liegt darin, Menschen auf dieselbe<br />

Ebene zu bringen. Ich komme aus einem sehr rassistischen Land. Die Indios sind in Guatemala<br />

eine Randgruppe, genau so wie ich eine Randperson in der ersten Welt bin. Deshalb versuche ich,<br />

die Dinge ins Gleichgewicht zu bringen.<br />

Ich versuche darzustellen, daß ein Gesicht für mich eine Metapher für Traurigkeit ist. Und ich möchte<br />

diese Traurigkeit teilen. Ich bin dabei nicht unbedingt daran interessiert, daß es sich um ein indianisches<br />

Gesicht handelt – das ist mir nicht so wichtig. Aber es ist mir nach wie vor wichtig, eine<br />

Beziehung herzustellen, um ein Bewußtsein unserer Zerbrechlichkeit zu schaffen.<br />

[…] alles Ungewöhnliche erscheint ›magisch‹ […] Aber sie [meine Fotos] sind nicht exotisch für<br />

mich. Sie sind nicht magisch. Wenn ich eine Frau mit Blumen schmücke, dann nicht, um ihr<br />

Gesicht exotisch zu machen – eher, um ihrem Gesicht einen romantischen Anklang zu verleihen.<br />

Ich genieße es, am Ende dieses Jahrhunderts ein Romantiker zu sein.<br />

Ich möchte ein zeitgenössischer Künstler sein und zugleich ein Romantiker.<br />

Aus: E. Clubert, The Postmodern Romantic. An Interview with <strong>Luis</strong> <strong>González</strong> <strong>Palma</strong>, Raintaxi 1999<br />

Übersetzungen aus dem Englischen bzw. Spanischen: Hedda Dunker<br />

15


<strong>Luis</strong><br />

<strong>González</strong> <strong>Palma</strong><br />

14 Como un secreto se seduce a sí mismo, 2005<br />

Kodalith, Blattgold, Harz<br />

120 x 100 cm<br />

Alle abgebildeten Arbeiten befinden sich im Besitz des Künstlers.<br />

16

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