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Evangelisches Bildungszentrum Bad Bederkesa

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Das Interview<br />

Gesellschaft und Politik<br />

38 39<br />

»Darüber durfte nicht gesprochen werden …«<br />

Prof. Dr. med. Hartmut Radebold über Kriegskindheiten<br />

im Zweiten Weltkrieg und psychosoziale Folgen<br />

Herr Radebold, fast 65 Jahre nach Ende des Krieges wird über die<br />

Auswirkungen und Folgen des 2. Weltkrieges auf die, die damals<br />

Kinder oder Jugendliche waren, neu oder sogar erstmals intensiv<br />

geforscht. Weshalb wird bei dem Thema Kindheit im 2. Weltkrieg –<br />

wie es scheint – erst seit Kurzem die Sprache wiedergefunden?<br />

Es sind alle daran beteiligt. Die so genannten Kriegskinder, die Jahrgänge<br />

1929 bis etwa 1945, 1947, haben ja einen langen Bearbeitungsprozess<br />

durchlaufen und übrig blieb ab 1950 das Wissen um die<br />

Fakten, aber nicht mehr um die Gefühle. Sich selbst, ihren Eltern<br />

und der Umwelt haben sie angeboten: ›Es ist alles vorbei, wir haben<br />

alles bewältigt, und wir funktionieren wieder‹ (...).<br />

Meine und die nächsten Jahrgänge haben sich identifiziert mit der<br />

deutschen Schuld. Und im Gegensatz zu dem, was unsere Väter<br />

gemacht hatten, war das, was wir erlebt hatten, wohl eher gering<br />

einzuschätzen. Deswegen durfte auch viele Jahre nicht darüber<br />

gesprochen werden. (…) Erst ab 2005 war das Thema in Deutschland<br />

diskutierbar und darstellbar.<br />

Horst-Eberhard Richter hat rückblickend geäußert, man habe sich<br />

in der Wissenschaft nicht berechtigt gefühlt, sich den deutschen<br />

Opfern und dem Leid der Kriegskinder zuzuwenden. Welche Versäumnisse<br />

sind daraus erwachsen?<br />

Unser Wissen (…) ist immer noch weitgehend ungenügend. Ein Beispiel<br />

dafür sind z. B. die Töchter, über die wir außer ordentlich wenig<br />

wissen – über ihre Entwicklung, ihre Beziehung, wie sie Mütter sein<br />

konnten (…). Dazu begegnen wir lauter Teilgruppen, über die wir außerordentlich<br />

(…) wenig wissen, z.B. die Kinder, die quer durch Europa<br />

geschickt worden sind, um sie vor dem Krieg zu bewahren. Aus Finnland<br />

z.B. sind eine halbe Million Kinder nach Schweden verbracht<br />

worden, und die sind ja dort jahrelang geblieben.<br />

Oder denken Sie an die Kinder, die nach dem Krieg in Heime gesteckt<br />

worden sind (…). Wir wissen bisher auch zuwenig darüber, was die<br />

Erfahrungen der Kriegskinder lebenslang bewirkt haben. Unter welchen<br />

Bedingungen konnte sich jemand mäßig ungestört weiterentwickeln,<br />

und welche Älteren mit welchen Erfahrungen und sich daraus<br />

ergebenden Konflikten leiden heute noch darunter? (…)<br />

Sie untersuchen Langzeitfolgen von Kriegskindheiten, die erst im<br />

Prozess des Alterns dieser Generation individuell sichtbar werden.<br />

Welche sind das und wie wirken sich diese auf die Lebensgeschichten<br />

der Betroffenen aus?<br />

(…) Bei bestimmten psychischen Störungen sollte man nach der zeitgeschichtlichen<br />

Erfahrung der Betroffenen fragen. Dazu gehören die<br />

leichteren bis mittleren depressiven Störungen, die es (…) in einer<br />

besonders hohen und auffallenden Rate gibt. Dazu gehören Störungen<br />

mit einer Angstsymptomatik – dahinter könnte eine so genannte<br />

chronifizierte posttraumatische Belastungsstörung stecken. Das ist<br />

der eine Bereich. Ein weiterer sind die Beziehungs- und Bindungsstörungen,<br />

die es den Leuten schwergemacht hat, überhaupt Bindungen<br />

einzugehen, sie auch entsprechend zu gestalten (…). Schließlich<br />

gibt es (…) Verhaltensweisen der Kriegskinder, die wir alle kennen:<br />

sparsam und fleißig sein, funktionieren, planen, organisieren, altruistisch<br />

sein, also sich um andere kümmern und nicht um sich (…).<br />

Sie untersuchen die Weitergabe von Erfahrungen der Kriegskinder<br />

auf die Nachkommen (…). Wie können wir uns diese Weitergabe,<br />

diesen Mechanismus vorstellen?<br />

Darüber gibt es Forschungen aus Israel, die besagen, dass die Generationen<br />

sich nicht voneinander abgrenzen können, sondern sich sozusagen<br />

ineinander schieben. Die Kinder sind in solch großem Umfang<br />

in die Geschichte ihrer Eltern eingebunden, dass sich die nächste<br />

Generation nicht klar davon abgrenzen kann (…). Eine Abgrenzung in<br />

dem Sinne, dass formuliert wurde, »das sind wir jetzt mit unseren<br />

Interessen, Ideen, Vorstellungen und Wünschen und das sind unsere<br />

Eltern«, hat nicht stattgefunden. Es verschiebt sich also ineinander,<br />

und dadurch haben die Kinder sehr viel von ihren Eltern übernommen.<br />

Dies begann schon mit dem 1. Weltkrieg.<br />

Der 1. Weltkrieg hinterließ 1,8 Mio. Kriegstote und 2,5 Mio. Kriegsbeschädigte.<br />

Das sind die Eltern der Kriegskinder. Die Kriegskinder<br />

geben ihre Erfahrungen an ihre Kinder weiter. Aber was die Kinder<br />

der Kriegskinder an ihre Kinder weitergeben, wissen wir nicht …<br />

Wie sind Prozesse intergenerationaler Übertragung von Kriegserfahrungen<br />

auf die eigenen Kinder und Enkel zu unterbrechen?<br />

Ein zentraler Befund ist wohl, dass etwa in 80 % aller Familien über<br />

die Kindheitsgeschichte der Eltern geschwiegen worden ist. (…)<br />

In etwa 20 % ist darüber geredet worden. (…) Und jetzt stellen sich<br />

folgende Aufgaben an uns als alt gewordene Eltern: Erstens müssen<br />

wir begreifen, dass wir etwas weitergegeben haben, was wir nicht<br />

wollten, was aber passiert ist. Zweitens müssen wir unseren<br />

erwachsenen Kindern ein Angebot machen, etwa: »Ich habe euch<br />

nichts erzählt darüber, jetzt würde ich euch gerne, wenn es euch<br />

interessiert, darüber etwas erzählen«. Drittens müssen wir unsere<br />

Kinder fragen: »Was hat das mit Euch gemacht? Wie hat es Euch<br />

belastet? (…) Wie hat es Euer Leben geprägt?« Und wir müssen uns<br />

viertens auch die Vorwürfe unserer Kinder, die ja daraus resultieren<br />

können, anhören und akzeptieren.<br />

Die Kinder müssen sich ihrerseits klarwerden, insbesondere bei<br />

schwer gestörten intergenerationalen Beziehungen, vielleicht auch<br />

mit Hilfe einer Psychotherapie (…), was das mit ihnen gemacht hat.<br />

Und ich glaube, dann ist diese Kette (…) unterbrechbar. Aber nur<br />

dann. (…)<br />

Welche Anforderungen erwachsen daraus für professionell Tätige,<br />

etwa Ärzte, Pflegende, Berater/innen?<br />

Die Berufsgruppen, die im psychosozialen Bereich und im Altersbereich<br />

tätig sind, brauchen Vermittlung zeitgeschichtlichen Wissens.<br />

Sie sollten wissen, was in der Zeit der Kriegskindheiten passiert ist,<br />

um Begriffe und Erwähnungen richtig zuordnen zu können. Sie müssen<br />

für ihre berufliche Praxis darüber informiert werden, was es für<br />

Störungen geben kann. Nehmen Sie z. B. die Alten- und Pflegeheime.<br />

Dort erleben Sie immer wieder folgende Situation: Eine alte Frau liegt<br />

dort in ihrem Zimmer, wird nachts von zwei jungen Männern gepflegt –<br />

Intimpflege, nasse Schlüpfer usw. Die Frau beißt und schreit und<br />

tritt um sich und erlebt wieder eine Vergewaltigung. Und das ist nur<br />

ein krasses Beispiel (…). Professionell Handelnde (…) sollten reflektieren,<br />

was sie individuell selbst tun können und was die Institution<br />

initiieren kann, z. B., dass Frauen nachts nur von Frauen gepflegt<br />

werden.<br />

Im ärztlichen oder beratenden Gespräch sind zwei Fragen bzw.<br />

Feststellungen entscheidend: »Ich sehe, Sie gehören zum Jahrgang<br />

sowieso (…), und bekanntlich hat Ihr Jahrgang viel erlebt«. Ist die<br />

Frage oder Aussage neutral formuliert, dann erzählen die Menschen<br />

zumindest die Fakten. Und dann kann man sich selbst vorstellen,<br />

was passiert ist.<br />

Herr Radebold, ein Blick in die Zukunft. Wann, glauben Sie, wird der<br />

Zweite Weltkrieg in den Psychen der Menschen zu Ende sein?<br />

In einem Buch, das ich gelesen habe, stand: ›Der Krieg ist zu Ende,<br />

wenn das letzte am Ende des Krieges gezeugte Kind gestorben ist.‹<br />

Interview: Jörg Matzen<br />

Das ganze Interview unter www.ev-bildungszentrum.de<br />

›Sei froh, dass du lebst!‹<br />

Kindheiten und Jugendzeit im Zweiten Weltkrieg<br />

Die Angehörigen der Jahrgänge<br />

1927/28 bis 1945/47 haben ihre<br />

Kindheit, teils auch ihre Jugendzeit<br />

während des Krieges und in der<br />

unmittelbaren Nachkriegszeit verbracht.<br />

Als Kriegskinder wurden sie<br />

durch Fliegeralarm, Aufenthalte in<br />

Luftschutzbunkern, Bombardierungen,<br />

Tieffliegerangriffe und durch<br />

die Erfahrung von Tod und Hunger<br />

mit den Schrecken des Krieges<br />

konfrontiert. Gegen Ende des Zweiten<br />

Weltkrieges zählten Flucht und<br />

Vertreibung zu den Erfahrungen<br />

hunderttausender Kinder und<br />

Jugendlicher. Evakuierungsmaßnahmen,<br />

mangelnde Verpflegung,<br />

Kälte, Entkräftung, Krankheit und<br />

Tod gehörten zu den leidvollen<br />

Erfahrungen dieser Heranwachsenden.<br />

Dazu kam das Erleben der<br />

eigenen Schutzlosigkeit – nicht<br />

zuletzt angesichts der Hilflosigkeit<br />

der Eltern.<br />

Die psychosozialen Folgen einer<br />

Kindheit im Zweiten Weltkrieg wurden<br />

lange Zeit nicht wahrgenommen<br />

oder tabuisiert. »Sei froh, dass<br />

du überlebt hast« war ein typischer<br />

Merksatz jener Zeit. Erst heute<br />

wird erforscht und erkannt, welche<br />

Bedeutungen die Erfahrung von<br />

›Kriegskindheit‹ für die weitere individu<br />

elle und generationelle Lebensgeschichte<br />

bekommen kann.<br />

Geschätzt wird, dass von den<br />

betroffenen Kindern und Jugendlichen<br />

ein Drittel als mäßig beeinträchtigt,<br />

ein Drittel als schwer<br />

beeinträchtigt/traumatisiert und<br />

lediglich ein Drittel als nicht beeinträchtigt<br />

anzusehen sind.<br />

Im Kreis ähnlich betroffener Frauen<br />

und Männer bietet die Tagung<br />

Raum für Erinnerungen, die sich auf<br />

Kindheit, Jugend und Familie im<br />

Zweiten Weltkrieg beziehen.<br />

• ›Klagen nicht erlaubt‹ – die<br />

stumm gebliebenen Jahrgänge.<br />

Verarbeitungsmuster von Kindheitserfahrungen.<br />

• ›Vater ist im Krieg geblieben‹.<br />

Auswirkungen von Vaterlosigkeit<br />

auf die Biografien der Söhne und<br />

Töchter.<br />

• Langzeitfolgen von Kriegskindheiten:<br />

psychische, psychosoziale<br />

und körperliche Belastungen.<br />

• Trauma-Reaktivierungen oder<br />

Re-Traumatisierungen im Prozess<br />

des Alterns.<br />

• Intergenerationale Übertragungsprozesse<br />

von Kriegserfahrungen<br />

auf die eigenen Kinder und Enkel.<br />

Eingeladen sind Frauen und Männer,<br />

die heute zwischen 60 und 80 Jahre<br />

alt sind und die am Beginn ihres<br />

Lebens in die Kriegs- und Nachkriegsereignisse<br />

hineingezogen wurden<br />

sowie deren Söhne und Töchter,<br />

Kinder ›sprachloser‹ Eltern. Die<br />

Tagung wendet sich zudem an professionell<br />

Tätige (Ärztinnen und<br />

Ärzte, Pflegende, Berater/innen<br />

und Pastor(inn)en).<br />

Während der Tagung wird phasenweise<br />

geschlechtsspezifisch<br />

getrennt gearbeitet.<br />

Seminar 60/06/10<br />

Mo., 08.02.2010, 11.30 Uhr bis<br />

Mi., 10.02.2010, 13.00 Uhr<br />

Kostenbeitrag:<br />

160,- v (DZ)/180,- v (EZ)<br />

Referent/in:<br />

Prof. Dr. med. Hartmut Radebold/<br />

Prof. Dr. Barbara Stambolis<br />

Leitung: Dr. Jörg-C. Matzen<br />

Dr. med. Hartmut Radebold,<br />

emer. Univ. Prof., lehrte bis 1997<br />

Klinische Psychologie an der Universität<br />

Kassel. Er ist Lehr- und<br />

Kontrollanalytiker (DPV) und Gründer<br />

des Lehrinstituts für Alternspsychotherapie;<br />

Mitbegründer der<br />

Forschungsgruppe<br />

›weltkrieg2kindheiten‹<br />

Dr. Barbara Stambolis,<br />

Historikerin für neuere und<br />

neueste Geschichte,<br />

Schwerpunkt: Kindheit und Jugendzeit<br />

im 20. Jahrhundert

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