14.01.2013 Aufrufe

PDF-Download - MGFA

PDF-Download - MGFA

PDF-Download - MGFA

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Heft 2/2012<br />

C 21234 ISSN 0940 - 4163<br />

�� ��<br />

�����������������<br />

����������� ��� ����������� �������<br />

Militärgeschichte im Bild: Ernst Udet und Joachim Ringelnatz 1931 auf dem Flughafen Tempelhof.<br />

Luftbrücke Sarajevo<br />

Israel und Ägypten<br />

Das Ende des Crassus bei Carrhae<br />

Chemie und Krieg<br />

������������������������������������<br />

����


Impressum<br />

Militärgeschichte<br />

Zeitschrift für historische Bildung<br />

Herausgegeben<br />

vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt<br />

durch Oberst Dr. Hans-Hubertus Mack und<br />

Oberst i.G. Dr. Winfried Heinemann (V.i.S.d.P.)<br />

Produktionsredakteure der aktuellen<br />

Ausgabe:<br />

Ines Schöbel und Michael Thomae<br />

Redaktion:<br />

Hauptmann Jochen Maurer M.A. (jm)<br />

Oberstleutnant Dr. Harald Potempa (hp)<br />

Hauptmann Ines Schöbel M.A. (is)<br />

Major Dr. Klaus Storkmann (ks)<br />

Mag. phil. Michael Thomae (mt)<br />

Bildredaktion:<br />

Dipl.-Phil. Marina Sandig<br />

Lektorat:<br />

Dr. Aleksandar-S. Vuletić<br />

Layout/Grafik:<br />

Maurice Woynoski / Medienwerkstatt D. Lang<br />

Karten: Daniela Heinicke, Dipl.-Ing. Bernd Nogli<br />

Anschrift der Redaktion:<br />

Redaktion »Militärgeschichte«<br />

Militärgeschichtliches Forschungsamt<br />

Postfach 60 11 22, 14411 Potsdam<br />

E-Mail: <strong>MGFA</strong>RedaktionMilGeschichte@<br />

bundeswehr.org<br />

Homepage: www.mgfa.de<br />

Manuskripte für die Militärgeschichte werden<br />

an obige Anschrift erbeten. Für unverlangt eingesandte<br />

Manuskripte wird nicht gehaftet. Durch<br />

Annahme eines Manuskriptes erwirkt der Herausgeber<br />

auch das Recht zur Veröffentlichung,<br />

Übersetzung usw. Die Honorarabrechnung erfolgt<br />

jeweils nach Veröffentlichung. Die Redaktion<br />

behält sich Änderungen von Beiträgen vor.<br />

Die Wiedergabe in Druckwerken oder Neuen<br />

Medien, auch auszugsweise, anderweitige Vervielfältigung<br />

sowie Übersetzung sind nur nach<br />

vorheriger schriftlicher Zustimmung erlaubt. Die<br />

Redaktion übernimmt keine Verantwortung für<br />

die Inhalte von in dieser Zeitschrift genannten<br />

Webseiten und deren Unterseiten.<br />

Für das Jahresabonnement gilt aktuell ein Preis<br />

von 14,00 Euro inklusive Versandkosten (innerhalb<br />

Deutschlands). Die Hefte erscheinen in der<br />

Regel jeweils zum Ende eines Quartals. Die Kündigungsfrist<br />

beträgt sechs Wochen zum Ende des<br />

Bezugszeitraumes. Ihre Bestellung richten Sie<br />

bitte an:<br />

SKN Druck und Verlag GmbH & Co.,<br />

Stellmacherstraße 14, 26506 Norden,<br />

E-Mail: info@skn.info<br />

© 2012 für alle Beiträge beim<br />

Militärgeschichtlichen Forschungsamt (<strong>MGFA</strong>)<br />

Druck:<br />

SKN Druck und Verlag GmbH & Co., Norden<br />

ISSN 0940-4163<br />

Editorial<br />

die Redaktion entführt Sie<br />

auf eine Zeitreise. Hans<br />

Werner-Ahrens berichtet<br />

über die Hilfsflüge der<br />

Transportflieger der Luftwaffe<br />

zwischen 1992 und<br />

1996 nach Sarajevo zur Versorgung<br />

der von Serben eingeschlossenen<br />

Bevölkerung<br />

sowie über den »Air Drop«<br />

in Ostbosnien. Der Autor vermittelt in klaren Worten den komplexen Einsatz<br />

bei dieser internationalen Luftbrücke, der zeitlich längsten in der Geschichte<br />

der Luftfahrt, mit all den politischen und militärischen Konsequenzen.<br />

Frédéric du Roi schildert, basierend auf der Überlieferung Plutarchs, das<br />

Ende des römischen Feldherrn Crassus und von sieben Legionen bei Carrhae,<br />

in einer Schlacht, die heute fast in Vergessenheit geraten zu sein scheint.<br />

Einem spannenden Krimi gleich, beschreibt du Roi den Feldzug von Crassus<br />

und hinterfragt kritisch die zeitgenössischen Schuldzuweisungen für die römische<br />

Niederlage.<br />

Martin Meier gewährt einen Einblick in die Anwendung von chemischen<br />

Kampfmitteln bei militärischen Auseinandersetzungen im 18. und 19. Jahrhundert.<br />

Welche Formen der chemischen Kriegführung bereits zwischen<br />

1600 und 1700 nachgewiesen werden können und wie sich diese in den folgenden<br />

Jahrhunderten fortentwickelten, skizziert der Autor auf wenigen Seiten<br />

in kompakter Form.<br />

Politisch noch immer hoch brisante Themen sind der Yom-Kippur-Krieg<br />

1973 und der israelisch-ägyptische Friedensvertrag von 1978. Pedi D. Lehmann<br />

stellt diesen heißen Konflikt aus der Zeit des Kalten Krieges und das<br />

anschließende Verhältnis zwischen beiden Ländern mit analytischem Verständnis<br />

sowie gleichermaßen präzise und spannend dar.<br />

Darüber hinaus möchten wir Ihnen in diesem Heft zum ersten Mal Medien<br />

vorstellen, in denen sich Kunst und (Geschichts-)Erzählung die Hand geben:<br />

Comics sowie deren Edelvariante Graphic Novels. Beide gestatten eine neue,<br />

andere Herangehensweise an (Militär-)Geschichte. Vorgestellt wird diese<br />

Gattung in der bisherigen Rubrik »Medien online/digital«, die künftig »Neue<br />

Medien« heißen soll.<br />

In eigener Sache: Vor genau sechs Jahren, im Sommer 2006, machte sich die<br />

Redaktion Militärgeschichte auf die Suche nach einem neuen Mitglied. Für<br />

das Team gewonnen werden konnte der damalige Oberleutnant Matthias<br />

Nicklaus M.A., der nun nach 15 Jahren als Zeitsoldat die Bundeswehr verlässt.<br />

Wir danken Hauptmann Nicklaus für viele Jahre besonnener Mitarbeit<br />

in der Redaktion und wünschen ihm für seinen weiteren beruflichen wie<br />

auch privaten Lebensweg alles Gute.<br />

Eine gewinnbringende Lektüre wünschen


Die Luftbrücke nach Sarajevo<br />

und der »Air Drop« über<br />

Ostbosnien 1992–1996<br />

Generalmajor a.D. Hans-Werner Ahrens,<br />

geboren 1948, u.a. Kommodore des LTG 62 in<br />

Wunstorf (1992–1995), Kommandeur des Lufttransportkommandos<br />

in Münster (2005–2010)<br />

Vom Yom-Kippur-Krieg<br />

zum israelisch-ägyptischen<br />

Friedensvertrag<br />

Dr. Pedi D. Lehmann, geboren 1965 in<br />

München, Politologin, freie Autorin zu Fragen<br />

des Nahost-Friedensprozesses und der<br />

israelischen Außen- und Sicherheitspolitik<br />

Adler jenseits des Euphrat.<br />

Das Ende des<br />

Crassus bei Carrhae<br />

Frédéric du Roi M.A., geboren 1983 in<br />

Schleswig, Historiker, Führungsakademie der<br />

Bundeswehr, Hamburg<br />

Chemie und Krieg im<br />

18. und 19. Jahrhundert<br />

Dr. Martin Meier, geboren 1975 in<br />

Bergen/Rügen, Studienrat, Fachlehrer für<br />

Chemie und Geschichte<br />

4<br />

10<br />

14<br />

18<br />

Inhalt<br />

Service<br />

Das historische Stichwort:<br />

Operation »Northwoods« 22<br />

Neue Medien 24<br />

Lesetipp 26<br />

Die historische Quelle 28<br />

Geschichte kompakt 29<br />

Ausstellungen 30<br />

Militärgeschichte<br />

im Bild<br />

Der Dichter und der »General« 31<br />

»Fliegerass« Ernst Udet und der »fliegende«<br />

Dichter Joachim Ringelnatz im<br />

Jahr 1931 auf dem Flughafen Tempelhof.<br />

Foto: ullstein bild/Balassa<br />

Weitere Mitarbeiter dieser Ausgabe:<br />

Tobias Gräf, Student an der Universität<br />

Regensburg;<br />

Friederike Höhn B.A., Berlin;<br />

Jens Wehner M.A., MHM Dresden;<br />

Dr. des. Carmen Winkel, Potsdam


Luftbrücke nach Sarajevo<br />

Die Luftbrücke nach<br />

Sarajevo und der »Air Drop« über<br />

Ostbosnien 1992–1996<br />

Die Luftbrücke nach Berlin<br />

1948/49 ist die wohl bekannteste,<br />

aber keineswegs die zeitlich<br />

längste in der Geschichte der Luftfahrt.<br />

Nur noch wenige erinnern sich<br />

an den 3. Juli 1992, den Beginn der humanitären<br />

Luftbrücke nach Sarajevo in<br />

das umkämpfte Bürgerkriegsgebiet auf<br />

dem Balkan vor nunmehr 20 Jahren. Die<br />

Versorgung der eingekesselten Bevölkerung<br />

in der über drei Jahre unter serbischem<br />

Beschuss liegenden Hauptstadt<br />

Bosnien-Herzegowinas dauerte – mit<br />

mehrfachen Unterbrechungen – bis<br />

zum 9. Januar 1996. An der Luftbrücke<br />

nach Sarajevo beteiligten sich zeitweilig<br />

Transportflugzeuge aus 19 Nationen.<br />

Die Teilnahme auch der deutschen<br />

Transportflieger mit ihren Transall C-160<br />

stellte aufgrund der zunächst politisch<br />

unterschätzten hohen Gefährdung der<br />

Besatzungen eine neue Qualität dar. Die<br />

sich während der Einsätze ergebenden<br />

Herausforderungen verlangten nach raschen<br />

Lösungen, vor allem aus Sicht der<br />

im täglichen Einsatz stehenden Truppe.<br />

Schrittweise wurden die notwendigen<br />

Voraussetzungen für einen poli-<br />

Privatbesitz J. Loock<br />

tisch und militärisch verantwortbaren<br />

Einsatz geschaffen. Ursächlich hierfür<br />

waren nicht zuletzt äußere Einflüsse<br />

wie die zunehmenden Zwischenfälle<br />

durch Beschuss der Transportflieger in<br />

der Luft und am Boden. Daher stellte<br />

sich nicht nur die Frage des unmittelbaren<br />

Schutzes der Besatzungen vor<br />

Verwundung und Tod, sondern auch<br />

jene der Rechtmäßigkeit des Einsatzes,<br />

der Fürsorge gegenüber den Besatzungen<br />

und der Versorgung von Hinterbliebenen.<br />

Die politisch und militärisch<br />

notwendige Einbindung in einen internationalen<br />

Einsatz unter Führung der<br />

Vereinten Nationen (UN) erforderte<br />

den kurzfristigen Aufbau einer effektiven<br />

nationalen Führungsfähigkeit im<br />

Bundesministerium der Verteidigung<br />

sowie eine verbesserte Zusammenarbeit<br />

zwischen dem Verteidigungsressort<br />

und dem Auswärtigen Amt. Mit<br />

den Abwürfen von Hilfsgütern über<br />

Ostbosnien (»Air Drop«) 1993/94 ergab<br />

sich ein zusätzlicher Auftrag, den die<br />

Transportflieger in engem Schulterschluss<br />

mit der US Air Force erfolgreich<br />

ausführten.<br />

4 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2012<br />

Privatbesitz J. Loock<br />

3Navigator Hauptmann<br />

Jürgen Loock (LTG 63)<br />

beim Abwerfen von Hilfsgütern<br />

über Ostbosnien.<br />

Durch das Öffnen von<br />

Ladetor und Heckrampe<br />

entweicht Sauerstoff aus<br />

der Transall. Der Fliegerhelm<br />

mit Sauerstoffmaske,<br />

ungewohnt für die deutschen<br />

Transportflieger,<br />

sichert der Crew weiterhin<br />

ihre volle Handlungsfähigkeit.<br />

Die Lage zu Beginn der Luftbrücke<br />

1992<br />

Die Teilnehmer an den Olympischen<br />

Winterspielen in Sarajevo im Winter<br />

1984 konnten nicht ahnen, dass bereits<br />

acht Jahre später ein blutiger Bürgerkrieg<br />

weite Teile des Landes verwüsten<br />

und ungeahntes Leid über die zuvor<br />

einvernehmlich zusammenlebende,<br />

multiethnische Bevölkerung bringen<br />

würde. Nach dem Tod des charismatischen<br />

jugoslawischen Präsidenten Josip<br />

Broz Tito im Jahr 1980 begannen das<br />

staatliche Gefüge wie auch die Gesellschaft<br />

Jugoslawiens zunehmend zu<br />

zerfallen, wobei sich dieser Prozess<br />

Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre<br />

noch beschleunigte. Destabilisierend<br />

wirkte sich eine zunehmend marode<br />

sozialistische Wirtschaft mit steigender<br />

Inflation und wachsender sozialer Unzufriedenheit<br />

aus; hinzu traten nun<br />

wiederauflebende, von machthungrigen<br />

Regionalpolitikern für eigene Zwecke<br />

geschürte ethnische Spannungen.<br />

Im Juni 1991 erklärten Slowenien und<br />

Kroatien ihre Unabhängigkeit. Den


5Im April 1992 explodierten die ersten<br />

Granaten in Sarajevo. Von da an lag<br />

die Stadt 1395 Tage, also länger als<br />

dreieinhalb Jahre, unter Beschuss.<br />

Lebensmittel, Strom und frisches<br />

Wasser wurden durch die zunehmende<br />

Zerstörung der Infrastruktur und das<br />

Schließen des serbischen Belagerungsringes<br />

knapp, die Rationierung von<br />

Lebensmitteln war die Folge.<br />

Territorialstreitkräften der Slowenen<br />

gelang es, nach kurzem Kampf die Jugoslawische<br />

Volksarmee zum Rückzug<br />

zu bewegen. Die anfänglich schwachen<br />

kroatischen Streitkräfte vermochten<br />

dagegen den überlegenen Serben kaum<br />

standzuhalten, die nahezu ein Drittel<br />

Kroatiens besetzten. Im Januar 1992 erkannte<br />

die Europäische Gemeinschaft<br />

(EG) auf Drängen der deutschen Bundesregierung<br />

Slowenien und Kroatien<br />

völkerrechtlich an. Mit zahlreichen Resolutionen<br />

und in steten Verhandlungen<br />

versuchten die Vereinten Nationen,<br />

die Organisation für Sicherheit<br />

und Zusammenarbeit in Europa (OSZE)<br />

und die Europäische Gemeinschaft den<br />

Konflikt einzudämmen. Die Entsendung<br />

der United Nations Protection<br />

Force (UNPROFOR), einer nur leicht<br />

bewaffneten Truppe, ab 1991 sollte helfen,<br />

zwischen den Kriegsparteien zu<br />

vermitteln und geschlossene Waffenstillstände<br />

zu kontrollieren – jedoch<br />

mit nur geringem Erfolg.<br />

Im März 1992 brach nach der Erklärung<br />

der Unabhängigkeit durch die<br />

bosnische Regierung in Sarajevo der<br />

Bürgerkrieg zwischen Bosniaken, Serben<br />

und Kroaten aus. Die bosnischen<br />

Ursula Meissner<br />

und kroatischen Verteidiger Sarajevos<br />

wurden zurückgedrängt und alsbald<br />

eingekesselt. Aufgrund des fortwährenden<br />

Artilleriebeschusses Sarajevos<br />

durch serbische Kräfte von den Hängen<br />

der umliegenden Höhen, der fortschreitenden<br />

Zerstörung lebenswichtiger Infrastruktur<br />

und der dramatischen Verknappung<br />

von Lebensmitteln und<br />

Medizin verschärfte sich die ohnehin<br />

schwierige Lage der eingeschlossenen<br />

Zivilbevölkerung. Die serbischen Belagerer<br />

ließen die Hilfskonvois des UN-<br />

Flüchtlingshilfswerkes (UNHCR) nur<br />

noch zeitweilig passieren. Die dramatischen<br />

Medienberichte aus der Stadt<br />

zwangen die internationale Gemeinschaft<br />

schließlich zum Handeln.<br />

Nachdem im Frühjahr 1992 mehrere<br />

Ausbruchsversuche der bosnischen<br />

Verteidiger aus Sarajevo gescheitert<br />

waren, entschloss sich die internationale<br />

Gemeinschaft zu handeln. Anstatt<br />

offensiv mit Bodentruppen in den Konflikt<br />

einzugreifen, strebte man die Öffnung<br />

des Flughafens Sarajevo/Butmir<br />

für dringende humanitäre Hilfslieferungen<br />

an. Der kanadische UNPROFOR-<br />

Befehlshaber, Generalmajor Lewis<br />

MacKenzie, handelte am 19. Juni 1992<br />

mit den Bürgerkriegsparteien ein Abkommen<br />

zur Übernahme des Flughafens<br />

durch die UN aus, das die Grundlage<br />

für den Betrieb der internationalen<br />

Luftbrücke bis zu ihrem Ende im<br />

UN<br />

nach Mostar<br />

und Split<br />

Serbische<br />

Artilleriestellungen<br />

UN-Stützpunkte<br />

Bjelašnica<br />

(2067 m)<br />

nach<br />

Banja Luka nach<br />

Hrasnica<br />

Tuzla<br />

Vogošća<br />

Krupac<br />

Jablanica<br />

Januar 1996 bildete. Mit der Übernahme<br />

des Flugplatzes und der Kontrolle<br />

des Boden- und Flugbetriebes<br />

durch UNPROFOR war der erste und<br />

wichtigste Schritt zum Einstieg in eine<br />

Luftversorgung getan. Am 3. Juli 1992<br />

lief die Hilfsaktion aus der Luft durch<br />

die Europäische Gemeinschaft und die<br />

Vereinten Nationen (UNHCR) zur Versorgung<br />

der Bevölkerung Sarajevos<br />

mit Lebensmitteln, Medikamenten und<br />

Bekleidung an. Seit diesem Tag flogen<br />

von Zagreb aus militärische Transportflugzeuge<br />

aus Frankreich, den USA,<br />

Griechenland, Spanien, Großbritannien,<br />

Italien und – ab 4. Juli 1992 – auch<br />

deutsche Transall regelmäßig Sarajevo<br />

an.<br />

Herstellen nationaler Führungsfähigkeit<br />

1991 hatte sich die Bundesregierung<br />

geweigert, mit deutschen Kampftruppen<br />

an der Befreiung Kuwaits gegen<br />

die irakische Besetzung und an der<br />

UNPROFOR auf dem Balkan mitzuwirken.<br />

Jetzt sah sie mit der Entsendung<br />

von Minensuchern der Marine in den<br />

Persischen Golf, der Beteiligung an der<br />

NATO-Luftraumkontrolle über der<br />

Adria und der Überwachung der Flugverbotszone<br />

über Jugoslawien sowie<br />

mit dem Einstieg in die humanitäre<br />

Luftbrücke nach Sarajevo eine günstige<br />

Bhf.<br />

UN<br />

Alipašin Most<br />

Ilidža<br />

UN Dobrinja<br />

Butmir<br />

Igman<br />

(1502 m)<br />

Bosna<br />

Quelle: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 11.2.1994.<br />

0<br />

Sarajevo und Umgebung<br />

5<br />

Žuč<br />

(850 m)<br />

10 km<br />

UN<br />

nach<br />

Dubrovnik<br />

UN<br />

Bukovik<br />

(1532 m)<br />

SARAJEVO<br />

Trebević<br />

(1629 m)<br />

Bihać<br />

Adria<br />

BOSNIEN<br />

Pale<br />

KROATIEN<br />

nach<br />

Belgrad<br />

Hauptquartier<br />

der Serben<br />

SARAJEVO<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2012<br />

SER-<br />

BIEN<br />

© <strong>MGFA</strong><br />

06662-02


Luftbrücke nach Sarajevo<br />

5Eine Delegation mit Staatssekretär Peter Wichert (Bildmitte, weißes Hemd) zu<br />

Besuch beim deutschen Kommando auf dem Flugplatz Zagreb, hier beim Blick in<br />

einen improvisierten Ruheraum aus Aluminium-Paletten.<br />

Gelegenheit, verlorengegangenes internationales<br />

Ansehen zurückzugewinnen.<br />

Der deutsche Kabinettsbeschluss<br />

vom 3. Juli 1992 schuf die politische<br />

Grundlage für die Beteiligung der Bundeswehr.<br />

Trotz vorhergegangener Einsätze<br />

nach Kambodscha, in die Türkei<br />

und in den Iran hatte man versäumt,<br />

im Bundesministerium der Verteidigung<br />

rechtzeitig eine effektive nationale<br />

Führungsfähigkeit zu schaffen. Dennoch<br />

flog bereits am 4. Juli 1992 eine<br />

Besatzung des Lufttransportgeschwaders<br />

(LTG 63) ohne Zwischenfall den<br />

ersten deutschen Einsatz nach Sarajevo.<br />

Im Ministerium versuchte man<br />

unterdessen durch eine Umgliederung<br />

des Führungsstabes der Streitkräfte<br />

(Fü S) und eine neue Festlegung der<br />

Zuständigkeiten eine rasche Lösung zu<br />

finden, denn der Minister als Inhaber<br />

der Befehls- und Kommandogewalt<br />

benötigte nun ein kompetentes und<br />

handlungsfähiges Beratungsorgan.<br />

Verschiedene Zwischenlösungen und<br />

internes Kompetenzgerangel überwand<br />

man schließlich erst durch die Aufstellung<br />

des Führungszentrums der<br />

Bundeswehr (FüZBw) am 1. Januar 1995.<br />

Die Hauptlast der Planung und Führung<br />

der deutschen Anteile auf den<br />

Lufttransportstützpunkten (LTP) lag<br />

beim Lufttransportkommando (LTKdo)<br />

in Münster, das seine Weisungen unmit-<br />

telbar vom Führungsstab der Luftwaffe<br />

(Fü L) erhielt. Die dem LTKdo unterstellten<br />

fünf Lufttransportverbände<br />

(LTG 61, 62 und 63, Hubschraubertransportgeschwader<br />

64 und Flugbereitschaft<br />

des Verteidigungsministeriums)<br />

stellten den größten Teil des benötigten<br />

Bodenpersonals und die fliegenden Besatzungen;<br />

sie waren für deren Ausbildung<br />

und Einsatzbereitschaft vor und<br />

im Einsatzbetrieb verantwortlich. Die<br />

Einsatzbereitschaft auf dem LTP<br />

Zagreb war bereits Mitte Juli 1992 hergestellt,<br />

von wo aus bis zur Verlegung<br />

auf den italienischen Flugplatz Falconara<br />

Mitte Februar 1993 die Flüge nach<br />

Sarajevo erfolgten. Die detaillierte Einsatzplanung<br />

und Steuerung der internationalen<br />

Einsätze lag in der Verantwortung<br />

einer UNHCR-Führungszelle<br />

in Genf (Air Operations Cell Geneva,<br />

AOCG), die durchweg auch mit einem<br />

deutschen Stabsoffizier besetzt war.<br />

Zweifel an der Rechtmäßigkeit der<br />

deutschen Beteiligung an den Einsätzen<br />

mit Blick auf das Völkerrecht und<br />

das Grundgesetz bestanden nicht nur<br />

in Teilen der Bevölkerung, in den Medien<br />

und Parteien, sondern auch bei<br />

den fliegenden Besatzungen. Erst nach<br />

dem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts<br />

vom Juni 1994 trat<br />

eine eindeutige Rechtssicherheit und<br />

Beruhigung ein.<br />

6 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2012<br />

Archiv H.-W. Ahrens<br />

Einsatz und Zwischenfälle auf<br />

der Luftbrücke<br />

Schon nach wenigen Tagen kam es zu<br />

ersten Zwischenfällen auf der Luftbrücke,<br />

vor allem durch Beschuss mit<br />

Infanteriewaffen und aktive Zielbeleuchtung<br />

der Luftfahrzeuge durch Radargeräte<br />

vom Boden aus. Die Transall,<br />

obwohl als Kampfzonentransporter<br />

konzipiert und seit 1968 im Einsatz der<br />

Luftwaffe, verfügte jedoch über keine<br />

moderne Selbstschutzausstattung, die<br />

der aktuellen Bedrohung auf der Luftbrücke<br />

entsprach. Außerdem war sie<br />

als zweimotoriges Transportflugzeug<br />

gegenüber der durch die meisten anderen<br />

Nationen eingesetzten viermotorigen<br />

Hercules C-130 nach Ausfall eines<br />

Triebwerkes, z.B. durch Beschuss, leistungsmäßig<br />

stark eingeschränkt. Mit<br />

rund 8 t Ladung je Flug war sie weniger<br />

effizient als die Hercules mit 10-12 t<br />

und die russische Iljuschin IL-76 mit<br />

30 t. So entschied man sich, beim Anflug<br />

auf Sarajevo die sichere Reiseflughöhe<br />

möglichst spät zu verlassen, was<br />

für die Transall dank ihrer Luftbremsen<br />

zu einem sehr steilen Endanflug mit<br />

hoher Sinkrate (»Sarajevo Approach«)<br />

auf den Flugplatz führte.<br />

Das Bundesministerium der Verteidigung<br />

ordnete im Juli 1992 an, einige<br />

Transall mit einer Selbstschutzausstattung<br />

auszurüsten. Der Einbau erfolgte<br />

durch die Truppe (LTG 62), unterstützt<br />

durch die Industrie und die für die Rüstung<br />

zuständigen Dienststellen der<br />

Bundeswehr in unmittelbarer, bis dahin<br />

nicht gekannter enger Kooperation.<br />

Schon Ende August stand die erste<br />

umgerüstete Transall zum Einsatz<br />

bereit. Nach einer an sich zu kurzen<br />

Einweisung in die modifizierten Maschinen<br />

gingen die Besatzungen im<br />

September 1992 in den Einsatzflugbetrieb.<br />

Sehr hilfreich war die personelle<br />

Verstärkung von auf diesem Gebiet erfahrenen<br />

Waffensystemoffizieren aus<br />

den Fliegenden Kampfverbänden der<br />

Luftwaffe. Neuland für die Transportflieger<br />

war auch die Zusammenarbeit<br />

mit den NATO-Flugzeugen vom Typ<br />

E-3A über der Adria. Nun galt es, rasch<br />

die notwendigen Verfahren zu verinnerlichen<br />

und im Einsatz fehlerfrei anzuwenden.<br />

Anfang September 1992 wurde eine<br />

italienische Maschine vom Typ Fiat<br />

G-222 durch serbische Boden-Luft-Ra-


keten mit Infrarot-Suchkopf abgeschossen;<br />

die vierköpfige italienische<br />

Besatzung fand den Tod. Dieser Vorfall<br />

ließ den zusätzlichen Einbau eines aktiven<br />

Flugkörperwarngerätes (Missile<br />

Approach Warner, MAW) mit wahlweise<br />

automatischem Ausschuss der<br />

Täuschkörper (Flares) als zwingend erscheinen,<br />

was auch bis Ende des Jahres,<br />

wiederum mit vereinten Kräften, gelang.<br />

Am 6. Februar 1993 wurde die deutsche<br />

Transall 50+54 durch eine Flugabwehrkanone<br />

(Flak) über Karlovac getroffen<br />

und ein Besatzungsmitglied,<br />

der Ladungsmeister Hauptfeldwebel<br />

Wilhelm Wiegel (LTG 62), durch Splitter<br />

schwer verwundet. Mit nur noch<br />

einem laufenden Triebwerk flogen<br />

Kommandant Hauptmann Gunter<br />

Hischen und seine Crew die beschädigte<br />

Transall sicher nach Zagreb<br />

zurück, wo Wiegel im dortigen Feldhospital<br />

der US Army nur dank einer<br />

Notoperation überlebte. Der schwere<br />

Zwischenfall machte deutlich, dass die<br />

Selbstschutzausrüstung der Transall,<br />

aber auch jene der Hercules gegen optisch<br />

gerichtete Flak keinen Schutz boten.<br />

Schnell und einvernehmlich beschloss<br />

man die Verlegung der Basis<br />

auf den Flugplatz Falconara/Ancona<br />

an der italienischen Adriaküste, um<br />

Flugweg und Flugdauer über dem Bürgerkriegsgebiet<br />

zu reduzieren. Dennoch<br />

blieb ein hohes Restrisiko bestehen,<br />

vor allem beim Anflug auf Sarajevo.<br />

Insgesamt ereigneten sich von<br />

1992 bis 1996 bei den Einsätzen etwa<br />

250 Zwischenfälle – trotz der wiederholten<br />

Zusage der Bürgerkriegsparteien,<br />

keine Gewalt gegen die im humanitären<br />

Auftrag, auf bekannten<br />

Flugrouten und nach einem engen, abgestimmten<br />

und veröffentlichten Zeitplan<br />

fliegenden Transportmaschinen<br />

anzuwenden.<br />

Die erste deutsche Transall nahm<br />

nach Einrichtung des neuen Stützpunktes<br />

in Falconara bereits am 23. Februar<br />

1993 den Flugbetrieb nach Sarajevo<br />

auf. Die Flüge auf der Luftbrücke<br />

zogen sich mit zahlreichen Unterbrechungen<br />

bis zum Januar 1996 hin. Der<br />

bewaffnete Einsatz der NATO-Luftstreitkräfte<br />

gegen serbische Bodenziele<br />

und die Entsendung des »Schnellen<br />

Einsatzverbandes« zwang zur Einstellung<br />

der Hilfsflüge vom Juli bis zum<br />

Herbst 1995. Der Vertrag von Dayton<br />

(Ohio) vom 21. November 1995 führte<br />

zur Beendigung der Kampfhandlungen<br />

und zur Herstellung einer neuen<br />

staatlichen Ordnung in Bosnien-Herzegowina.<br />

5Beschuss der deutschen Transall 50+54 am 6. Februar 1993: Der zerstörte Propeller<br />

zeigt die hohe Gefährdung aller Besatzungen auf der Luftbrücke. Metallsplitter des<br />

rechten Propellers durchschlugen den Rumpf des Luftfahrzeuges und verletzten<br />

Ladungsmeister Wilhelm Wiegel schwer.<br />

LTG 62<br />

Abwurf von Hilfsgütern<br />

(»Air Drop«) über Ostbosnien<br />

Nach ihrem Vormarsch kontrollierten<br />

die bosnischen Serben unter ihren Führern<br />

Radovan Karadžić und Ratko<br />

Mladić 1993 bereits weite Gebiete von<br />

Bosnien-Herzegowina. Die Muslime<br />

konnten sich in einigen Enklaven behaupten;<br />

die dort lebende, von der regulären<br />

Versorgung abgeschnittene<br />

Bevölkerung litt zunehmende Not. Auf<br />

Anfrage des UNHCR und nicht zuletzt<br />

infolge des Drucks der Medien startete<br />

US-Präsident Bill Clinton im Februar<br />

1993 eine Initiative zur Versorgung der<br />

Enklaven durch Abwürfe von Hilfsgütern<br />

aus der Luft (»Air Drop«). Bereits<br />

am 28. Februar flogen Hercules C-130<br />

der US Air Force von der Rhein-Main<br />

Air Base (Frankfurt) den ersten<br />

erfolgreichen Einsatz über Ostbosnien.<br />

Aufgrund der serbischen Drohung,<br />

deutsche und andere Luftfahrzeuge<br />

abzuschießen, falls es zu einer Beteiligung<br />

der Deutschen Luftwaffe am »Air<br />

Drop« käme, entschloss sich die Bundesregierung<br />

erst nach enger Abstimmung<br />

mit den Alliierten und – wenn<br />

auch zögerlicher – Zustimmung der<br />

Vereinten Nationen, an den Abwürfen<br />

teilzunehmen. Am 15. März verlegte<br />

das hierfür vorgesehene deutsche<br />

Kommando (LTG 61 und 63) nach<br />

Frankfurt, um nach intensiver Vorbereitung<br />

gemeinsam mit den Hercules<br />

der US Air Force und einer Transall der<br />

französischen Luftwaffe am 28. März<br />

1993 den ersten deutschen Nachteinsatz<br />

als Teil einer gemeinsamen »Formation«<br />

zu fliegen. Die Luftwaffe<br />

stellte ursprünglich zwei, später zeitweilig<br />

bis zu vier Transall mit Besatzungen<br />

auf dem militärischen Teil des<br />

Flughafens Rhein-Main bereit, um eine<br />

effektive tägliche Teilnahme an der<br />

Operation sicherzustellen.<br />

Zum Einsatz kam anfangs nur das<br />

durch die US Air Force bereits erprobte<br />

CDS-Abwurfverfahren (Container Delivery<br />

System). Die 750 kg schweren<br />

Einzellasten wurden nicht mit dem üblichen<br />

Lastenschirm, sondern mit<br />

einem lediglich stabilisierenden Bremsschirm<br />

bestückt. Die hohe Fallgeschwindigkeit<br />

verkürzte die Zeit der<br />

Last in der Luft erheblich, reduzierte so<br />

den Windeinfluss und verbesserte die<br />

Zielgenauigkeit. Zur Dämpfung des<br />

Aufpralls am Boden legte man unter<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2012


Luftbrücke nach Sarajevo<br />

die Nutzlast mehrere Schichten Wabenpappe.<br />

Die Abwürfe bei Nacht über die<br />

geöffnete Heckrampe aus mittleren<br />

Höhen verlangten bei Planung und<br />

Ausführung hohe Präzision und<br />

gründliche Abstimmung zwischen den<br />

internationalen Besatzungen. Eine<br />

»Packstraße am Boden«, betrieben<br />

durch Soldaten der US Air Force und<br />

der Luftlandetruppe des deutschen<br />

Heeres, sicherte durchweg die rechtzeitige<br />

Bereitstellung der zum Abwurf<br />

vorgesehenen Hilfsgüter.<br />

Parallel zu den Einsätzen lief bei der<br />

US Air Force die Entwicklung eines<br />

weiteren Verfahrens an. Da die Abwurfzonen<br />

für das CDS-Verfahren aufgrund<br />

des Gewichtes der Lasten und der damit<br />

verbundenen Gefährdung für die<br />

Bevölkerung außerhalb der Städte liegen<br />

mussten, kam es beim Bergen immer<br />

wieder zu Beschuss aus dem Hinterhalt<br />

und zu Verteilungskämpfen unter<br />

den Empfängern am Boden. Das Tri-<br />

Wall Aerial Delivery System (TRIADS)<br />

ermöglichte es hingegen, Kartons mit<br />

einzelnen US-Verpflegungsrationen<br />

(Meals Ready to Eat, MRE) im freien<br />

Fall direkt über den Ortschaften abzuwerfen,<br />

ohne Gefahr für Leib und Leben.<br />

Pappkartons mit je 850 Verpflegungsrationen<br />

wurden an drei Seiten<br />

so präpariert, dass sie sich beim Verlassen<br />

des Flugzeuges zerlegten und die<br />

Rationen einzeln zu Boden fielen. Jedes<br />

Flugzeug nahm jeweils acht dieser<br />

Pappkartons auf.<br />

Am 6. Mai 1993 errichteten die Vereinten<br />

Nationen insgesamt sechs Schutzzonen<br />

in Bosnien, um der dort eingeschlossenen<br />

muslimischen Bevölkerung<br />

eine gewisse Sicherheit zu garantieren.<br />

Allerdings verhinderte das weder die<br />

Einnahme der meisten Enklaven noch<br />

die folgenden Gräueltaten durch die<br />

bosnischen Serben, beispielsweise in<br />

Srebrenica. Der letzte Einsatz am<br />

19. August 1994 beendete den insgesamt<br />

erfolgreichen »Air Drop«. Von<br />

den 18 000 t abgeworfenen Hilfsgütern<br />

erreichten rund 80 Prozent ihr Ziel,<br />

was vielen Hungernden das nackte<br />

Überleben sicherte.<br />

Herausforderungen und neue<br />

Wege<br />

Die sich häufenden Zwischenfälle und<br />

zahlreichen Unterbrechungen auf der<br />

Luftbrücke, die Fehlalarme der Selbstschutzausrüstung<br />

und die anfänglich<br />

fehlende Praxis in deren Handhabung<br />

verunsicherten die Transall-Besatzungen.<br />

Fragen nach der Fürsorge des<br />

Dienstgebers bei Verwundung und<br />

Tod, vor allem aber die Versorgung der<br />

Hinterbliebenen stellten sich nun sehr<br />

konkret. Einige Lebensversicherungen<br />

kündigten an, ihre Leistungen zu verweigern,<br />

da es sich nach deren Auffassung<br />

um Einsätze in ein Kriegsgebiet<br />

handelte, während die Politiker und<br />

die militärische Führung von humanitären<br />

Einsätzen in ein Krisengebiet<br />

sprachen. Erst einige Monate nach<br />

Beginn der Einsätze erklärte sich das<br />

Verteidigungsministerium bereit, bei<br />

Bedarf die eventuell verwehrte Leistungspflicht<br />

der Versicherer zu übernehmen.<br />

Mit dem Auslandsverwendungsgesetz<br />

vom 7. August 1993, also<br />

mehr als ein Jahr nach Beginn der Luftbrücke,<br />

zog der Gesetzgeber die notwendigen<br />

Konsequenzen. Weiterhin<br />

blieb aber eine unterschiedliche Behandlung<br />

von Berufs- und Zeitsoldaten<br />

im Versorgungsfall bei Tod oder<br />

Invalidität bestehen. Bis heute (2012)<br />

Chronologie der Luftbrücke<br />

• 03.07.1992 Beginn der Luftrücke, erster deutscher Flug am folgenden Tag<br />

• 09.07.1992 Einrichtung des Lufttransportstützpunkts (LTP) Zagreb/Kroatien<br />

• 03.09.1992 Abschuss einer G-222 der italienischen Luftwaffe durch Boden-Luftraketen,<br />

die vier Besatzungsangehörigen kommen ums Leben<br />

• 06.02.1993 Beschuss einer deutschen Transall über Karlovac durch eine Flugabwehrkanone,<br />

der Ladungsmeister wird schwer verletzt<br />

• 23.02.1993 Aufnahme des Flugbetriebes vom LTP Falconara/Italien<br />

• 28.03.1993 Aufnahme des »Air Drop« von der Air Base Rhein-Main (Frankfurt)<br />

• 22.05.1993 500. deutscher Flug auf der Luftbrücke<br />

• 19.08.1994 Letzter »Air Drop« über Bosnien<br />

• 30.03.1995 1000 Tage Luftbrücke Sarajevo<br />

• 04.01.1996 Letzter deutscher Flug auf der Luftbrücke<br />

• 09.01.1996 Feierlicher Abschluss der internationalen Luftbrücke<br />

8 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2012<br />

wurden, getrieben durch den nunmehr<br />

zehnjährigen Einsatz in Afghanistan,<br />

die noch vorhandenen Versorgungslücken<br />

weitgehend geschlossen.<br />

Eine stabilisierende Rolle für die<br />

stark geforderten Besatzungen spielte<br />

das vorbildliche Engagement der Militärgeistlichen,<br />

die auf den Heimatplätzen<br />

und den Lufttransportstützpunkten<br />

ihre Arbeit als Seelsorger ausübten,<br />

aber auch regelmäßig an den Flügen<br />

auf der Luftbrücke teilnahmen. Heute<br />

sind bei größeren Auslandseinsätzen<br />

die Militärgeistlichen ein selbstverständlicher,<br />

integraler Teil der deutschen<br />

Kontingente und Kommandos.<br />

Als wertvolle Hilfe erwiesen sich auch<br />

die ersten einsatzvorbereitenden Seminare<br />

beim Zentrum Innere Führung in<br />

Koblenz – u.a. über das Verhalten bei<br />

Gefangenschaft und Geiselnahme; sie<br />

gewannen nach anfänglicher Skepsis<br />

zunehmende Akzeptanz bei den Crews.<br />

Die Besatzungen erlebten den Einsatz<br />

konkret, andere erhielten ihre aktuellen<br />

Informationen über den laufenden,<br />

auch gefährlichen Einsatz durch<br />

die Routinebriefings seitens der Führung,<br />

im Kasino oder im Unteroffizierheim.<br />

Die Ehefrauen oder Freundinnen<br />

erreichten diese Informationen jedoch<br />

nicht oder aber nur eingeschränkt. Im<br />

LTG 62 bot die Ehefrau des Kommodore<br />

im Herbst 1993 erstmals eigene<br />

Informationsabende für die Partnerinnen<br />

der Besatzungsmitglieder an. Bei<br />

den Crews stieß diese Initiative zunächst<br />

auf Unbehagen, doch diese Pioniertat<br />

half maßgeblich, die Verunsicherung<br />

in den Familien abzubauen.<br />

Aus einer anderen Initiative des<br />

LTG 62 im September 1993 entwickelte<br />

sich das Anti-Stresskonzept für das<br />

Fliegende Personal der Bundeswehr.<br />

Das Konzept zur psychologischen<br />

Stressbewältigung des Fliegenden<br />

Personals entstand in enger Zusammenarbeit<br />

mit der Truppe und stützte<br />

sich auf die dort gewonnenen Einsatzerfahrungen.<br />

Es wurde erfolgreich<br />

im Truppenversuch erprobt, danach<br />

vom Verteidigungsministerium beschlossen<br />

und später vom Generalarzt<br />

der Luftwaffe als »Besondere Anweisung«<br />

in die Praxis umgesetzt. Aber<br />

erst knapp 20 Jahre später, also 2010,<br />

konnte man von einem professionellen<br />

Umgang mit der lange Zeit verdrängten,<br />

nunmehr anerkannten<br />

PTBS-Problematik (Post-Traumatische


Eckpunkte und Leistungsbilanz<br />

• Koordination und Gesamtverantwortung<br />

lagen bei den Vereinten<br />

Nationen (UNHCR).<br />

• Beteiligt waren neben Deutschland<br />

vor allem Frankreich, Großbritannien,<br />

Kanada, die USA und zeitweilig weitere<br />

15 Nationen.<br />

• Die Luftbrücke war häufig der wichtigste<br />

Versorgungsweg nach Sarajevo,<br />

in einigen Monaten machte sie 85<br />

Prozent der Gesamtversorgung aus.<br />

Belastungsstörung) in der Bundeswehr<br />

sprechen.<br />

Bilanz und Ausblick<br />

Die internationale Luftbrücke nach Sarajevo<br />

und die Abwürfe von Hilfsgütern<br />

über Ostbosnien haben ihre Ziele<br />

weitgehend erreicht. Es gelang, im internationalen<br />

Verbund dringend benötigte<br />

Hilfsgüter zur notleidenden Bevölkerung<br />

zu bringen. Zunächst nur<br />

für wenige Wochen gedacht, lief die<br />

Luftbrücke, wenn auch mit Unterbrechungen,<br />

schließlich mehr als dreieinhalb<br />

Jahre. Wenngleich die Versorgung<br />

aus der Luft nur eine Ergänzung, kein<br />

dauerhafter Ersatz für die Versorgung<br />

auf dem Landweg sein sollte und<br />

konnte, sicherte sie häufig überwiegend<br />

die Deckung des täglichen Bedarfs<br />

an Hilfsgütern. Neben dem materiellen<br />

Wert der Einsätze waren die<br />

Flüge für die drangsalierte Bevölkerung<br />

aber auch eine Demonstration internationaler<br />

Solidarität. Die Einsätze<br />

gaben ihr Hoffnung und bestärkten sie<br />

in ihrem Durchhaltewillen. Viele der<br />

damals Betroffenen erinnern sich da-<br />

• Auf der Luftbrücke und beim<br />

»Air Drop« kam es zu mehr als<br />

250 Zwischenfällen, es gab bei den<br />

Besatzungen vier Tote und einen<br />

Schwerverletzten.<br />

• Die internationale humanitäre Luftbrücke<br />

nach Sarajevo war mit 1284<br />

Tagen die bislang zeitlich längste<br />

in der Geschichte der Luftfahrt.<br />

• Internationale Transportleistung:<br />

160 000 t bei ca. 12 900 Einsätzen.<br />

ran bis heute mit großer Dankbarkeit.<br />

Der humanitäre Einsatz der deutschen<br />

Transportflieger unter einer konkreten<br />

Gefährdung in einem Bürgerkriegsgebiet<br />

war der erste »scharfe«<br />

Einsatz der Luftwaffe, wenngleich die<br />

Besatzungen und die Transall über<br />

keine offensive Bewaffnung verfügten.<br />

Vielmehr kam es darauf an, die für den<br />

Flugbetrieb auf der Luftbrücke und<br />

beim »Air Drop« festgelegten Zeiten<br />

und Verfahren zu beachten, auf die<br />

Einhaltung der mit den Kriegsparteien<br />

vereinbarten Spielregeln zu hoffen und<br />

im Falle eines Angriffs auf den erfolgreichen<br />

Einsatz der Selbstschutzausstattung<br />

und die eigene Ausbildung zu<br />

vertrauen. Das war in psychischer und<br />

aufgrund der Dauer auch in physischer<br />

Hinsicht eine neue Herausforderung<br />

für die Besatzungen, die man nur im<br />

engen Zusammenwirken aller Beteiligten<br />

bewältigen konnte. Ob es klug war,<br />

den Begriff »Krieg« aus politischen<br />

und rechtlichen Gründen zu meiden,<br />

sei dahingestellt; bei den im scharfen<br />

Einsatz auch unter Beschuss stehenden<br />

Besatzungen stieß dies jedenfalls auf<br />

Unverständnis.<br />

LTG 62<br />

3Nach dem letzten Flug einer deutschen<br />

Transall auf der Luftbrücke nach Sarajevo<br />

am 4. Januar 1996 weisen die Angehörigen<br />

des Stützpunktes Falconara<br />

ihre erfolgreiche Bilanz vor. Rechts<br />

außen der letzte deutsche Kommandoführer,<br />

Oberstleutnant »Henry« Wunderle,<br />

im Hintergrund eine Transall.<br />

• Deutscher Anteil: 10 782 t bei 1412 Einsätzen<br />

und rund 3426 Flugstunden mit<br />

der Transall.<br />

• Der »Air Drop« über den Enklaven Ostbosniens<br />

erfolgte von der Rhein-Main<br />

Air Base (Frankfurt) vom 28.2.1993 bis<br />

19.8.1994.<br />

• Beim »Air Drop« warfen die Hercules<br />

C-130 der US Air Force und die Transall<br />

C-160 der deutschen und der französischen<br />

Luftwaffe mit 2828 Flügen insgesamt<br />

18 002 t Hilfsgüter ab.<br />

• Der deutsche Anteil hierbei bestand in<br />

329 Nachteinsätzen mit 2083 t Hilfsgütern<br />

(vorwiegend Lebensmittel und<br />

Medikamente).<br />

Die erfolgreiche Teilnahme der deutschen<br />

Transportflieger an den humanitären,<br />

aber dennoch gefährlichen Einsätzen<br />

im internationalen Verbund förderte<br />

das Ansehen Deutschlands. Sie<br />

eröffnete damit für nachfolgende Einsätze<br />

neue politische und militärische<br />

Handlungsspielräume. Die damaligen<br />

Klarstellungen zur Rechtmäßigkeit der<br />

Einsätze mit Blick auf das Völkerrecht<br />

und das Grundgesetz sowie die Anpassung<br />

von Regelungen zur Versorgung<br />

im Einsatz, einschließlich von<br />

Verwundung und Tod, schufen die<br />

notwendige Grundlage für eine heute<br />

selbstverständliche Praxis.<br />

Literaturtipps<br />

� Hans-Werner Ahrens<br />

Hans-Werner Ahrens, Die Luftbrücke nach Sarajevo 1992<br />

bis 1996. Die Transportflieger der Bundeswehr und der Jugoslawienkrieg,<br />

Freiburg i.Br. 2012 (= Neueste Militärgeschichte.<br />

Einsatz konkret, 1).<br />

Agilolf Keßelring (Hrsg.), Wegweiser zur Geschichte: Bosnien-Herzegowina.<br />

Im Auftrag des <strong>MGFA</strong>, 2., durchges.<br />

und erw. Aufl., Paderborn u.a. 2007.<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2012<br />

9


Israelisch-ägyptischer Friedensvertrag<br />

4Israels Ministerpräsident Menachem Begin, US-Präsident Jimmy<br />

Carter sowie der ägyptische Staatspräsident Anwar as-Sadat (v.l.n.r)<br />

am 17. September 1978 in Camp David (Maryland), Landsitz des<br />

US-Präsidenten, unmittelbar nach Unterzeichnung der Rahmenvereinbarung<br />

für einen Nahost-Friedensvertrag, der, nach Billigung<br />

durch das Parlament Israels, am 26. März 1979 in Kraft trat.<br />

Vom Yom-Kippur-Krieg zum israelisch-ägyptischen<br />

Friedensvertrag<br />

Was bedeutet die ägyptische<br />

Revolte für Israel? So lautet<br />

eine der wichtigsten sicherheitspolitischen<br />

Fragen Israels, und die<br />

meisten Antworten lassen nichts Gutes<br />

erwarten.<br />

Seit dem Sturz von Ägyptens Präsident<br />

Hosni Mubarak im Februar 2011<br />

ist die Regierung in Jerusalem besorgt,<br />

das Land am Nil könnte künftig eine<br />

massiv israelfeindliche, antiwestliche<br />

Politik verfolgen. Die Verunsicherung<br />

ist allenthalben groß, selbst politische<br />

Kommentatoren, die nicht das Schreckgespenst<br />

des islamischen Fundamentalismus<br />

bemühen, äußern starke Vorbehalte<br />

und Bedenken hinsichtlich des<br />

weiteren ägyptischen Fortschritts in Richtung<br />

Demokratie und Marktwirtschaft.<br />

Mit mehr als 80 Millionen Einwohnern<br />

ist Ägypten der bevölkerungsreichste<br />

arabische Staat, seine Stimme<br />

hat Gewicht in der arabischen Welt.<br />

Fünf Mal stand das Land am Nil zwischen<br />

1948 und 1973 im Krieg gegen<br />

Israel, mit Tausenden Toten und Verletzen<br />

auf beiden Seiten. Ägypten ist<br />

umgekehrt der erste und bis zum israelisch-jordanischen<br />

Friedensschluss<br />

1994 der einzige arabische Staat gewesen,<br />

der Israel eine Existenzberechtigung<br />

in der Region zugestanden hat.<br />

Dabei zeigten sich viele Israelis ursprünglich<br />

mehr als skeptisch, ob der<br />

Vertrag dem jüdischen Staat tatsächlich<br />

den Frieden bringen würde. »Shalom<br />

– Salaam – Peace!«, titelten die israelischen<br />

Blätter zwar am 26. März<br />

1979. Nach über 30 Jahren Kriegszu-<br />

stand herrschte zwischen Israel und<br />

Ägypten endlich Frieden – doch von<br />

Freudentaumel keine Spur.<br />

Während Israels Regierungschef Menachem<br />

Begin und Ägyptens Staatspräsident<br />

Anwar as-Sadat auf dem Rasen<br />

des Weißen Hauses in Washington<br />

das Ende der Feindschaft mit ihrer Unterschrift<br />

besiegelten, stürzten an der<br />

Börse in Tel Aviv die Aktienkurse in<br />

den Keller.<br />

Denn an die Beständigkeit der neuen<br />

politischen Realität wollte und konnte<br />

kaum einer glauben – zu blutig war der<br />

israelisch-arabische Konflikt, zu frisch<br />

die Erinnerung an den 6. Oktober 1973.<br />

An diesem Tag, dem Yom Kippur, war<br />

Israel vom kombinierten Angriff der<br />

arabischen Gegnerstaaten völlig überrascht<br />

worden. Unvorbereitet und entsetzt<br />

hatte Israel damals zusehen müssen,<br />

wie starke arabische Verbände am<br />

höchsten jüdischen Feiertag die Waffenstillstandslinien<br />

des Sechs-Tage-<br />

Krieges von 1967 überrannten.<br />

Im Handumdrehen stürmten die Syrer<br />

die spärlich besetzten israelischen<br />

Verteidigungsstellungen. Sie eroberten<br />

den wichtigen Aufklärungsposten<br />

»Auge Israels« auf dem 2800 Meter hohen<br />

Berg Hermon und erzielten auch<br />

am südlichen Golan große Geländegewinne.<br />

Schnell drohte der Vormarsch<br />

auf das israelische Staatsgebiet.<br />

Gleichzeitig überquerten die Ägypter<br />

unter dem Schirm modernster sowjetischer<br />

Flugabwehrraketen mit 80 000<br />

Soldaten den Suez-Kanal. Innerhalb<br />

kürzester Zeit durchbrachen sie die<br />

10 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2012<br />

Bar-Lev-Linie – den Inbegriff israelisch-militärischer<br />

Stärke. An der vordersten<br />

Befestigungsanlage fiel ein Posten<br />

nach dem anderen.<br />

Verspätete Mobilmachung<br />

Radio Israel, das, wie das gesamte öffentliche<br />

Leben, an diesem Tag ruhte,<br />

schaltete sich wieder ein. Mit Codewörtern<br />

wurden die Reservisten eilends<br />

zu den Waffen gerufen. Mit damals<br />

gerade einmal drei Millionen Einwohnern<br />

konnte (und kann) sich Israel<br />

kein großes stehendes Heer erlauben.<br />

80 Prozent der Bodentruppen mussten<br />

mobilisiert werden. Auch die Generäle<br />

der Reserve Ezer Weizman (Oberbefehlshaber<br />

der Luftstreitkräfte), Haim<br />

Bar-Lev (Generalstabschef) und Ariel<br />

Sharon (Chef des Südkommandos), die<br />

inzwischen in die Politik gewechselt<br />

hatten, zogen ihre Uniformen wieder<br />

an. Um die israelischen Streitkräfte<br />

»Zahal« in Kriegsstärke zu versetzen,<br />

würden insgesamt 48 Stunden vergehen.<br />

Alle israelischen Kriegspläne basieren<br />

auf dieser Vorwarnzeit.<br />

Doch obwohl die arabischen Truppenkonzentrationen<br />

am Suez-Kanal<br />

und am Golan in der Woche vor dem<br />

Yom Kippur ein bedrohliches Ausmaß<br />

angenommen hatten, und trotz einer<br />

Reihe eindeutiger nachrichtendienstlicher<br />

Hinweise glaubten weder die<br />

politische Führung noch der militärische<br />

Geheimdienst an Krieg. Es überstieg<br />

schlicht das Vorstellungsvermögen<br />

der Israelis, dass die Araber nach<br />

picture alliance/dpa


pk/Werner Braun<br />

5Israelische Soldaten überqueren im Oktober 1973 den<br />

Suez-Kanal.<br />

der vernichtenden Niederlage im<br />

Sechs-Tage-Krieg von 1967, der Zerschlagung<br />

ihrer Heere und dem Verlust<br />

ihrer Luftstreitkräfte eine neue Konfrontation<br />

mit Israel wagen würden.<br />

Noch 24 Stunden vor Kriegsbeginn<br />

wurde die Möglichkeit einer arabischen<br />

raumgreifenden Offensive allseits<br />

für abwegig gehalten. Es war, als<br />

hätten die Verantwortlichen »Urlaub<br />

von der Realität« gemacht, erzählt der<br />

israelische Diplomat Yehuda Avner.<br />

Das kleine Israel fühlte sich vielmehr<br />

als nahöstliche Großmacht – und vertraute<br />

bedingungslos auf seine Abschreckung.<br />

Es beherrschte ein Territorium,<br />

das vom Hermon-Massiv im<br />

Norden bis zur Festung von Sharm el-<br />

Sheikh im Süden reichte. Die 1967 besetzten<br />

Gebiete, argumentierten Wehrexperten<br />

und Sicherheitspolitiker unisono,<br />

würden Israel mit natürlichen<br />

Hindernissen und »sicheren Grenzen«<br />

versehen.<br />

Viel zu spät begann daher die Generalmobilmachung.<br />

Am 7. Oktober,<br />

etwa 24 Stunden nach Kriegsbeginn,<br />

musste Verteidigungsminister Moshe<br />

Dayan, Held des Sechs-Tage-Krieges,<br />

kleinlaut einräumen: »Ich habe den<br />

Gegner unter- und unsere eigenen Fähigkeiten<br />

überschätzt.«<br />

Angesichts des zügigen arabischen<br />

Vormarsches erschien die Situation<br />

verzweifelt: »Es geht ums Ganze«,<br />

mahnte Dayan auf der streng geheimen<br />

Lagebesprechung des Kabinetts. Die<br />

Araber hätten sich aufgemacht, »um<br />

den Staat Israel zu erobern« und »den<br />

Juden den Garaus zu machen«.<br />

»Wir müssen uns etwa 30 km zurückziehen«,<br />

meinte Dayan, der bis dahin<br />

nur die Offensive kannte, in jenen<br />

Oktobertagen. Die Ägypter sollten bis<br />

zum Eintreffen der Reserve an der<br />

zweiten Verteidigungslinie aufgehalten<br />

werden. »Dort, wo es möglich ist«,<br />

erläuterte er weiter, »werden wir evakuieren«.<br />

Aber es werde Frontabschnitte<br />

geben, an denen »wir die Verwundeten<br />

im Feld lassen müssen«.<br />

Gestern wie heute waren und sind sich<br />

alle militärischen Führer und alle Politiker<br />

Israels in einem Grundsatz einig:<br />

Die Soldaten, die Israel in den Krieg<br />

schickt, müssen nach Hause geholt<br />

werden – koste es, was es wolle.<br />

In dieser kritischen Stunde sah der<br />

Verteidigungsminister jedoch nicht die<br />

geringste Möglichkeit, die Zurückgebliebenen<br />

freizukämpfen. Die Ägypter<br />

hatten innerhalb von nur 18 Stunden<br />

eine wahre Übermacht an Soldaten,<br />

Panzern und Geschützen an das Ostufer<br />

des Kanals gebracht. Die israelischen<br />

Stützpunkte waren eingeschlossen,<br />

die Soldaten saßen regelrecht in<br />

der Falle.<br />

Entsprechend hoch waren die israelischen<br />

Verluste. Ein Offizier, so lautet<br />

das eiserne Gesetz der israelischen<br />

Streitkräfte, muss im Feld »führen«,<br />

muss immer an der Spitze seiner Formation<br />

marschieren. »Aharai«, »mir<br />

nach«, lautet der Befehl zum Angriff<br />

denn auch, und so hatte es im Kriegsverlauf<br />

Kompanien gegeben, die ihre<br />

Befehle bereits von der dritten Offizier-<br />

5Verlassene ägyptische Fliegerabwehrstellung am Sinai, ausgerüstet<br />

mit einer Zwillingsflak aus sowjetischer Produktion.<br />

Aufnahme vom 25. Oktober 1973.<br />

riege erhielten. Denn sowohl ihre Kommandanten<br />

als auch deren Stellvertreter<br />

waren vorher gefallen.<br />

Die Israelis konnten – nach massiver<br />

Unterstützung durch die Vereinigten<br />

Staaten von Amerika – den fast dreiwöchigen<br />

Krieg schließlich doch noch<br />

für sich entscheiden: Ab dem 14. Oktober<br />

lieferte Washington über eine Luftbrücke<br />

Kriegsmaterial für die israelischen<br />

Waffenlager im Umfang von<br />

28 000 Tonnen; F-4 Phantom-Kampfjets<br />

wurden von US-Piloten direkt nach<br />

Israel geflogen.<br />

Als die Waffen am 24. Oktober schwiegen,<br />

war die 3. ägyptische Armee von<br />

Zahal auf dem Berg Sinai komplett eingekesselt<br />

und ihre Soldaten drohten zu<br />

verdursten; die israelischen Panzertruppen<br />

unter Führung von Ariel Sharon<br />

hatten den Suezkanal überquert<br />

und standen nur 101 Kilometer von<br />

den Toren Kairos entfernt.<br />

Gravierende Defizite<br />

Dass Israel und Ägypten keine sechs<br />

Jahre später »Land für Frieden« tauschen<br />

würden, hielten die meisten Beobachter<br />

zu diesem Zeitpunkt freilich<br />

für vermessen. »Es bedarf keiner großen<br />

Vorstellungskraft, um sich auszumalen,«<br />

sagte Regierungschefin Golda<br />

Meir, wie es um das »Schicksal Israels«<br />

bei einem Vormarsch der Ägypter bis<br />

»an unsere Grenze« gestanden hätte.<br />

Ohne die strategische Tiefe der 1967<br />

besetzen Gebiete, so sollten Meirs<br />

Worte suggerieren, hätte der arabische<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2012<br />

bpk/Werner Braun<br />

11


Israelisch-ägyptischer Friedensvertrag<br />

Israel und Ägypten 1949 – 1979<br />

A<br />

Nil<br />

israel.-ägypt. Waffenstillstandslinie 1973<br />

West-<br />

israel. Staatsgebiet seit 1949<br />

1967 von Israel besetzte Gebiete<br />

Tel Aviv-Jaffa Nablus<br />

jordan<br />

Gliederung in Sektoren gemäß dem<br />

Friedensvertrag von 1979<br />

land<br />

JERUSALEM<br />

M i t t e l m e e r<br />

Port Said<br />

Gazastreifen<br />

Gaza<br />

Hebron<br />

Totes<br />

Meer<br />

El-Arish<br />

Beersheba<br />

KAIRO<br />

Suezkanal<br />

Ismailia<br />

ÄGYPTEN<br />

Suez<br />

El-Kantara<br />

A B C<br />

Golf von Suez<br />

0 50 100 150 km<br />

Quelle: Aryeh Shalev, Israel and Syria:<br />

Peace and Security on the Golan, Boulder,<br />

CO 1994 (= JCSS Study, 24), Map No. 10.<br />

Angriff schnell dem Krieg von 1948<br />

gleichen können. Damals musste der<br />

junge Staat um sein Überleben kämpfen.<br />

Tatsächlich aber wurden durch<br />

den Yom-Kippur-Krieg die gravierenden<br />

Defizite des politisch-militärischen<br />

Status quo zu Tage gefördert.<br />

Seit seinem Amtsantritt im Oktober<br />

1970 hatte der ägyptische Staatspräsident<br />

Sadat mit einem Entscheidungsschlag<br />

gegen Israel gedroht, waren die<br />

ägyptischen Soldaten in ihren Stellungen<br />

zwischen Nil und Suez-Kanal<br />

gelegen. Immer wieder wurden kleinere<br />

Übungen und größere Manöver<br />

abgehalten. Die kurzen Kommunikations-,<br />

Transport- und Versorgungswege<br />

erlaubten es der ägyptischen Armee,<br />

in relativ kurzer Zeit von einer<br />

defensiven zu einer offensiven Haltung<br />

überzugehen – ohne dass sich<br />

eine Aussage über die damit verbundenen<br />

Absichten ableiten ließ. Eine<br />

raumgreifende Offensive lag ebenso<br />

im Bereich des Möglichen wie ein gänzlicher<br />

Verzicht auf eine militärische Initiative;<br />

ein Katz-und-Maus-Spiel, bei<br />

dem Israel auf Dauer nur verlieren<br />

konnte.<br />

H a l b i n s e l<br />

S i n a i<br />

ISRAEL<br />

Taba<br />

Golf von Akaba<br />

Die israelischen Entscheidungsträger<br />

sahen sich stets mit dem Dilemma konfrontiert,<br />

die gegnerischen Truppenaufmärsche<br />

entweder zu ignorieren<br />

oder die wehrfähige Bevölkerung zu<br />

den Waffen zu rufen. Und immer<br />

riskierten sie damit, entweder militärisch<br />

unvorbereitet zu sein und folglich<br />

im Kriegsfall am Rand einer militärischen<br />

Katastrophe zu stehen – so geschehen<br />

im Oktober 1973, als Zahal in<br />

den ersten Stunden so viele Verluste<br />

verkraften musste wie niemals zuvor –,<br />

oder aber Gefahr zu laufen, durch die<br />

eigenen Kriegsvorbereitungen ungewollt<br />

einen arabischen Militärschlag<br />

zu provozieren. Bereits zweimal waren<br />

die israelischen Streitkräfte im Laufe<br />

des Jahres 1973 mobil gemacht worden,<br />

was wiederum die Ägypter als<br />

massive Bedrohung empfunden hatten.<br />

(Angesichts der arabischen Liquidationsdrohungen<br />

wäre ein einziger<br />

verlorener Krieg jedoch immer auch<br />

gleichbedeutend mit dem Ende der<br />

staatlichen Existenz Israels gewesen.)<br />

Die israelische Kontrolle des Sinai<br />

hatte den jüdischen Staat also nicht<br />

wirklich sicherer gemacht. Und sie<br />

12 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2012<br />

D<br />

Eilat<br />

Akaba<br />

Sharm El-Sheikh<br />

Jordan<br />

SAUDI-<br />

ARABIEN<br />

AMMAN<br />

JORDANIEN<br />

© <strong>MGFA</strong><br />

06810-02<br />

schränkte die israelische Handlungsfreiheit<br />

ein: Ein Staat, dessen Militärstrategie<br />

aufgrund der geringen Fläche<br />

des Landes und seiner quantitativen<br />

Unterlegenheit offensiv-präemptiv<br />

ausgerichtet ist – also einem Angriff<br />

des Gegners stets zuvorkommen will –,<br />

wurde zu einer abwartend-defensiven<br />

Haltung gezwungen. Anstatt die<br />

Kampfhandlungen schnellstmöglich<br />

auf das Territorium des Gegners zu<br />

verlagern, musste zunächst ein arabischer<br />

Erstschlag aufgefangen werden:<br />

Seit Monaten hatte Henry Kissinger,<br />

von 1973 bis 1979 US-Außenminister,<br />

die Regierung von Golda Meir vor<br />

einem Präemptivschlag gewarnt. Alle<br />

Vermittlungsversuche seitens der USA<br />

bzw. der Vereinten Nationen, die Israel<br />

zum Rückzug bewegen und dazu führen<br />

sollten, dass Ägypten den Sinai auf<br />

diplomatischem Wege zurückerhielt,<br />

waren zuvor von Golda Meirs Regierung<br />

ausgeschlagen worden.<br />

Sinai:<br />

Land für Frieden<br />

Angesichts dessen war es sicherheitspolitisch<br />

nur folgerichtig, dass Dayan<br />

im Kabinett von Menachem Begin forciert<br />

den politischen Ausgleich mit<br />

Ägypten suchte. Hatte er noch ehedem<br />

die Lösung »besser Sharm el-Sheikh<br />

ohne Frieden als Frieden ohne Sharm<br />

el-Sheikh« propagiert, so trat er als<br />

Außenminister offensiv für eine bilaterale<br />

Verhandlungslösung ein. Diese<br />

wurde schließlich im September 1978<br />

erzielt. Durch die Vermittlung von US-<br />

Präsident Jimmy Carter einigten sich<br />

Sadat und Begin auf das Abkommen<br />

von Camp David, das die Grundlage<br />

des folgenden Friedensvertrages bildete.<br />

Die Vorteile der darin enthaltenen<br />

Modalitäten lagen für beide Seiten klar<br />

auf der Hand:<br />

Innerhalb von drei Jahren wurden<br />

die israelischen Streitkräfte in zwei<br />

Phasen von der gesamten Sinai-Halbinsel<br />

abgezogen, wobei zunächst der<br />

Rückzug auf die Linie El Arish–Ras<br />

Muhammad erfolgte. Danach wurden<br />

diplomatische, konsularische, wirtschaftliche<br />

und kulturelle Beziehungen<br />

zwischen Ägypten und Israel aufgenommen.<br />

Um beiden Seiten ein Maximum an<br />

Sicherheit zu bieten, sah der Friedensvertrag<br />

die Aufteilung der Sinai-Halb-


insel in drei Sektoren mit stark begrenzten<br />

ägyptischen Truppen- und<br />

Waffenkonzentrationen vor, die in dieser<br />

Form bis heute Bestand hat:<br />

Zone A erstreckt sich zwischen 50<br />

und 60 km ostwärts des Suezkanals.<br />

Dort kann Ägypten eine mechanisierte<br />

Division unterhalten, bestehend aus<br />

drei mechanisierten Infanteriebrigaden,<br />

einer Panzerbrigade, sieben<br />

Feldartilleriebataillonen mit bis zu<br />

126 Geschützen, sieben Flugabwehrartilleriebataillonen<br />

einschließlich tragbarer<br />

Boden-Luft-Raketen und bis zu<br />

126 Flugabwehrgeschützen vom Kaliber<br />

37 mm, bis zu 230 Panzern; bis zu<br />

480 Panzerfahrzeugen sowie einer Personalstärke<br />

von maximal 22 000 Mann.<br />

Zone B grenzt daran an und verläuft<br />

100 bis 130 km östlich der Zone A.<br />

Ägypten kann dort Grenzeinheiten unterhalten,<br />

die sich aus vier Bataillonen<br />

mit einer Personalobergrenze von 4000<br />

Soldaten zusammensetzen. Sie sind<br />

mit leichten Waffen ausgerüstet.<br />

Zone C beginnt östlich der Zone B<br />

und reicht bis an die internationale<br />

Grenze zu Israel. Die Breite beträgt ca.<br />

20 km. Hier sind vertragsgemäß internationale<br />

Truppen sowie mit leichten<br />

Israel im ägyptischen Frühling<br />

Waffen ausgerüstete Zivileinheiten der<br />

ägyptischen Polizei stationiert.<br />

Zone D verläuft auf israelischem<br />

Staatsgebiet parallel zur internationalen<br />

Grenze. Sie umfasst nur wenige Kilometer.<br />

Israel darf dort nicht mehr als<br />

vier Infanteriebataillone mit bis zu 180<br />

gepanzerten Truppentransportern unterhalten.<br />

Die Personalobergrenze liegt<br />

bei 4000 Soldaten. Panzer, Artillerie<br />

und Flugabwehrraketen (mit Ausnahme<br />

tragbarer Boden-Luft-Raketen)<br />

sind untersagt.<br />

Die Überwachung erfolgt durch die<br />

internationale Peacekeeping-Truppe<br />

Multinational Force and Observers<br />

(MFO), die seit 1982 diese Aufgabe erfolgreich<br />

wahrnimmt. Die militärische<br />

wie finanzielle Hauptlast wird von den<br />

USA getragen.<br />

Der Verzicht auf die direkte Kontrolle<br />

der Sinai-Halbinsel durch Israel<br />

kam jedoch keinesfalls einem Verlust<br />

von »strategischer Tiefe« gleich. Denn<br />

strategische Tiefe ergab sich nunmehr<br />

aus einem demilitarisierten Raum unter<br />

ägyptischer Souveränität. Die dadurch<br />

entstandene Pufferzone zwischen<br />

den Streitkräften beider Staaten<br />

reduzierte die allgegenwärtige Gefahr<br />

Für jede israelische Regierung war und ist es oberste Priorität, den Frieden mit<br />

Ägypten zu wahren. Er entlastet das israelische Verteidigungsbudget und erlaubt<br />

es Israel, seine militärischen Kräfte auf mögliche sicherheitspolitische Herausforderungen<br />

aus dem Norden (Syrien und Libanon) und vor allem dem Osten (Iran)<br />

auszurichten.<br />

Der Frieden ist aber immer auch ein kalter geblieben; Handelbeziehungen und<br />

Tourismus belaufen sich auf ein Minimum. Statt auf gutnachbarschaftliche Beziehungen<br />

zu vertrauen, setzt Israel auf die militärpolitischen Sicherheitsvereinbarungen.<br />

Daher rufen ägyptische Forderungen nach einer härteren Gangart gegenüber<br />

Israel sowie das Bestreben, die Truppen im Sinai deutlich aufzustocken, alte<br />

Bedrohungsperzeptionen hervor.<br />

Ein umfassender Krieg an mehreren Fronten unter Einbezug Ägyptens wäre das<br />

für Israel denkbar schlimmste Szenario. Dank der jährlichen US-Militärhilfe verfügt<br />

Ägypten über eine moderne und schlagkräftige Armee. Ein radikaler außenpolitischer<br />

Kurswechsel Kairos würde radikale Kürzungen der US-Zuwendungen<br />

nach sich ziehen, und eine militärische Konfrontation mit Israel käme deren jäher<br />

Einstellung gleich. Das sind gute Gründe für jede ägyptische Führung, die friedensvertraglichen<br />

Verpflichtungen gegenüber Israel zu erfüllen.<br />

Das heißt nicht, die Möglichkeit eines bewaffneten und – vor allem ungewollten<br />

– Konfliktes auszuschließen. So erschoss Israel bei der Verfolgung palästinensischer<br />

Extremisten im August 2011 versehentlich fünf ägyptische Grenzpolizisten,<br />

was zu schweren Spannungen zwischen den beiden Staaten und in der Folge zum<br />

Sturm ägyptischer Demonstranten auf die israelische Botschaft in Kairo führte.<br />

Außerdem befürchtet Israels Inlandsgeheimdienst, Kairo könne vor dem Waffenschmuggel<br />

der im Gazastreifen regierenden Hamas dauerhaft die Augen verschließen.<br />

Hamas ist der palästinensische Ableger der Muslimbruderschaft, die bei<br />

den Parlamentswahlen im Januar 2012 als stärkste politische Kraft Ägyptens hervorgegangen<br />

ist. Ein hochgerüstetes Gaza wird Israel aber nicht auf Dauer hinnehmen<br />

können – auch dort liegt ein Konfliktherd mit hohem Eskalationspotenzial.<br />

eines ungewollten Krieges. Vor allem<br />

aber bot der sich über 250 km erstreckende<br />

Raum der Sinai-Halbinsel Israel<br />

reichlich Vorwarnzeit und schloss<br />

den denkbar schlechtesten Fall, einen<br />

Überraschungsangriff am Boden, faktisch<br />

aus. Hinzu kommt, dass die<br />

fehlende militärisch-strategische Infrastruktur<br />

eine raumgreifende ägyptische<br />

Offensive nahezu unmöglich<br />

macht. Ein politischer Vorteil kam für<br />

Israel hinzu: Sollte Ägypten dennoch<br />

einen Waffengang wagen, würde Israel<br />

diesen Verstoß zu Recht als Kriegsfall<br />

(casus belli) für sich reklamieren und<br />

für einen Gegenschlag internationale<br />

Legitimität beanspruchen.<br />

Entgegen vieler spekulativer Unkenrufe<br />

und trotz tatsächlicher Belastungsproben<br />

hat das Friedensabkommen<br />

seit über 30 Jahren Bestand. In bemerkenswerter<br />

Weise waren die Konfliktparteien<br />

vom bisherigen Denken in<br />

Null-Summen-Kategorien abgerückt,<br />

bei dem der eigene Nachteil automatisch<br />

als Vorteil des Gegners gesehen<br />

wurde. Ägypten erhielt den Zankapfel<br />

Sinai zurück, wobei Verteidigungsminister<br />

Ariel Sharon auch die dort errichteten<br />

israelischen Siedlungen zum<br />

Zieldatum April 1982 räumen ließ.<br />

Israel gewann seinerseits die lang erhoffte<br />

politische und militärische Sicherheit.<br />

Als tragende Säule ist der<br />

1979 unterzeichnete Vertrag nicht nur<br />

für die Existenz des jüdischen Staates<br />

unverzichtbar, sondern bildet weiterhin<br />

den wichtigsten Eckpfeiler nahöstlicher<br />

Stabilität.<br />

� Pedi D. Lehmann<br />

Dies ist die leicht gekürzte Fassung eines<br />

in der Österreichischen Militärischen<br />

Zeitschrift veröffentlichten Beitrags<br />

(Pedi D. Lehmann, Israel im ägyptischen<br />

Frühling. In: ÖMZ, 6/2011, S. 721–725).<br />

Literaturtipps<br />

Moshe Dayan, Die Geschichte meines Lebens, Wien [u.a.]<br />

1976.<br />

Pedi D. Lehmann, Sechs Tage Krieg. In: Y. Magazin der Bundeswehr,<br />

6/2007, S. 102–105.<br />

Pedi D. Lehmann, Suche nach Sicherheit. Israel und der<br />

Friedensprozess in Nahost, Opladen 2001.<br />

Wegweiser zur Geschichte: Naher Osten. Im Auftrag des<br />

<strong>MGFA</strong> hrsg. von Bernhard Chiari [u.a.], 2., überarb. und<br />

erw. Aufl., Paderborn [u.a.] 2009.<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2012<br />

13


Das Ende des Crassus<br />

Adler jenseits des Euphrat<br />

Das Ende des Crassus<br />

bei Carrhae<br />

5Niederlage der Römer bei Carrhae, 53 v.Chr. Kupferstich von Matthäus Merian d.Ä.<br />

Die großen Niederlagen der Römer<br />

und die Namen ihrer Gegner<br />

sind noch heute bekannt.<br />

Sei es »Hermann« der Cherusker, der<br />

mit seinen Germanen die Legionen des<br />

Varus im Teutoburger Wald vernichtete,<br />

oder der Karthager Hannibal, der<br />

den Römern in Schlachten wie Cannae<br />

verheerende Niederlagen beibrachte.<br />

Doch der vielleicht gefährlichste Gegner,<br />

der sich Rom jemals entgegenstellte,<br />

waren die heute eher vergessenen<br />

Parther. Deren Königreich erstreckte<br />

sich jenseits des Euphrat in<br />

den Ländern des alten Persien und verhinderte<br />

Jahrhunderte lang Roms weitere<br />

Expansion nach Osten. Im Jahre 53<br />

v. Chr. vernichteten die Parther bei<br />

Carrhae in offener Feldschlacht ein römisches<br />

Heer, das mehr als doppelt so<br />

groß war wie das des Varus mehr als<br />

sechzig Jahre später in Germanien.<br />

Der Feldherr<br />

Die Geschichte Carrhaes lässt sich nicht<br />

ohne die Geschichte des Mannes erzählen,<br />

der dort sieben römische Legionen<br />

in den Untergang führte: der<br />

Konsul Marcus Licinius Crassus.<br />

Crassus fehlte es zwar im Vergleich zu<br />

seinen Rivalen Pompeius und Caesar<br />

erheblich an militärischem Prestige,<br />

ein im Rom der späten Republik entscheidender<br />

politischer Nachteil. Jedoch<br />

war er einer der reichsten Männer<br />

Roms und hatte den Sklavenaufstand<br />

unter Spartacus äußerst blutig niedergeschlagen.<br />

Das Rom dieser Zeit war<br />

geprägt von Aristokraten, die in ständigem<br />

Wettbewerb um politische Ämter<br />

und damit verbundene militärische<br />

Kommandos standen. Ziel war es, politisches<br />

Kapital in Form prestigeträchtiger<br />

Siege zu sammeln. Die dazu geführten<br />

Kriege wurden oft erst im<br />

Nachhinein vom Senat legitimiert. Der<br />

aristokratische Ehrgeiz trug so maßgeblich<br />

zu den Ausdehnungen des römischen<br />

Herrschaftsgebietes bei.<br />

Vielleicht war Crassus zu Beginn seines<br />

zweiten Konsulats ganz besonders<br />

ehrgeizig, da ihm der ersehnte militärische<br />

Triumph lange verwehrt geblieben<br />

war. Im Jahre 55 v. Chr. erhielt er<br />

vom Senat umfassende Vollmachten<br />

für die Provinz Syrien, die ihm die unbegrenzte<br />

Aushebung von Truppen so-<br />

14 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2012<br />

wie eigenständige Friedensschlüsse<br />

und Kriegserklärungen erlaubten. Der<br />

bereits über 60-jährige Konsul wollte<br />

nun mit einem großangelegten Feldzug<br />

im Osten endlich mit Pompeius<br />

und Caesar gleichziehen.<br />

Plutarch und der unheilvolle<br />

Feldzug des Crassus<br />

In Plutarchs »Leben des Crassus« liegt<br />

ein recht detaillierter Bericht des Partherzuges<br />

vor, der in der Schlacht von<br />

Carrhae sein jähes Ende fand. Demnach<br />

wollte Crassus Pompeius weit<br />

übertreffen. Er betrachtete nicht allein<br />

Syrien oder gar das Partherreich als<br />

Ziel seines Strebens, sondern dachte<br />

selbst an Baktrien, Indien und den<br />

»Äußeren Ozean«, den schon Alexander<br />

der Große zu erreichen versucht<br />

hatte. Plutarch schildert die Hast und<br />

Ungeduld des alten Konsuls bereits bei<br />

Beginn des Feldzuges. Die Entscheidung,<br />

trotz heftiger Winterstürme das<br />

Mittelmeer zu überqueren, führt zu ersten,<br />

hohen Verlusten. Die Überfahrt ist<br />

der Beginn einer langen Reihe von<br />

Fehlentscheidungen des Crassus, die<br />

akg


sich mit einer nicht enden wollenden<br />

Serie unheilvoller Vorzeichen verbinden<br />

und dem Leser bereits früh suggerieren,<br />

dass der Feldzug in einer Niederlage<br />

enden wird.<br />

Nach einem ersten Vorstoß überwinterte<br />

Crassus in Syrien und wartete<br />

dort auf seinen Sohn Publius, der mit<br />

1000 Mann germanischer Reiterei aus<br />

Gallien zu ihm stieß. Für Plutarch war<br />

dieses Warten der zweitgrößte Fehler<br />

des Crassus. (Sein größter sei der Feldzug<br />

selbst gewesen.) Statt die Zeit zu<br />

nutzen, um partherfeindliche Städte<br />

für sich zu gewinnen, erlaubte er den<br />

Parthern, die Initiative zu ergreifen.<br />

Im Winterquartier empfing Crassus<br />

eine parthische Gesandtschaft: Sei<br />

Crassus’ Angriff der Wille des Volkes<br />

von Rom, sähen die Parther dies als<br />

Kriegserklärung. Sei der Feldzug jedoch<br />

gegen den Willen seines Volkes<br />

und allein zu seinem persönlichen<br />

Zwecke, so wollten die Parther es ihm<br />

nachsehen und Mitleid mit dem alten<br />

Mann haben. Crassus gab dem Gesandten<br />

stolz und herausfordernd Antwort,<br />

worauf dieser ihm lachend entgegnete,<br />

auf seiner Handfläche würden Haare<br />

wachsen, bevor Crassus sein Ziel erreiche.<br />

Vom Euphrat in die Wüste<br />

Von Syrien aus drang Crassus ins Land<br />

der Parther vor. Die römischen Truppen<br />

hörten während ihres Vormarsches<br />

von parthischen Reitern, »deren Geschosse<br />

ihr Kommen ankündigten, und<br />

die alles durchschlugen, bevor man sie<br />

überhaupt sah«, von Kataphrakten, deren<br />

Panzerung gemacht sei, »teils um<br />

alles zu durchbrechen, teils um nichts<br />

und niemandem nachzugeben«. Solche<br />

Gerüchte verunsicherten die Römer,<br />

die bisher an einen einfachen Feldzug<br />

geglaubt hatten. Plutarch aber malt<br />

dunkle, unheilschwangere Schicksalswolken<br />

an den Himmel über den vorrückenden<br />

Römern. Crassus habe<br />

sämtliche schlechte Omen ignoriert,<br />

ebenso Ratschläge seiner eigenen Offiziere<br />

sowie des armenischen Königs,<br />

eines Verbündeten Roms: Die Armenier<br />

kannten die Kriegführung der Parther<br />

und rieten Crassus, den Weg durch<br />

die Berge zu nehmen, um den Vorteil<br />

der parthischen Reiterei auf offener<br />

Ebene zunichte zu machen. Dieser jedoch<br />

entschied sich für den Weg durch<br />

Mesopotamien, über die Ebene, überquerte<br />

den Euphrat und folgte dem<br />

Fluss mit sieben Legionen, 4000 Mann<br />

Reiterei und ebenso viel leichtem Fußvolk.<br />

Seine Späher berichteten, das<br />

Land der Parther sei wie leergefegt,<br />

doch fanden sie zahlreiche Hufspuren<br />

sich zurückziehender Kavallerie. In die<br />

Kette tragischer Fehlentscheidungen<br />

fügt sich ein weiteres Glied: Crassus<br />

deutete diese Zeichen als Beweise einer<br />

panischen Flucht. Was er nicht sehen<br />

wollte, war das planvolle Zurückweichen<br />

einer gut organisierten Reiterarmee.<br />

Der Euphrat gestattete es Crassus,<br />

seine Armee effektiv zu versorgen.<br />

Doch lässt Plutarch an dieser Stelle einen<br />

einheimischen Verräter auftreten,<br />

der Crassus dazu verführte, sich vom<br />

Wasser des Euphrat zu entfernen, um<br />

die vermeintlich zersplitterten Feindkräfte<br />

zu überraschen: Crassus marschierte<br />

ins Landesinnere, die Schlacht<br />

suchend. Tatsächlich aber hatten die<br />

Parther ihre Truppen zu diesem Zeitpunkt<br />

bewusst geteilt. Während der<br />

eine Teil unter dem parthischen König<br />

die armenischen Verbündeten Roms<br />

5Skulptur des Crassus am Justizpalast in<br />

Rom.<br />

akg-images / Schütze / Rodemann<br />

bedrängte und deren Land verwüstete,<br />

suchte der andere unter General Surena<br />

den Kampf mit Crassus.<br />

Die unwirtliche Umgebung und die<br />

zunehmende Entfernung von den Nachschublinien<br />

erschwerten den römischen<br />

Vormarsch erheblich: Kein Wasser,<br />

kein Schatten, nur Sand und Wüste,<br />

wohin das Auge sah, so Plutarch. Armenische<br />

Boten berichteten den erschöpften<br />

Römern von Parthern, die in großer<br />

Zahl in ihr Land eingefallen waren. Zuvor<br />

versprochene militärische Hilfe<br />

konnten die Armenier daher nicht senden.<br />

Im Gegenteil: Sie beschworen<br />

Crassus, kehrt zu machen, um gemeinsam<br />

die Entscheidung gegen die Parther<br />

zu suchen. Wäre ihm dies nicht<br />

möglich, so sollte er wenigstens die<br />

Ebene verlassen, um der parthischen<br />

Kavallerie den Vorteil offenen Geländes<br />

zu nehmen. Doch Crassus fühlte<br />

sich vom armenischen König betrogen,<br />

verweigerte jede Hilfe und drohte sogar<br />

eine Vergeltungsaktion an, sobald<br />

er sich der Parther entledigt hätte.<br />

Schließlich trafen römische Späher<br />

auf eine sich nähernde parthische Armee,<br />

deren Vorhut sie nur mit Mühe<br />

entkommen konnten. Plutarch lässt<br />

Crassus an dieser Stelle schreckhaft<br />

und ängstlich reagieren: Er wirft seine<br />

Schlachtordnung über den Haufen, obwohl<br />

sich die Legionen bereits formieren.<br />

Die ihm von Plutarch zugeschriebene<br />

furchtbare Angst überkam<br />

Crassus plötzlich und lähmte ihn im<br />

Grunde für den gesamten Schlachtverlauf.<br />

Statt eine breite Formation mit<br />

Kavallerie auf beiden Flügeln zu wählen,<br />

um eine Umfassung durch den<br />

Feind zu verhindern, entschied Crassus<br />

plötzlich, ein großes Karree mit zwölf<br />

Kohorten auf jeder Seite zu bilden. Jeder<br />

Kohorte stellte er eine Schwadron<br />

Kavallerie zur Seite, um so mit überall<br />

gleichmäßigem Schutz vorrücken zu<br />

können. Unweigerlich erinnert eine<br />

solche Schlachtaufstellung an den Leitsatz<br />

Friedrichs des Großen: »Wer alles<br />

verteidigt, verteidigt nichts.« Ohne jede<br />

Schwerpunktbildung setzte Crassus<br />

seine Truppen erneut in Marsch. An<br />

einem kleinen Fluss ließ er gegen den<br />

Rat seiner Offiziere nicht haltmachen,<br />

um zu rasten und die dringend benötigten<br />

Wasservorräte aufzufüllen, sondern<br />

führte die Armee weiter im Eiltempo<br />

dem Feind entgegen. Dies widersprach<br />

römischer Militärdoktrin, den Marsch<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2012<br />

1


Das Ende des Crassus<br />

4Reiter in parthischer Tracht<br />

aus gebranntem Ton,<br />

ca. 1. Jahrhundert n.Chr.<br />

bpk/Museum für Islamische Kunst, SMB/Hans Kräftner<br />

zum Schlachtfeld langsam und mit<br />

Pausen durchzuführen.<br />

Grundsätzlich wird in römischen<br />

Überlieferungen bei eigenen Niederlagen<br />

auf einen Ausschluss systemimmanenter<br />

Fehler geachtet: Es gab gute<br />

Soldaten, die schlecht geführt wurden;<br />

es gab fähige Offiziere, auf deren Rat<br />

nicht gehört wurde; und es gab treue<br />

und im Kampf mit dem gemeinsamen<br />

Feind erfahrene Verbündete, deren<br />

Warnungen ignoriert wurden. Es war<br />

nicht Rom, das seine Legionäre so ins<br />

Verderben führte. Es war Crassus.<br />

Ein ungleicher Gegner<br />

Surena verschleierte die Stärke seiner<br />

Armee, indem er die Hauptmacht hinter<br />

der Vorhut verbarg und seine Kata-<br />

phrakten ihre schwere Panzerung unter<br />

Decken und Tierhäuten verhüllen<br />

ließ. Die Parther ließen die römische<br />

Formation nahe herankommen, bevor<br />

sie ihre Tarnung abwarfen und die Römer<br />

sich plötzlich einer starken, teils<br />

schwer gepanzerten Reiterarmee gegenübersahen.<br />

Die Parther reagierten<br />

sofort auf die von Crassus gewählte<br />

Formation und stellten eine taktische<br />

Flexibilität zur Schau, die römische<br />

Generale noch Jahrhunderte lang beschäftigen<br />

sollte. Angesichts der tief<br />

gestaffelten Kohorten verzichteten die<br />

Kataphrakten auf einen Sturmangriff,<br />

entfernten sich von den Römern, um<br />

auszuschwärmen und das römische<br />

Karree zu umzingeln. Leichte römische<br />

Hilfstruppen unternahmen einen Ausfall,<br />

wurden jedoch mit Pfeilhageln zu-<br />

16 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2012<br />

rückgetrieben. Die Gerüchte von der<br />

Durchschlagskraft der feindlichen Geschosse<br />

sahen die Legionäre nun bestätigt.<br />

Berittene Bogenschützen umkreisten<br />

und beschossen sie ohne Unterlass<br />

und ohne zielen zu müssen, denn die<br />

Größe und Dichte der römischen Formation<br />

»erlaubte es nicht, vorbeizuschießen,<br />

selbst wenn man es versucht<br />

hätte«. Der Feind wich jedem römischen<br />

Versuch aus, ihn in einen Nahkampf<br />

zu verwickeln. Gegen die Stärke<br />

der parthischen Bögen fanden selbst<br />

die schwer gerüsteten Legionäre wenig<br />

Schutz. Die Hoffnung der Römer, die<br />

Pfeilvorräte würden mit dieser Taktik<br />

erschöpft, wurde durch Surenas Tross<br />

von Packkamelen zerschlagen, der die<br />

parthischen Reiter beständig mit Munition<br />

versorgte. Der Gegensatz zwischen<br />

den offensiv und mit effizientem<br />

Nachschub kämpfenden Parthern und<br />

den defensiv, geradezu passiv stehenden,<br />

von ihrem Nachschub abgeschnittenen<br />

Römern wird hier nur allzu deutlich.<br />

Der Zusammenbruch<br />

Von der Situation überfordert und außerstande,<br />

der parthischen Kampfesweise<br />

taktisch zu begegnen, befahl<br />

Crassus seinem Sohn Publius, einen<br />

Ausfall zu unternehmen. Die germanische<br />

Reiterei und mehr als acht Kohorten<br />

Legionäre stießen tief in die Reihen<br />

des zurückweichenden Feindes.<br />

Publius glaubte bereits zu triumphieren,<br />

doch die Flucht der Parther war<br />

vorgetäuscht. Schnell umzingelte eine<br />

Übermacht die Römer. Zu weit vom römischen<br />

Karree entfernt, wurden die<br />

Truppen unter Pfeilhageln und dem<br />

Ansturm der schwer gepanzerten Kataphrakte<br />

vernichtet. Die Parther<br />

schlugen Publius den Kopf ab, bevor<br />

sie sich erneut dem Vater zuwandten.<br />

Auch Crassus hatte sich von der<br />

Kriegslist der Parther täuschen lassen<br />

und sah das Nachlassen des Drucks<br />

auf seine Front als Zeichen des nahenden<br />

Sieges. Doch die Parther hatten<br />

lediglich vorübergehend die Kräfte zur<br />

Vernichtung des Sohnes zusammengezogen.<br />

Die römische Moral erreichte einen<br />

Tiefpunkt, als die Gegner mit dem<br />

Kopf des Publius auf einem Speer vor<br />

ihrer Front auf und ab ritten. Die römische<br />

Formation war längst kein geordnetes<br />

Karree mehr, und Surena


trieb sie mit anhaltenden Angriffen seiner<br />

Kataphrakte sowie berittenen Bogenschützen<br />

immer weiter zusammen.<br />

Mit Einbruch der Dunkelheit ließen<br />

die Parther von den Römern ab. Crassus,<br />

vor Verzweiflung wie gelähmt, ließ<br />

seine Offiziere den nächtlichen Rückzug<br />

befehligen. Die ständige Angst vor<br />

parthischen Angriffen allerdings führte<br />

dabei zur Zersplitterung des Heeres.<br />

Verstreute Verbände wurden aufgerieben,<br />

zurückgelassene römische Verwundete<br />

von den Parthern getötet. Die<br />

schwer angeschlagene Armee erreichte<br />

die Stadt Carrhae und rastete. Im<br />

Schutze der Nacht wollte sie versuchen,<br />

der feindlichen Umklammerung<br />

zu entkommen. Die Reste des römischen<br />

Heeres wurden jedoch erneut<br />

eingekreist und unablässig angegriffen,<br />

versprengte Truppenteile vernichtet.<br />

Crassus selbst wäre beinahe überrannt<br />

worden. Daraufhin sammelten<br />

sich schließlich etwa 5000 Mann und<br />

stießen auf eine Anhöhe vor, um den<br />

Angriffen der parthischen Reiterei<br />

standzuhalten. Surena vereitelte dies,<br />

indem er Crassus zu Verhandlungen<br />

einlud. Er wolle dem römischen Feldherrn<br />

die Gelegenheit geben, sein Leben<br />

und das seiner Männer zu retten.<br />

Auf das Drängen seiner Truppen hin<br />

stimmte der Konsul dem Treffen zu,<br />

doch bevor es zu Verhandlungen kommen<br />

konnte, wurden Crassus und die<br />

5Römische Soldaten und Offiziere.<br />

Hochrelief aus Marmor, 51/52 n.Chr.<br />

bpk/RMN/Hervé Lewandowski<br />

meisten seiner Offiziere erschlagen.<br />

Der klägliche Rest der römischen Legionen<br />

ergab sich oder versuchte zu entkommen,<br />

wurde jedoch von parthischer<br />

Reiterei gejagt und vernichtet.<br />

Plutarch berichtet von 10 000 gefangenen<br />

und 30 000 gefallenen Römern.<br />

Den Kopf des Crassus sandte Surena<br />

seinem König nach Armenien.<br />

Die Bedeutung Carrhaes für die<br />

Römer<br />

Es war die schwerste römische Niederlage<br />

seit Cannae. Sieben Legionen waren<br />

von einem Feind vernichtet worden,<br />

den Rom zuvor nicht einmal als<br />

ernsthaften Gegner wahrgenommen<br />

hatte. Die Katastrophe des Crassus war<br />

eine schwere Schmach für ein Rom, das<br />

sich jedem äußeren Feind überlegen<br />

sah. Ein Konsul Roms war mit seiner<br />

gesamten Armee untergegangen, die<br />

Adler der Legionen in Feindeshand gefallen.<br />

Die verlorenen Feldzeichen waren<br />

in den Jahrzehnten nach Carrhae<br />

ein schwerwiegendes Politikum in<br />

Rom.<br />

Crassus verewigte sich im römischen<br />

Gedächtnis als ruhmsüchtiger militärischer<br />

Dilettant. Seine vernichtende<br />

Niederlage erlaubte es ausgerechnet<br />

dem Rivalen Caesar, die Rache an den<br />

Parthern zur Legitimation eines eigenen<br />

Partherzuges zu machen. Caesars<br />

Ermordung im Jahre 44 v. Chr. kam diesem<br />

jedoch zuvor. Im Vorauskommando<br />

des großangelegten Feldzugs<br />

war der junge Oktavian, besser bekannt<br />

als Augustus, der politische Erbe<br />

Caesars, der den Bürgerkrieg und die<br />

römische Republik gleich mit beendete.<br />

Das Wiedererlangen der bei<br />

Carrhae verlorenen Feldzeichen auf diplomatischem<br />

Wege im Jahre 20 v. Chr.<br />

war ein großer Erfolg für Augustus,<br />

zum Sieg über den Feind im Osten stilisiert.<br />

Die Vormacht der Parther jenseits<br />

des Euphrat blieb jedoch Jahrhunderte<br />

lang ungebrochen.<br />

Carrhae bedeutet das Ende eines alternden<br />

Konsuls und Triumvirn, der<br />

seine Adler nach Osten getragen hatte,<br />

um in maßlosem Ehrgeiz die Nachfolge<br />

Alexanders des Großen anzutreten.<br />

Strategisch betrachtet war es ein<br />

schlecht geführter Feldzug. Die Versorgungswege<br />

der Armee, die Nachrichtengewinnung<br />

und die Abstimmung<br />

mit den Verbündeten wurden erheblich<br />

vernachlässigt. Eine zweite, größere<br />

parthische Armee befand sich beinahe<br />

im Rücken der Römer, und die Versorgungslage<br />

war prekär. Selbst ein Sieg<br />

bei Carrhae hätte kaum einen erfolgreichen<br />

Krieg bedeutet.<br />

Aus taktischer Sicht ist Carrhae insofern<br />

bedeutsam, als dass sich zwei<br />

Heere begegneten, die beide in für sich<br />

vermeintlich geeignetem Terrain kämpften.<br />

Die Ebene erlaubte es den römischen<br />

Legionen, ganz im Sinne ihrer<br />

Ausbildung geordnet in Formation zu<br />

kämpfen und zu manövrieren. Die parthische<br />

Reiterei wiederum konnte ihre<br />

Wirkung voll entfalten, den Feind umschließen<br />

und den nötigen Abstand<br />

gewinnen, um einem nachteiligen Nahkampf<br />

auszuweichen. Der Schlachtverlauf<br />

zeigte, dass die unflexible Art und<br />

Weise, in der Crassus die römische<br />

Kampfesweise einsetzte, der parthischen<br />

nicht gewachsen war. Auch späteren<br />

römischen Feldherren gelang es<br />

kaum, der Taktik parthischer Reiterarmeen<br />

effektiv zu begegnen, so dass es<br />

fraglich scheint, zumindest das taktische<br />

Versagen Crassus persönlich anzulasten.<br />

Doch gab er post mortem einen<br />

allzu dankbaren Schuldigen ab. Ein<br />

unfähiger alter Feldherr in ihren Reihen<br />

war für die römische Aristokratie<br />

einfacher zu verdauen als ein Hinterfragen<br />

ihrer absoluten Überlegenheit<br />

über andere Völker.<br />

Heute sind die Schlacht von Carrhae<br />

und ihre Protagonisten im Vergleich zu<br />

anderen großen Niederlagen Roms<br />

weitgehend unbekannt, obwohl ihr<br />

Ausgang katastrophal und der Auftakt<br />

zu einem jahrhundertelangen Konflikt<br />

zwischen zwei der größten Reiche der<br />

Antike war. Die Parther waren eine<br />

ständige Bedrohung für Roms Provinzen<br />

westlich des Euphrat und beschäftigten<br />

die Machthaber am Tiber noch<br />

500 Jahre, nachdem sie die Legionen<br />

des Crassus im Sand Mesopotamiens<br />

vernichtet hatten.<br />

� Frédéric du Roi<br />

Literaturtipps<br />

Gareth C. Sampson, The Defeat of Rome. Crassus, Carrhae<br />

and the Invasion of the East, Barnsley 2008.<br />

Oliver Linz, Studien zur römischen Ostpolitik im Principat,<br />

Hamburg 2009.<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2012<br />

1


Chemie und Krieg<br />

Chemie und Krieg<br />

im 18. und<br />

19. Jahrhundert<br />

Dunkelheit. Ich vermag die eigene<br />

Hand vor meinen Augen<br />

nicht zu erkennen. Mein Blick<br />

ist starr auf den wassergefüllten Erlenmeyerkolben<br />

gerichtet. Der Bunsenbrenner<br />

rauscht, seine Flamme erhitzt<br />

den Kolben. Da ist es! Endlich!<br />

Winzige blaue Flämmchen tanzen<br />

plötzlich auf der Flüssigkeit, umspringen<br />

einander, bilden einen Kreis, vereinen<br />

sich. Von unsichtbarer Kraft<br />

getrieben, Geisterhänden gleich, steigt<br />

das kalte blaue Licht einen Glasstab<br />

empor, der sich auf dem Kolben befindet.<br />

Langsam bewegt sich das<br />

Flämmchen auf und ab, schließlich<br />

ergießt es sich in das Glas, füllt es<br />

aus. Blau-weißes Leuchten. Die Hände<br />

brennen leicht. Berauschende Neugier.<br />

Freudig durchfährt mich der<br />

Gedanke – Weißer Phosphor!<br />

Vor nunmehr 300 Jahren beobachtete<br />

ein Anderer das Phänomen zum ersten<br />

Mal: der Hamburger Alchemist und<br />

ehemalige Offizier Henning Brand.<br />

Beim Ausglühen von Urin unter Luftabschluss<br />

entdeckte er jenen Stoff, der<br />

im 20. Jahrhundert tausende Menschen<br />

das Leben kostete. Brand gehörte zu einigen<br />

wenigen Menschen, die in ihrer<br />

Zeit versuchten, die Geheimnisse der<br />

Stoffe, aus denen unsere Welt besteht,<br />

zu ergründen. Sie glaubten an die Möglichkeit,<br />

Metalle umzuwandeln. Der<br />

Planet Erde ist reich an Eisen, seltener<br />

kommt Kupfer vor, noch viel weniger<br />

Silber und höchst selten Gold. Ein Arkanum,<br />

einem Zaubermittel gleich,<br />

bietet ihr die Möglichkeit, die Metalle,<br />

18 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2012<br />

5Entdeckung des Phosphors durch den Alchemisten Henning Brand 1669. Gemälde<br />

von Joseph Wright, 18. Jahrhundert.<br />

die im Schoß der Natur zu ihrer höchsten<br />

Form reifen, umzuwandeln. Es sei<br />

der Stein der Weisen, lapis philosophorum.<br />

Wer ihn besitze, erlange die Kraft<br />

zur Transmutation der Metalle. Er<br />

wurde Adept genannt.<br />

Alchemisten waren gefürchtet, verhasst<br />

und wurden doch zugleich verehrt.<br />

Fürsten suchten sie an ihre Höfe<br />

zu ziehen, denn auf Gold und Silber<br />

kam es schließlich an, wollte man<br />

Kriege führen. Ein frühes und berühmtes<br />

Beispiel ist Kaiser Rudolf II.<br />

(1552–1612), der sich selbst als Alchemist<br />

betätigte. Als er geradezu bankrott<br />

war, soll ein Adept ihm über<br />

Nacht Unsummen Silber geschaffen<br />

haben. Einige jener Münzen sind erhalten<br />

und können in Prag und Wien besichtigt<br />

werden.<br />

Modernisierung des Militärwesens<br />

durch Chemie<br />

Die Chemie befand sich im 17. und 18.<br />

Jahrhundert in einem elementaren Umbruch.<br />

Auch hier nahmen Militär und<br />

Krieg entscheidenden Einfluss auf die<br />

Entwicklung einer jungen Wissenschaft.<br />

Im 18. Jahrhundert splittete sie<br />

sich in zwei gänzlich verschiedene<br />

Richtungen. Die Alchemie als hohe<br />

Kunst der Umwandlung von Metallen,<br />

mit ihrer starken Affinität zur Magie,<br />

zum Glauben und zur Philosophie verlor<br />

an Gewicht. Die Geburtsstunde der<br />

technischen und wissenschaftlichen<br />

Chemie schlug. Praktische Erfordernisse<br />

des Friedens und Krieges formten<br />

sie zur modernen Naturwissenschaft,<br />

die wiederum das Militärwesen modernisierte.<br />

So profitierte die Militärmedizin<br />

von ihrem Fortschritt ebenso<br />

wie die Rüstungsindustrie. Die genaue<br />

Kenntnis der Chemie als Wissenschaft<br />

von den Stoffen und ihren Umwandlungen<br />

wurde unerlässlich, um Kriege<br />

führen zu können. Die Zusammensetzung<br />

verschiedener Pulversorten, der<br />

Kohlenstoffgehalt des Eisens für Säbel,<br />

Gewehrläufe und Bajonette sowie die<br />

Kenntnis über die Füllung von Leuchtkugeln<br />

und Raketen sind nur einige<br />

wenige Beispiele hierfür.<br />

bpk/Lutz Braun


5Mercurius, ein Symbol der Alchemie.<br />

Dem Leib des Drachen entwachsen der<br />

Mond (er steht für das Silber), die<br />

Sonne (= Gold), Merkur (= Quecksilber).<br />

Holzschnitt, 16. Jahrhundert.<br />

Bei Überlegungen zu »Chemie und<br />

Krieg« richtet sich der Gedanke in erster<br />

Linie auf den Gaskrieg und das<br />

Vergiften des Gegners. Für gewöhnlich<br />

wird dann sofort an den Giftgaseinsatz<br />

der Mittelmächte und der<br />

Entente im Ersten Weltkrieg gedacht.<br />

Doch die chemische Kriegführung ist<br />

älter, viel älter. Ihre Wurzeln reichen<br />

bis in die Antike zurück. Seinen ersten<br />

»Höhepunkt« erlebte der Gaskampf<br />

bereits im 17. Jahrhundert. Insbesondere<br />

in der Zeit des Dreißigjährigen<br />

Krieges waren das Abbrennen giftiger<br />

Stoffe, der Einwurf von menschlichen<br />

Leichen, Kot und toten Tieren in belagerte<br />

Festungen beliebte, wenngleich<br />

relativ wirkungslose Methoden bei<br />

Belagerungen. Im 17. und 18. Jahrhundert<br />

verwandte man eine Vielzahl unterschiedlicher<br />

Brandgeschosse, Granatenfüllungen,<br />

wie auch Pechkränze<br />

zum Ausleuchten der gegnerischen<br />

Truppen bei Nacht.<br />

In seinen vielbeachteten Buch »VollkommeneGeschütz-Feuerwerck-Büchsenmeisterey-Kunst«<br />

legte der pol-<br />

bpk<br />

nische Autor Casimir Simienowicz (um<br />

1600–1651) verschiedene Formen des<br />

Gifteinsatzes dar. So riet er, Kugeln unterschiedlicher<br />

Metalle, seien es Stahl,<br />

Zinn oder Blei, mehrfach stark zu erhitzen<br />

und in einen Sud aus Ruß, Salz,<br />

Mäuseohren oder in Schierlingssaft,<br />

Eibischwurz und Seife zu tauchen.<br />

Weitere Tinkturen zur Behandlung der<br />

Musketenkugeln waren seinerzeit die<br />

Säfte des Eisenhutes, des Wolfswurzes<br />

und der Eibe. So riet Simienowicz beispielsweise,<br />

dass »die Wunden von solchen<br />

Gift also angestecket werden/ daß<br />

sie auch bloß im Durchgehen oder<br />

Durchschiessen einen gantz gefährlichen<br />

Gift hinterlassen/ wenn ihm<br />

nicht bey Zeiten mit gebührenden Mitteln<br />

begegnet wird«. Und der Leser erfährt<br />

darüber hinaus, dass »dennoch<br />

das Gift so subtil und ansteckend/ daß<br />

es allgemach auß den kleinen Adern in<br />

die grossen schleichend und darauff<br />

nach dem Hertzen tretend/ den Verwundeten<br />

geschwind ums Leben<br />

bringe«. Sowohl diese perfide Wirkung<br />

am Menschen als auch mögliche Gegengifte<br />

wurden im Tierversuch während<br />

des 18. Jahrhunderts erprobt.<br />

Auch bei der Jagd scheinen vergiftete<br />

Kugeln eine gewisse Rolle gespielt zu<br />

haben. Gleichwohl galt diese Art der<br />

Tötung des Wildes als unehrenhaft,<br />

wie Christian Heinrich Schweser Ende<br />

des 18. Jahrhunderts mitteilte. Glaubt<br />

man den frühneuzeitlichen Berichten,<br />

so sind vergiftete Gewehrkugeln häufig<br />

im infanteristischen Kampf angewandt<br />

worden. Von der Schlacht bei<br />

Narva im Jahr 1700 wird berichtet, die<br />

Schweden hätten Giftkugeln gegen die<br />

Russen eingesetzt und zahlreiche Gegner<br />

damit getötet. Die sich beim Abschuss<br />

entwickelnden Temperaturen<br />

müssen chemische Reaktionen hervorgerufen<br />

haben, die das ursprüngliche<br />

Gift veränderten. Diese Darstellungen<br />

werden jedoch von der jüngeren Forschung<br />

angezweifelt. Solange aber die<br />

Kritiker ihre Zweifel nicht durch eigene<br />

Experimente belegen, darf den<br />

vergifteten Kugeln ein gewisses Maß<br />

an Glaubwürdigkeit unterstellt werden,<br />

gehörte doch der Einsatz vergifteter<br />

Geschosse zu den ältesten Formen<br />

des Gifteinsatzes im Kampf überhaupt.<br />

Chemische Reaktionen führten<br />

sicher zur Veränderung der Substanzen.<br />

Vielleicht wurde diese auch von<br />

vornherein einkalkuliert.<br />

bpk/Scala<br />

Der umstrittene Einsatz<br />

von Giften<br />

Gleichwohl bestanden bereits in der<br />

zeitgenössischen Literatur Vorbehalte<br />

gegen den Einsatz von Giften. Auch<br />

die Meinungen über den Einsatz von<br />

Gasen zur Tötung des Gegners waren<br />

widersprüchlich. So teilte beispielsweise<br />

der bekannte Militärschriftsteller<br />

Brechtel in seiner 1691 erschienenen<br />

»Büchsenmeisterey« mit: »Nun wollen<br />

wir noch kürtzlich hinzu thun dasjenig,<br />

davon vil verstendige Büchsenmeister,<br />

wenig oder garnichts halten<br />

[…], nemlich die vergifftung des<br />

luffts.«<br />

Das erste vertraglich vereinbarte Verbot<br />

des Einsatzes von giftigen Gasen<br />

und anderen Giftkampfstoffen stammt<br />

aus dem Jahre 1675. Bei der Übergabe<br />

der Festung Straßburg versprachen die<br />

kaiserlichen und französischen Truppen,<br />

sich künftig keiner »Drat-, vergiffteten,<br />

gestirnten« Kugeln mehr zu bedienen.<br />

Neben moralischen Bedenken,<br />

die auch Völkerrechtsgelehrte äußerten,<br />

sprachen technische Probleme gegen<br />

den Einsatz von giftigen Gasen.<br />

Zum einen verwiesen Feuerwerker,<br />

wie Simienowicz, auf die Eigengefährdung<br />

der Truppe durch sich plötzlich<br />

5Die Erfindung des Pulvers. Gemälde<br />

von Jacopo Coppi, 16. Jahrhundert.<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2012<br />

19


Chemie und Krieg<br />

ändernde Windverhältnisse. Andererseits<br />

verflüchtigten sich die Gase zu<br />

schnell. Um dieser Tatsache vorzubeugen,<br />

setzte man den Giftgranaten Blätter<br />

und Wurzeln giftiger Pflanzen<br />

hinzu. Diese hielten sich anscheinend<br />

länger in Bodennähe.<br />

Brechtel erzählt von einem alten erfahrenen<br />

Bergfachmann, dem er begegnete.<br />

Dieser habe ihn auf einen<br />

Stein hingewiesen, mit dessen Hilfe<br />

man die Luft vergiften und so die Gegner<br />

im Kriege bezwingen könne. Die<br />

Türken würden hiervon im Kriege viel<br />

Gebrauch machen und hätten etliche<br />

Christen auf diese Weise getötet. Vermutlich<br />

handelte es sich bei dem Stein<br />

um ein schwefelhaltiges Gemisch, das<br />

abgebrannt wurde. Im 17. und 18. Jahrhundert<br />

wurde mit unterschiedlichen<br />

Stoffgemischen experimentiert. Hierbei<br />

mischten Feuerwerker gerne<br />

Quecksilber und Quecksilberverbindungen<br />

mit tierischen und pflanzlichen<br />

Giften.<br />

»Sturmkrüge« im Nahkampf<br />

Beliebter als die Nutzung giftiger Gase<br />

im Fernkampf war der Einsatz von Giften<br />

im Nahkampf. So wurden Krüge<br />

mit langen Hälsen gefertigt, die mit<br />

Schießpulver und Quecksilber gefüllt<br />

wurden. Diese giftigen Handgranaten<br />

bezeichneten Zeitgenossen als »Sturmkrüge«.<br />

Die Wirkung des Quecksilbers<br />

wurde mit Arsenik (Arsen-III-oxid)<br />

verstärkt. Arsenik war seit alten Zeiten<br />

ein sehr beliebtes Gift, das den »Vorzug«<br />

besaß, seine Wirkung schnell zu<br />

entfalten. Es ruft bereits innerhalb der<br />

ersten Stunde akute Vergiftungserscheinungen<br />

hervor, die sich in Gewebsödemen<br />

sowie Übelkeit und Erbrechen<br />

äußern. Innerhalb von drei Tagen<br />

tritt der Tod durch Wasser- und<br />

Elektrolytverlust ein. Ein bedeutender<br />

Forscher auf dem Gebiete der Arsenverbindungen<br />

war der eingangs erwähnte<br />

Offizier und Alchemist Henning Brand.<br />

Die den Sturmkrügen zugegebenen<br />

Quecksilberanteile erwiesen sich gleichfalls<br />

als sehr wirkungsvoll. Quecksilber<br />

besitzt einen hohen Dampfdruck.<br />

Es geht zügig von der flüssigen in die<br />

Gasphase über und wird über die<br />

Lunge aufgenommen. Die akute Vergiftung<br />

beginnt mit stundenlangen<br />

starken Schmerzen im Magen-Darm-<br />

Bereich. Später setzen schmerzhafte<br />

20 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2012<br />

bpk/Dietmar Katz<br />

Entzündungen des Dickdarms und der<br />

Mundschleimhaut ein. Der Tod kann<br />

innerhalb von zwei bis vier Wochen<br />

eintreten.<br />

Der Einsatz von »Sturmkrügen«<br />

führte also nicht unmittelbar zum Tod<br />

des Gegners. Ein wichtiger Nachteil<br />

bestand somit in der Tatsache, dass der<br />

Feind nicht sofort gefechtsunfähig<br />

war.<br />

Ende des 17./Anfang des 18. Jahrhunderts<br />

kamen »Sturmfässer« auf. Sie basierten<br />

auf Arsenik im Gemisch mit<br />

Arsensulfid sowie großen Mengen an<br />

Bilsenkrautsamen. Auch sie wurden in<br />

Gefechten eingesetzt, galten aber als<br />

wirkungsvoller im Einsatz gegen feindliche<br />

Lager. Ein Bericht über ihre grausamen<br />

Wirkungen liegt uns aus dem<br />

Ende des 17. Jahrhunderts vor. Der<br />

Rauch habe die Bäuche der Menschen<br />

anschwellen lassen, sie »biß drei stund<br />

sinnloß [besinnungslos] machen, ja etliche<br />

gar ertödten«. Bisweilen enthalten<br />

die Ausführungen der Feuerwerker<br />

jedoch auch Darstellungen, die<br />

eher Produkt des Aberglaubens statt<br />

naturwissenschaftlicher Erkenntnis<br />

oder gar praktischer Anwendung waren.<br />

So empfahl Simienowicz für die<br />

Giftgewinnung: »[N]imm ferner 3 oder<br />

4 Feuer-Kröten von denen/ die in den<br />

Sträuchern leben/ welcher Rücken wie<br />

bläulich anzusehen/ und die sehr groß<br />

und mit unterschiedlichen Farben ge-<br />

5Bombardement auf Sewastopol. Litographie.<br />

sprenkelt/ die sind um so viel schädlicher<br />

und gifftiger/ je kälter und finsterer<br />

der Wald [ist].«<br />

Der Einsatz von Giftgeschossen<br />

dürfte sich dennoch in engeren Grenzen<br />

gehalten haben, als die durchaus<br />

umfassenden Berichte nahelegen. Der<br />

damalige Stand der Medizin erlaubte<br />

oftmals keinen Einblick in die wahren<br />

Ursachen starker Wundverletzungen<br />

und ihrer Entzündungen. So kamen<br />

Gerüchte über den Einsatz von Giften<br />

auf, ohne dass diese bei den Kampfhandlungen<br />

tatsächlich eingesetzt worden<br />

wären.<br />

»Totenkopf« und »Feuerwerkerhagel«<br />

Wirkungsvoller und auch in der Praxis<br />

zur Anwendung gelangt sind Pulver,<br />

die bei ihrer Verbrennung giftige Gase<br />

freisetzten. Üblich waren Gemische<br />

aus Pferdemist, Schwefel, Kohle und<br />

arsenhaltige Substanzen. Man setzte<br />

zudem auf starke Rauchentwicklung<br />

durch die Beimischung von Birkenrinde,<br />

Blättern und diversen Kräutern.<br />

Ein bekanntes und sehr wirksames Geschoss<br />

war der sogenannte »Totenkopf«.<br />

Hierbei handelte es sich um eine<br />

Kugel, die mit einem Hohlraum versehen<br />

war. In der Mitte befand sich Mehl,<br />

in das einzelne Blei- oder Eisenkugeln<br />

eingelassen waren. In kleinen zufüh-


enden Schächten befand sich Pulver.<br />

Das Mehl wurde mit Kohlenstaub und<br />

Petroleum vermischt. Das Geschoss<br />

wurde dann nochmals vollständig mit<br />

Pech umgeben und schließlich in Leinwand<br />

gehüllt. Der »Totenkopf« war<br />

auch als hölzerne Variante im Einsatz.<br />

Dem menschlichen Erfindungsreichtum<br />

bei der Tötung von Menschen boten<br />

sich schon damals kaum Grenzen.<br />

»Feuerwerkerhagel« nannten sie mit<br />

Steinen, Blei, Pech und Harz gefüllte<br />

Kugeln, die einen dichten Feuerhagel<br />

auf den Gegner brachten, der durchsetzt<br />

war von beißendem Rauch.<br />

Die Entwicklung des Giftgaseinsatzes<br />

im 19. Jahrhundert<br />

Im beginnenden 19. Jahrhundert<br />

scheint der Einsatz von Giften und Gasen<br />

im Kampf abgenommen zu haben.<br />

Zumindest sind kaum Berichte überliefert.<br />

Dies ist insofern erstaunlich, als<br />

sich die Kriegführung durch die sich<br />

herausbildenden Massenheere im Zuge<br />

der Französischen Revolution radikalisierte.<br />

Nach wie vor gelangten »Kunstfeuer«<br />

zum Einsatz. Hierbei handelte<br />

es sich um mit verschiedenen Zusätzen<br />

versehene Bomben, Granaten und Fässer,<br />

die vornehmlich die Verteidiger<br />

von Festungen dem Angreifer entgegen<br />

warfen oder rollten, sobald dieser<br />

mit dem Sturm auf die Breschen begann.<br />

Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts<br />

griffen Chemiker und Militärs<br />

die Idee des Giftgaseinsatzes wieder<br />

auf. Neben den bereits bekannten<br />

Stoffen Quecksilber und Arsenik stand<br />

nun auch Kakodyl zur Verfügung.<br />

Diese widerlich riechende Flüssigkeit<br />

entzündet sich leicht an der Luft und<br />

geht unter langsamer Sauerstoffzufuhr<br />

in Kakodyloxyd über, das gleichfalls<br />

äußerst giftig ist. Kakodyl war ursprünglich<br />

von dem französischen<br />

Apotheker Antoine Alexis Cadet de<br />

Vaux (1743–1828) als Mittel zum Nachweis<br />

von Arsenvergiftungen synthetisiert<br />

worden. 1837 gelang Robert Bunsen<br />

ein vereinfachtes Herstellungsverfahren,<br />

mit dessen Hilfe größere Mengen<br />

Kakodyl erzeugt werden konnten.<br />

1854 wurde die erste kakodylbasierte<br />

Gasgranate patentiert. Im Falle eines<br />

Einsatzes setzte sie die Flüssigkeit fein<br />

verteilt frei und sollte danach in Brand<br />

geraten. Die dann entstehenden Gase<br />

5Robert Wilhelm Bunsen (1811–1899),<br />

Erfinder des Bunsenbrenners.<br />

enthielten Arsenverbindungen, die bei<br />

ausreichender Konzentration tödlich<br />

wirkten. Ihren Einsatz im Krimkrieg<br />

lehnte das britische Kriegsministerium<br />

jedoch ebenso ab wie den von Sir Lyon<br />

Payfair (1818–1889) entwickelten<br />

Kampfstoff Kakodylcyanid. Die Handhabung<br />

der entsprechenden Geschosse<br />

galt als kompliziert. Interessanter erschien<br />

da schon der Einsatz von Schwefel.<br />

Mit seiner Hilfe sollte im Krimkrieg<br />

(1853–1856) das Fort Malakow Kurgon<br />

der Festung Sewastopol zu Fall gebracht<br />

werden.<br />

Der berühmte Naturwissenschaftler<br />

Michael Faraday war an den Planungen<br />

des Blasangriffes unmittelbar<br />

beteiligt. Insgesamt sollten 500 Tonnen<br />

Schwefel und 2000 Tonnen Koks abgebrannt<br />

und die entstehenden Gase auf<br />

die Festung gelenkt werden. Der bereits<br />

erwähnte Lord Payfair führte die<br />

nun intensiv geführten Debatten um<br />

den geplanten Gasangriff, der schließlich<br />

abgelehnt wurde. Ausschlaggebend<br />

war der Einspruch eines französischen<br />

Generals, der selbst zehn Jahre<br />

zuvor einen Rauchangriff gegen marokkanische<br />

Aufständische angewandt<br />

hatte. Seinem Einspruch gemäß erklärte<br />

die Kommission den Einsatz von<br />

Giftgas gegen einen militärischen Gegner<br />

als unwürdig und gegen das eigene<br />

Ehrgefühl verstoßend. Dennoch<br />

bildete Großbritannien in den Jahren<br />

des Krimkrieges zweifelsohne ein Zentrum<br />

der Entwicklung chemischer<br />

Kampfstoffe. 1854 führte der schottische<br />

Chemiker John Stenhouse in<br />

einem Vortrag unumwunden die Vorteile<br />

des Einsatzes aus. Der Wunsch<br />

bpk<br />

nach »einem kurzen und schnell endenden<br />

Kriege« habe »zur Erfindung<br />

von sogenannten erstickenden Granaten<br />

geführt, die beim Platzen in weitem<br />

Umkreis [...] giftige Dämpfe verbreiten«.<br />

Unter anderem schlug Stenhouse<br />

die Befüllung der Granaten mit starker<br />

Ammoniaklösung vor. Der findige Professor<br />

veröffentlichte zudem zeitgleich<br />

die erste Konstruktion einer Atemschutzmaske.<br />

In Deutschland blieben die Ansätze<br />

einer chemischen Kampfführung zunächst<br />

vergleichsweise gering. Hervorzuheben<br />

sind hier vor allem Überlegungen<br />

zum Einsatz von Tränengasen,<br />

unter anderem durch den Organiker<br />

Adolf von Bayer. Im Deutsch-Französischen<br />

Krieg (1870/71) trug ein Apotheker<br />

die Möglichkeit vor, Granaten<br />

mit dem starken Reizgas Veratrin zu<br />

füllen.<br />

Die immer grausameren Kampfmittel<br />

führten bereits in den 1860er Jahren<br />

zu Bestrebungen, Giftgase in Kriegen<br />

zu verbieten. 1899 unterzeichneten unter<br />

anderem französische, britische,<br />

deutsche und russische Bevollmächtigte<br />

auf der internationalen Friedenskonferenz<br />

in Den Haag eine Erklärung<br />

zum Verbot von Gaskampfstoffen.<br />

Dennoch konnten auch diese Bestrebungen<br />

die weitere Entwicklung von<br />

Giftgasen für die chemische Kriegführung<br />

im 20. Jahrhundert nicht verhindern.<br />

Bereits 1914 setzten die Franzosen<br />

erste Gaspatronen (Xylylbromid) an<br />

der Westfront gegen die Deutschen ein,<br />

und am 22. April 1915 erfolgte der erste<br />

deutsche Blasangriff mit Chlorgas. Seine<br />

Wurzeln reichen zurück ins 18. Jahrhundert,<br />

in die Kinderjahre der modernen<br />

Chemie. Nikolas Engelhardt, ein<br />

niederländischer Lehrer und der deutsche<br />

Chemiker Scheele entdeckten und<br />

experimentierten mit Chlorgas. Ahnten<br />

sie die grausamen Folgen ihrer Erkenntnis?<br />

Literaturtipps<br />

� Martin Meier<br />

Dieter Martinetz, Vom Giftpfeil zum Chemiewaffenverbot.<br />

Zur Geschichte der chemischen Kampfmittel, Frankfurt<br />

a.M. 1997.<br />

Louis Lewin, Gifte in der Weltgeschichte, (Nachdruck)<br />

Heidelberg 1992.<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2012<br />

21


National Security Archive George Washington University<br />

Service<br />

Freiheit (freedom) ist ein von der<br />

Verfassung der Vereinigten Staaten<br />

von Amerika garantiertes Gut.<br />

Dies spiegelt sich auch in der politischen<br />

Praxis wider. So bietet der Freedom<br />

of Information Act den US-Bürgern<br />

erstaunliche Möglichkeiten zur<br />

Einsichtnahme auch in bis dato geheime<br />

Papiere. Ein besonders brisantes<br />

Dokument wurde 1997 freigegeben<br />

und ist auf der Website des National<br />

Security Archive der George-Washington-Universität<br />

einsehbar.<br />

Die als »streng geheim, besonderer<br />

Umgang, nicht für Ausländer« eingestufte<br />

Vorlage des Vereinigten Generalstabs<br />

(Joint Chiefs of Staff, JCS) vom<br />

13. März 1962 an den Verteidigungsminister<br />

trägt die Unterschrift von General<br />

Lyman L. Lemnitzer, Generalstabs-<br />

Das historische Stichwort<br />

5Vom US-Generalstabschef Lyman L. Lemnitzer unterzeichnete Vorlage an Verteidigungsminister<br />

Robert McNamara vom 13. März 1962. These materials are reproduced<br />

from www.nsarchive.org with the permission of the National Security Archive.<br />

chef der US-Streitkräfte. »Kurz aber<br />

präzise [werden] mögliche Vorwände<br />

zur Rechtfertigung einer militärischen<br />

Intervention der USA in Kuba dargelegt«,<br />

heißt es da gleich eingangs. Das<br />

Papier sollte als »geeignete vorläufige<br />

Planungsgrundlage« an den Chief of<br />

Operations des »Cuba Project« weitergeleitet<br />

werden. Die unter dem Decknamen<br />

»Operation Northwoods« laufenden<br />

Planungen »würden es gestatten,<br />

eine logische Abfolge von Zwischenfällen<br />

zu konstruieren, die mit anderen,<br />

scheinbar in keinerlei Zusammenhang<br />

stehenden Ereignissen kombiniert werden,<br />

um das letztendliche Ziel zu vertuschen<br />

und den nötigen Eindruck zu<br />

vermitteln, dass die Kubaner in<br />

höchstem Maße unbesonnen und verantwortungslos<br />

handeln«. Das »ulti-<br />

22 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2012<br />

»Operation<br />

Northwoods«<br />

mative Ziel« sei »eine offene militärische<br />

Intervention«. Zeit sei dabei ein<br />

wichtiger Faktor. Daher sollte der Plan<br />

so gestaltet sein, dass die Projekte innerhalb<br />

der nächsten Monate umgesetzt<br />

werden konnten.<br />

Im Anhang wurde es dann sehr konkret.<br />

Vorgeschlagen wurde unter Punkt<br />

2 zunächst, eine Reihe von Sabotagevorfällen<br />

auf dem auf Kuba liegenden<br />

US-Stützpunkt Guantánamo zu inszenieren:<br />

Sprengung von Munition und/<br />

oder eines Flugzeugs, Versenkung<br />

eines Schiffes im Hafen. Auch (Schein-)<br />

Begräbnisse für die angeblichen Opfer<br />

sollten Teil der Inszenierung sein.<br />

Punkt 3 schlug ein »Remember the<br />

Maine«-Szenario vor: Die bis heute ungeklärte<br />

Explosion des US-Marineschiffes<br />

»Maine« im Hafen von Havanna 1898<br />

löste den Spanisch-Amerikanischen<br />

Krieg aus. Der Plan von 1962 griff auf<br />

die Idee zurück, ein US-Schiff in der<br />

Bucht von Guantánamo zu versenken.<br />

Alternativ sollte ein »unbemanntes<br />

Drohnenschiff« in kubanischen Gewässern<br />

möglichst nahe Havanna oder<br />

Santiago »als spektakuläres Ergebnis<br />

eines kubanischen Angriffs von Luft<br />

oder See, oder von beidem« versenkt<br />

werden. Unter Punkt 4 finden sich eine<br />

»kubanische Terrorkampagne« in<br />

Miami, Florida oder in Washington sowie<br />

das Versenken von kubanischen<br />

Booten auf dem Weg nach Florida (gemeint<br />

waren vermutlich Flüchtlingsboote)<br />

– »real or simulated«.<br />

Punkt 5 schlug inszenierte Angriffe<br />

auf Nachbarstaaten Kubas vor: »Ein<br />

›kubanisches‹ Flugzeug vom Typ B-26<br />

oder C-46 könnte nachts Luftangriffe<br />

[auf die Dominikanische Republik]<br />

fliegen und Zuckerrohr in Brand stecken.«<br />

Als Beweise würden dann<br />

»Brandsätze aus dem Sowjetblock« gefunden<br />

oder »kubanische Waffenlieferungen<br />

am Strand gefunden bzw. abgefangen<br />

werden«. Punkt 6 nannte den<br />

»Einsatz von MiG-Flugzeugen, geflogen<br />

von US-Piloten«, »Störungen der<br />

zivilen Luftfahrt, Angriffe auf Über-


wasserschiffe und den Abschuss von<br />

US-amerikanischen militärischen Drohnenflugzeugen<br />

durch MiG-Kampfflugzeuge«<br />

als »nützliche ergänzende Maßnahmen«.<br />

»Realistische Kopien einer<br />

MiG könnten innerhalb von ca. drei<br />

Monaten aus US-Ressourcen hergestellt<br />

werden.« Die Liste der Vorschläge<br />

geht noch weiter: »Denkbar wäre, einen<br />

Zwischenfall zu konstruieren, der<br />

glaubhaft demonstriert, dass ein kubanisches<br />

Luftfahrzeug ein ziviles Charterflugzeug<br />

[…] abgeschossen hat.«<br />

Dazu sollten eine »exakte Kopie eines<br />

zivil registrierten Luftfahrzeugs« hergestellt<br />

und das »tatsächlich registrierte<br />

Flugzeug zur Drohne umgerüstet«<br />

werden. Ab einem Treffpunkt<br />

sollte »das Flugzeug mit den [ausgewählten]<br />

Passagieren auf Mindesthöhe<br />

direkt auf [den] Luftwaffenstützpunkt<br />

Eglin zurückkehren« und in den Originalzustand<br />

zurückversetzt werden.<br />

Das Drohnenflugzeug sollte unterdessen<br />

seinen Flug fortsetzen und per<br />

Funksignal zerstört werden.<br />

Ein ähnliches Szenario findet sich in<br />

Punkt 9. Im Rahmen einer Luftwaffenübung<br />

würde »ein vorher eingewiesener<br />

Pilot als Schließender in einem<br />

beträchtlichen Abstand zu den anderen<br />

Flugzeugen fliegen«. Nahe Kuba<br />

würde er über Funk melden, dass er<br />

von MiGs angegriffen werde; weitere<br />

Funksprüche sollten dann ausbleiben.<br />

Im Tiefflug sollte er einen sicheren<br />

Stützpunkt erreichen. »Das Flugzeug<br />

würde dann von den entsprechenden<br />

Leuten in Empfang genommen, versteckt<br />

und mit einer neuen Kennung<br />

versehen. Der Pilot, der den Auftrag<br />

unter einem Decknamen ausgeführt<br />

hat, würde seine wahre Identität wieder<br />

annehmen und an seinen regulären<br />

Dienstort zurückkehren. Pilot und<br />

Luftfahrzeug wären dann verschwunden.<br />

Genau zur selben Zeit, in der das<br />

Luftfahrzeug angeblich abgeschossen<br />

wurde, würde ein U-Boot oder kleines<br />

Überwasserfahrzeug Teile einer [Mc-<br />

Donnel] F-101, Fallschirm usw. ca. 15<br />

bis 20 Meilen vor der kubanischen<br />

Küste auswerfen und wegfahren. Die<br />

nach Homestead [Air Force Base] zurückkehrenden<br />

Piloten hätten somit<br />

von ihren Eindrücken her eine wahre<br />

Geschichte.«<br />

Sich die Schlagzeilen in Fernsehen<br />

und Zeitungen nach solchen »Ereignissen«<br />

vorzustellen, bedarf es keiner gro-<br />

ßen Fantasie. Die mediale Aufregung<br />

wäre enorm gewesen, die Empörung<br />

der Menschen in den USA und weltweit<br />

hätte hohe Wellen geschlagen. Die<br />

Rufe nach Vergeltung und nach Krieg<br />

gegen Kuba wären unüberhörbar laut<br />

gewesen, und Präsident John F. Kennedy<br />

hätte sich wohl zum Handeln gezwungen<br />

gesehen. Genau dies war der<br />

Plan hinter »Northwoods«: der von<br />

Lemnitzer und anderen Generälen<br />

kühl kalkulierte Automatismus Richtung<br />

Krieg. Doch dazu kam es nicht.<br />

Der Blick hinter die Kulissen des Pentagon<br />

zeigt einen veritablen Machtkampf<br />

zwischen dessen militärischer<br />

und politischer Führung.<br />

Seit dem Sieg Fidel Castros über Diktator<br />

Fulgencio Batista am Neujahrstag<br />

1959 verschlechterten sich die bis dato<br />

sehr engen Beziehungen zwischen<br />

Kuba und den USA. Castro wurde in<br />

Washington zum Feindbild. Die Initiative<br />

zu den »Northwoods«-Planungen<br />

ging – zumindest indirekt – im Januar<br />

1961 vom scheidenden Präsidenten<br />

Dwight D. Eisenhower aus. Am 3. Januar<br />

sagte er zu General Lemnitzer<br />

und anderen, er würde noch vor der<br />

bevorstehenden Amtsübergabe an<br />

Kennedy gegen Castro vorgehen, wenn<br />

die Kubaner ihm nur einen guten<br />

Grund lieferten. Doch Kuba »lieferte«<br />

nicht. Eisenhower schied ohne Krieg<br />

aus dem Amt. Nach dem Desaster in<br />

der Schweinebucht im April 1961 nahm<br />

Kennedy von direkten militärischen<br />

Einsätzen gegen Kuba Abstand und<br />

ließ verdeckte Operationen zum Sturz<br />

oder gar zur Tötung Castros erarbeiten.<br />

Die geheimen Planungen von Weißem<br />

Haus, Außenministerium, Pentagon<br />

und dem US-Geheimdienst CIA<br />

liefen unter »Cuba Project« oder auch<br />

»Operation Mongoose«. General Lemnitzer<br />

ließ seinen »Cuba Project«-Chef,<br />

Brigadegeneral William H. Craig, parallel<br />

zu »Mongoose« noch viel weitergehende<br />

Pläne unter dem Codenamen<br />

»Northwoods« entwerfen. Lemnitzer<br />

trug dazu persönlich General a.D. Maxwell<br />

D. Taylor, dem militärischen Berater<br />

Kennedys, vor. Der Gesprächsverlauf<br />

ist nicht bekannt. Drei Tage später<br />

erteilte Präsident Kennedy Lemnitzers<br />

Plan eine Absage.<br />

Zeitzeugen aus dem Pentagon berichten,<br />

Verteidigungsminister Robert<br />

S. McNamara habe kein Vertrauen zu<br />

seinem Generalstabschef gehabt und<br />

Süddeutsche Zeitung Photo<br />

5Gegenspieler: Robert S. McNamara<br />

(1916–2009), US-Verteidigungsminister<br />

1961–1968, und General Lyman L. Lemnitzer<br />

(1899–1988), US-Generalstabschef<br />

1960–1962.<br />

beinahe alle seine Vorschläge abgelehnt.<br />

Der Minister habe seinen höchsten<br />

General mehrmals abblitzen lassen<br />

und »wie einen Schuljungen behandelt«.<br />

Lemnitzers Ende September 1962<br />

ablaufende Amtszeit als Generalstabschef<br />

wurde nicht verlängert. Ihm folgte<br />

am 1. Oktober 1962 der wieder in den<br />

aktiven Dienst berufene Maxwell Taylor,<br />

der das volle Vertrauen Kennedys<br />

genoss. Statt in den Ruhestand zu gehen,<br />

wurde Lemnitzer im November<br />

1962 mit der Führung des US European<br />

Command beauftragt und im Januar<br />

1963 auch Supreme Allied Commander<br />

Europe (SACEUR).<br />

Epilog: Nur 14 Tage nach dem unfreiwilligen<br />

Abschied Lemnitzers aus dem<br />

Pentagon stand Kuba im Brennpunkt<br />

einer Krise, die nur um Haaresbreite<br />

an einem Weltkrieg vorbeischrammte.<br />

Nachdem auf der Insel sowjetische Raketen<br />

entdeckt worden waren, forderten<br />

die US-Stabschefs vehement<br />

den Angriff auf Kuba. Präsident John F.<br />

Kennedy, sein Bruder Robert und der<br />

neue Generalstabschef Taylor hatten<br />

alle Mühe, ihren Kurs der Deeskalation<br />

gegen das Pentagon durchzusetzen.<br />

Wie Lemnitzer an Taylors Stelle gehandelt<br />

hätte, lässt sich leicht ausrechnen.<br />

Klaus Storkmann<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2012<br />

23


24<br />

Service<br />

Comics und Graphic Novels<br />

Die Graphic Novel ist hierzulande<br />

ein Sammelbegriff für anspruchsvolle<br />

Comics im Buchformat, die komplexe<br />

Geschichten erzählen. Neuerdings<br />

werden die Plots für diese Bildgeschichten<br />

gerne auch der schöngeistigen<br />

Literatur entnommen und die Bilder<br />

mit Auszügen aus dem Originaltext<br />

gepaart (so geschehen etwa bei der<br />

Graphic Novel zu Franz Kafkas »Verwandlung«).<br />

Das Genre eignet sich jedoch<br />

ebenso, anstatt fiktiver Storys<br />

dem Publikum Geschehen aus vergangenen<br />

Zeiten nahezubringen. In welcher<br />

Form das sein kann – und auch<br />

wer für welche Zwecke Comics nutzt –,<br />

zeigt zur Zeit eindrucksvoll eine Ausstellung<br />

in der KZ-Gedenkstätte<br />

Dachau zum Thema »Holocaust im<br />

Comic«. Bei dieser Vorstellung bricht<br />

sich gegebenenfalls ein beklemmendes<br />

Gefühl Bahn, und doch machen Zeichner<br />

und Texter – zumeist in einer Person<br />

vereint – hier nichts anderes als in<br />

anderen Medien wie Büchern oder Filmen<br />

auch: Sie verarbeiten Themen, die<br />

in der Gesellschaft mehr oder weniger<br />

breit diskutiert und analysiert werden,<br />

sie schreiben und zeichnen (Auto-)Biografien<br />

oder fertigen Reiseberichte.<br />

Befürchteten Pädagogen und Didaktiker<br />

in den 1950er Jahren noch einen<br />

schädlichen Einfluss der Comic-Lektüre<br />

auf Kinder und Jugendliche, so<br />

wird heute diese Textart im Unterricht<br />

eingesetzt – auch zur Vermittlung von<br />

Geschichte. Comics und Graphic Novels<br />

sind jedoch längst nicht mehr nur<br />

Kinder- und Jugendlektüre. Dass sich<br />

die Gattung bei der Themenwahl insbesondere<br />

auch der Militärgeschichte<br />

bedient, sollen die hier anzuzeigenden<br />

Klassiker des Genres verdeutlichen,<br />

die den Auftakt bilden für eine ganze<br />

Reihe von in den nächsten Heften vorzustellenden<br />

Werken.<br />

Keiji Nakazawa war sechs Jahre alt,<br />

als am 6. August 1945 die US-amerikanische<br />

Atombombe »Little Boy«<br />

über seiner Heimatstadt Hiroshima abgeworfen<br />

wurde und sich nicht nur<br />

seine Welt grundlegend veränderte.<br />

Seine Erlebnisse verarbeitete der japanische<br />

Zeichner in der vierbändigen<br />

Manga-Serie »Barfuß durch Hiroshima«,<br />

die 1972/73 erstmals in Japan<br />

Neue Medien<br />

Keiji Nakazawa, Barfuß durch Hiroshima,<br />

Bd 1: Kinder des Krieges,<br />

Hamburg: Carlsen 2004. ISBN 978-3-<br />

551-77501-6; 304 S., 12,00 Euro<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2012<br />

erschien und nun in einer neuen deutschen<br />

Übersetzung vorliegt. Autobiografisch<br />

gefärbt, schildert die Serie das<br />

Schicksal der Familie Nakaoka aus der<br />

Sicht des sechsjährigen Gen. Der erste<br />

Band setzt im Frühjahr 1945 ein, zu<br />

einem Zeitpunkt, als der Zweite Weltkrieg<br />

in Europa schon beendet war; die<br />

drei weiteren Bände schildern die Versuche<br />

des Überlebens in der zerstörten<br />

und verstrahlten Stadt während der<br />

ersten Monate nach der Katastrophe.<br />

Im Zentrum von »Kinder des<br />

Krieges« steht die Auseinandersetzung<br />

mit der japanischen Kriegsgesellschaft:<br />

Während Gens Vater gegen das militaristische<br />

System rebelliert, beugt sich<br />

der älteste Bruder dem sozialen Druck<br />

und meldet sich freiwillig zur Marine.<br />

Als Außenseiter sind Gen und sein jüngerer<br />

Bruder Shinji den Schikanen und<br />

Repressalien ihrer fanatisch-patriotischen<br />

Umgebung ausgesetzt und finden<br />

nur im koreanischen Nachbarn<br />

Pak einen Freund und Helfer. Als die<br />

Bombe Hiroshima zerstört, überleben<br />

einzig Gen und seine hochschwangere<br />

Mutter, während sein Vater, die Schwester<br />

und Shinji in den Flammen des zusammenbrechenden<br />

Hauses begraben<br />

werden. Am Rande der Stadt, umgeben<br />

von Tod und Zerstörung, wird<br />

schließlich seine kleine Schwester Tomoko<br />

geboren.<br />

»Barfuß durch Hiroshima« konfrontiert<br />

den Leser mit schonungslos realistischen<br />

Bildern des 6. August 1945. Sie<br />

bleiben im Gedächtnis haften und hinterlassen<br />

stärker als jede Fotografie einen<br />

nachhaltigen Eindruck von den<br />

Folgen des Einsatzes atomarer Waffen.<br />

Ähnlich wie Marjane Satrapi (»Persepolis«)<br />

und Art Spiegelmann (»Maus«)<br />

gelingt es Nakazawa zudem, durch das<br />

Medium Comic bzw. Manga auf vielschichtige<br />

und berührende, jedoch<br />

nicht rührselige Art, von den Auswirkungen<br />

von Krieg und Gewalt auf das<br />

Leben des Einzelnen zu berichten, indem<br />

er die Entwicklungsgeschichte<br />

des jungen Gen in den Mittelpunkt seiner<br />

Erzählung stellt. Das Manga wurde<br />

mit mehreren Preisen ausgezeichnet<br />

und 1986 als Anime verfilmt.<br />

Friederike Höhn<br />

Mein Vater kotzt Geschichte aus. So<br />

nennt Art Spiegelman den ersten Teil<br />

seiner mit dem Pulitzer-Preis geehrten<br />

Graphic Novel »Maus«. Es ist der erste<br />

Comic, dem diese Ehrung zuteil wurde.<br />

Überhaupt ist an »Maus. Die Geschichte<br />

eines Überlebenden« wenig<br />

so, wie man es erwarten würde. Die<br />

»Maus« ist ein Comic, setzt sich jedoch<br />

mit dem wohl traurigsten aller Kapitel<br />

unserer Geschichte auseinander, und<br />

das nicht nur schonungslos, sondern<br />

Art Spiegelman, Maus, Frankfurt a.M.:<br />

Fischer 2012. ISBN 978-3-596-18094-3;<br />

300 S., 14,95 Euro


neue<br />

Deutschen zu Katzen. Polen sind<br />

auch mit Ehrlichkeit und Tiefgang. In<br />

der Erzählung über den Holocaust sind<br />

die handelnden Figuren der Tierwelt<br />

entnommen und oft nur grob skizziert.<br />

So werden die Juden zu Mäusen, die<br />

Schweine, Amerikaner Hunde und<br />

Franzosen Frösche. Damit zitiert Spiegelmans<br />

Bildsprache Nazi-Propaganda,<br />

die Juden als »Ungeziefer« beschimpfte.<br />

Das Medium Comic nimmt<br />

der Geschichte des Holocaust nichts<br />

von ihrem Schrecken. Im Gegenteil:<br />

Spiegelman gelingt es, das Grauen dieser<br />

Zeit und das Schicksal ihrer Opfer<br />

in einfachen Worten und Bildern so<br />

eindringlich zu vermitteln, dass der<br />

Leser mehr als einmal innehält, um die<br />

letzte Seite zu verdauen.<br />

Doch Spiegelman geht noch einen<br />

Schritt weiter. Die Maus ist auch die<br />

Geschichte seines Vaters Wladek, seiner<br />

Eltern und damit seine eigene.<br />

Ohne Rücksicht auf Verluste lässt er<br />

den Leser an seinem Versuch teilhaben,<br />

die Geschichte seiner Familie aufzuarbeiten<br />

und zu verstehen, wie aus<br />

seinem Vater der alte, kauzige, ihn zur<br />

Verzweiflung treibende Mann wurde.<br />

Der gebrochene Mann, der Auschwitz<br />

überlebte und doch daran zugrunde<br />

ging. Dem es physisch unmöglich war,<br />

auch nur einen Brotkrumen wegzuwerfen.<br />

Der erleben musste, wie fast<br />

seine gesamte Familie, seine Freunde<br />

gequält und ermordet wurden, und<br />

der sich selbst durch Einfallsreichtum<br />

und Eigensinn rettete. Dessen Sparsamkeit<br />

und Umsicht, die ihn so viele<br />

Male überleben ließen, im Alter zu<br />

einem Geiz wurden, der seine Mitmenschen<br />

in den Wahnsinn trieb. Vielleicht<br />

eine der ehrlichsten Szenen der<br />

Maus, und das will wahrlich etwas heißen,<br />

ist der Moment, als der Sohn über<br />

den Vater sagt: »In mancher Hinsicht<br />

entspricht er genau der antisemitischen<br />

Karikatur des geizigen alten Juden.«<br />

Fassungslos erlebt der Sohn in der Erzählung,<br />

wie Wladek trotz Holocaust-<br />

Erfahrung stur an rassistischen Vorurteilen<br />

gegenüber Schwarzen und Homosexuellen<br />

festhält. Der junge Jude<br />

interviewt den alten, um zu verstehen.<br />

Wie das Medium Comic und die Tiermetaphern<br />

bildet auch die in ihrer Eigenheit<br />

fast erheiternde Sprache Wladeks<br />

– er spricht gebrochenes, mit jiddischer<br />

Grammatik durchsetztes<br />

Deutsch – einen scharfen Kontrast zu<br />

dem ernsten und traurigen Thema. All<br />

dies macht die »Maus« zu einer eindringlichen,<br />

fesselnden Auseinandersetzung<br />

mit dem Holocaust. Die Komplexität<br />

dieser Verbindung widerlegt<br />

eindrucksvoll die These vom minderwertigem<br />

Medium Comic.<br />

Gerade in Deutschland, wo sich Mancher<br />

schon in der Schule mit dem<br />

Thema erschlagen fühlt, bietet die<br />

»Maus« in ihrer unprätentiösen, authentischen<br />

Art einen neuen, anderen<br />

Zugang zum Holocaust und den Menschen,<br />

die ihn (über-)lebten.<br />

Frédéric du Roi<br />

Che, der »Christus mit der Knarre«<br />

(W. Biermann); Che, der Volksheld<br />

und Märtyrer; Che: »politisch auf ganzer<br />

Linie gescheitert, als Ikone unsterblich«<br />

(R. Mohr). Die Zuschreibungen<br />

sind Legion, genauso wie jene berühmte<br />

Fotografie des »Guerrillero<br />

Heroico«, die uns vieltausendmal auf<br />

T-Shirts begegnet. Doch wer war dieser<br />

Che?<br />

Der aus gutbürgerlichen Verhältnissen<br />

stammende, angehende Doktor der<br />

Medizin erkundete mit Freund und<br />

Motorrad Anfang der 1950er Jahre den<br />

lateinamerikanischen Kontinent (2004<br />

verfilmt als »The Motorcycle Diaries«),<br />

wo er überall auf eine verelendete<br />

Landbevölkerung stieß und was ihn,<br />

wie er in seinem Tagebuch festhielt,<br />

nachhaltig veränderte. Weitere Reisen<br />

ab Juli 1953 führten ihn nach Bolivien,<br />

Guatemala, Costa Rica und Mexiko.<br />

1955 lernte er den Exilkubaner Fidel<br />

Castro kennen, und Ende 1956 begab<br />

er sich mit Castro und weiteren 84 Rebellen<br />

nach Kuba. Es folgten der Sieg<br />

der Kubanischen Revolution 1959,<br />

zahlreiche Auslandsreisen, 1965 der<br />

Bruch mit Castro und die Niederlegung<br />

aller politischen Ämter, 1966<br />

schließlich der Gang nach Bolivien, wo<br />

Che eine Guerilla aufzubauen gedachte.<br />

1967 starb Ernesto Che Guevara nach<br />

Kampf und Gefangenschaft in Bolivien.<br />

Bereits im Jahr darauf erschien<br />

das hier anzuzeigende Werk aus den<br />

Reihen der künstlerischen Avantgarde<br />

Argentiniens, dem Geburtsland des<br />

Revolutionärs. Es zählt zu einem Meisterwerk<br />

des Genres. Die weite Verbreitung<br />

der Bild-Biografie des Che in<br />

Argentinien fand durch die Militärdik-<br />

tatur (1976 bis 1983) zunächst ein jähes<br />

Ende; bereits der Besitz des Comics<br />

war in dieser Zeit lebensgefährlich.<br />

Wie Zehntausende andere Argentinier<br />

gehört auch der Texter Héctor Oester-<br />

held zu den sogenannten Verschwun-<br />

denen (Desaparecidos) des Regimes:<br />

Er wurde von Militärs verschleppt und<br />

ermordet.<br />

Der Zeichner Alberto Breccia stellt<br />

die Biografie des Helden von der Geburt<br />

bis zum Tod dar, Enrique Breccia<br />

gibt die letzten Tage in Bolivien zeichnerisch<br />

wieder. Durch den steten Wechsel<br />

von Biografie und Schauplatz Bolivien<br />

entsteht ein Sog, der einen nicht<br />

mehr loslässt. Zur Wirkung tragen<br />

auch die düsteren Schwarz-Weiß-Bilder<br />

bei, die oftmals in einer Licht-<br />

Schatten-Technik gehalten sind. Die<br />

Geschichte ist naturgemäß verkürzt<br />

und ein Kind ihrer Zeit. Den Geist dieser<br />

Zeit fängt sie – auch mittels einiger<br />

Che-Zitate – äußerst authentisch ein.<br />

Eine Chronologie sowie ein Interview<br />

mit Enrique Breccia runden diese erste<br />

deutsche Übersetzung des Werkes ab.<br />

Wer war nun dieser Che? Die Comic-<br />

Biografie allein mag keine ausreichende<br />

Antwort geben, doch sie wirkt<br />

lange nach – und sie regt unbedingt an,<br />

sich weiter mit Lateinamerika, Kuba<br />

und natürlich Che zu beschäftigen.<br />

mt<br />

Alberto Breccia, Enrique Breccia und<br />

Héctor Oesterheld, Che, Hamburg:<br />

Carlsen 2008. ISBN 978-3-551-77654-9;<br />

95 S., 16,90 Euro<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2012<br />

2


Service<br />

Lesetipp<br />

Nationale Gedenkstätte<br />

Wie kaum ein anderes Bauwerk<br />

spiegelt die Neue Wache in Berlin<br />

unter den Linden die wechselvolle<br />

deutsche Geschichte wider. Der Autor<br />

erzählt in einem ansprechend gestalteten<br />

und durchweg bebilderten Band<br />

ihre Geschichte – von der ersten Bebauung<br />

der späteren Prachtstraße im<br />

17. Jahrhundert bis zur Umgestaltung<br />

der Neuen Wache nach der deutschen<br />

Wiedervereinigung. Ihr heutiges Aussehen<br />

geht auf den preußischen Geheimen<br />

Oberbaurat Karl Friedrich<br />

Schinkel zurück, der auf Befehl von<br />

König Friedrich Wilhelm III. die ersten<br />

Pläne entwarf. Nach dem endgültigen<br />

Sieg über Napoleon wollte Friedrich<br />

Wilhelm in seiner Haupt- und Residenzstadt<br />

das neue Selbstbewusstsein<br />

der Monarchie präsentieren. Das Gebäude<br />

sollte jedoch ebenso als das zentrale<br />

Wachgebäude der Berliner Garnison<br />

dienen, des Weiteren als Kulisse<br />

für Paraden und die Selbstinszenierung<br />

monarchischer Herrschaft.<br />

Nach dem Ersten Weltkrieg verlor<br />

die Neue Wache ihre eigentliche militärische<br />

Funktion. 1931 richtete man<br />

hier nach langen Diskussionen eine<br />

Gedächtnisstätte für die Gefallenen des<br />

Weltkrieges ein. Nach der Machtübernahme<br />

1933 demonstrierten die Nationalsozialisten<br />

vor der Neuen Wache<br />

ihre Macht. Ein sowjetischer Kulturoffizier<br />

verhinderte nach Kriegsende<br />

schließlich die Sprengung des im Krieg<br />

zerstörten Bauwerkes. Als Mahnmal<br />

für die »Opfer des Faschismus und Militarismus«<br />

diente die Neue Wache der<br />

DDR als Gedenkort; eine Rolle, die sie<br />

seit 1993 wieder spielt. Ohne aufwendiges<br />

militärisches Gepränge und ideologische<br />

Prägung wird hier nun der<br />

Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft<br />

gedacht. Der sehr informative Band<br />

wird durch ein Literatur- und Quellenverzeichnis<br />

sowie ein Personenregister<br />

beschlossen.<br />

Carmen Winkel<br />

Laurenz Demps, Die Neue<br />

Wache. Vom königlichen<br />

Wachhaus zur zentralen<br />

Gedenkstätte, Berlin 2011<br />

(= Einzelveröffentlichungen<br />

des Landesarchivs<br />

Berlin). ISBN 978-3-<br />

86650-086-0; 158 S.,<br />

24,90 Euro<br />

26 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2012<br />

Briefe an die Front<br />

Seit Mitte der 1990er Jahre und vor<br />

allem in den letzten zehn Jahren<br />

sind Auslandseinsätze der Bundeswehr<br />

zum alltäglichen Bestandteil der<br />

Medienwelt geworden. TV-Berichte,<br />

Reportagen oder Bücher berichten von<br />

den Hintergründen, beschreiben die<br />

Umstände, zeigen die Härten, Risiken<br />

und Entbehrungen im Einsatzland.<br />

Und dennoch bleibt einem Großteil der<br />

Gesellschaft ein tieferer Blick in diese<br />

so fern wirkende Lebens- und Berufswelt<br />

verborgen. Zu fremdartig scheint<br />

der Gedanke, in einem weit entfernten<br />

und staubigem Land sein Leben zu riskieren;<br />

zu abwegig die Überlegung, die<br />

eigene Familie und Freunde für mehrere<br />

Monate nicht sehen zu können,<br />

Katrin Schwarz (Hrsg.), Ich<br />

kämpf’ mich zu dir durch,<br />

mein Schatz. Briefe von<br />

der Heimatfront (2000-<br />

2010), Sankt Augustin<br />

2011. ISBN 978-3-<br />

940461162; 176 S., 14,90<br />

Euro<br />

oder sich vorzustellen, wie diese mit<br />

der langen Abwesenheit und dem Risiko<br />

umgehen lernen müssen. Im Vergleich<br />

zur restlichen Gesellschaft werden der<br />

Soldat und seine Familie schnell zu<br />

»Exoten«, die von Außenstehenden nur<br />

schwer verstanden werden.<br />

Katrin Schwarz, selbst Ehefrau eines<br />

Soldaten, ermöglicht mit ihrem Buch<br />

einen anderen Blick in diese Lebenswelt.<br />

Mittels Briefen, die Ehefrauen, Verlobte<br />

und Freundinnen als »Soldatenfrauen«<br />

in den Jahren von 2000 bis 2010 an ihre<br />

»Männer« geschrieben haben, taucht<br />

sie tief in den Alltag, die Sorgen, die Belastungen,<br />

aber auch die schönen Momente<br />

der Hoffnung und der Freude über<br />

Unversehrtheit und baldige Rückkehr<br />

ein. Einfühlsam und erklärend zugleich<br />

lässt sie den Leser nicht nur am Beruf<br />

des Soldaten, sondern im Besonderen<br />

auch am Leben seiner Familie teilhaben<br />

und zeigt auf, was viele oftmals zu vergessen<br />

scheinen: In den Auslandseinsätzen<br />

kämpfen nicht nur die Soldaten,<br />

sondern – mit den Folgen der Auslandsverwendungen<br />

– im Besonderen und<br />

immer wieder aufs Neue auch ihre Familien.<br />

jm<br />

Auslandseinsätze<br />

Wozu ein weiteres Buch zum vieldiskutierten<br />

Themenkomplex<br />

Bundeswehr und Auslandseinsätze?<br />

Der Herausgeber definiert als Ziel weniger<br />

eine wie immer geartete Werbung<br />

für derartige Missionen als vielmehr<br />

Transparenz und Verständnis,<br />

»warum und wie Deutschland seine<br />

Soldaten in die Welt entsendet.« Ihm<br />

ist es gelungen, aus den 20 Einzelbeiträgen<br />

ein sinnvolles Ganzes zusammenzufügen.<br />

Die Autoren sind Wissenschaftler,<br />

Journalisten und Zeitzeugen<br />

unterschiedlichster Coleur, wie<br />

etwa der Bundesminister der Verteidigung<br />

a.D. Volker Rühe oder das Mitglied<br />

des Deutschen Bundestages Winfried<br />

Nachtwei.<br />

Die sechs Beiträge des ersten Abschnittes<br />

»Warum Auslandseinsätze?«<br />

bieten einen Überblick zur sicherheitspolitischen<br />

Lage seit 1990, zu den<br />

Interessen und zur Rolle der Bundesrepublik.<br />

Daraus leiten die Autoren<br />

Schlussfolgerungen für die deutsche<br />

Sicherheitspolitik und die Bundeswehr<br />

ab. Im zweiten Abschnitt sind zehn<br />

Beiträge vereint. Dazu gehören fünf<br />

Aufsätze unter der Überschrift »Die<br />

Parlamentsbeteiligung in Regierung<br />

und Opposition«, aus denen Positionen<br />

und Entwicklungen bei CDU/CSU,<br />

SPD, FDP, die LINKE und Bündnis 90/<br />

Die Grünen deutlich werden. Artikel<br />

zur Rolle der Medien, zu den Rechtsgrundlagen,<br />

zur Ethik, zur interministeriellen<br />

Zusammenarbeit und zu den<br />

Entscheidungsprozessen in NATO und<br />

EU runden diesen Abschnitt ab. Der<br />

letzte, kürzeste Teil »Der Einsatz« beschäftigt<br />

sich u.a. mit der Sicht der Soldaten<br />

auf die Einsätze und mit der<br />

Entwicklungszusammenarbeit unter<br />

Kriegsbedingungen.<br />

Insgesamt erreicht der Band sein eingangs<br />

gestecktes Ziel in kurzer, knapper<br />

und lesbarer Form.<br />

hp<br />

Christoph Schwegmann<br />

(Hrsg.), Bewährungsproben<br />

einer Nation. Die<br />

Entsendung der Bundeswehr<br />

ins Ausland, Berlin<br />

2011. ISBN 978-3-428-<br />

13570; 243 S., 18,00 Euro


NS-Prozess<br />

In einem mit großem medialen Interesse<br />

verfolgten Prozess musste sich<br />

der KZ-Wachmann John (Iwan) Demjanjuk<br />

von November 2009 bis Mai<br />

2011 vor einem deutschen Gericht für<br />

tausendfache Beihilfe zum Mord im<br />

Vernichtungslager Sobibòr verantworten.<br />

Das Medienecho mag unter anderem<br />

daran gelegen haben, dass der<br />

Prozess, nahezu 70 Jahre nach Ende<br />

des Zweiten Weltkriegs, wahrscheinlich<br />

das letzte Kapitel in der Strafverfolgung<br />

der nationalsozialistischen<br />

Schreckensherrschaft und des Holocaust<br />

dargestellt haben dürfte.<br />

Die Historikerin Angelika Benz<br />

zeichnet als eine der wenigen Kennerinnen<br />

der nationalsozialistischen Lager-<br />

Angelika Benz, Der Henkersknecht.<br />

Der Prozess<br />

gegen John (Iwan)<br />

Demjanjuk in München,<br />

Berlin 2011. ISBN 978-3-<br />

863310110; 248 S.,<br />

19,00 Euro<br />

forschung nicht nur akribisch und<br />

spannend den Prozessverlauf nach,<br />

sondern widmet sich auch intensiv den<br />

Hintergründen. Immer wieder entführt<br />

sie den Leser mal in kürzere, mal<br />

in längere Forschungsexkurse und historische<br />

Rückblicke. Auf diese Weise<br />

vermittelt sie auch dem nicht »im Stoff<br />

stehenden« Leser das Wissen, dass für<br />

ein Verständnis des Prozesses unbedingt<br />

notwendig ist. Mit diesen Informationen<br />

versorgt, führt die Autorin<br />

den Betrachter wieder unmittelbar in<br />

den Gerichtssaal und hält minutiös die<br />

bewegenden, teils dramatischen, teils<br />

theatralischen, zuweilen aber auch abwegigen<br />

Momente fest, die den Prozess<br />

bestimmten. Was ihr Buch so<br />

lesenswert macht, sind nicht nur die<br />

lebhaft eingefangenen Momente im<br />

Gerichtssaal, sondern auch der Umstand,<br />

dass sie als Historikerin anhand<br />

dieses Falles deutlich aufzuzeigen vermag,<br />

wo die Unterschiede zwischen einer<br />

geschichtlichen und einer juristischen<br />

Bewertung und Aufarbeitung<br />

der Vergangenheit liegen.<br />

jm<br />

Bosnienkrieg<br />

Er würde »vorbei sein, bis du dort<br />

eintriffst«, meinte ein Kollege der<br />

Journalistin Barbara Demick, als sie<br />

1993 den Auftrag erhielt, über den<br />

»kleinen hässlichen Krieg in Ex-Jugoslawien«<br />

zu berichten. Doch der Krieg<br />

dauerte ganze vier Jahre und er brachte<br />

Gräuel und Schrecken mit sich, die man<br />

im Europa des ausgehenden 20. Jahrhunderts<br />

längst überwunden glaubte.<br />

Im Januar 1994 kam Demick dann zum<br />

ersten Mal ins belagerte Sarajevo – und<br />

erlebte hautnah die unablässige Bedrohung<br />

durch Granatenbeschuss, die Unterversorgung<br />

mit Strom, Wasser und<br />

Lebensmitteln. Anfang 1995 zog sie für<br />

zwei Jahre in die Logovina-Straße. Aus<br />

den Erzählungen einiger ihrer Bewohner<br />

entstand eine Artikelserie und später<br />

das hier anzuzeigende Buch.<br />

Gleich die ersten Zeilen der Einleitung<br />

schmeißen einen unbarmherzig<br />

in die Tragödie des Krieges, wenn das<br />

Schicksal der im Jahr 1994 neunzehnjährigen<br />

Delila Laćević zur Sprache<br />

kommt: der Tod von Vater und Mutter<br />

durch eine Mörsergranate; der ständig<br />

juckende Granatsplitter im eigenen,<br />

noch so jungen Körper; das innere Abspulen<br />

dieses Traumas bei den immer<br />

neuen Schreckensmeldungen aus der<br />

belagerten Stadt. Die folgenden Kapitel<br />

behandeln ebenso eindringlich einzelne<br />

Facetten des Krieges, die pointiert<br />

die Überschriften zum Ausdruck<br />

bringen: etwa »Kriegswaisen«, »Widerstand«<br />

oder »Flucht«.<br />

Bosnien und Sarajevo waren bei Ausbruch<br />

des Krieges tagtäglich in den<br />

Schlagzeilen. Heute ist der Krieg außerhalb<br />

des Landes weitgehend in Vergessenheit<br />

geraten. Mit diesem aufrüttelnden<br />

und berührenden Buch, dem<br />

zahlreiche Leser zu wünschen sind,<br />

dürfte sich das wieder ändern.<br />

mt<br />

Barbara Demick, Die Rosen<br />

von Sarajevo. Eine Geschichte<br />

vom Krieg. Mit<br />

Fotos von John Costello,<br />

München 2012. ISBN 978-3-<br />

426-27587-0; 303 S., 19,99<br />

Euro<br />

Militär in Pforzheim<br />

Der Titel des Werkes lässt keinesfalls<br />

vermuten, welch geballtes Wissen<br />

den Leserkreis auf knapp 200 Seiten<br />

vermittelt wird. Zwar ist das Hauptaugenmerk<br />

auf Pforzheim und seine Umgebung<br />

gerichtet, doch der Blick reicht<br />

weit über die Region hinaus. Dem Autor<br />

gelingt es, mitunter höchst komplizierte<br />

Gegebenheiten mit simplen Worten<br />

pointiert darzustellen.<br />

Versehen mit zahlreichen Illustrationen,<br />

Fotografien und Karten, die Detailinformationen<br />

verraten, den Text im<br />

Wortsinn untermalen und ein komplexes<br />

Bild zum Gesamtsachverhalt<br />

vermitteln, bis hin zu Auszügen aus<br />

Originaldokumenten, beschreibt dieses<br />

Buch die Zeit vom 19. bis in die zweite<br />

Hagen Franke, Militär in<br />

Pforzheim. Ein Beitrag zur<br />

Stadt- und Regionalgeschichte,<br />

Heidelberg 2011.<br />

ISBN 978 389 735 6511;<br />

200 S., 21,90 Euro<br />

Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die Region<br />

zum Bundeswehrstandort wurde.<br />

In Infokästen werden zahlreiche Hintergrundinformationen<br />

angeboten und<br />

trotz ihrer Komplexität leicht verständlich<br />

dargestellt. So werden beispielsweise<br />

in einem Zeitraster die »Ereignisse<br />

des Sommers 1914« kurz erläutert und<br />

auch der »Schlieffenplan« zusammenfassend<br />

erklärt. Was ist eine Maschinengewehrkompanie?<br />

Die Antwort wird in<br />

wenigen Sätzen gegeben. Dabei findet<br />

keine sogenannte trockene Stoffvermittlung<br />

statt. Zahlreiche Hinweise erweitern<br />

zusätzlich das Allgemeinwissen,<br />

etwa dass die Materialschlachten in<br />

Flandern im Antikriegsfilm »Wege zum<br />

Ruhm« von Stanley Kubrick verarbeitet<br />

wurden.<br />

Anhand der Stadt und ihrer Region<br />

wird hier exemplarisch ein Überblick<br />

über die gesamtdeutsche Geschichte vom<br />

19. bis zum 20. Jahrhundert vermittelt.<br />

Dieses Werk kann aufgrund seiner Mannigfaltigkeit<br />

und der einfachen Lesbarkeit<br />

in jeder Hinsicht empfohlen werden.<br />

is<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2012<br />

2


28<br />

Service Die historische Quelle<br />

Während des Zweiten Weltkrieges kam in Stalingrad<br />

der deutsche Vormarsch in den verlustreichen<br />

Häuserkämpfen des Herbstes 1942 zum Stehen. Durch<br />

eine Gegenoffensive gelang es der Roten Armee bis zum<br />

23. November, die 6. Armee in der Stadt einzukreisen.<br />

Damit waren die dortigen Truppen vom Nachschub auf<br />

dem Landweg abgeschnitten. Stattdessen sollte die Versorgung<br />

der eingeschlossenen Armee durch eine Luftbrücke<br />

erfolgen. Im Schnitt erreichten die 6. Armee jedoch nur<br />

110 Tonnen statt der notwendigen 500 Tonnen pro Tag.<br />

Unter den wenigen<br />

Transportgütern, die<br />

mit den Flugzeugen in<br />

den Kessel von Stalingrad<br />

gebracht wurden,<br />

befanden sich unter anderem<br />

künstliche Weihnachtsbäumchen.<br />

Einer,<br />

der Stalingrad nicht<br />

mehr erreichte, befindet<br />

sich im Militärhistorischen<br />

Museum der<br />

Bundeswehr in Dresden.<br />

Verziert ist er mit<br />

weißem Staub, Lametta<br />

und einfachem Christbaumschmuck(Engelsfigur,<br />

Kugel, Fliegenpilz,<br />

drei verschiedene<br />

Sterne).<br />

Er stammt aus dem Privatbesitz des ehemaligen Luftwaffengenerals<br />

Hermann Voigt-Ruscheweyh. Im Winter<br />

1942/43 war er Feindnachrichtenoffizier (Ic) des »Luftgau-Kommandos<br />

Rostow«, später umbenannt in »Feldluftgau-Kommando<br />

XXV«. Durch den Bereich des Luftgau-<br />

Kommandos lief die Versorgungsroute der Luftbrücke<br />

für Stalingrad. Wahrscheinlich zweigte Voigt-Ruscheweyh<br />

dabei das Weihnachtsbäumchen für sich ab.<br />

Die auch als »Weihnachtsgruß Görings« bezeichneten<br />

künstlichen Weihnachtsbäumchen machen das Phänomen<br />

der »Kriegsweihnacht« greifbar. Sie stehen für<br />

die systematische Instrumentalisierung einer christlichen<br />

Tradition im Dienste einer kriegführenden Diktatur,<br />

die sehr genau um die propagandistische Bedeutung<br />

des emotionsgeladenen Weihnachtsfestes wusste.<br />

In diesem Sinne sollte ein möglichst stimmungsvolles<br />

Weihnachtsfest die Moral der eingeschlossenen Soldaten<br />

positiv beeinflussen. Ergänzend wurden gerade zu<br />

Weihnachten Radioübertragungen aus dem Kessel<br />

nach dem Prinzip des bekannten »Wunschkonzertes<br />

der Wehrmacht« durchgeführt, um Front und Heimat<br />

über Rundfunk miteinander zu verbinden und so<br />

Militärhistorisches Museum Dresden<br />

Weihnachtsbäumchen für Stalingrad<br />

MHM, BAAV5781<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2012<br />

Volksgemeinschaft und Durchhaltewillen auf beiden<br />

Seiten zu stärken.<br />

Das Kalkül ging im Kessel von Stalingrad nur sehr bedingt<br />

auf. Viele Soldaten hungerten, es gab erste Todesfälle.<br />

Der Entsatzversuch mit dem Tarnnamen »Wintergewitter«<br />

zur Herstellung einer Verbindung zur 6. Armee<br />

war gerade gescheitert. Hoffnungslosigkeit machte sich<br />

breit. Diese Stimmung schilderte der Offizier Helmut<br />

Welz in seinen Erinnerungen: »Es werden traurige Tage<br />

werden, diese Weihnachtstage im Kessel. Kein Geschenk<br />

wird es geben, keine Überraschung, keine Bescherung, es<br />

sei denn durch den Russen.«<br />

Den meisten sowjetischen Soldaten und den wenigen<br />

verbliebenen Einwohnern Stalingrads bedeutete Weihnachten<br />

wenig. Sofern im Stalinismus überhaupt möglich,<br />

feierten sie das orthodoxe Weihnachtsfest ohnehin<br />

erst am 6./7. Januar.<br />

Das Weihnachtsbäumchen ist momentan in der Dauerausstellung<br />

des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr<br />

in Dresden zu sehen. Ab November 2012 wird es<br />

in der Sonderausstellung zur Schlacht um Stalingrad ausgestellt.<br />

Jens Wehner<br />

Stalingrad-<br />

Sonderausstellung<br />

2012/13<br />

Im November 2012 eröffnet das Militärhistorische Museum<br />

der Bundeswehr in Dresden eine Sonderausstellung aus<br />

Anlass des 70. Jahrestages der Schlacht von Stalingrad. Das<br />

Museum sucht hierfür Exponate aus privater Hand: Feldpostbriefe,<br />

Uniformstücke, Auszeichnungen, Dokumente,<br />

Fotos, Kunstgegenstände und andere Sachzeugen.<br />

Militärhistorisches Museum der Bundeswehr<br />

Olbrichtplatz 2<br />

01099 Dresden<br />

Ansprechpartner: Jens Wehner M.A.<br />

Tel.: 03 51 / 823 2883<br />

Fax: 03 51 / 823 2805<br />

E-Mail: jenswehner@bundeswehr.org<br />

Homepage: www.mhmbw.de


BArch/Bild 101II-MW-4444-12<br />

12. September 1942 7. September 1987<br />

Am 20. August 1942 lief das deutsche Langstrecken-Unterseeboot<br />

U 156 vom Typ IX C vom französischen Hafen Lorient<br />

zur Feindfahrt aus. Befehligt von Korvettenkapitän<br />

Werner Hartenstein, sollte es gegnerische Schiffe im Südatlantik<br />

versenken. Am 12. September hatte das Boot nordöstlich<br />

der Insel Ascension Sichtkontakt zum britischen Truppentransporter<br />

»Laconia«. In Unkenntnis darüber, dass sich<br />

an Bord neben den ca. 750 britischen Besatzungsmitgliedern<br />

und Soldaten auch 1809 italienische Kriegsgefangene<br />

sowie 103 polnische Soldaten als Bewacher befanden, versenkte<br />

Hartenstein das Schiff mit zwei Torpedos. Erst als<br />

Hartenstein nach überlebenden britischen Offizieren suchen<br />

ließ, erkannte er seinen Fehler. Um diplomatische Verwicklungen<br />

mit dem Bündnispartner Italien zu vermeiden,<br />

startete er eine bis dahin einmalige Rettungsaktion. Trotz<br />

der ohnehin schon beengten Verhältnisse in einem U-Boot<br />

ließ er so viele Schiffbrüchige wie möglich an Bord kommen<br />

und, in Rettungsbooten sitzend, in Schlepp nehmen.<br />

Auch der über Funk informierte Befehlshaber der Unterseeboote,<br />

Admiral Karl Dönitz, gab der Aktion seine Zustimmung<br />

und beorderte U 506 und U 507 zur Unglücksstelle.<br />

Per Funkspruch bat Hartenstein auf Englisch alle in der Gegend<br />

befindlichen Schiffe um Hilfe und erklärte, nicht anzugreifen,<br />

solange er selbst nicht angegriffen werde.<br />

Nach vier Tagen wurden die U-Boote, auf deren Decks<br />

sich Hunderte Überlebende drängten, von einer US-Aufklärungsmaschine<br />

überflogen. Ein weiteres Flugzeug der<br />

US Air Force bombardierte die Boote, obwohl diese deutlich<br />

sichtbar mit Rot-Kreuz-Flaggen gekennzeichnet waren.<br />

Bei dem Angriff wurden Überlebende in den Rettungsbooten<br />

getötet und U-156 schwer beschädigt. Hartenstein erhielt<br />

den Befehl, die Rettungsaktion abzubrechen.<br />

In der Folge erließ Dönitz den »Laconia-Befehl«, der es<br />

deutschen U-Booten verbot, Schiffbrüchige nach einer Versenkung<br />

aufzunehmen (wie es im Übrigen auch die US<br />

Navy im Pazifikkrieg praktizierte). Die exakte Zahl der Toten<br />

und Überlebenden ist nicht bekannt. Vermutlich kamen<br />

durch den Angriff auf die Laconia und die spätere Bombardierung<br />

der U-Boote ca. 1500 Menschen ums Leben; dank<br />

herbeigerufener Schiffe konnten 500 bis 1200 Menschen gerettet<br />

werden. In britisch-deutscher Zusammenarbeit aufwändig<br />

verfilmt, wurde die unglaubliche Geschichte 2011<br />

als Fernsehzweiteiler 2011 ausgestrahlt.<br />

Tobias Gräf<br />

Geschichte kompakt<br />

Laconia-Zwischenfall Honecker besucht die Bundesrepublik<br />

3Frankreich,<br />

Lorient,<br />

August 1942:<br />

U-Boot des<br />

Typs IX C,<br />

auslaufend.<br />

Bundesregierung/Lothar Schaak<br />

Im September 1987 besucht Erich Honecker, Generalsekretär<br />

der SED und Staatsratsvorsitzender der DDR, auf Einladung<br />

von Bundeskanzler Helmut Kohl als erster ostdeutscher<br />

Staatschef die Bundesrepublik Deutschland. Der<br />

Empfang Honeckers kommt in seiner Tragweite einem<br />

Staatsbesuch gleich: Die Bundesrepublik erkennt, sichtbar<br />

für die Weltöffentlichkeit, die DDR als eigenständigen und<br />

gleichberechtigten deutschen Staat an. Die DDR wähnt sich<br />

zu diesem Zeitpunkt – nur zwei Jahre vom eigenen Niedergang<br />

entfernt – auf dem Höhepunkt ihrer außenpolitischen<br />

Bestrebungen.<br />

Im zweigeteilten Nachkriegsdeutschland hatte die Staatsführung<br />

der DDR stets nicht nur die internationale, sondern<br />

auch und im Besonderen die Anerkennung durch die Bundesregierung<br />

angestrebt und dies zum Schwerpunkt ihrer<br />

Außenpolitik gemacht. Bereits früh waren der DDR erste<br />

internationale Erfolge mit der Anerkennung durch verschiedene,<br />

zumeist kommunistisch ausgerichtete Staaten<br />

(Sowjetunion, Bulgarien, Polen, China, Kuba) beschieden,<br />

doch verwehrte ihr die Bundesrepublik Deutschland bis in<br />

die 1970er Jahre die Anerkennung als souveräner deutscher<br />

Staat. Den Hintergrund bildete die sogenannte Deutschlandfrage<br />

– die Frage nach der Einheit, der Grenzen und<br />

der territorialen Ordnung (Gesamt-) Deutschlands –, die<br />

sich mit der Bildung zweier deutscher Staaten deutlich verkompliziert<br />

hatte. Erst die Ostpolitik Willy Brandts und die<br />

daraus hervorgegangenen Ostverträge (1970) bildeten die<br />

Grundlage für eine nachfolgende Entspannungsphase zwischen<br />

beiden Staaten und die spätere Anerkennung der<br />

DDR.<br />

Helmut Kohl führte die von der Regierung unter Willy<br />

Brandt begonnene Ost- und Deutschlandpolitik fort und<br />

setzte im Besonderen auf eine weitere Annäherung beider<br />

deutscher Staaten. Die Gespräche zwischen Honecker und<br />

Kohl anlässlich des Staatsbesuchs hatten zum Ziel, die innerdeutschen<br />

Beziehungen und die Lebensbedingungen<br />

für die Menschen in den zwei Staaten zu verbessern. So betrafen<br />

sie unter anderem den Reise- und Besuchsverkehr<br />

sowie Familienzusammenführungen. Im Anschluss an den<br />

Besuch, bei dem Honecker neben Helmut Kohl auch mit<br />

dem damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker<br />

zusammentraf, setzte die DDR tatsächlich Erleichterungen<br />

für den innerdeutschen Reise- und Postverkehr um.<br />

jm<br />

3Helmut Kohl<br />

empfängt Erich<br />

Honecker vor<br />

dem Bundeskanzleramt.<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2012 29


• Berlin<br />

Fokus DDR<br />

Deutsches Historisches<br />

Museum<br />

Unter den Linden 2<br />

10117 Berlin<br />

Telefon: 0 30 / 20 30 40<br />

www.dhm.de<br />

bis 25. November 2012<br />

täglich 10.00 bis 18.00 Uhr<br />

Eintritt: 8,00 Euro<br />

(unter 18 Jahren frei)<br />

Es geht mir gut.<br />

Deutsche Feldpost von<br />

1870 bis 2010<br />

Militärhistorisches Museum<br />

der Bundeswehr<br />

Luftwaffenmuseum<br />

Berlin-Gatow<br />

Besuchereingang:<br />

Am Flugplatz Gatow 33<br />

14089 Berlin<br />

Tel.: 0 30 /36 87 26 08<br />

www.luftwaffenmuseum.<br />

com<br />

bis 31. Oktober 2012<br />

Dienstag bis Sonntag<br />

10.00 bis 18.00 Uhr<br />

Eintritt: frei<br />

• Burghausen<br />

Verbündet – Verfeindet<br />

– Verschwägert. Bayern<br />

und Österreich<br />

(Bayerisch-OberösterreichischeLandesausstellung,<br />

weitere Ausstellungsorte:<br />

Mattighofen<br />

und Ranshofen, Österreich)<br />

Burg Burghausen<br />

Burg Nr. 48<br />

84489 Burghausen<br />

Tel.: 0 86 77 / 46 59<br />

www.burg-burghausen.de<br />

bis 4. November 2012<br />

tägl. von 9.00 bis 18.00 Uhr<br />

• Dachau<br />

Holocaust im Comic<br />

Evangelische Versöhnungskirche<br />

KZ-Gedenkstätte Dachau<br />

Alte Römerstraße 87<br />

85221 Dachau<br />

Tel.: 0 81 31 / 13 66 4<br />

www.versoehnungskirchedachau.de<br />

30<br />

Service<br />

Ausstellungen<br />

bis 30. September 2012<br />

Montag 10.00 bis 12.00 Uhr<br />

Dienstag bis Samstag<br />

10.00 bis 16.00 Uhr<br />

Sonntag 12.00 bis 13.00 Uhr<br />

• Dresden<br />

Militärhistorisches Museum<br />

der Bundeswehr<br />

Olbrichtplatz 2<br />

01099 Dresden<br />

Tel.: 03 51 / 82 32 85 1<br />

www.mhmbw.de<br />

Dauerausstellung<br />

Montag 10 bis 21 Uhr<br />

Donnerstag bis Dienstag<br />

10.00 bis 18.00 Uhr<br />

Eintritt: 5,00 Euro<br />

ermäßigt: 3,50 Euro<br />

(für Bundeswehr-Angehörige<br />

Eintritt frei)<br />

• Ingolstadt<br />

Ordnung und Vernichtung<br />

– Die Polizei im<br />

NS-Staat<br />

Bayerisches Armeemuseum<br />

Bayerisches Polizeimuseum<br />

(ab 20.12.2011)<br />

Neues Schloss<br />

Paradeplatz 4<br />

85049 Ingolstadt<br />

Tel.: 08 41 / 93 77 0<br />

www.armeemuseum.de/nspolizei<br />

bis 17. Oktober 2012<br />

im Reduit Tilly<br />

Dienstag bis Freitag<br />

9.00 bis 17.30 Uhr<br />

Samstag und Sonntag<br />

10.00 bis 17.30 Uhr<br />

Eintritt: 5,00 Euro<br />

ermäßigt: 3,50 Euro<br />

• Ludwigsburg<br />

»O, namenloses Elend«.<br />

Die Württemberger und<br />

der Feldzug Napoleons<br />

1812<br />

Garnisonmuseum Ludwigsburg<br />

Im Asperger Torhaus<br />

Asperger Straße 52<br />

71634 Ludwigsburg<br />

Tel.: 0 71 41 / 91 02 41 2<br />

www.garnisonmuseumludwigsburg.de<br />

bis 25. Januar 2013<br />

Mittwoch<br />

15.00 bis 18.00 Uhr<br />

Sonntag<br />

13.00 bis 17.00 Uhr<br />

Eintritt: 2.00 Euro<br />

ermäßigt: 1,00 Euro<br />

• Potsdam<br />

FRIEDERISIKO –<br />

Friedrich der Große<br />

Stiftung Preußische<br />

Schlösser und Gärten<br />

Neues Palais<br />

Am Neuen Palais<br />

14469 Potsdam<br />

Tel.: 03 31 / 96 94 20 0<br />

www.friederisiko.de/<br />

bis 28. Oktober 2012<br />

Mittwoch bis Montag<br />

10.00 bis 19.00 Uhr<br />

Eintritt: 14,00 Euro<br />

ermäßigt: 10,00 Euro<br />

• Rastatt<br />

Namen, Bilder, Schatten.<br />

Treibgut der wilhelminischen<br />

Marine<br />

bis 1918 in Baden und<br />

Württemberg<br />

Wehrgeschichtliches<br />

Museum Rastatt<br />

Herrenstraße 18<br />

76437 Rastatt<br />

Tel.: 0 72 22 / 34 24 4<br />

www.wgm-rastatt.de<br />

28. Juli bis Okt. 2012<br />

Dienstag bis Sonntag<br />

10.00 bis 16.30 Uhr<br />

Eintritt: 6,00 Euro<br />

ermäßigt: 3,00 Euro<br />

• Ratingen<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2012<br />

300 x Friedrich. Preußens<br />

großen König und<br />

Schlesien<br />

Oberschlesisches Landesmuseum<br />

Bahnhofstraße 62<br />

40883 Ratingen(-Hösel)<br />

Tel.: 0 21 02 / 96 50<br />

www.oberschlesisches-<br />

landesmuseum.de<br />

bis 16. September 2012<br />

Dienstag bis Sonntag<br />

11.00 bis 17.00 Uhr<br />

Eintritt: 5,00 Euro<br />

ermäßigt: 3,00 Euro<br />

Heft 3/2012<br />

Militärgeschichte<br />

Zeitschrift für historische Bildung<br />

� Vorschau<br />

Kriegerische Handlungen von Armeen<br />

zeichnen sich durch organisierte Gewaltanwendung<br />

aus. Einen hohen Grad an Organisation<br />

verlangt auch die Verteidigung<br />

gegen solche Gewaltanwendung, heute<br />

wie ehedem. Ein besonderes Beispiel für<br />

Organisiertheit und für Verteidigung<br />

schlechthin stellt im kommenden Heft Ralf<br />

Gebuhr in seinem Beitrag über den Festungsbau<br />

in der Frühen Neuzeit vor. Auf<br />

dem Gebiet des heutigen Deutschland<br />

wurde – wie auch anderswo – versucht,<br />

mit dem Bau von Landesfestungen der Bedrohung<br />

durch Feinde zu begegnen. In<br />

Brandenburg beispielsweise ließ Kurfürst<br />

Joachim II. ab 1537 in Peitz und ab 1557 in<br />

Küstrin Schlösser mit modernen Umwallungen<br />

errichten. Als Vorbild galten hierbei<br />

die Italiener, weswegen sich wiederum<br />

der Kurfürst zu Brandenburg der Hilfe des<br />

italienischen Festungsbaumeisters Rochus<br />

Graf zu Lynar bediente, als es galt, mit<br />

Peitz, Küstrin und Spandau eine ganze festungsgestützte<br />

Rundumverteidigung auszubauen.<br />

Mit der Errichtung der Zitadelle<br />

Spandau an einem bereits befestigten Platz<br />

hatten die Landesherren bereits 1560 begonnen,<br />

wiederum nach Plänen eines Italieners.<br />

Vollendet wurde dieser Monumentalbau<br />

erst 1590 nach 30-jähriger Bauzeit. Die<br />

Festung erfüllte lange Zeit ihren Zweck:<br />

Sie galt als uneinnehmbar.<br />

In einem weiteren Beitrag informiert Jörg<br />

Muth über die Führungskultur im Offizierkorps<br />

der USA sowie über dessen historische<br />

Wurzeln.<br />

In unserer Rubrik »Historisches Stichwort«<br />

schließlich widmet sich Martin<br />

Meier der größten Feldschlacht auf mecklenburgischem<br />

Boden, der Schlacht bei<br />

Gadebusch, die sich 2012 zum 300. Mal<br />

jährt.<br />

mt


Militärgeschichte im Bild<br />

Das »Fliegerass« und<br />

der »fliegende« Dichter<br />

Im Jahr 1931 trafen auf dem Berliner<br />

Flughafen Tempelhof zwei Persönlichkeiten<br />

aufeinander, deren weiterer<br />

Lebensweg unterschiedlicher kaum<br />

sein konnte: Ernst Udet und Joachim<br />

Ringelnatz, der eigentlich Hans Bötticher<br />

hieß. Beide waren im Ersten Weltkrieg<br />

Offizier, beide schrieben Autobiografien<br />

(»Mein Fliegerleben« und „Als<br />

Mariner im Krieg«) und beide verband<br />

eine Leidenschaft für das Fliegen.<br />

Ernst Udet, 1896 geboren, gilt nach<br />

Manfred Freiherr von Richthofen als<br />

der zweiterfolgreichste deutsche Jagdpilot<br />

des Ersten Weltkrieges. Insgesamt<br />

gingen 62 Abschüsse von gegnerischen<br />

Flugzeugen auf sein Konto. In der Zwischenkriegszeit<br />

machte er sich als tollkühner<br />

Kunst- und Schauflieger einen<br />

großen Namen, er tat sich aber ebenso<br />

erfolgreich als Schauspieler in mehreren<br />

Filmen um, zumeist in der Rolle<br />

des fliegenden Retters aus der Not.<br />

Kunstflüge waren in den 1920er und<br />

1930er Jahren ein beliebtes, öffentlich<br />

zelebriertes Unterhaltungsprogramm<br />

geworden. Auch der Schauspieler<br />

Heinz Rühmann etwa hatte sich diesem<br />

Trend nicht entziehen können und<br />

gehörte wie der Dichter, Kabarettist<br />

und Maler Ringelnatz, der Schriftsteller<br />

Carl Zuckmayer oder die Boxlegende<br />

Max Schmeling zum Freundeskreis<br />

des späteren Generals Ernst Udet,<br />

der das Publikum bei Flugtagen mit<br />

Kunststücken wie dem Aufheben von<br />

Taschentüchern mit der Tragfläche im<br />

Flug verblüfft haben soll.<br />

Im Mai 1933 trat Udet in die NSDAP<br />

ein. Dies und die Bekanntschaft mit<br />

Hermann Göring, seinem Geschwaderchef<br />

aus dem Ersten Weltkrieg und<br />

nun neuernanntem Reichsminister für<br />

Luftfahrt, verschaffte Udet Vorteile bei<br />

der Erprobung neuer fliegerischer<br />

Möglichkeiten. Als Privatmann vollzog<br />

er nun mit Sturzbombern Kunststücke<br />

auf den Flugtagen und wurde hierbei<br />

zunehmend zu Propagandazwecken<br />

herangezogen, um die Flugbegeisterung<br />

im »Dritten Reich« zu fördern,<br />

was 1935 in dem Film »Wunder des<br />

Fliegens« gipfelte, in dem Udet sich<br />

selbst spielte. Seine Kriegskameraden<br />

aus dem Ersten Weltkrieg, die in die<br />

Wehrmacht eingetreten waren, umwarben<br />

ihn für die Luftstreitkräfte,<br />

und so folgte mit Wirkung vom 1. Juni<br />

1935 der Eintritt als Oberst. Im Zweiten<br />

Weltkrieg wurde er schon früh, 1940,<br />

zum General der Flieger und kurz darauf<br />

zum Generaloberst ernannt. Im<br />

November 1941 nahm er sich das Leben,<br />

wobei nachweislich festgehalten<br />

werden kann, dass es sich keinesfalls<br />

um einen widerständigen Akt gegen<br />

das NS-System handelte. Ernst Udet<br />

war unter anderem an seiner Aufgabe<br />

als Chef des Technischen Amtes des<br />

Reichsluftfahrtministeriums gescheitert.<br />

Ganz anders verlief das Leben des<br />

1883 geborenen Joachim Ringelnatz,<br />

das bereits im Jahr 1934 aufgrund einer<br />

Lungenkrankheit in Berlin endete. Der<br />

reisende, wegen seiner seemännischen<br />

Vergangenheit gerne im Matrosenanzug<br />

auftretende Vortragskünstler erlangte<br />

rasch Berühmtheit und musste<br />

Mitte der 1920er Jahre sogar Aufträge<br />

ablehnen. Seine Begeisterung für die<br />

Fliegerei – der Dichter war Lufthansa-<br />

Vielflieger mit 60 Prozent Rabatt –<br />

schlug sich in dem Lyrikband »Flugzeuggedanken«<br />

von 1929 nieder.<br />

Den Aufstieg der NSDAP hatte Ringelnatz<br />

lange Zeit nicht ernst genom-<br />

men. In einem Brief an eine Freundin<br />

1930 hielt er beispielsweise fest, dass<br />

ihn der »Hitler-Rummel« kaltlasse.<br />

Nach der Machtübernahme Hitlers bekam<br />

jedoch Ringelnatz sehr früh zu<br />

spüren, dass sein Wirken keine erlaubte<br />

Öffentlichkeit mehr fand. Die<br />

meisten seiner Werke fielen im Zuge<br />

der Bücherverbrennungen dem Scheiterhaufen<br />

zum Opfer, und er selbst<br />

durfte nicht mehr auftreten. Da diese<br />

Auftritte allerdings seine Haupteinnahmequelle<br />

gewesen waren, verarmte<br />

das Ehepaar Ringelnatz in der Folge<br />

sehr rasch.<br />

Ernst Udet und Joachim Ringelnatz<br />

fühlten sich offenbar verbunden durch<br />

die Faszination vom und für das Fliegen.<br />

Über den weiteren Verlauf der<br />

Männerfreundschaft ab 1933 ist wenig<br />

bekannt. Während der eine im »Dritten<br />

Reich« eine militärische Karriere bis<br />

hin zum Generaloberst durchlief, endete<br />

für den anderen 1933 der künstlerische<br />

Weg. Der Dichter hat sich mit<br />

einem umfangreichen Oeuvre und vor<br />

allem mit vielen humoristischen Gedichten<br />

in die Herzen vieler Generationen<br />

geschrieben. Dem General setzte<br />

Carl Zuckmayer in dem Werk »Des<br />

Teufels General« in der Rolle des General<br />

Harras ein literarisches Denkmal.<br />

Ines Schöbel<br />

Ernst Udet in »Wunder des Fliegens: Der Film eines<br />

deutschen Fliegers«, Regie: Heinz Paul (1935).<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 1/2012<br />

ullstein bild/Balassa<br />

31<br />

SZ-Photo/Scherl


Abonnement<br />

Jahresabonnement: 14,00 Euro<br />

inkl. MwSt. und Versandkosten<br />

(innerhalb Deutschlands,<br />

Auslandsabonnementpreise auf<br />

Anfrage)<br />

Kündigungsfrist: 6 Wochen zum<br />

Ende des Bezugszeitraumes.<br />

NEUE PUBLIKATIONEN DES <strong>MGFA</strong><br />

Auftrag Auslandseinsatz. Neueste Militärgeschichte an der Schnittstelle von<br />

Geschichtswissenschaft, Politik, Öffentlichkeit und Streitkräften. Im Auftrag des<br />

Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Bernhard Chiari, Freiburg i.Br., Berlin, Wien:<br />

Rombach 2012, 480 S. (= Neueste Militärgeschichte. Analysen und Studien, 1), 48,00 Euro<br />

ISBN 9783-7930-9694-8<br />

Hans-Werner Ahrens, Die Luftbrücke nach Sarajevo 1992 bis 1996. Transportflieger<br />

der Luftwaffe und der Jugoslawienkrieg, Freiburg i.Br., Berlin, Wien: Rombach 2012, 320 S.<br />

(= Neueste Militärgeschichte. Einsatz konkret, 1), 34,00 Euro<br />

ISBN 9783-7930-9695-5<br />

Karlheinz Deisenroth, Der Alte Friedhof zu Potsdam. Versuch einer Rekonstruktion<br />

militärischen und bürgerlichen Lebens und Sterbens im alten Preußen. Hrsg. vom<br />

Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Potsdam, in Verb. mit der Landeshauptstadt Potsdam,<br />

Bereich Untere Denkmalschutzbehörde sowie dem Potsdam Museum – Forum für Kunst und<br />

Geschichte, Freiburg i.Br., Berlin, Wien: Rombach 2012, XVIII, 518 S., 54,00 Euro<br />

ISBN 978-3-7930-9696-2<br />

Johann Heinrich Ludwig Grotehenn, Briefe aus dem Siebenjährigen Krieg,<br />

Lebensbeschreibung und Tagebuch. In Zusammenarb. mit dem Militärgeschichtlichen<br />

Forschungsamt hrsg. und kommentiert von Marian Füssel und Sven Petersen unter Mitarb. von<br />

Gerald Scholz, Potsdam: <strong>MGFA</strong> 2012, X, 241 S. (= Potsdamer Schriften zur Militärgeschichte,18),<br />

19,80 Euro<br />

ISBN 978-3-941571-20-4<br />

Kontakt zum Bezug der Zeitschrift:<br />

Militärgeschichtliches Forschungsamt<br />

z.Hd. Frau Christine Mauersberger<br />

Postfach 60 11 22, 14471 Potsdam<br />

Tel.: 0331/9714 599, Fax: 0331/9714 509<br />

Mail: ChristineMauersberger@bundeswehr.org<br />

Die Betreuung des Abonnements erfolgt über die Firma SKN<br />

Druck und Verlag, Stellmacher Straße 14, 26506 Norden,<br />

die sich mit den Interessenten in Verbindung setzen wird.<br />

www.mgfa.de

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!