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Nachrichten und Buchbesprechungen. - Bergischer ...

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Albrecht Blank<br />

Dionysius Eickel – Ein interessanter Buchf<strong>und</strong> im Internet <strong>und</strong> zugleich<br />

Erinnerung an einen fast vergessenen Prediger aus Elberfeld<br />

Früher stöberte man in verstaubten Antiquariaten<br />

nach interessanten Bücher, heute<br />

setzt man sich vor den Computer <strong>und</strong> sucht in<br />

Online-Katalogen der Antiquariate oder durchstöbert<br />

die Versteigerungen im Internet. Hier<br />

fand ich ein, im wirklichen Sinne, fast einmaliges<br />

Buch 1 über einen Prediger aus Elberfeld:<br />

Dionysius Eickel.<br />

Wer war er nun, dieser Dionysius Eickel,<br />

der neben den großen Wuppertaler Theologen,<br />

wie G. D. Krummacher, F. A. Krummacher,<br />

Nourney, Krafft, nichts Wesentliches geleistet<br />

oder hinterlassen zu haben scheint, obwohl er<br />

Zwischentitel aus der 1788 erschienenen Predigtsammlung.<br />

– Foto: Verfasser<br />

über 30 Jahre in seinem Amte in Elberfeld<br />

stand? Aber er hat mehr hinterlassen als viele<br />

andere, denn er war ein echter Seelsorger in<br />

schweren Zeiten. Berühmt <strong>und</strong> auch heute<br />

noch bekannt ist seine Predigt anlässlich des<br />

100. Jahrestages des großen Brandes in Elberfeld,<br />

welcher 1687 einen großen Teil der Stadt<br />

vernichtete.<br />

Geboren wurde Dionysius Eickel in Bremen<br />

am 30. Dezember 1723 als Sohn des Pfarrers<br />

Heinrich Eickel <strong>und</strong> seiner Frau Amalie<br />

Piron 2 . Die Familie Eickel stammte aus Duisburg.<br />

Dort kam Heinrich Eickel am 12. Januar<br />

1685 zur Welt. Nach dem Besuch der Universität<br />

Duisburg wurde er Pfarrer in Homberg<br />

(1712–1715), an der Marienkirche Duisburg<br />

(1715–1720), an Stephani in Bremen (1720–<br />

1739) <strong>und</strong> schließlich wieder in Homberg von<br />

1739 bis zu seinem Tode am 11. April 1743.<br />

Dionysius Eickel wuchs in Bremen auf <strong>und</strong><br />

besuchte die dortige Hohe Schule (Gymnasium<br />

illustre), die zusammen mit den calvinistisch<br />

orientierten Hohen Schulen <strong>und</strong> Universitäten<br />

in Duisburg, Hamm, Lingen, Herborn<br />

<strong>und</strong> Burgsteinfurt zu den reformierten Bollwerken<br />

gegen die katholischen Universitäten<br />

<strong>und</strong> Kollegien in Köln, Paderborn, Münster<br />

etc. gehörte. So bestanden natürlich enge Beziehungen<br />

zwischen den reformierten Universitäten<br />

<strong>und</strong> ein Wechsel von einer zur anderen<br />

Schule war häufig. Hier begann Dionysius<br />

seine Studien an der theologischen Fakultät.<br />

Ein entsprechender Eintrag findet sich in den<br />

Matrikeln des Gymnasiums Bremen 1739.<br />

Nach dem Tode seines Vaters wechselte er<br />

1744 zur Universität Duisburg, wo er sich am<br />

5. März unter dem Rektorat des H. T. Pagenstecher<br />

in die Matrikelliste einschrieb. Am<br />

14. April legte er sein Glaubenbekenntnis als<br />

Theologiestudent vor dem Konsistorium der reformierten<br />

Gemeinde Duisburgs ab <strong>und</strong> wurde<br />

offiziell in die Gemeinde aufgenommen. Hier<br />

studierte er unter den Professoren Christoph<br />

1


Raab, Johann ab Hamm <strong>und</strong> Peter Janssen.<br />

Christoph Raab war von 1709 bis 1748 Professor<br />

für Theologie <strong>und</strong> Kirchengeschichte in<br />

Duisburg. Wegen seines herrischen Wesens<br />

<strong>und</strong> seines Hangs, sich mit „Pietisten <strong>und</strong><br />

Schwärmern“ abzugeben, wurde er mehrfach<br />

suspendiert. Die Synode beschloß sogar, die<br />

unter ihm Studierenden nicht zum Examen zuzulassen.<br />

Die in der Duisburger Zeitung veröffentlichten<br />

schweren Angriffe gegen die katholische<br />

Religion führten zu jahrelangen Prozessen.<br />

Peter Janßen, 1744 bis 1770 Professor<br />

für systematische Theologie <strong>und</strong> Kirchengeschichte<br />

in Duisburg, kam im selben Jahr wie<br />

Eickel an die Universität nach Duisburg <strong>und</strong><br />

sicherlich ging ein großer Einfluss von ihm<br />

aus. Janssens „Betrachtungen über den Reichtum<br />

der Güte Gottes“ von 1732 wird Eickel<br />

wahrscheinlich bekannt gewesen sein. Pietismus<br />

war eigentlich nicht an der Universität<br />

Duisburg zu Hause, trotz der Nähe zu Tersteegen<br />

in Mülheim <strong>und</strong> Hasenkamp an dem Gymnasium<br />

in Duisburg, der sogar von der Synode<br />

für seine pietistische Gesinnung bestraft wurde.<br />

Trotzdem wurde Eickel durch diese Kreise<br />

berührt <strong>und</strong> später sind vielfältige Verbindungen<br />

zu dem Tersteegen-Kreis nachzuweisen, so<br />

z.B. ein Brief an Wilhelm Weck vom 25. Juli<br />

1765, in dem er sich für ein Geschenk bedankt.<br />

Auch der nächste Schritt in seinem Leben<br />

führt Dionysius Eickel in diese Richtung, dass<br />

heißt in eine Gemeinde, die dem pietistischen<br />

Gedankengut sehr offen stand. Zuerst als Hilfspfarrer<br />

wird er im März 1749 zum 2. Pfarrer<br />

der reformierten Gemeinde in Wülfrath gewählt<br />

<strong>und</strong> versieht dieses Amt bis zu seiner Berufung<br />

nach Elberfeld 1756. Auch hier wird er<br />

sich der Erweckungsbewegung in seinen<br />

frühen Anfängen genähert haben <strong>und</strong> bei seinem<br />

Wechsel nach Elberfeld steht in einem<br />

Brief an Wilhelm Weck: „O wie glücklich ist<br />

eine Gemeinde, wo solch treue Arbeiter in den<br />

Weinberg gesandt werden 3 “.<br />

Dionysius Eickel heiratet am 8. März 1751<br />

Anna Sophia Henrietta Kürten 4 , geb. 1733 in<br />

Schöller bei Elberfeld. Nachkommen hat es<br />

wohl keine gegeben. In der Erinnerungspredigt<br />

anlässlich der Beerdigung wird ausdrücklich<br />

nur die Ehefrau als Trauernde erwähnt.<br />

2<br />

Wülfrath diente einigen Pfarrern als<br />

Sprungbrett für eine Stelle in Elberfeld, eine<br />

der aufstrebendsten <strong>und</strong> reichsten Städte im<br />

Wuppertal. Auch Dionysius Eickel ging diesen<br />

Weg. Er wurde 1756 zum 2. Pfarrer der reformierten<br />

Gemeinde Elberfeld gewählt <strong>und</strong><br />

am 20. Dezember 1756 in sein neues Amt eingeführt.<br />

Er folgte dort dem Pfarrer J. R. Druschell,<br />

der 1755 verstorben war. Seine Kollegen<br />

in der reformierten Gemeinde waren J.<br />

Achenbach bis 1770, J. P. Weyermann als erster<br />

Dritter Pastor bis 1786, F. Merken von 1770<br />

bis 1801 <strong>und</strong> schließlich C. G. Wever von 1787<br />

an, der sich auch mit einer Ode in dem beschriebenen<br />

Buch von seinem Kollegen verabschiedete.<br />

Die Pfarrer der lutherischen Gemeinde<br />

zu dieser Zeit waren F. W. Gelshorn<br />

(1767–1776) <strong>und</strong> vor allem J. C. Böddinghaus<br />

(1777–1813) 5 . Es war eine schwere Zeit, in der<br />

Eickel nach Elberfeld wechselte, die Zeit des<br />

Siebenjährigen Krieges mit wiederholten Besetzungen<br />

Elberfelds durch französische Truppen,<br />

Geiselnahmen, Hunger <strong>und</strong> Elend. Auf<br />

Gr<strong>und</strong> der Kriegswirren konnten Sitzungen der<br />

Provinzialsynode 1757 <strong>und</strong> 1758 nicht abgehalten<br />

werden. Ebenso fanden keine Sitzungen<br />

der Generalsynode während des Siebenjährigen<br />

Krieges statt. Eickel wurde im Jahr seines<br />

Amtsantrittes in Elberfeld noch Inspektor der<br />

Elberfelder Klasse, hatte zeitlebens wiederholt<br />

Ämter inne <strong>und</strong> war zum Zeitpunkt seines Todes<br />

Präses der Generalsynode in Jülich, Cleve,<br />

Berg <strong>und</strong> Mark. 1774 war Eickel Präses der<br />

Bergischen Provinzialsynode. Er war damit<br />

Vorsitzender der mächtigsten <strong>und</strong> größten Synode<br />

neben Jülich, Cleve <strong>und</strong> Mark. Während<br />

seiner Amtszeit eskalierte der Streit um die<br />

Einführung eines neuen Liederbuches. 1772<br />

eingeführt, wurde es vor allem von den altreformierten<br />

Gemeinden der bergischen Provinzialsynode<br />

abgelehnt, so dass sich die Buchhändler<br />

<strong>und</strong> Drucker bei der Regierung in Cleve<br />

über den mangelnden Absatz beschwerten,<br />

zumal ein Festpreis von 10 Stübern festgesetzt<br />

worden war. Ein Gutachten nach dem anderen<br />

wurde erstellt <strong>und</strong> erst nach einer außerordentlichen<br />

Bergischen Synode vom 4. März 1775<br />

konnte Eickel mit einer Abordnung nach Cleve<br />

reisen <strong>und</strong> in einer dreitägigen Beratung den


Streit beilegen. In einer 2. Auflage des Liederwerkes<br />

wurden nun die vier beschlossenen Änderungen<br />

6 eingearbeitet 7 . 1778, Eickel war Assessor<br />

der Bergischen Synode, nahm er an der<br />

Generalsynode in Duisburg teil <strong>und</strong> wurde in<br />

das Collegium qualificatum entsandt. Auf der<br />

Generalsynode in Duisburg vom 12. bis 19. Juli<br />

1787 wird Eickel schließlich zum Präses gewählt.<br />

Den Höhepunkt seiner beruflichen<br />

Laufbahn hatte er erreicht, aber damit auch<br />

eine weitere Arbeitsbelastung, die seiner Ges<strong>und</strong>heit<br />

sicherlich abträglich war, denn neben<br />

seinen seelsorgerischen Aufgaben musste er<br />

sich in den folgenden Jahren um die synodalen<br />

Geschäfte kümmern. Er erhielt den Auftrag,<br />

sich an den König zu wenden wegen des Himmelfahrtstages,<br />

der durch den Preußischen König<br />

auf einen Sonntag verlegt worden war, um<br />

die Vielzahl der Feiertage zu begrenzen. Am<br />

Schluss der Synode hielt Eickel eine „sehr erweckende“<br />

Rede über Joh. 15, 4. 5.<br />

Er war ein Arbeitsmensch. Von morgens bis<br />

abends im Dienst, besuchte er Kranke <strong>und</strong><br />

Notleidende <strong>und</strong> versuchte zu helfen, wo er<br />

konnte. Er machte keinen Unterschied zwischen<br />

Armen <strong>und</strong> Reichen <strong>und</strong> war Tag <strong>und</strong><br />

Nacht für jeden erreichbar. Seine Persönlichkeit<br />

<strong>und</strong> Ausstrahlung machten ihn berühmt, so<br />

dass die Menschen von weit her zu seinen Predigten<br />

kamen. Im Vorwort des nachfolgend beschriebenen<br />

Buches wird er folgendermaßen<br />

charakterisiert: „Die Hauptzüge seines Charakters<br />

waren unverstellte Aufrichtigkeit,<br />

fre<strong>und</strong>schaftliche Mitteilung seiner von Gott<br />

erlangten Gaben, nachgebende Sanftmut, Ruhe<br />

<strong>und</strong> Heiterkeit des Gemüths, fre<strong>und</strong>licher<br />

Ernst, uneigennützige Gefälligkeit <strong>und</strong> unerschrockener<br />

Mut, die Wahrheit allenthalben zu<br />

sagen, wo ihn die Pflicht dazu aufforderte.“<br />

Ein besonderer Abschnitt in seinem Leben<br />

war wohl eine schwere Erkrankung in der<br />

zweiten Märzhälfte des Jahres 1764, von der<br />

Dionysius Eickel sich nur langsam erholte. In<br />

dieser Zeit muss wohl seine „Erweckung“ statt<br />

gef<strong>und</strong>en haben. In der Predigt anlässlich des<br />

Trauergottesdienstes für Eickel erwähnt Herminghaus:<br />

„Ihn, der vordem schon ein fleißiger,<br />

geschickter, beliebter Prediger war, hat der<br />

Herr vor stark 20 Jahren so kräftig erweckt, zu<br />

Frontispiz aus der Predigtsammlung mit der<br />

Silhouette des Dionysius Eikel von D. Engstfeld.<br />

– Foto: Verfasser.<br />

sich gezogen, <strong>und</strong> ausgerüstet, dass das Land<br />

davon zu sagen wusste, ich geschweige diese<br />

Gemeinde <strong>und</strong> ihre umliegende Nachbarschaft.“<br />

F. Strauß schreibt in seinen Lebenserinnerungen<br />

„Abend-Glocken-Töne“: „Es war<br />

die Zeit der Erweckung. Im Bergischen war<br />

früher eine solche gewesen zu Eickel’s <strong>und</strong><br />

Nourney’s Zeiten, wenn man eine solche benennen<br />

wollte mit dem Namen der Männer,<br />

von denen sie ausgegangen war.“ Weiter<br />

spricht Strauß, ein Lutheraner, von dem großen<br />

Segen, der von Eickel <strong>und</strong> Nourney ausgegangen<br />

sei.<br />

Im Gegensatz zu den pietistischen Kreisen<br />

mit ihren ganz unterschiedlichen Ausprägun-<br />

3


gen standen die Rationalisten. Beides waren<br />

religiöse Strömungen, auf der Aufklärung aufbauend<br />

<strong>und</strong> sowohl bei Reformierten wie Lutheranern<br />

vorhanden. J. Böddinghaus, ein Lutheraner,<br />

war Rationalist <strong>und</strong> Eickel stand nach<br />

Aussage von F. Strauß in einem schweren Bußkampf<br />

mit ihm 8 . Hausbesuche durch die Prediger<br />

war ein wichtiger Bestandteil reformierten<br />

Gemeindelebens <strong>und</strong> so wechselten sich die<br />

Pfarrer wöchentlich ab zwischen der reinen<br />

Amtstätigkeit mit Trauergottesdiensten, Taufen<br />

<strong>und</strong> Eheschließungen <strong>und</strong> der seelsorgerischen<br />

Tätigkeit mit Besuchen von Kranken <strong>und</strong> Sterbenden.<br />

Alle Gemeindemitglieder wurden<br />

jährlich einmal besucht <strong>und</strong> so entstand ein enger<br />

Kontakt in der Gemeinde <strong>und</strong> ein großes<br />

Wissen der Prediger um Leid <strong>und</strong> Nöte der<br />

Gläubigen. Hier lernte Eickel auch den Arzt<br />

<strong>und</strong> Dichter Jung-Stilling kennen. Dieser<br />

schätzte ihn sehr. „Ich war in dieser blühenden<br />

Handelsstadt sieben Jahre ausübender Arzt,<br />

<strong>und</strong> Eickel war mein wahrer Fre<strong>und</strong>; wir trafen<br />

uns gar oft am Krankenbette“ schreibt Johann<br />

Heinrich Jung im 2. Teil seines Buches „Szenen<br />

aus dem Geisterreiche“ 9 .<br />

So wird die große Erschütterung der Gemeinde<br />

über Dionysius Eickels plötzlichen Tod<br />

verständlich.<br />

Dionysius Eickel starb am 30. Mai 1788<br />

morgens um 1 Uhr nach einer kurzen Krankheit<br />

im Alter von 64 Jahren, 5 Monaten <strong>und</strong> 5<br />

Tagen. „Denn Dir war vergönnt zu sterben, ohne<br />

die gewöhnte Not.“ Er stand in seinem Amt<br />

in Elberfeld 31 Jahre, 5 Monate <strong>und</strong> 10 Tage.<br />

Die Beerdigung fand am 2. Juni 1788 statt <strong>und</strong><br />

sein Fre<strong>und</strong>, der Prediger Joh. Herminghaus,<br />

hielt die Gedächtnisrede. Sein Nachfolger im<br />

Amte war Daniel Kamp 10 . Seine Frau Anna Sophia<br />

Henrietta geb. Kürten überlebte ihn um 22<br />

Jahre <strong>und</strong> starb im Alter von 77 Jahren 1810 in<br />

Ronsdorf.<br />

Nun zum Buch: Sammlung einiger Predigten<br />

wegen ihrer Gründlichkeit <strong>und</strong> geistlichen<br />

Erfahrungen aufgeschrieben <strong>und</strong> zum Drucke<br />

befördert von ungenannten Fre<strong>und</strong>en; Zweite<br />

verbesserte Auflage. Elberfeld bei Christian<br />

Wilhelm Giesen, Buchhändler, 1788.<br />

Giesen war Verleger in Wülfrath <strong>und</strong> Elber-<br />

4<br />

feld <strong>und</strong> sympathisierte mit der Christentumsgesellschaft<br />

11 . Das Buch ist im Oktav-Format<br />

mit Pappeinband seiner Zeit <strong>und</strong> Lederrücken<br />

erschienen. Es enthält ein Frontispiz mit einer<br />

Silhouette des Dionysius Eickel von D. Engstfeld,<br />

die möglicherweise später eingeklebt<br />

wurde. Auf dem Vorsatzpapier befindet sich<br />

ein ganzseitiger Eintrag von Gottlieb Keydel<br />

vom 8. Mai 1794, wahrscheinlich einer der ersten<br />

Besitzer. Das Buch selbst besteht aus<br />

mehreren Abschnitten. Auf den Vorbericht des<br />

unbekannten Herausgebers von 20 Seiten, geschrieben<br />

am Todestag des Dionysius Eickel,<br />

folgen 28 Seiten mit Trauergedichten, Oden<br />

<strong>und</strong> Elegien auf den verstorbenen Prediger.<br />

Der Predigtteil mit Inhaltsverzeichnis umfasst<br />

450 Seiten, verteilt auf 11. Predigten, welche<br />

zwischen dem 11. September 1785 <strong>und</strong> dem<br />

22. Mai 1787 datiert sind. Im Anhang finden<br />

sich noch zwei Briefe Dionysius Eickels an eine<br />

Fre<strong>und</strong>in (10 Seiten), eine aus dem Jahre<br />

1740 stammende Grabinschrift (4 Seiten) <strong>und</strong><br />

schließlich die Gedächtnisrede (45 Seiten) des<br />

damaligen Inspektors der Elberfelder Klasse<br />

<strong>und</strong> Predigers zu Gemarke Joh. Herminghaus,<br />

gehalten am 2. Juni 1788, dem Begräbnistage<br />

Dionysius Eickels. Der Titel lautet: „Die Freudigkeit<br />

des Apostel Paulus bei dem Anblick<br />

seines nahen Todes“. Der Predigttext „Ich habe<br />

einen guten Kampf gekämpfet, ich habe den<br />

Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten.<br />

Hinfort ist mir beigelegt die Krone der Gerechtigkeit“<br />

wird dabei auf den verstorbenen Prediger<br />

bezogen, seine Glaubensstärke, seine<br />

Kämpfe, die ihn schließlich zur Erweckung geführt<br />

hatten.<br />

Kehren wir noch einmal an den Anfang des<br />

Buches zurück, zu den Trauergedichten, die in<br />

ihrer Art zu der damaligen Zeit nicht unüblich<br />

waren. Bemerkenswert ist jedoch, dass neben<br />

Angehörigen der eigenen Gemeinde <strong>und</strong> dem<br />

Kollegen Wever auch Mitglieder der lutherischen<br />

Gemeinde sich mit einem Trauergedicht<br />

verabschiedet haben. Man sieht, wie viel Ansehen<br />

er sich in den 31 Jahren seines Wirkens<br />

verschafft hatte durch seine immer wieder in<br />

den Gedichten erwähnte milde fre<strong>und</strong>liche Art,<br />

so dass er dem Jünger Johannes gleichgesetzt<br />

wurde.


Eickel stirbt! Hört! Zions Klage:<br />

Salems Tränen sind gerecht.<br />

Ohne lange Krankheit Plage,<br />

Starb der treue Gottesknecht.<br />

Ach! Der Hirt eilt nun von hinnen,<br />

Die verscheuchten Lämmer fliehn;<br />

Augen lass hier Zähren rinnen!<br />

Unsre Pflicht bejammert ihn. 12<br />

Etwas ganz besonderes ist jedoch das Trauergedicht<br />

von Johann Heinrich Jung, genannt<br />

Jung-Stilling, „Eickels Verklärung, eine Scene<br />

aus der Geisterwelt“. Jung-Stilling war zu dieser<br />

Zeit schon Hofrath <strong>und</strong> Professor für<br />

Staatswirtschaft in Marburg <strong>und</strong> es bestand<br />

trotzdem noch eine enge Beziehung zum Wuppertal.<br />

Er war von 1772 bis 1778 als Arzt in Elberfeld<br />

beschäftigt. Berühmt wurde er durch<br />

seine Bekanntschaft mit Goethe, der Jung-Stillings<br />

Jugenderinnerungen herausgab, die zu einem<br />

großen literarischen Erfolg wurden. Jung-<br />

Stilling war Mitbegründer der Ersten Elberfelder<br />

Lesegesellschaft von 1775. Als Arzt traf er,<br />

wie oben erwähnt, bei seinen Hausbesuchen<br />

oft auf den Prediger Eickel, der ebenfalls unterwegs<br />

war, um Kranke <strong>und</strong> Sterbende zu besuchen.<br />

In Eickels Verklärung geht es um zwei<br />

Engel, Elim <strong>und</strong> Salem, die zu dem sterbenden<br />

Eickel reisen, um ihm das Sterben zu erleichtern<br />

<strong>und</strong> um ihn anschließend vor den Thron<br />

des Erlösers zu führen. Der folgende Auszug<br />

vermittelt einen guten Eindruck von Jung-Stillings<br />

Stil <strong>und</strong> Sprache.<br />

Elim:<br />

Mein Bruder! Sage mir: Du kanntest ihn, wem<br />

unserer Fürsten war er gleich?<br />

Salem:<br />

Nicht einem ganz, - Sein Herz war weich<br />

So wie Lebbäus Herz; - Sein Geist entbrannte<br />

schier<br />

Wie Petrus, wenn der Spötter Rotte lachte.<br />

Doch was ihn fast Johanni ähnlich machte,<br />

Das war die sanfte Huld, die seinem Auge entfloß<br />

Und Stromweis – Liebe – in die Seelen goß.<br />

Die Wahrheit in Parabeln einzukleiden,<br />

Durch Gleichnisse den Unsinn zu bestreiten<br />

Das hatt er wohl vom Herren selbst gelernt.<br />

Die Gründlichkeit von allem Schwulst entfernt,<br />

Die flöst ihm Paulus ein. – Doch seine Sorgen<br />

Für Menschen Glück; die unbegrenzte Mühe<br />

In seinem Dienst; das Ringen spät <strong>und</strong> frühe<br />

Nach Licht <strong>und</strong> Kraft, von jedem Morgen<br />

Bis in die Nacht, vermag kein Engel auszudrücken.<br />

Der Ursprung von „Eickels Verklärung“<br />

war lange Zeit in Vergessenheit geraten <strong>und</strong><br />

lässt sich erst durch dieses Buch wieder nachweisen.<br />

Das Gedicht wurde eindeutig 1788 anlässlich<br />

des Todes von Dionysius Eickel verfasst<br />

<strong>und</strong> zeigt die große Hochachtung vor dem<br />

Seelsorger, der unermüdlich unterwegs war,<br />

den Kranken <strong>und</strong> Schwachen zu helfen.<br />

Hier soll nur auf zwei der Predigttexte eingegangen<br />

werden. Der eine verdeutlicht<br />

Dionysius Eickels theologische Gedankenwelt,<br />

der andere behandelt ein besonderes historische<br />

Ereignis.<br />

Die am 11. September 1785 gehaltene<br />

Frühpredigt über das „Große Vorrecht wahrer<br />

Gläubigen“ behandelt Römer 8, V.16: „Derselbe<br />

Geist gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir<br />

Gottes Kinder sind.“ Die Kindschaft Gottes,<br />

die Annahme derselben, ist für Eickel der zentrale<br />

Punkt des wahren Glaubens <strong>und</strong> er erläutert<br />

das große Vorrecht der Kindschaft Gottes<br />

<strong>und</strong> wie man zur Kindschaft gelangen könne.<br />

Nur durch „Erkenntnis <strong>und</strong> Gefühl, aber auch<br />

zugleich eine herzliche Reue aller unserer Sünden,<br />

<strong>und</strong> dabei ein rechtes geistliches Gesicht<br />

unserer Gräuel <strong>und</strong> Verdammniswürdigkeit in<br />

den Augen eines so heiligen Gottes.“ Ferner<br />

durch den „Glauben an Jesum Christum“ <strong>und</strong><br />

„Bereuung <strong>und</strong> Vergebung der Sünden, sondern<br />

auch ein aufrichtiger Vorsatz, die Sünde<br />

von Herzen zu hassen...“ Für Eickel ist es<br />

äußerst wichtig, Gott nicht als rächenden Gott<br />

darzustellen, sondern als Gott der Liebe <strong>und</strong><br />

Vergebung.<br />

Wir befinden uns in der Zeit des Pietismus<br />

<strong>und</strong> Elberfeld war ein Zentrum dieser religiösen<br />

Strömung, in der die persönliche Glaubensempfindung,<br />

die gelebte Frömmigkeit ins Zentrum<br />

rückte <strong>und</strong> die reine dogmatische Glaubenslehre<br />

zurückdrängte. Ohne das Zeitalter<br />

5


der Aufklärung nicht vorstellbar, mit dem der<br />

Mensch in den Mittelpunkt rückte, stand der<br />

Pietismus doch im Gegensatz zu einem rationalistischen<br />

Glaubensbegriff, der den Glauben<br />

als etwas Abgeschlossenes betrachtete. Es war<br />

auch der Beginn der Erweckungsbewegung,<br />

die ihren Höhepunkt im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert erreichte.<br />

Herminghaus erinnerte in seiner Gedächtnispredigt<br />

an die persönliche Erweckung<br />

Eickels, die er 1764 anlässlich einer schweren<br />

Erkrankung erlebt hatte. Die erste Predigt nach<br />

seiner langen Erkrankung hielt er über Matt.<br />

4,17: „Von der Zeit an fing Jesus an, zu predigen<br />

<strong>und</strong> zu sagen: Tut Buße, das Himmelreich<br />

ist nahe herbeigekommen!“ Eickel gehörte<br />

nicht zu den engeren pietistischer Kreisen von<br />

z. B. Tersteegen, Hasenkamp <strong>und</strong> Collenbusch,<br />

die ihn dennoch sehr schätzten. Obwohl<br />

Fre<strong>und</strong> des Tersteegianers Herminghaus, kam<br />

es doch auch zu Differenzen mit dem geistlichen<br />

Nachfolger Tersteegens, Engelbert Evertsen.<br />

Friedrich Wilhelm Krummacher bezeichnet<br />

ihn als einen Fre<strong>und</strong> der erweckten Kreise<br />

<strong>und</strong> Strauß sieht unter Eickel einen ersten<br />

Höhepunkt der Erweckungsbewegung im<br />

Wuppertale.<br />

In seinen Predigten sprach er die Zuhörer<br />

direkt an, nannte sie „Meine lieben Zuhörer“<br />

oder „Meine lieben Fre<strong>und</strong>e“ <strong>und</strong> ging besonders<br />

in der Zueignung immer beispielhaft auf<br />

das Leben der Gemeinde ein. Dies auch besonders<br />

in seiner berühmtesten Predigt vom<br />

22. Mai 1787, einer Buß- <strong>und</strong> Dankpredigt<br />

zum 100 Jahrestages des großen Brandes in Elberfeld.<br />

Nach einem längeren einleitenden Text<br />

über den Ablauf des schrecklichen Brandes,<br />

der ja vielfältig in den Schriften über die Geschichte<br />

Elberfelds zitiert wurde, geht er in seinem<br />

Predigttext auf Amos 4, V.11 ein: „Ich<br />

kehrte unter euch um, wie Gott Sodom <strong>und</strong><br />

Gomorra umkehrte, daß ihr waret wie ein<br />

Brand, der aus dem Feuer gerissen wird; doch<br />

bekehrtet ihr euch nicht zu mir, spricht der<br />

HERR.“ Auch in der Zueignung geht er in dramatischen<br />

Worten auf den Brand ein. Eickel<br />

schreitet in Gedanken mit seinen Fre<strong>und</strong>en<br />

noch einmal durch die brennende Stadt, ruft<br />

die einzelnen Orte des wütenden Feuers in Erinnerung,<br />

um dann den Zuhörern ins Gewissen<br />

6<br />

zu reden. Er ermahnt sie, von Hochmut, Eigennutz,<br />

Verschwendung, Hass, Neid, Zwietracht<br />

<strong>und</strong> Wollust zu lassen, damit sie einem solchen<br />

verheerenden Schicksal zukünftig entrinnen<br />

möchten. Hier zeigt sich denn doch noch einmal<br />

der Gott des Alten Testamentes. Diese letzte<br />

Predigt scheint nicht in allen Auflagen des<br />

Buches vorhanden zu sein, denn die meisten<br />

Hinweise auf dieses Buch sprechen nur von 10<br />

Predigten. Er war ein Mann der Worte mit<br />

einer ausgesprochenen rhetorischen Begabung.<br />

Noch aus der weiteren Umgebung kamen die<br />

Menschen, um ihn zu hören. Ein ehemaliger<br />

„Catechisant“ schrieb: „Wie erschreckend<br />

wusstest Du Hölle <strong>und</strong> den Weg zur Höllen<br />

<strong>und</strong> wie schön die Himmelsbahn <strong>und</strong> den Himmel<br />

vorzustellen; der in Luft verlorne Sünder,<br />

so sich in der Sünd verwirrt, <strong>und</strong> sich von dem<br />

Pfad des Lebens <strong>und</strong> von Gott <strong>und</strong> sich verirrt.“<br />

Auch im persönlichen Gespräch wußte er<br />

mit Gleichnissen zu überzeugen. Einige sind<br />

wiedergegeben in „Einige Züge zur Charakterschilderung<br />

des seligen Predigers Herrn<br />

Dionysius Eickel“, welche, von einem unbekannten<br />

Autor, 1791 bei Chr. Wil. Giesen erschienen.<br />

Er war ein Prediger, der die „praxis<br />

pietatis“ wirklich lebte.<br />

Literaturverzeichnis:<br />

Dionysius Eickel: in Reformiertes Wochenblatt<br />

Nr. 31. 1857.<br />

Eberlein, Hermann-Peter (Hg.): 444 Evangelische<br />

Kirche in Elberfeld. Köln 1998.<br />

Einige Züge zur Charakterschilderung des seligen<br />

Predigers Herrn Dionysius Eickel. Elberfeld<br />

1791.<br />

Goebel, Klaus: In allem Betracht ein angenehmer<br />

Aufenthalt, Ronsdorfer Vorträge <strong>und</strong> Aufsätze.<br />

Köln 1994.<br />

Krummacher, Friedrich-Wilhelm: Gottfried Damiel<br />

Krummacher <strong>und</strong> die niederrheinische Erweckungsbewegung.<br />

Berlin 1935.<br />

Langewiesche, Wilhelm (Hg.): Elberfeld <strong>und</strong><br />

Barmen, Beschreibung <strong>und</strong> Geschichte dieser Doppelstadt<br />

des Wupperthals. Barmen 1863.<br />

Neeb, Horst: Geistliches Blumenfeld, Briefe der<br />

Tersteegen-Fre<strong>und</strong>e 1737–1789. Düsseldorf 2000.


Ring, Walter: Geschichte der Universität Duisburg.<br />

Duisburg 1920.<br />

Rosenkranz, Albert: Das Evangelische Rheinland.<br />

1958.<br />

Sammlung einiger Predigten wegen ihrer<br />

Gründlichkeit <strong>und</strong> geistlichen Erfahrung aufgeschrieben<br />

<strong>und</strong> zum Druck befördert von ungenannten<br />

Fre<strong>und</strong>en. Elberfeld 1788.<br />

Schaffner, Hans: Duisburger Konsistorialakten<br />

1721–1792. Köln 1990.<br />

Simons, Eduard: Generalsynodalbuch, Die Akten<br />

der Generalsynoden von Jülich, Cleve, Berg <strong>und</strong><br />

Mark 1610–1793, 2. Teil. Aachen 1923.<br />

Strauß, Friedrich: Abend-Glocken-Töne. Berlin<br />

1869.<br />

Zur Erinnerung an die beiden Bergischen Prediger<br />

Heinrich Eickel zu Homberg <strong>und</strong> Bremen, <strong>und</strong><br />

dessen Sohn Dionysius Eickel zu Wülfrath <strong>und</strong> Elberfeld,<br />

in: Reformiertes Wochenblatt Nr. 50. 1880.<br />

Anmerkungen:<br />

1 Ein ähnliches Exemplar befindet sich im Archiv<br />

des Landeskirchenamtes in Düsseldorf.<br />

2 Heinrich Eickel war verheiratet mit a) Duisburg<br />

23.9.1719 Amalie Piron, b) Bremen 20.9. 1729<br />

Gesche Kraegel, c) Bremen 7.9.1732 Katharina<br />

Elisabeth Jorgens. Insgesamt 10 Kinder.<br />

3 Neeb, Horst: Geistliches Blumenfeld, Düsseldorf<br />

2000, S. 279.<br />

Karl-Heinz Kirchmann/Uwe Eckardt<br />

4 Vielleicht verwandt mit Philipp Jakob Kürten,<br />

seit 1698 Pfarrer in Wülfrath. Er war am<br />

13.02.1750 begraben worden <strong>und</strong> Henricus Jakobus<br />

Cürten (Curtenius, Kürten) 1707–1771,<br />

Student in Duisburg (Matrikel vom 14. März<br />

1725), Pfarrer in Schöller<br />

5 Elberfeld <strong>und</strong> Barmen, Beschreibung <strong>und</strong> Geschichte<br />

dieser Doppelstadt des Wupperthales,<br />

Barmen, 1863.<br />

6 Z.B.: anstatt: am Stamm des heiligen Kreuzes:<br />

am Stamme deines Kreuzes; anstatt: erloschen<br />

ist sein Glaube: verdunkelt ist sein Glaube<br />

7 Noch 1781 auf der Generalsynode in Duisburg<br />

wurde beklagt, dass einige Elberfelder Gemeinden<br />

die Einführung des neuen Gesangbuches<br />

verweigerten <strong>und</strong> der Inspektor der Elberfelder<br />

Klasse, Eickel, wird erneut ermahnt hier sanften<br />

Druck auszuüben.<br />

8 F. Strauß: Abend-Glocken-Töne, Berlin 1868,<br />

Seite 196.<br />

9 Jung, Joghann Heinrich, genannt Jung-Stilling:<br />

Sämtliche Werke. Scenen aus dem Geisterreiche,<br />

Bd. 2, Stuttgart 1843, S. 422 f.<br />

10 Daniel Kamp geb. 1. Juli 1757, gest. 12. Dezember<br />

1822, Studium in Duisburg, Pfarrer in<br />

Jüchen <strong>und</strong> Baerl.<br />

11 Neeb, Horst: Geistliches Blumenfeld, Düsseldorf<br />

2000, S. 537<br />

12 Auf den Tod des Dionysius Eickel von einem<br />

Mitglied der Lutherischen Gemeinde hieselbst.<br />

Zwei Inventarlisten der katholischen Kirchengemeinde Cronenberg<br />

von 1794<br />

Cronenberg, das um 1050 urk<strong>und</strong>lich zum<br />

ersten Mal erwähnt wurde, gehörte von Anfang<br />

an kirchlich zu Elberfeld. Das erste, den Hl.<br />

Ewalden geweihte Gotteshaus stand an der<br />

Stelle der heutigen, 1771 errichteten reformierten<br />

Kirche. Der Priester, der „up dem<br />

Kromberg“ den Gottesdienst versah, lebte von<br />

den Einkünften des Gutes in der Steinbeck, das<br />

1428 Lubbert von Galen der Elberfelder Kirche<br />

(heute: Alte reformierte Kirche) geschenkt<br />

hatte.<br />

Der Übertritt der Elberfelder zum neuen<br />

Glauben – angeblich blieben dort nur sechs Fa-<br />

milien katholisch – <strong>und</strong> das Auftreten des 1529<br />

auf dem Scheiterhaufen in Köln verbrannten<br />

Reformators Adolf Clarenbach hatten natürlich<br />

auch Auswirkungen auf die Gläubigen in<br />

Cronenberg. Der Glaubenswechsel vollzog<br />

sich hier offenbar zögerlich <strong>und</strong> in mehreren<br />

Schritten. Um 1540 wandte sich der Kaplan<br />

Peter von dem Bruch der lutherischen Lehre<br />

zu. Um 1570 trat dann die Cronenberger<br />

Gemeinde vermutlich weitgehend geschlossen<br />

zum reformierten Bekenntnis über. Der Amtsantritt<br />

des Pfarrers Friedrich Keppel 1582 gilt<br />

als Gründungsdatum der reformierten Ge-<br />

7


meinde. Danach wurde über 200 Jahre kein katholischer<br />

Gottesdienst mehr in Cronenberg<br />

gehalten.<br />

Dies änderte sich erst im ausgehenden<br />

18. Jahrh<strong>und</strong>ert. Durch Zuzug wuchs nach <strong>und</strong><br />

nach die Zahl der Lutheraner <strong>und</strong> Katholiken.<br />

Der katholische Landesherr Kurfürst Karl<br />

Theodor genehmigte durch Edikte am 12. Dezember<br />

1782 die Gründung der lutherischen<br />

Gemeinde <strong>und</strong> am 24. Mai 1791 die Gründung<br />

auch der katholischen Gemeinde Cronenberg,<br />

die zu dieser Zeit r<strong>und</strong> 120 Seelen zählte. Da<br />

im Zuge der Gegenreformation das Bergische<br />

Land zum Missionsgebiet erklärt worden war,<br />

wurden die Priester, die die wenigen Katholiken<br />

betreuten, als Missionare bezeichnet. Aus<br />

dem von der Regierung in Düsseldorf angekauften<br />

Wirtshaus an der Hauptstraße wurde<br />

nach seinem Umbau in einen Kirchenraum <strong>und</strong><br />

eine Priesterwohnung ein „Missionshaus“.<br />

Hier feierte der Missionar Narzissus Wersdorf,<br />

der zum Orden der Minoriten im Kloster Lennep<br />

gehörte, am 19. März 1792 wieder die<br />

erste Hl. Messe nach der Reformation in Cronenberg.<br />

Da im Heiligenkalender dieser Tag<br />

dem Hl. Josef geweiht war, galt er seitdem als<br />

Pfarrpatron der Gemeinde.<br />

Zur sachgerechten Ausstattung des Missionshauses<br />

genehmigte die Regierung in Düsseldorf<br />

1793 die Durchführung einer „stillen<br />

Kollekte“ im Bergischen Land, die in Barmen<br />

48, in Cronenberg 50, in Düsseldorf 65 <strong>und</strong> in<br />

Elberfeld sogar 140 Taler erbrachte. Bei den<br />

Recherchen nach dem kurfürstlichen Edikt<br />

vom 24. Mai 1791 hat Herr Theodor Hildebrand,<br />

der das Pfarr-Archiv der St. Laurentius-<br />

Gemeinde betreut, die beiden nachfolgenden<br />

Inventarlisten entdeckt, 1 die vermutlich auch<br />

deshalb erstellt worden sind, um die ordnungsgemäße<br />

Verwendung der Kollektengelder zu<br />

kontrollieren. 2 Die beiden Listen vermitteln einen<br />

guten Eindruck davon, wie der Kirchensaal<br />

ausgestattet gewesen ist <strong>und</strong> mit welchen<br />

Einrichtungsgegenständen der Geistliche im<br />

Missionshaus gelebt hat.<br />

Die Transkription der beiden Texte erfolgt<br />

buchstabengetreu. Auch die Groß- <strong>und</strong> Kleinschreibung<br />

sowie die Worttrennung entsprechen<br />

dem Originaltext.<br />

8<br />

I.<br />

Verzeichnüß<br />

der, in der Katolischen Missions Kirche zu<br />

Cronenberg vorfindlichen <strong>und</strong> zu derselben<br />

gehörigen Kirchen-Nothwendigkeiten.<br />

1. Ein vollständiger Altar mit Tisch <strong>und</strong> sonstigem<br />

Zubehör.<br />

2. Eine Monstrantz mit dem Ciborio 3 .<br />

3. Ein Silber vergoldeter Kelch.<br />

4. Vier Altar Leuchter.<br />

5. Ein neues Messen buch, worinn Festa Diocoesana,<br />

<strong>und</strong> ordinis Beigeb<strong>und</strong>en. 4<br />

6. Zwey Altar Tücher, <strong>und</strong> die übrigen Nothwendigkeiten.<br />

7. Zwey Altar Känger 5 mit dazu gehörigem<br />

Teller.<br />

8. Vier Alben, von welchen eine gantz Neu<br />

ist. 6<br />

9. Drey Neue Casulen, <strong>und</strong> zwey Dito alte. 7<br />

10. Ein Rauchfaß, Öhlgefäß, schifgen, weihkessel,<br />

<strong>und</strong> weihquast.<br />

11. Ein Crucifix Bild.<br />

12. Eine Klockke <strong>und</strong> zwei schellen.<br />

13. Eine Agend, 8 handpostill, 9 bruderschafts,<br />

<strong>und</strong> Christlichen Lehrbücher.<br />

14. Communicanten Tuch, 10 Tauf, Copulations<strong>und</strong><br />

Todtenbuch, 11 fort Allerhand altar Zierrathen,<br />

Altar Täfelger etc. etc.<br />

15. Ein Kirchenschranck, Beichtstuhl, Communicanten<br />

Banck, die gantze Kirch voll Kirchen<br />

Bänck, <strong>und</strong> sonsten alles, was zum<br />

Dienst Gottes erforderlich ist.<br />

Obiges nachgesehen, inventiret, <strong>und</strong> darab eine<br />

Abschrift zur Hochpreißlichen Regierung<br />

12 eingeschickt, <strong>und</strong> eine gleichlautende<br />

in das Kirchen archiv hingelegt.<br />

Cronenberg, den 3. Januar 1794.<br />

Von franz, richter qua commissarius.<br />

II.<br />

Verzeichnüß<br />

der in dem Katolischen Missions wohnhauß<br />

zu Cronenberg vorfindlichen <strong>und</strong> der<br />

Mission zugehörigen Effecten13 1. Zwey Neue Tisch.<br />

2. Zwölf Stühl <strong>und</strong> Ein Sessel.


3. Zwey Bettstädt, <strong>und</strong> ein Feld-Bett mit nöthigem<br />

Zubehör.<br />

4. Ein Schranck auf der Wohnstube,<br />

5. Ein Küchen Schranck.<br />

6. Eine Schlag Uhr von ohngefehr vier<br />

Reichsthaler werth.<br />

7. Ein Stuben ofen mit nöthigen Pfeiffen 14 <strong>und</strong><br />

Stein darunter.<br />

8. Zwey Größere Kupferne Kessel von werth 9<br />

Reichsthaler 38 Stüber.<br />

9. Sechszehn Stück Servietten.<br />

10. Acht Tischtücher.<br />

11. Sechs Paar Betttücher.<br />

12. Acht <strong>und</strong> zwantzig Hand Tücher quae partim<br />

pro Ecclesia. 15<br />

13. Ein vollständiges Federn Bett.<br />

14. Ein Dito von Flocken.<br />

15. Vier wollene Bettdecken.<br />

16. Ein Kochpott, Theewasser-Kessel, Kupferne<br />

Siebe, Küchenpfanne, <strong>und</strong> Dito Schüssel.<br />

17. Zwey Dutzend Englisch porcelaine Teller<br />

<strong>und</strong> sonstigen Englischen Porcelaine.<br />

18. Ein halb Dutzend messer, Dito gabel, <strong>und</strong><br />

Dito Löffel.<br />

19. Eine Fournaise 16 zum Kochen.<br />

20. Eine Wasch Bütte, zwey Eymer, gemüßfaß<br />

etc. <strong>und</strong> vieler andern, in Blech, Holtz,<br />

Stein, Eisen, Erdt, <strong>und</strong> porcelaine Bestehenden,<br />

<strong>und</strong> in der Rechnung nachgewiesenen<br />

Mobilien.<br />

Obiges nachgesehen, inventirt <strong>und</strong> die Verzeichnüß<br />

zur Hohen Regierung abgeschickt,<br />

fort Eine gleichlautende in das Kirchen archiv<br />

hingelegt.<br />

Cronenberg, den 3. Januar 1794.<br />

Von Frantz, richter qua commissarius.<br />

Literaturhinweise:<br />

Johannes Holtmanns/Adolph Herold/Clemens<br />

Cassel: Chronik der Bürgermeisterei<br />

Kronenberg, 1877, Nachdruck 1981.<br />

200 Jahre katholische Kirchengemeinde<br />

Cronenberg. Herausgegeben vom Gemeinderat<br />

St. Ewald, Sprockhövel, 1992.<br />

Uwe Eckardt: Cronenberg. Menschen, Daten<br />

<strong>und</strong> Fakten, Horb am Neckar, 2000.<br />

Anmerkungen:<br />

1 Die beiden Listen sind im Pfarr-Archiv St.<br />

Laurentius unter der Nummer 806 verzeichnet.<br />

2 Die Inventarisierungen sind von Franz (Xaver)<br />

von Franz (1750–1798), der von 1788<br />

bis zu seinem Tode als Richter das Amt Elberfeld<br />

verwaltet, durchgeführt bzw. veranlaßt<br />

worden. Da es sich bei beiden Listen<br />

um Abschriften handelt, sind sie nicht eigenhändig<br />

unterschrieben. Zu den Richtern<br />

des Amtes Elberfeld vgl. Otto Schell: Die<br />

Verwaltung des Amtes Elberfeld im 17.<br />

<strong>und</strong> 18. Jahrh<strong>und</strong>ert, in: Monatsschrift des<br />

Bergischen Geschichtsvereins, 17 (1910),<br />

S. 121–132, hier: S. 130.<br />

3 Monstranz = zumeist kostbares Gefäß zum<br />

Tragen <strong>und</strong> Zeigen der geweihten Hostie;<br />

Ziborium = gedeckter Kelch zur Aufbewahrung<br />

der geweihten Hostie.<br />

4 Gemeint sind ein Verzeichnis der in der<br />

Erzdiözese Köln gefeierten Heiligenfeste<br />

<strong>und</strong> die geltende Kirchenordnung.<br />

5 Vermutlich: Kännchen.<br />

6 Albe = weißes liturgisches Untergewand<br />

des katholischen Geistlichen.<br />

7 Casula, Kasel = seidenes Meßgewand, das<br />

über den anderen Gewändern zu tragen ist.<br />

8 Agende = Gottesdienstordnung.<br />

9 Postille = Predigtsammlung.<br />

10 Bei der Austeilung der Kommunion ist vor<br />

den Kommunizierenden ein Tuch auszubreiten,<br />

das aus Bequemlichkeitsgründen<br />

vielfach an der Bank befestigt worden ist.<br />

11 Die Tauf- <strong>und</strong> Heirats- (Kopulations-)<br />

Bücher sind seit 1792, die Sterbebücher<br />

seit 1793 geführt worden.<br />

12 Hoch zu preisende Regierung.<br />

13 Hier: Sachen, Wertgegenstände.<br />

14 „Pfeife“ hat im Rheinland auch die Bedeutung<br />

„Ofenrohr“; vgl. Rheinisches Wörterbuch,<br />

Bd. 6, 1944, Sp. 687.<br />

15 Die Handtücher sind zu gleichen Teilen<br />

auch für die Kirche bestimmt.<br />

16 Fournaise, frz. = Ofen.<br />

9


Erika van Norden<br />

Die Jungsche Fabrikschule in Sonnborn.<br />

Ein Beitrag zur historischen Sozialforschung<br />

„Unstreitig zu den ältesten Ansiedlungen<br />

im bergischen Lande gehört Sonnborn, der<br />

fre<strong>und</strong>liche Ort an der Wupper.“ So beginnt<br />

Fritz Jorde in seinem Buch das Kapitel über<br />

die Schule in Sonnborn 1 . Man weiß über die<br />

frühe Geschichte Sonnborns wenig. Vom Jahre<br />

1550 an fließen die Quellen reichlicher. In diesem<br />

Jahr wurde von dem Pfarrer Wemmers 2<br />

<strong>und</strong> seinem Vikar <strong>und</strong> späteren Nachfolger<br />

Wilhelm Camerarius die Reformation eingeführt,<br />

<strong>und</strong> schon vor 1600 gab es eine Schule 3 .<br />

Jorde berichtet, dass in Sonnborn, so wie in<br />

den meisten bergischen Orten, der Vikar<br />

gleichzeitig Schulmeister war, so auch Wilhelm<br />

Camerarius 4 . Er hatte die Aufgabe, „die<br />

Knaben <strong>und</strong> Mägdelein nicht nur in Religion,<br />

sondern auch im Schreiben <strong>und</strong> Lesen zu unterweisen“<br />

5 .<br />

Fast 250 Jahre später, um 1839 stellte sich<br />

die Schulsituation in Sonnborn wie folgt dar:<br />

Im Jahr 1817 war ein neuer Lehrer gewählt<br />

worden. Man hatte sich im Schulvorstand unter<br />

der Leitung des Schulpflegers Johann Friedrich<br />

Wilberg aus Elberfeld 6 für den Lehrer Johann<br />

Abraham Hummeltenberg aus Benrath<br />

entschieden 7 . In der Schule wurden in zwei<br />

Klassen 70 Kinder unterrichtet 8 . Als im Jahr<br />

1825 auch in den preußischen Rheinlanden die<br />

allgemeine Schulpflicht eingeführt wurde 9 ,<br />

stieg die Schülerzahl beträchtlich. Die beiden<br />

vorhandenen Schulräume reichten nicht mehr<br />

aus. Es wurde eine neue Schule mit drei Klassenräumen<br />

gebaut <strong>und</strong> 1832 eingeweiht 10 . Der<br />

dritte Klassenraum wurde zunächst nicht genutzt.<br />

Es gab weiterhin nur zwei Klassen, die<br />

von einem Hauptlehrer, dem Lehrer Hummeltenberg,<br />

<strong>und</strong> einem „Hülfslehrer“ unterrichtet<br />

wurden 11 . Jorde schreibt in seinem Buch über<br />

die Schulen von Elberfeld ausführlich über die<br />

„Pfarr-Schule“ in Sonnborn. Um so auffallender<br />

ist es, dass er die Fabrikschule in der<br />

Baumwollspinnerei Jung nicht erwähnt.<br />

Der Fabrikant Friedrich August Jung<br />

10<br />

(1769–1852) aus Elberfeld hatte 1825 das<br />

Gut 12 Hammerstein in (Wuppertal-) Sonnborn<br />

erworben, um dort eine Baumwollspinnerei zu<br />

errichten. Die Fabrikationsgebäude wurden in<br />

den Jahren 1835–38 gebaut. Im Jahr 1838 wurde<br />

die Hammersteiner Spinnerei in Betrieb genommen<br />

13 . „Als Muster-Anstalt wurde sie mit<br />

den neuesten <strong>und</strong> vollkommensten Maschinerien<br />

versehen; das colossale eiserne Wasserrad<br />

von 75 Pferdekraft sammt Hülfsdampfmaschine<br />

von 40 Pferdekraft, sämmtliche Getriebe<br />

<strong>und</strong> Dampfheizungsapparat (sic) aus den ersten<br />

Werkstätten Englands <strong>und</strong> sämmtliche<br />

Spinnmaschinen nebst Vorbereitungsapparat<br />

aus den besten Werkstätten Frankreichs bezogen“<br />

14 .<br />

Die Fabrik galt lange Zeit nicht nur als die<br />

größte Spinnerei Preußens, sondern sogar des<br />

ganzen Kontinents. Bis kurz vor seiner Auflösung<br />

im Jahre 1869 beschäftigte das Unternehmen<br />

durchweg r<strong>und</strong> 400 Arbeiter 15 . Als „Muster-Anstalt“<br />

war diese Fabrik für die damalige<br />

Zeit in vieler Hinsicht vorbildlich: Ein Teil der<br />

Arbeiter wohnte in „steinernen, ges<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />

zerstreut liegenden Häusern“ auf dem Fabrikgelände.<br />

Jede Familie hatte einen eigenen Garten<br />

<strong>und</strong> ein Stück Kartoffelacker. Es gab eine<br />

Krankenkasse, einen Arzt <strong>und</strong> eine Sparkasse.<br />

Alles das zeugt nicht nur von unternehmerischer<br />

Initiative, sondern auch von dem Bewusstsein,<br />

für das Wohl der Arbeiter <strong>und</strong> ihrer Familien<br />

verantwortlich zu sein. „Ohne seine<br />

kaufmännischen Belange aus dem Auge zu<br />

verlieren, sorgt sich der Fabrikant aus seiner<br />

religiös motivierten Patriarchalität um das<br />

Wohl der ihm anvertrauten Menschen: Er stellt<br />

nicht nur billige Arbeiterwohnungen zur Verfügung,<br />

deren Mietzins erheblich unter den<br />

ortsüblichen Sätzen liegt, sondern gibt Kartoffeln,<br />

Milch <strong>und</strong> andere Gr<strong>und</strong>nahrungsmittel<br />

aus der Produktion des Hammersteiner Gutes<br />

zum Selbstkostenpreis an seine Arbeiter weiter.<br />

Er (…) initiiert <strong>und</strong> unterhält einen Nähkurs für


die Arbeitermädchen <strong>und</strong> richtet (…) sogar eine<br />

Leihbibliothek für die Fabrikarbeiter ein“ 16 . Zu<br />

all diesen für die damalige Zeit sehr fortschrittlichen<br />

Einrichtungen kam auf dem Gelände<br />

der Jungschen Fabrik Hammerstein in Sonnborn<br />

eine Fabrikschule hinzu. Auch diese Fabrikschule<br />

war hinsichtlich ihrer Ausstattung<br />

so geplant, dass sie für die damalige Zeit vorbildlich<br />

sein sollte.<br />

In Elberfeld <strong>und</strong> Barmen gab es mehrere<br />

Fabrikschulen 17 . Sie gewinnen im Zusammenhang<br />

mit der Einführung der Schulpflicht <strong>und</strong><br />

dem Bestreben, diese durchzusetzen, an Bedeutung.<br />

Friedrich Wilhelm III. hatte am 14.<br />

Mai 1825 eine „Allerhöchste Kabinets-Ordre“<br />

erlassen, „den Schulbesuch, das Schulgeld <strong>und</strong><br />

die Schulzucht betreffend“. In ihr heißt es im<br />

§ 1: „Eltern oder deren gesetzliche Vertreter,<br />

welche nicht nachweisen können, dass sie für<br />

den nötigen Unterricht der Kinder in ihrem<br />

Hause sorgen, sollen erforderlichen falls durch<br />

Zwangsmittel <strong>und</strong> Strafen angehalten werden,<br />

jedes Kind nach zurückgelegtem fünften Jahre,<br />

zur Schule zu schicken“ 18 . Damit war nicht nur<br />

die Schulpflicht eingeführt, sondern auch der<br />

Wille k<strong>und</strong>getan, sie durchzusetzen. In französischer<br />

Zeit waren zwar die Eltern auch ermahnt<br />

worden, ihre Kinder in die Schule zu<br />

schicken, wenn es am Ort eine gab, die für die<br />

Kinder erreichbar war. Die vorhandenen Schulen<br />

waren jedoch für die große Zahl der Kinder<br />

zu klein. Man hatte stillschweigend hingenommen<br />

<strong>und</strong> auch vorausgesetzt, dass immer nur<br />

ein Teil der Kinder Schulunterricht erhielt. Das<br />

ändert sich nach 1825 gr<strong>und</strong>legend. Energisch<br />

wendet sich der Landrat Carl Theodor Graf<br />

von Seyssel d’Aix immer wieder an die Bürgermeister.<br />

So stellt er in einem Schreiben vom<br />

9. Mai 1828 an „sämmtliche Herrn Bürgermeister<br />

des Kreises“ fest: „Es kommt noch häufig<br />

der Fall vor, (daß) meine Circulair-Verfügung<br />

(…) das Verfahren bei Aufstellung der Schulgelder<br />

Hebelisten, Beziehungsweise Unbeibringlichkeits<br />

Verzeichnisse so wie überhaupt<br />

die Beförderung des Schulbesuchs betr(effend)<br />

nicht wie es sein soll von mehreren Herrn Bürgermeister<br />

<strong>und</strong> Schulvorständen beachtet werden.“<br />

Er wiederholt seine Forderung, dass ihm<br />

Schulbesuchslisten vorgelegt <strong>und</strong> „säumige<br />

Aeltern“, die ihre Kinder nicht zur Schule<br />

schickten, bestraft würden. Seine Schreiben<br />

werden in Abschrift <strong>und</strong> zur Kenntnisnahme an<br />

den Schulpfleger Hülsmann geschickt, von<br />

dem er erwartet, dass er diese Bemühungen<br />

unterstützt 19 . Auch das Resümee, das der Düsseldorfer<br />

Regierungspräsident Frhr. Spiegel<br />

von Borlinghausen zog, nachdem er im Mai<br />

1838 eine Reise durch mehrere Kreise gemacht<br />

hatte, verweist auf die mangelhafte<br />

Durchsetzung der amtlichen Vorschriften in<br />

Bezug auf den Schulbesuch, was er sowohl bei<br />

den Bürgermeistern als auch bei den Lehrern<br />

<strong>und</strong> Schulvorständen feststellen konnte. Er<br />

fand „in der katholischen Schule zu Hüthum<br />

Kreis Rees 3 Kinder von über 14 Jahren, die<br />

weder lesen noch schreiben <strong>und</strong> 5 eben so alte<br />

(…), die kaum die Buchstaben kannten“. Und<br />

weiter stellte er fest, dass „bei aller Sorge für<br />

den Unterricht der Jugend von oben herab,<br />

doch zunächst die Bürgermeister nebst den<br />

Lehrern pünktlich die erlaßenen Bestimmungen<br />

ausführen müßen, wenn überhaupt der<br />

Zweck erreicht werden soll“. So sollen die<br />

Bürgermeister da, „wo gütliche Mittel nicht<br />

fruchten, mit Geld- oder Gefängnisstrafen gegen<br />

renitente Eltern“ einschreiten 20 . Trotz solcher<br />

Maßnahmen erwies sich die Durchsetzung<br />

der Schulpflicht über Jahre hinweg nicht<br />

nur als sehr schwierig, sondern als unmöglich.<br />

Es gab viele Gründe, warum Kinder nach Einführung<br />

der allgemeinen Schulpflicht nach wie<br />

vor die Schule nicht besuchten <strong>und</strong> keinen Unterricht<br />

erhielten. Sie wurden zum Viehhüten<br />

gebraucht 21 . Sie mussten bei der Heimarbeit<br />

<strong>und</strong> auf den elterlichen Höfen mitarbeiten <strong>und</strong><br />

auf kleine Geschwister aufpassen, damit die<br />

Eltern einem Verdienst nachgehen konnten 22 .<br />

Die weiten Schulwege konnten bei schlechtem<br />

Wetter nicht bewältigt werden. Oft waren die<br />

Kinder krank 23 , oder sie hatten nicht die nötige<br />

Kleidung, um in die Schule gehen zu können 24 .<br />

Obendrein musste für jedes Kind ein monatliches<br />

Schulgeld von mindestens 3 Silbergroschen<br />

an den Lehrer gezahlt werden. In manchen<br />

Schulen war es üblich, dass der Lehrer<br />

Federn, Tinte <strong>und</strong> Papier für den Unterricht im<br />

Schreiben besorgte. Häufig kamen, so wie in<br />

Schöller, für „Schreibschüler“ zusätzlich 5<br />

11


Pfennig für „Federn <strong>und</strong> Dinte“ <strong>und</strong> in den<br />

Wintermonaten November bis April monatlich<br />

1 Silbergroschen für Holz zum Schulgeld hinzu.<br />

Für die Lehrer war dies Schulgeld der Kinder<br />

neben dem jährlichen „Normalgehalt“ von<br />

66 Talern die Haupteinnahmequelle 25 . Für arme<br />

Eltern war das Schulgeld eine große zusätzliche<br />

Belastung 26 . Dies alles <strong>und</strong> die Notwendigkeit,<br />

dass viele Kinder mit ihrer Arbeit<br />

zum Lebensunterhalt der Familie beitragen<br />

mussten, bildete die schwierigste Barriere für<br />

die Durchsetzung der Schulpflicht.<br />

Viele Familien waren auf den Verdienst der<br />

Kinder angewiesen, da die Eltern oft nicht in<br />

der Lage waren zu arbeiten. 1839 berichtete<br />

der Elberfelder Oberbürgermeister Brüning an<br />

den Landrat von Seyssel, „daß noch viele Kinder<br />

armer Eltern durch diese vom Schul-Besuche<br />

zurückgehalten wurden, weil die Familien<br />

den Verdienst der in Fabriken arbeitenden Kinder,<br />

der bei der größeren oder geringeren Arbeitsunfähigkeit<br />

der Eltern nicht selten den bei<br />

weitem größten Theil der Subsistenz-Mittel<br />

ausmachte, unmöglich entbehren konnten.“<br />

Würden diese Kinder zwangsweise in die Tagesschulen<br />

eingewiesen, würden die Ansprüche<br />

dieser Familien an die Armenverwaltung<br />

in einem Maße wachsen, das nicht zu leisten<br />

sei, „<strong>und</strong> außerdem würde den hiesigen<br />

Fabriken eine ansehnliche Zahl mitunter unentbehrlicher<br />

Hände entzogen worden seyn“ –<br />

war das Resümee des Oberbürgermeisters 27 .<br />

Dies zeigt auch, dass auf der anderen Seite<br />

die Kinder in den Betrieben <strong>und</strong> Fabriken des<br />

Wuppertals gebraucht wurden. „Baumwollspinnereien<br />

waren bezüglich ihrer Arbeit in<br />

einer besonderen Situation, in der Extreme zusammenkamen.<br />

Einerseits gab es einen Bedarf<br />

an hochqualifizierten Facharbeitern, den Bedienung<br />

<strong>und</strong> Wartung der Maschinen erforderten;<br />

die gleichen Maschinen benötigten jedoch<br />

sehr viel mehr einfachste unspezialisierte<br />

Arbeit.“ Für diese Arbeit setzte man Kinder<br />

ein. Sie waren nicht nur billige Arbeitskräfte,<br />

sondern zugleich durch ihre geringe Körpergröße<br />

besonders geeignet, sich zwischen den<br />

Maschinen zu bewegen 28 . Ihre Aufgabe war es<br />

z.B., die Maschinen zu beaufsichtigen, <strong>und</strong> mit<br />

ihren kleinen Fingern konnten sie besonders<br />

12<br />

gut abgerissene Fäden wieder anknüpfen. Dies<br />

wurde als eine den Kindern zumutbare Arbeit<br />

angesehen. Es gibt jedoch den kritischen Bericht<br />

eines Zeitgenossen, der die Arbeitssituation<br />

dieser Kinder in den Spinnereien schildert.<br />

Er schreibt: „Die Luft in den Sälen <strong>und</strong> die<br />

Wände sind von dem Schmutz des zu verarbeitenden<br />

Materials <strong>und</strong> mit faserigen Partikelchen<br />

des Stoffes ganz angefüllt <strong>und</strong> überkleidet.<br />

Die Kinder dementsprechend wahre Gebilde<br />

des Jammers, hohläugig <strong>und</strong> bleich wie<br />

der Tod“ 29 .<br />

Die staatlichen Behörden standen vor dem<br />

Problem, die gesellschaftlichen Gegebenheiten,<br />

Lebensumstände <strong>und</strong> ökonomischen Bedingungen<br />

der Zeit der frühen Industrialisierung<br />

hinnehmen zu müssen <strong>und</strong> zugleich die<br />

Schulpflicht durchzusetzen. Dies konnte nur<br />

durch Ausnahmeregelungen <strong>und</strong> Kompromisse<br />

geschehen 30 . Ausdruck dieser ambivalenten<br />

Haltung, die zwar einerseits Reformen durchsetzen<br />

wollte, aber andererseits vor Realitäten<br />

<strong>und</strong> Schwierigkeiten zurückweichen musste,<br />

war die Duldung <strong>und</strong> Einrichtung der sogenannten<br />

Fabrikschulen.<br />

Der an <strong>und</strong> für sich fortschrittliche Gedanke<br />

einer allgemeinen Schulpflicht belastete die<br />

Kinder, die in Fabriken arbeiten mussten, zusätzlich<br />

in unvorstellbarer Weise. Zu ihrer Arbeitszeit<br />

von bis zu 13 <strong>und</strong> mehr St<strong>und</strong>en täglich<br />

<strong>und</strong> zum Teil weiten, schwierigen Anmarschwegen<br />

bis zur Fabrik kam der Schulunterricht<br />

hinzu. Damit Kinder, die tagsüber in<br />

Fabriken arbeiten mussten, Unterricht erhielten,<br />

wurden Abend- <strong>und</strong> Sonntagsschulen eingerichtet.<br />

Manche Unternehmer richteten Fabrikschulen<br />

ein. Das hieß, dass sie für den Unterricht<br />

einen Raum zur Verfügung stellten <strong>und</strong><br />

einen Lehrer engagierten. Über die Einrichtung<br />

der Fabrikschule der rheinischen Baumwollspinnerei<br />

Cromford in Ratingen 1835 berichtet<br />

der Lehrer Herlitschka mit lapidaren<br />

Worten: „Nach der Aussage unseres Pfarrers<br />

hat derselbe (…) mit dem Fabrikinhaber Herrn<br />

Brügelmann die Einrichtung der Schule daselbst<br />

besprochen <strong>und</strong> beschlossen (…). Am<br />

13. Januar 1835 wurde (…) beschlossen, daß<br />

der Unterricht am 17. desselben Monats beginnen<br />

sollte. Herr Brügelmann gab ein Zimmer


<strong>und</strong> die nöthigen Utensilien her (…). Die Unterrichtsst<strong>und</strong>en<br />

sind Mittwochs <strong>und</strong> Samstags<br />

von 1–2 Uhr <strong>und</strong> Sonntags von 1–4 Uhr. Damit<br />

die Kinder keinen Abzug an ihrem Arbeitslohn<br />

erleiden müssen, arbeiten sie 4 Mal in der Woche<br />

Abends eine halbe St<strong>und</strong>e länger“ 31 .<br />

In einem Brief des Spinnereibesitzers J. A.<br />

Oberempt an das Barmer Bürgermeisteramt erfährt<br />

man über die Arbeit der Kinder <strong>und</strong> den<br />

Unterricht in seiner Fabrikschule: „Da die Kinder<br />

den ganzen Tag 13 St<strong>und</strong>en eine stehende<br />

Arbeit verrichten müßen, durch den Taumel<br />

<strong>und</strong> Geräusch der Spinnerey am Abend abgestumpft<br />

<strong>und</strong> zum Lernen <strong>und</strong> Nachdenken müde<br />

<strong>und</strong> schläfrig sind, so wurde es (…) für<br />

zweckmäßig erachtet den Kindern die beste<br />

Zeit des Tages (nemlich des Vormittags von 11<br />

bis halb ein Uhr, wo der Mensch am besten zu<br />

jeder geistigen Arbeit aufgelegt ist) zu geben<br />

(…). Es ist ihnen auch bei der getroffenen Einrichtung<br />

eine Erholung, wenn sie nach dem<br />

sechsstündigen stehen, 1 1 /2 St<strong>und</strong>e sitzen können,<br />

<strong>und</strong> es kann nicht anders als vorteilhaft<br />

für ihre Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> zarte Glieder wirken“<br />

32 . In der Spinnerei des Fabrikanten<br />

Oberempt wurde also für den Unterricht ein<br />

Teil der Mittagspause benutzt.<br />

Das Schulgeld, das dem jeweiligen Lehrer<br />

zustand, konnte den Kindern von ihrem Wochenlohn<br />

abgezogen werden. Das wurde von<br />

den einzelnen Fabrikbesitzern unterschiedlich<br />

gehandhabt. Über den Fabrikanten <strong>und</strong> Elberfelder<br />

Stadtrat P. C. Peill hieß es in den Annalen<br />

für 1835 in einem Nachruf: „Seine Sorge,<br />

welche ihm Gott lohnen wolle, war dahin gerichtet,<br />

den in seiner Spinnerei arbeitenden<br />

zahlreichen Kindern auf seine eigenen Kosten<br />

den jedem vernünftigen Menschen <strong>und</strong> Christen<br />

nothwendigen Unterricht erteilen zu lassen<br />

(…)“ 33 . Sowohl in der Fabrik des Fabrikanten<br />

Oberempt als auch in der Fabrik Cromford des<br />

Fabrikanten Brügelmann in Ratingen mussten<br />

die Kinder im Ausgleich für das Schulgeld länger<br />

arbeiten, damit sie keinen Lohnabzug hatten<br />

34 .<br />

Insbesondere arme Eltern konnten die von<br />

der fernen Regierung oktroyierte Schulpflicht<br />

nicht als förderlich für das Wohl ihrer Kinder<br />

erkennen <strong>und</strong> boykottierten die Maßnahme 35 .<br />

Im Jahr 1838 erklärte der Stadtrat, dass 700<br />

Kinder in Elberfeld ohne Unterricht seien <strong>und</strong><br />

davon ca. 600 weder lesen noch schreiben<br />

könnten 36 . Die meisten dieser Kinder arbeiteten<br />

in Fabriken.<br />

Ich habe in den Schulakten von Sonnborn<br />

einen ausführlichen Bericht von dem Schulpfleger<br />

Pfarrer August Wilhelm Hülsmann aus<br />

Elberfeld über die Jungsche Fabrikschule in<br />

Hammerstein gef<strong>und</strong>en, der in seiner Ausführlichkeit,<br />

Authentizität <strong>und</strong> Eindrücklichkeit die<br />

mir bekannten Berichte über andere Fabrikschulen<br />

bei weitem übertrifft 37 . Anlass für diesen<br />

Bericht war erstens das am 9. März 1839<br />

erlassene erste Kinderschutzgesetz, das „Regulativ<br />

über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter<br />

in Fabriken“ 38 . Dieses Gesetz bestimmte<br />

u.a. das Mindestalter <strong>und</strong> die Höhe der St<strong>und</strong>enzahl<br />

für die Beschäftigung „junger Leute“,<br />

die in Fabriken <strong>und</strong> in Berg-, Hütten- <strong>und</strong><br />

Pochwerken arbeiteten. Sie müssen mindestens<br />

10 Jahre alt sein, <strong>und</strong> sie dürfen, sofern sie<br />

„das sechszehnte Lebensjahr noch nicht<br />

zurückgelegt haben“, nicht über 10 St<strong>und</strong>en<br />

täglich beschäftigt werden. Auch § 5 konkretisiert<br />

den „Kinderschutz“: „Die Beschäftigung<br />

solcher jungen Leute vor 5 Uhr morgens <strong>und</strong><br />

(nach) 9 Uhr abends, sowie an den Sonn- <strong>und</strong><br />

Feiertagen ist gänzlich untersagt“ 39 .<br />

Wir sind fassungslos, wenn wir uns klar<br />

machen, dass diese Gesetzgebung „fortschrittlich“<br />

war <strong>und</strong> dem „Schutz der Kinder“ diente.<br />

Der Umkehrschluss liegt nahe, der sich auch<br />

aus vielen Dokumenten belegen lässt, dass<br />

Kinder, die zum Teil weit jünger als 10 Jahre<br />

waren, vor 5 Uhr morgens <strong>und</strong> nach 9 Uhr<br />

abends 13 St<strong>und</strong>en <strong>und</strong> mehr nicht nur am Tage,<br />

sondern auch nachts in Fabriken arbeiten<br />

mussten. Das Gesetz regelte nicht nur die erlaubte<br />

Arbeitszeit „jugendlicher Arbeiter“ in<br />

Fabriken <strong>und</strong> ihr Mindestalter, sondern es bestimmte<br />

auch, dass den Kindern während der<br />

Arbeit Pausen an der frischen Luft zustehen 40 .<br />

Zweiter Anlass dafür, dass Hülsmann die<br />

Fabrikschule der Jungschen Spinnerei Hammerstein<br />

in Sonnborn zusammen mit dem zuständigen<br />

Bürgermeister Schnittert aus Haan<br />

<strong>und</strong> zwei Mitgliedern des Schulvorstandes der<br />

„Pfarr-Schule“ in Sonnborn, nämlich dem<br />

13


Sonnborner Pfarrer Herminghaus 41 <strong>und</strong> Ernst<br />

Kopp, inspizierte <strong>und</strong> darüber am 23. Dezember<br />

1839 einen ausführlichen Bericht verfasste,<br />

war die Verfügung der Königlichen Regierung<br />

in Düsseldorf vom 21. September 1839 „die<br />

Beaufsichtigung des Unterrichts der in den<br />

Fabriken arbeitenden Kinder betreffend“. Mit<br />

dieser Verfügung sollte die Einhaltung des<br />

Kinderschutzgesetzes überwacht werden 42 .<br />

Ich gehe jetzt den Bericht entlang, den<br />

Schulpfleger Pfarrer Hülsmann in sechs Abschnitten<br />

vorgelegt hat. Ihre Aufeinanderfolge<br />

zeigt vielleicht schon seine Wertung.<br />

Als erstes macht Hülsmann in seinem Bericht<br />

an die Königliche Regierung in Düsseldorf<br />

Angaben über die Größe <strong>und</strong> Einrichtung<br />

des Schulzimmers. Er schildert einen hellen<br />

Raum mit 5 großen Fenstern etwa 9 m lang,<br />

7,50 m breit <strong>und</strong> 3,30 m hoch 43 . In dem Klassenraum<br />

gibt es 12 Schreibpulte für die Kinder,<br />

an denen je 10 sitzen können 44 , also genügend<br />

Platz für bis zu 120 Kinder 45 , <strong>und</strong> natürlich ein<br />

Pult für den Lehrer. Um die Bänke herum gibt<br />

es noch genügend Freiraum. Hülsmann stellt<br />

fest, dass die Einrichtung den Vorschriften entspricht.<br />

Der Raum kann im Winter geheizt<br />

werden – nämlich <strong>und</strong> auch das ist Hülsmann<br />

wichtig zu erwähnen – mit Hilfe einer neuen,<br />

modernen <strong>und</strong> fortschrittlichen Einrichtung:<br />

Er kann „durch eine vom Heizapparat der Fabrik<br />

führende Röhre nach belieben mehr oder<br />

weniger erwärmt“ werden 46 .<br />

Dieser große, helle <strong>und</strong> gut heizbare Klassenraum<br />

steht in einem eindrücklichen Gegensatz<br />

zu den Schulhäusern <strong>und</strong> Schulstuben der<br />

damaligen Zeit, die weitgehend den armseligen<br />

Verhältnissen des größten Teils der Bevölkerung<br />

entsprachen. Sie waren klein, dunkel<br />

<strong>und</strong> feucht, ohne Licht <strong>und</strong> Luft, häufig zu nahe<br />

an Kuhställen, „Latrinen“ <strong>und</strong> „Dunghaufen“<br />

gelegen 47 . Vielfach waren die Klassen<br />

überfüllt. Die „Königliche Regierung“ war davon<br />

ausgegangen, dass nicht mehr als 100 Kinder<br />

in einer Klasse sein sollten 48 . Bis weit ins<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>ert hinein waren jedoch Klassen<br />

mit bis zu 180 Schulkindern keine Ausnahme<br />

49 . Der Pfarrer Friedrich Voswinkel berichtet<br />

über die lutherische Schule in Wichlinghausen<br />

1852: „Ein trauriges Hindernis für das Ge-<br />

14<br />

deihen der Schule ist die Überfüllung (…). Bei<br />

der letzten Prüfung zählte die IV. Klasse 160<br />

Kinder, die III. 135 (…). Dazu kommt dann,<br />

daß die Eltern ihre Kinder nicht mehr schicken<br />

wollen, weil ihre Kinder wie die Neger auf den<br />

Sklavenschiffen geschichtet werden müßten“.<br />

(…) Es ist zu bew<strong>und</strong>ern, daß die Lehrer noch<br />

so viel leisten, als sie leisten. Kommt nicht<br />

bald eine Änderung, so muß (…) eine ganze<br />

Schar Kinder (…) die Gasse zur Elementarschule<br />

machen“ 50 .<br />

In dem Hülsmannschen Bericht folgt als<br />

zweiter Punkt eine Aufzählung der in der Fabrikschule<br />

vorhandenen Lehrmittel. Nach Meinung<br />

des Schulpflegers sind sie in hinreichender<br />

Zahl vorhanden: Bibeln (für die evangelischen<br />

Kinder), Neue Testamente (nach der katholischen<br />

Übersetzung für katholische Kinder),<br />

Fibeln, Lese- <strong>und</strong> Rechenbücher, eine<br />

Wandtafel, Schiefertafeln, Schreibvorlagen,<br />

Landkarten <strong>und</strong> eine Tafel für den Unterricht<br />

in vaterländischer Geschichte nicht zu vergessen<br />

51 . Was da aufgezählt wird, entspricht in etwa<br />

der Ausstattung anderer Elementarschulen.<br />

Hülsmann geht an diesem Punkt nicht weiter<br />

ins Detail. Er hält es nicht für notwendig, die<br />

benutzten Schulbücher 52 genauer aufzuführen,<br />

wie man es in anderen jährlichen Schulberichten<br />

findet. Aber es kann davon ausgegangen<br />

werden, dass die gleichen Bücher wie in der<br />

Sonnborner „Pfarr-Schule“ benutzt wurden 53 .<br />

Schulbücher spielten in der damaligen Zeit<br />

zunehmend eine Rolle. Es gab zunächst nur<br />

wenige, <strong>und</strong> ein Lehrer der Elementarschule<br />

mit seinem geringen Einkommen, das kaum<br />

seinen Lebensunterhalt deckte, konnte sich in<br />

der Regel nicht leisten, eigene Bücher zu kaufen<br />

54 – <strong>und</strong> noch weniger seine Schulkinder,<br />

die aus den ärmsten Bevölkerungsgruppen kamen.<br />

Aus Berichten der Lehrer über ihre Schule<br />

geht hervor, dass die im Vergleich zur Kinderzahl<br />

wenigen Exemplare von Lese-, Rechenbüchern<br />

<strong>und</strong> Fibeln völlig zerlesen <strong>und</strong><br />

kaum noch zu brauchen waren. Lange Zeit war<br />

die Bibel erstes <strong>und</strong> einziges Schulbuch gewesen<br />

55 . Sie wurde zum Teil von vorne bis hinten<br />

ohne Kommentar gelesen. Mit der Aufklärung<br />

<strong>und</strong> der Notwendigkeit der besseren Ausbildung<br />

der Menschen zu effizienterem Arbeiten,


etwa in der Landwirtschaft, kamen erste Lesebücher<br />

mit „allgemeinbildenden“ Themen 56 .<br />

Das Misstrauen gegenüber solchen neuen<br />

Büchern <strong>und</strong> deren Inhalt war zum Teil groß.<br />

Manche „Schulinteressenten“ 57 erhoben<br />

gegen deren Einführung heftigen Widerspruch,<br />

<strong>und</strong> ein „Synodalprediger“ rief von der Kanzel:<br />

„Die Schulen sind unchristlich geworden.<br />

Man hat den Kindern das Vaterunser <strong>und</strong> den<br />

Glauben aus der Hand genommen“ 58 . Die Lehrer<br />

wurden in ihrem Berufsschein verpflichtet,<br />

keine neuen Bücher ohne die Einwilligung des<br />

Schulvorstandes einzuführen. In dem Protokoll<br />

über eine „abgehaltene halbjährige Schulprüfung“<br />

fand der Präses des Schulvorstandes<br />

Pastor Ball sich veranlasst, von „sämmtlichen<br />

eingeführten Schulbüchern 1 Exemplar anzufordern,<br />

um dieselben (…) namentlich auch in<br />

dem Verhältnisse ihres Inhalts zum Worte<br />

Gottes <strong>und</strong> der Lehre unsrer evangelischen<br />

Kirche zu prüfen (…), daß nicht durch solche<br />

Schulbücher den jugendlichen Herzen statt der<br />

lautern Nahrung göttlicher Wahrheit das Gift<br />

ungläubiger Lüge gereicht werde“ 59 . Und auch<br />

die Elberfelder Kreissynode von 1841 erwartete<br />

von dem Superintendenten, „daß er<br />

(…) dafür wirken werde, daß jetzt <strong>und</strong> in Zukunft<br />

in den sämmtlichen Schulen der Diöcese<br />

nur solche Schulbücher gebraucht resp. eingeführt<br />

werden, welche zur Erziehung der Jugend<br />

in christlicher Erkenntnis <strong>und</strong> Frömmigkeit<br />

völlig geeignet erscheinen“ 60 .<br />

Es kam vor, dass plattdeutsche Bücher oder<br />

solche in niederdeutscher M<strong>und</strong>art benutzt<br />

wurden. So berichtet Jorde von dem Lehrer<br />

Johann Heinrich Lantermann, der seinen<br />

Schülern wöchentlich eine St<strong>und</strong>e aus einem<br />

holländischen Buch ,Trap der Jeugd‘ (Stufen<br />

der Jugend) vorlas. Lantermann benutzte in<br />

seinem Unterricht auch den Roman „Robinson<br />

Crusoe 61 . Robinson besitzt nach Meinung der<br />

Zeit die Eigenschaften, die der aufstrebende<br />

Bürger entwickeln sollte, um voran zu kommen:<br />

unermüdlichen Fleiß, nicht versagende<br />

Energie, Erfindungsreichtum <strong>und</strong> die Überzeugung,<br />

mit seiner Hände Arbeit sich in allen Lebenslagen<br />

behaupten <strong>und</strong> alle auftretenden<br />

Schwierigkeiten meistern zu können. Dieses<br />

aufklärerische Gedankengut konnte so an Kin-<br />

der <strong>und</strong> Jugendliche weitergegeben werden 62 .<br />

Unter diesem Gesichtspunkt scheint der Lehrer<br />

Lantermann in seinem Unterricht engagiert<br />

<strong>und</strong> fortschrittlich gewesen zu sein.<br />

In einem dritten Punkt geht es um die Sauberkeit<br />

der Kinder in der Fabrikschule. Nicht<br />

erst in einem Erlass der „Königlichen Regierung,<br />

Abtheilung des Innern“ vom 17. Juli<br />

1838 wurde unter Punkt 2 moniert, „daß manche<br />

Lehrer die Reinlichkeit der Kinder am<br />

Körper <strong>und</strong> im Anzuge nicht genug beachten“,<br />

<strong>und</strong> weiter unter Punkt 3, „(…) daß in den<br />

Schulzimmern an Bänken <strong>und</strong> Pulten die geziemende<br />

Sauberkeit vermißt wird (…)“ 63 ,<br />

schon 1814 findet sich in einem Schreiben an<br />

„die Vorsteher des öffentlichen Unterrichts im<br />

Herzogthum Berg“ die Erkenntnis: „Eine<br />

Hauptsorge muß aber auch die seyn, daß das<br />

aufwachsende Geschlecht a n L e i b e ges<strong>und</strong><br />

<strong>und</strong> kraftvoll werde, damit das Können <strong>und</strong><br />

Wollen ein brauchbares Werkzeug finde (…).<br />

Dahin gehören: Reinlichkeit <strong>und</strong> frische Luft<br />

in den Schulstuben“ 64 .<br />

In einem Erlass des „Präfecten des Rheindepartements“<br />

vom 22. Juni 1813 heißt es in<br />

dem Punkt 10 „Aufsicht über die Ges<strong>und</strong>heit<br />

der Schulkinder“: „Zur Handhabung einer bessern<br />

Sanitätspolizei in den Schulen sollen die<br />

Maires die Aerzte auffordern, die öffentlichen<br />

Schulen von Zeit zu Zeit zu besuchen, um die<br />

Reinlichkeit der Schullokale <strong>und</strong> den Ges<strong>und</strong>heitszustand<br />

der Schüler zu untersuchen“ 65 .<br />

Diese „Präfectur Verfügung“ ist noch im<br />

Jahr 1822 in Kraft, als der Lehrer Vogel aus<br />

Velbert sich an den Landrat von Seyssel wendet<br />

<strong>und</strong> sein Problem vorsichtig vorträgt: „Da<br />

in einer Schule fast aus allen Häusern des Bezirks<br />

die Kinder zusammenkommen, <strong>und</strong> es<br />

unter den Eltern derselben wol welche geben<br />

mag, die auf die Reinlichkeit ihrer Kinder<br />

nicht genug halten; so könnte ja wol einmal der<br />

Fall eintreten, daß auf diese Weise Kinder mit<br />

einem ansteckenden Ausschlage doch noch auf<br />

die Schule kämen“ 66 . Solche Probleme gibt es<br />

in der Fabrikschule Hammerstein nicht, denn<br />

es wird „dafür Sorge getragen, daß in dem Vorzimmer<br />

alle Schüler vor dem Anfange des Unterrichts<br />

sich waschen u. reinigen.“<br />

Einzigartig in der Fabrikschule Hammer-<br />

15


stein ist auch, dass „jeder Schüler mit einem<br />

blauen Kittel u. jede Schülerin mit einer blauen<br />

Schürze vor dem Eintritt in das Lehrzimmer<br />

versehen“ wird, „ (…) so daß die Kinder, welche<br />

größten Teils frisch u(nd) ges<strong>und</strong> aussehen,<br />

in dieser reinlichen Kleidung einen (im<br />

Text folgte ursprünglich das Wort „sehr“, es ist<br />

jedoch durchgestrichen, E.v.N.), erfreulichen<br />

Anblick darbieten“ 67 .<br />

Damit ist die Fabrikschule Hammerstein<br />

einmalig. Einen ähnlichen Hinweis auf eine<br />

Waschgelegenheit, Kittel <strong>und</strong> Schürzen konnte<br />

ich in keinem anderen Bericht über Fabrikschulen<br />

finden. Und auch im Vergleich zu anderen<br />

Elementarschulen steht diese Fabrikschule<br />

gut da. Der Schule in Schöller fehlt ein<br />

eigener Brunnen, wie der Lehrer Jacob Theodor<br />

Krieger am 2. Juni 1840 berichtet. Nur um<br />

das für die Schulkinder nötige Trinkwasser holen<br />

zu lassen, müsse er größere <strong>und</strong> kräftigere<br />

Kinder zum Dorfbrunnen schicken, „wohin ein<br />

äußerst schlechter Weg führt (…). Mit Angst<br />

nur kann ich jedesmal die Kinder zu dem tiefen<br />

Brunnen, aus dem das Wasser heraufgew<strong>und</strong>en<br />

wird, Vorsicht empfehlend abgehen lassen,<br />

weil dieses Wasserholen mit mancherlei Gefahren<br />

verb<strong>und</strong>en“. Er schreibt weiter an den<br />

Schulpfleger Hülsmann, dass der Landrat von<br />

Seyssel schon bei der Einweihung der Schule<br />

1829 zugesagt habe, dass die Schule spätestens<br />

in 5 Jahren einen eigenen Brunnen bekommen<br />

werde. Seitdem waren 11 Jahre vergangen 68 .<br />

Ein vierter wichtiger Punkt in der Ausbildung<br />

der Jugend war die christliche Erziehung.<br />

Im § 6 des Kinderschutzgesetzes „Regulativ<br />

über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter<br />

in den Fabriken“ vom 9. März 1839 heißt es:<br />

„Christliche Arbeiter, welche noch nicht zur<br />

heiligen Kommunion gekommen sind, dürfen<br />

in denjenigen St<strong>und</strong>en, welche ihr ordentlicher<br />

Seelsorger für ihren Katechumenen- <strong>und</strong> Konfirmanden-Unterricht<br />

bestimmt hat, nicht (…)<br />

beschäftigt werden“ 69 . Nicht nur die Kirche,<br />

auch der Staat legte Wert auf eine christliche<br />

Erziehung der Kinder 70 .<br />

Also wird in der Fabrikschule des Fabrikanten<br />

Jung in Hammerstein den Kindern gestattet,<br />

den Katechumenenunterricht einmal<br />

wöchentlich <strong>und</strong> den Konfirmandenunterricht<br />

16<br />

dreimal in der Woche jeweils zwei St<strong>und</strong>en zu<br />

besuchen. Auch für die dadurch ausfallende<br />

Arbeitszeit wird, ebenso wie für den Schulunterricht,<br />

den Kindern nichts von ihrem Wochenlohn<br />

abgezogen, berichtet Pfarrer Hülsmann<br />

voller Genugtuung. Damit nicht genug.<br />

Kindern, die nicht mehr schulpflichtig sind,<br />

aber „des Unterrichts noch bedürfen“, wird gestattet,<br />

den Schulunterricht zu besuchen, ebenfalls<br />

ohne Lohnabzug 71 .<br />

Hintergr<strong>und</strong> für diese Maßnahme ist ein<br />

Synodalbeschluss, dass Kinder, „welche nicht<br />

gehörig vorbereitet sind, <strong>und</strong> oft nicht einmal<br />

lesen können“, nicht in den Konfirmandenunterricht<br />

aufgenommen werden <strong>und</strong> nicht konfirmiert<br />

werden dürfen 72 . Einen Konfirmationsschein<br />

vorweisen zu können, war aber z.B.<br />

wichtig, um Lehrer werden zu können, aber<br />

auch bei der Rekruteneinstellung wurde danach<br />

gefragt. Wer nicht konfirmiert war, hatte<br />

erhebliche gesellschaftliche Nachteile hinzunehmen<br />

73 . Wenn die Elberfelder Kreissynode<br />

von 1843 den Übelstand beklagt, „daß viele<br />

Kinder fortwährend sehr unregelmäßig die<br />

Schule besuchen, daß die betreffenden Eltern<br />

häufig nicht mit dem nöthigen Ernste angehalten<br />

werden, die Kinder fleißiger zur Schule zu<br />

schicken, daß eine große Zahl von Kindern allzu<br />

frühzeitig, schon vor dem zwölften Jahre<br />

die Schulen verlassen, besonders um in Fabriken<br />

zu arbeiten; daher es denn kommt, daß<br />

häufig sehr unwissende, vernachlässigte Confirmanden<br />

sich finden (…), die nur sehr<br />

schlecht lesen konnten (…)“ 74 , so gehört der<br />

Fabrikant Jung zu denen, die sich bemühen,<br />

auch diesem „Übelstand“ Abhilfe zu schaffen.<br />

Im fünften Punkt seines Berichts gibt<br />

Schulpfleger Hülsmann Informationen über<br />

den in der Fabrikschule unterrichtenden Lehrer.<br />

Es ist der Lehrer Hummeltenberg von der<br />

„Pfarr-Schule“ in Sonnborn. Er wird von Pfarrer<br />

Herminghaus, dem Vorsitzenden des Schulvorstandes<br />

in Sonnborn, sehr geschätzt. Das<br />

geht aus dessen jährlichen Berichten über die<br />

Pfarrschule hervor, die sich in der Schulakte<br />

von Sonnborn befinden. Herminghaus<br />

schreibt am 20. Dezember 1841 über den<br />

Lehrer: „Der Haupt Pfarr- Schul-Lehrer ist<br />

J(ohann) Abr(aham) Hummeltenberg, 46 Jahre


alt <strong>und</strong> bereits 28 Jahre im Amte. Er gehört zu<br />

den wissenschaftlich gebildeten Lehrern 75 , arbeitet<br />

mit Liebe an unserer Jugend, <strong>und</strong> ist<br />

ernstlich bemüht seine sanfte fre<strong>und</strong>liche Mitteilungsgabe<br />

<strong>und</strong> 28jährige Praxis mit Umsicht<br />

zur Bildung <strong>und</strong> Förderung unserer Kinder zu<br />

benutzen“, <strong>und</strong> er fügt noch hinzu: „(…) gegen<br />

seinen <strong>und</strong> der Seinigen Lebenswandel sind officiel<br />

beim Schul- <strong>und</strong> Kirchenvorstande keine<br />

Klagen vorgekommen“ 76 .<br />

Schulpfleger Hülsmann bestätigt diesem<br />

erfahrenen <strong>und</strong> fre<strong>und</strong>lichen Lehrer in der<br />

Fabrikschule gute Unterrichtserfolge: „Die<br />

Schreibübungen auf der Schiefertafel u(nd) auf<br />

Papier mit Feder u(nd) Dinte übertrafen selbst<br />

die gesetzten Erwartungen, indem einige<br />

Schüler nicht bloß eine deutliche u(nd) leserliche,<br />

sondern fast schöne Handschrift sich angeeignet<br />

hatten. Die Fertigkeit im Lesen zeigt<br />

sich bei den Meisten ebenfalls befriedigend<br />

u(nd) ebenso wurde auch der Unterricht im<br />

Rechnen u(nd) Gesang mit Erfolg erteilt (…)“.<br />

Das alles ist besonders erstaunlich <strong>und</strong> erfreulich,<br />

da ein Teil der Kinder vorher entweder gar<br />

nicht oder nur unregelmäßig zur Schule gegangen<br />

waren 77 .<br />

Hummeltenberg erteilte den Unterricht täglich<br />

von halb zwölf bis halb ein Uhr, nachdem<br />

er den morgendlichen Unterricht in der etwa<br />

10 Minuten entfernt liegenden Sonnborner<br />

Schule beendet hatte 78 . Interessant <strong>und</strong> bemerkenswert<br />

ist, dass Pfarrer Hülsmann in seinem<br />

lobenden Urteil über die Unterrichtserfolge<br />

des Lehrers Hummeltenberg besonders den<br />

Gesang erwähnt. Auch darin werden die Kinder<br />

der Fabrikschule unterrichtet. Dass aus einer<br />

Schulklasse munterer Gesang erschallt, ist<br />

für uns heute selbstverständlich <strong>und</strong> auch, dass<br />

bei Schul- <strong>und</strong> anderen Feiern wohlklingende<br />

Lieder vorgetragen werden. Offenk<strong>und</strong>ig wurde<br />

zu Beginn des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts in den<br />

Schulen nur selten <strong>und</strong> wenn überhaupt, nur<br />

wenig wohlklingend gesungen, was sich, wen<br />

w<strong>und</strong>ert’s, dann hinwiederum auf den Gemeindegesang<br />

negativ auswirkte. Der Lehrer Hummeltenberg<br />

unterrichtet seine Schulkinder im<br />

Gesang, <strong>und</strong> an andere Stelle erfahren wir<br />

auch, dass er einen Chor zur Verschönerung<br />

des Gottesdienstes gebildet hat 79 . In Sonnborn<br />

<strong>und</strong> bei dem „Pfarr-Schul-Lehrer“ Hummeltenberg<br />

zeigen sich somit die positiven Folgen<br />

der Bemühungen des „Königlichen Consistoriums“<br />

um eine Verbesserung des Gesanges in<br />

den Schulen <strong>und</strong> Gemeinden 80 .<br />

Mit einem eindringlichen, ausführlichen<br />

Schreiben von vierzehn Seiten vom 1. Oktober<br />

1822 sollte erreicht werden, im „Kreise der<br />

Lehrgegenstände, welche den Unterrichtscursus<br />

der Volksschule bilden, auch dem Gesange<br />

die ihm gebührende Stelle wieder anzuweisen<br />

<strong>und</strong> die Ehre, welche er früherhin in allen<br />

Schulen <strong>und</strong> Kirchen mit Recht hatte, wiederherzustellen.“<br />

Wortreich wird weiterhin ausgeführt:<br />

„Es wird immer allgemeiner anerkannt,<br />

daß der Gesangbildungs-Unterricht nicht allein<br />

eine wesentliche Lücke in der Schul-Erziehung<br />

ausfülle, welche keiner der übrigen Lehrgegenstände<br />

so auszufüllen vermag, sondern auch für<br />

die Verschönerung des Lebens <strong>und</strong> der Schule,<br />

so wie für die Verschönerung des häuslichen<br />

<strong>und</strong> bürgerlichen Lebens, für die Veredlung der<br />

Volksfeste, <strong>und</strong> vornehmlich für die Verherrlichung<br />

des öffentlichen Gottesdienstes <strong>und</strong> für<br />

die Belebung der häuslichen <strong>und</strong> kirchlichen<br />

Andachten von sehr großer Wichtigkeit sei (…)<br />

<strong>und</strong> daß keine Schule, in welcher derselbe<br />

fehlt, auf den Namen einer vollständig eingerichteten<br />

Schule Anspruch machen dürfe“ 81 .<br />

Dann geht es weiter um den Kirchengesang,<br />

„dessen Verbesserung bei den musikalischen<br />

Unterweisungen <strong>und</strong> Uebungen in der<br />

Schule fortwährend vorbereitet <strong>und</strong> bewirkt<br />

werden muß“, da dieser „bei sehr vielen Gemeinden<br />

in Verfall gerathen sei (…). Viele der<br />

besten Kirchenmelodien sind in Vergessenheit<br />

gerathen, so daß (sie) von den Gemeinden<br />

nicht gesungen werden können (…). Viele andere<br />

sind (…) allmählich verunstaltet <strong>und</strong> ihrer<br />

ursprünglichen Würde beraubt worden. Und in<br />

(…) den mehrsten Kirchen ist das Singen derselben<br />

so schlecht, daß es die Andacht <strong>und</strong> Erbauung<br />

nicht selten mehr stört, als befördert.“<br />

Man weiß auch, wie es dazu kam: „Dies ist die<br />

traurige Folge davon, daß man seit mehreren<br />

Jahrzehnden die ehemals allgemein gewesene<br />

Ordnung, in den Gemeinde-Schulen regelmäßig<br />

Gesangübungen anzustellen <strong>und</strong> täglich<br />

den Unterricht mit Absingen eines Kirchen-<br />

17


liedes zu eröffnen <strong>und</strong> zu beschließen verlassen<br />

<strong>und</strong> durch verkehrte Ansichten des Schul<strong>und</strong><br />

Erziehungs-Wesens eingeleitet, den Kirchengesang<br />

auf eine sehr nachtheilige Weise<br />

versäumt hat“ 82 .<br />

Pfarrer Hülsmann beendet seinen Bericht<br />

in einem sechsten Punkt mit einer Schilderung<br />

der Arbeitssituation der Kinder, die in der<br />

Jungschen Baumwollspinnerei arbeiteten, <strong>und</strong><br />

vermerkt beruhigend, „daß nur sehr wenige<br />

von 10 jährigem Alter“ sich unter den 85 Kindern<br />

befänden, die in die Schule aufgenommen<br />

worden seien 83 , <strong>und</strong> „auch den Kindern unter<br />

16 Jahren nur eine Arbeitszeit von kaum 10<br />

St<strong>und</strong>en zugewiesen“ worden sei <strong>und</strong> „innerhalb<br />

derselben auch die nöthige Zeit zum Frühstück<br />

<strong>und</strong> Abendbrot so wie zur Erholung<br />

gegönnt wird“ 84 . Für die Mittagspause nach<br />

dem Schulunterricht „ist den Kindern ein<br />

großer, im Winter gewärmter Saal mit den<br />

nöthigen Tischen <strong>und</strong> Bänken angewiesen, in<br />

welchem sie ihr Mittagessen verzehren können<br />

u(nd) wird ihnen außerdem noch die nöthige<br />

Zeit zum Aufenthalt in freier Luft u(nd) zur Erholung<br />

bewilligt“. Wen w<strong>und</strong>ert es, dass am<br />

Schluss seines Berichtes Pfarrer Hülsmann<br />

versichert, dass „die Arbeit keineswegs eine<br />

anstrengende noch eine die Ges<strong>und</strong>heit der<br />

Kinder gefährdende genannt werden kann,<br />

sondern größtentheils in einer Beaufsichtigung<br />

der arbeitenden Maschinen, anknüpfen der abgerissenen<br />

Fäden u(nd) d(er)gl(eichen) besteht“<br />

85 . Auch er war voll in das gesellschaftliche<br />

System <strong>und</strong> seine Denkweise eingeb<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> kaum zu einem kritischen Gedanken fähig.<br />

Es sei denn, man wertet es als Ansatz dazu,<br />

wenn er dann doch das Wörtchen „sehr“<br />

streicht, als er von dem „erfreulichen Anblick“<br />

berichtet, den die frisch gewaschenen Fabrikkinder<br />

in ihren einheitlichen blauen Schürzen<br />

<strong>und</strong> Kitteln dem Betrachter bieten.<br />

Neben solchen Zeitgenossen, die die Kinderarbeit<br />

in der Fabrik als gottgewollt <strong>und</strong> unabänderlich<br />

hinnehmen, gibt es aber auch kritische<br />

Stimmen, die darauf hinweisen, wie sehr<br />

die Kinder Schaden nehmen 86 . Die Motivation<br />

dafür ist unterschiedlich. So befasst sich die<br />

Elberfelder Kreissynode vom Oktober 1833<br />

mit dem Thema <strong>und</strong> weist darauf hin, dass<br />

18<br />

„(…) viele Kinder durch die Fabrikarbeiten,<br />

insbesondere in Spinnereien, Katt<strong>und</strong>ruckereien<br />

e.c. abgehalten (…) werden, den nöthigen<br />

Unterricht zu erhalten“. Man ist der Meinung,<br />

dass es Aufgabe der „hohen Regierung“ sei,<br />

diesen Kindern zu einem „hinlänglichen Unterricht“<br />

zu verhelfen, damit sie nicht „durch<br />

die unausgesetzte Arbeit vom frühen Morgen<br />

bis in die späte Nacht an Leib <strong>und</strong> Seele verkrüppeln“<br />

87 .<br />

Auch der Elberfelder Schulpfleger Wilberg<br />

stellt in seinem kritischen Revisionsbericht<br />

über die Elberfelder Schulen bereits 1815 fest,<br />

„daß ein sehr großer Teil der schulfähigen Kinder<br />

im Wupperthale mit Manufakturarbeiten<br />

beschäftigt ist (…) so bleibt den Kindern (…)<br />

aus den armen Ständen nur wenig von ihrer Jugendzeit<br />

zur Bildung des Verstandes übrig, an<br />

die Bildung des Gemütigen (sic) <strong>und</strong> des Körperlichen<br />

des Kindes ist fast gar nicht zu denken“.<br />

Er fragt <strong>und</strong> fordert: „Sollte es nicht<br />

möglich sein, (…) daß den Kindern aus den ärmern<br />

Ständen die erforderliche Zeit zum Lernen<br />

gelassen werde?“ <strong>und</strong> sieht sie als Opfer<br />

der „Habsucht“ 88 der Eltern. Das klingt so, als<br />

ob seiner Meinung nach die Eltern eine andere<br />

Wahl gehabt hätten 89 . Ebenso schreibt der Regierungsschulrat<br />

Altgelt in seinem Bericht an<br />

den Oberpräsidenten der Rheinprovinz, Freiherrn<br />

von Bodelschwingh-Velmede, über die<br />

„Untersuchung der Zustände der Kinder in den<br />

baumwollen Spinnereien des Herrn Oberempt<br />

zu Rhauenthal <strong>und</strong> des Herrn Wittenstein zu<br />

Wupperfeld“: „Daß diese Kinder übermäßig<br />

angestrengt werden, ist meines Erachtens erwiesen<br />

(…). Einen Theil der Schuld der körperlichen<br />

<strong>und</strong> geistigen Verkrüppelung ist aber<br />

den Ältern zuzuschreiben, welche in Armuth<br />

<strong>und</strong> Elend die Kinder zeugen <strong>und</strong> gebären, <strong>und</strong><br />

sie von der Geburt an an allem Nöthigen Mangel<br />

leiden lassen. Nahrung, Kleidung, Schlafstätte<br />

alles fehlt diesen armen Kindern (…)“ 90 .<br />

Der Hintergr<strong>und</strong> für diese <strong>und</strong> ähnliche<br />

Denkstrukturen ist in der Sichtweise auf Kindheit<br />

<strong>und</strong> Jugend zu finden. In der vorindustriellen<br />

Gesellschaft hatte man einerseits die Vorstellung<br />

einer kurzen Kindheit, die mit dem<br />

7. Lebensjahr endete, eine Sichtweise, die zum<br />

Teil bis weit in das 19. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>und</strong> selbst


im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert insbesondere in der bäuerlichen<br />

Welt als Relikt vormoderner Lebensweise<br />

erhalten blieb. Und andererseits war auch die<br />

Meinung weit verbreitet, die Arbeit in der<br />

Fabrik erziehe die Kinder zu Fleiß, Ausdauer,<br />

Ordnung, Gewissenhaftigkeit <strong>und</strong> Geschicklichkeit,<br />

so dass man sie höher <strong>und</strong> wichtiger<br />

einschätzte als das Lernen in der Schule 91 . Bei<br />

der industriellen Kinderarbeit wurden jedoch<br />

die negativen Folgen für die Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong><br />

die Entwicklung von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen<br />

durch intensive Arbeitsbelastung besonders<br />

augenfällig, so dass an diesem Punkte die<br />

Ächtung der Kinderarbeit <strong>und</strong> der Kampf dagegen<br />

einsetzte 92 .<br />

Bei dem Barmer Industriellen <strong>und</strong> Mitglied<br />

des rheinischen Provinziallandtages Johann<br />

Schuchard (1782–1854) findet man auch das<br />

weit verbreitete Denkmuster, dass die Kinder<br />

„arbeitsscheuen Eltern (…) als einziges Werkzeug<br />

ihres Erwerbs (…) dienen“; man gab diesen<br />

damit weitgehend die Schuld an der Not<br />

der Kinder. In einem Aufsatz im Rheinisch-<br />

Westphälischen Anzeiger schrieb Schuchard:<br />

„Es ist herzergreifend, wenn man gefühl- <strong>und</strong><br />

gewissenlose Mütter ihre fünf- sechsjährigen<br />

Kleinen frühmorgens im Regen oder Schnee,<br />

in ärmlicher Kleidung sieht hinaustreiben zu<br />

der oft eine halbe St<strong>und</strong>e weit entfernten Spinnerei,<br />

wo die armen Würmer schlecht ernährt,<br />

ohne den ganzen Tag einen warmen Bissen zu<br />

erhalten, ihre geringen Kräfte aufwenden müssen“.<br />

Und weiter, veranlasst durch den Selbstmordversuch<br />

eines zwölfjährigen Mädchens:<br />

„Der Menschenfre<strong>und</strong> schaudert, wenn er in<br />

die Zukunft blickt, da sich ohne Zweifel auch<br />

in unserm Lande die großen massiven Gebäude<br />

vervielfältigen werden, worin eine Menge<br />

Kinder von früh Morgens bis spät in die Nacht<br />

eingesperrt werden, worin sie um ihre Jugendheit,<br />

um die zum Wachsthum unentbehrliche<br />

Luft, um Gottes liebe Sonne, ja um Alles, Alles<br />

gebracht werden, was des Kindes Gedeihen<br />

<strong>und</strong> Frohsinn bewirkt (…)“ 93 . Jedoch er ergriff<br />

die Initiative <strong>und</strong> legte im Jahr 1837 auf dem<br />

5. Rheinischen Provinziallandtag den Antrag<br />

vor, einen Gesetzesvorschlag zum Schutz der<br />

Fabrikkinder als Petition zwecks Vollziehung<br />

an den König zu richten, in dessen Folge am<br />

9. März 1839 das Kinderschutzgesetz „Regulativ<br />

über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter<br />

in Fabriken“ vom „Königlichen Staats-<br />

Ministerium“ in Berlin erlassen wurde 94 .<br />

Schon auf der ersten Seite seines Berichtes<br />

vom 14. 12. 1839 über „die von dem Herrn<br />

Fr(iedrich) Aug(ust) Jung, Gutsbesitzer <strong>und</strong><br />

Kaufmann zu Elberfeld auf seiner Fabrikanlage<br />

zu Hammerstein bei Sonnborn eingerichteten<br />

Schule, in welcher die in der Fabrik, einer<br />

Baumwollenspinnerei, arbeitenden Kinder den<br />

erforderlichen Unterricht erhalten“, teilt der<br />

Schulpfleger Pfarrer Hülsmann mit: „Das Resultat<br />

dieser Untersuchung war im Allgemeinen,<br />

daß diese Schuleinrichtung nicht bloß alles<br />

leiste, was nach den bestehenden Vorschriften<br />

von einer Anstalt dieser Art gefordert werden<br />

muß, sondern als ein Meister einer Fabrikschule<br />

betrachtet werden kann u(nd) ein sehr<br />

rühmliches Zeugnis davon abgiebt, wie der<br />

obengenannte Herr Fabrikinhaber für das geistige<br />

u(nd) physische Wohl der in seiner Fabrik<br />

arbeitenden Jugend eine wahrlich väterliche<br />

Sorge trägt“ 95 . In den Schulakten befinden sich<br />

auch die Notizen Hülsmanns zu seinem Begleitschreiben<br />

vom 2. Januar 1840 an die Königliche<br />

Regierung in Düsseldorf. Er schließt<br />

mit dem Satz: „Indem ich das (…) Protokoll<br />

(…) übersende, ersuche ich (die) königl(iche)<br />

Reg(ierung) ganz gehorsamst, diese Schuleinrichtung<br />

für eine vollkommen genügende erklären<br />

zu wollen“ 96 .<br />

Das geschieht dann auch. Der „Königliche<br />

Landrath Seyssel“ teilt am 30. Januar 1840<br />

dem Schulpfleger Hülsmann die Meinung der<br />

Königlichen Regierung mit. Mit volltönenden<br />

Worten heißt es, „(…) daß die in der Fabrik des<br />

Friedr(ich) August Jung zu Hammerstein für<br />

die Erhaltung der Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> den Schulunterricht<br />

der darin arbeitenden Jugend getroffenen<br />

Einrichtungen dem hohen Regulativ<br />

vom 9. Mai c. (muss heißen: März, E.v.N.) entsprechend<br />

seien, <strong>und</strong> (man) hat mich veranlaßt<br />

dies dem genannten Fabrikinhaber zu erkennen<br />

zu geben“ 97 . Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.<br />

Selbst der kritische, von Karl Marx <strong>und</strong><br />

Friedrich Engels beeinflusste Kaufmann <strong>und</strong><br />

Schriftsteller Georg Weerth 98 kann nicht umhin,<br />

1845 anerkennend über die Jungsche<br />

19


Fabrik in Hammerstein zu schreiben, dass sie<br />

sich von „ähnlichen Sauetablissements des<br />

Wuppertals“ unterscheide 99 .<br />

Bericht des Schulpflegers Pfarrer August<br />

Wilhelm Hülsmann über die Fabrikschule<br />

der Jungschen Fabrik zu Hammerstein<br />

Actum Hammerstein, d. 23 Dec. 1839.<br />

In Folge der Verfügung der Königl. Regierung<br />

zu Düsseldorf, vom 21. Septbr d. J. die<br />

Beaufsichtigung des Unterrichts der in den Fabriken<br />

arbeitenden Kinder betreffend, wurde<br />

am heutigen Tage von dem unterzeichneten<br />

Schulpfleger die von dem Herrn Fr. Aug. Jung,<br />

Gutsbesitzer u. Kaufmann zu Elberfeld auf seiner<br />

Fabrikanlage zu Hammerstein bei Sonnborn<br />

eingerichtete Schule, in welcher die in der<br />

Fabrik, einer Baumwollenspinnerei, arbeitenden<br />

Kinder den erforderlichen Unterricht erhalten,<br />

unter Beistand der Herrn Bürgermeister<br />

Schnittert von Haan u. des Schulvorstandes zu<br />

Sonnborn, von welchem der Herr Präses Pfarrer<br />

Herminghaus u. der Hl. Schulvorsteher<br />

Kopp zugegen waren, inspizirt <strong>und</strong> untersucht.<br />

Das Resultat dieser Untersuchung war im Allgemeinen,<br />

daß diese Schuleinrichtung nicht<br />

bloß alles leiste, was nach den bestehenden<br />

Vorschriften von einer Anstalt dieser Art gefordert<br />

werden muß, sondern als Meister einer Fabrikschule<br />

betrachtet werden kann u. ein sehr<br />

rühmliches Zeugniß davon abgiebt, wie der<br />

obengenannte Herr Fabrikinhaber für das geistige<br />

u. physische Wohl der in seiner Fabrik<br />

arbeitenden Jugend eine wahrhaft väterliche<br />

Sorge trägt.<br />

Das Schulzimmer liegt zur ebenen Erde, ist<br />

30’ lang 25’ breit <strong>und</strong> 11’ hoch u. mit fünf<br />

großen Fenstern versehen. In diesem Zimmer<br />

befinden sich außer dem Pulte des Lehrers 12<br />

vorschriftsmäßig eingerichtete Schreibpulte<br />

von welchen jedes hinlänglichen Raum für 10<br />

Kinder darbietet, so daß in dem Schulzimmer<br />

120 Kinder bequem sitzen können, u. noch ein<br />

sehr bedeutender Raum für Gänge pp übrig<br />

bleibt. Das Lokal wird im Winter durch eine<br />

vom Heizapparat der Fabrik führende Röhre<br />

nach Belieben mehr oder weniger erwärmt.<br />

20<br />

An Lehrmitteln war alles Erforderliche<br />

vorhanden, eine hinreichende Anzahl Bibeln<br />

für die evangelischen, Neue Testamente nach<br />

der katholischen Übersetzung für die katholischen<br />

Kinder, Lesebücher Fibeln u. Rechenbücher,<br />

eine Wandtafel u. eine große Anzahl<br />

von Schiefertafeln, lithographische Vorschriften<br />

für den Schreibunterricht, Landkarten u.<br />

Tafeln Behufs des Unterrichts in der vaterländischen<br />

Geschichte, u. s. w., so daß Nichts vermißt<br />

wurde, was zu einem der Schule angemessenen<br />

Lehrapparat erforderlich erscheint.<br />

Außerdem wird jeder Schüler mit einem<br />

blauen Kittel u. jede Schülerin mit einer blauen<br />

Schürze vor dem Eintritt in das Lehrzimmer<br />

versehen u. dafür Sorge getragen, daß in dem<br />

Vorzimmer alle Schüler vor dem Anfange des<br />

Unterrichts sich waschen <strong>und</strong> reinigen, so daß<br />

die Kinder, welche größtentheils frisch u. ges<strong>und</strong><br />

aussehen, in dieser reinlichen Kleidung<br />

einen sehr (ist im Text gestrichen worden!<br />

E.v.N.) erfreulichen Anblick darbieten.<br />

Die Zahl der jetzt in die Schule aufgenommenen<br />

Kinder beläuft sich auf 85, vom 10. bis<br />

zum 14. Jahr, wobei jedoch bemerkt wird, daß<br />

nur sehr wenige von 10 jährigem Alter sich unter<br />

denselben befinden u. wobei es hervorgehoben<br />

zu werden verdient, daß der Herr<br />

Fabrikinhaber auch solchen Kindern, die das<br />

schulpflichtige Alter bereits zurückgelegt haben,<br />

den Besuch der Schule, wenn sie des Unterrichts<br />

noch bedürfen, gerne gestattet, ohne<br />

ihnen für den dadurch verursachten Ausfall an<br />

Arbeitsst<strong>und</strong>en irgend einen Abzug an ihrem<br />

Wochenlohn zu machen. Eben so wird denjenigen<br />

Kindern, welche den Konfirmandenunterricht<br />

besuchen, in derselben Weise gestattet,<br />

daß sie dreimal in der Woche u. zwar jedes mal<br />

zwei St<strong>und</strong>en an demselben theilnehmen, den<br />

Katechumenen, daß sie einmal wöchentlich<br />

den Unterricht des betreffenden Pfarrers genießen,<br />

ohne Abzug des Wochenlohns.<br />

Zum Lehrer dieser Schule ist der Lehrer<br />

Hummeltenberg aus Sonnborn von dem Fabrikinhaber<br />

<strong>und</strong> auf seine eigene Kosten engagiert<br />

u. erteilt ersterer den Unterricht täglich von<br />

halb zwölf bis halb ein Uhr, nachdem er seine<br />

Schulst<strong>und</strong>en in der etwa 10 Minuten entferntliegenden<br />

Schule zu Sonnborn geendigt hat.


Was nun die Leistungen der in der Schule<br />

unterrichteten Kinder betrifft, so waren dieselben<br />

nach der angestellten Prüfung sehr befriedigend<br />

zu nennen. Die Schreibübungen auf der<br />

Schiefertafel u. auf Papier mit Federn u. Dinte<br />

übertrafen selbst die gehegten Erwartungen,<br />

indem einige Schüler nicht bloß eine deutliche<br />

<strong>und</strong> leserliche, sondern fast schöne Handschrift<br />

sich angeeignet hatten. Die Fertigkeit<br />

im Lesen zeigte sich bei den Meisten ebenfalls<br />

befriedigend <strong>und</strong> eben so wurde auch der Unterricht<br />

im Rechnen u. Gesang mit Erfolg erteilt,<br />

so daß die Fortschritte der Kinder um so<br />

mehr als befriedigend erscheinen mußten, als<br />

manche Kinder vor ihrem Eintritt in die Fabrik,<br />

theils gar keinen, theils einen sehr unregelmäßigen<br />

Schulunterricht genossen hatten. Es<br />

läßt sich von dem Fortbestehen dieser Schule<br />

bei der väterlichen Aufsicht u. thätigen Theilnahme<br />

des Herrn Fabrikbesitzers, durch dessen<br />

Anordnung ein höchst regelmäßiger Besuch<br />

dieser Fabrikschule, wie sich aus der darüber<br />

geführten Liste ergab, erzielt worden ist, u. bei<br />

den treuen u. verständigen Bemühungen des<br />

einsichtsvollen Lehrers, die beste u. erfreulichste<br />

Wirkung erwarten u. ist es außer allem<br />

Zweifel, daß für diejenigen Kinder, die von<br />

ihren Ältern zu der Fabrikarbeit gebraucht werden<br />

müssen, in einer solchen Schule Alles vorhanden<br />

ist, was als Erfolg für den ordentlichen<br />

Schulunterricht, nach den bestehenden Vorschriften,<br />

gefordert wird.<br />

Nach beendigtem Schulunterricht ist den<br />

Kindern ein großer im Winter erwärmter Saal<br />

mit den nöthigen Tischen u. Bänken angewiesen,<br />

in welchem sie ihr Mittagsessen verzehren<br />

können u. wird ihnen außerdem noch die nöthige<br />

Zeit zum Aufenthalt in freier Luft u. zur Erholung<br />

bewilligt, wie denn auch den Kindern<br />

unter 16 Jahren nur eine Arbeitszeit von kaum<br />

10 St<strong>und</strong>en zugewiesen, innerhalb derselben<br />

auch die nöthige Zeit zum Frühstück u. Abendbrot<br />

so wie zur Erholung vergönnt wird, wobei<br />

noch zu bemerken ist, daß die Arbeit keineswegs<br />

eine anstrengende noch eine die Ges<strong>und</strong>heit<br />

der Kinder gefährdende genannt werden<br />

kann, sondern größtentheils in einer Beaufsichtigung<br />

der arbeitenden Maschinen, anknüpfen<br />

der abgerissenen Fäden u. dgl. besteht.<br />

Vorstehender Bericht wurde vorgelesen, r.<br />

von den anwesenden Herrn Bürgermeister u.<br />

Schulvorsteher u. dem Schulinspector unterzeichnet.<br />

Hl. Pfarrer Herminghaus hatte sich<br />

wegen Amtsgeschäften vor dem Schluß des<br />

Protokolls entfernt.<br />

Schnittert Ernst Kopp Hülsmann<br />

Vom gleichen Tage, dem 23. Dezember<br />

1839 liegt eine von dem Lehrer Hummeltenberg<br />

angefertigte Namenliste der Kinder der<br />

Fabrikschule vor.<br />

Namen-Verzeichniß der auf der Fabrik zu<br />

Hammerstein beschäftigten Kinder, welche<br />

die Schule daselbst in den letzten Tagen besuchten.<br />

Aprath Alwine<br />

Aprath Gustav<br />

Aprath Sanni<br />

Balke Rosette<br />

Bein Karoline<br />

Blumenau Wilh(elm)<br />

Brinkmann Friedr(ich)<br />

Brinkmann Karl<br />

Brückenhaus Karl<br />

Bünger Friedr(ich)<br />

Bünger Wilh(elmin)a<br />

Ditzler Wilh(elm)<br />

Dohm Johanna<br />

Dörner I Wilh(elm)<br />

Dörner II Friedr(ich)<br />

Dörner II Wilh(elm)<br />

Dörner III Robert<br />

Dörner III Wilh(elm)<br />

Eik Wilh(elmin)a<br />

Flasch Karolina<br />

Gräf Wilh(elmin)a<br />

Halfmann Aug(ust)<br />

Halfmann Frieda<br />

Hast Amalia<br />

Hast Friedr(ich)<br />

Hast Henr(iett)a<br />

Heil Henr(iett)a<br />

Heil Karl(in)a<br />

Hermes Karolina<br />

Herter Alwine<br />

Hölter Wilh(elm)<br />

21


Hostadt Aug(ust)<br />

Hüttemann Wilh(elm)<br />

Jost Friedr(ich)<br />

Jung Friedr(ich)<br />

Knürenhaus Wilh(elm)<br />

König Julie<br />

Kratz Karl<br />

Kreis Joh(ann)<br />

Krieger Aug(ust)<br />

Küller Karl<br />

Küller Wil(helmin)a<br />

Lenz Aug(ust)<br />

Lenz Gust(av)<br />

Luke Aug(ust)<br />

Lütz Louise<br />

Morian Christian<br />

Morian Ludow(ig)a<br />

Mühlejansen Helena<br />

Otlinghaus Henr(iett)a<br />

Otlinhgaus Wilh(elmin)a<br />

Paashaus I Aug(ust)<br />

Paashaus I Wilh(elm)<br />

Paashaus II Charl(ott)a<br />

Paashaus III Karl<br />

Peekhaus Aug(ust)<br />

Peekhaus Gust(av)<br />

Peis Abr(aham)<br />

Pleuge Auguste<br />

Pleuge Karol(in)a<br />

Pütbach Julie<br />

Püth Kathar(ina)<br />

Remling Lorenz<br />

Richards Karol(in)a<br />

Römer Charl(ott)a<br />

Rötgers Henr(iett)a<br />

Saurenhaus Peter<br />

Scheidt Aug(ust)<br />

Schmitt I Amalia<br />

Schmitt I Karl<br />

Schmitt I Wilh(elmin)a<br />

Schmitt II Gust(av)<br />

Schreiber Wilhelm<br />

Schreiber Wilh(elmin)a<br />

Spieß Wilh(elm)<br />

Steffens Martin<br />

Stitz Aug(ust)<br />

Stuckmann Wilh(elm)<br />

Tang Aug(ust)<br />

Tang Wilh(elm)<br />

22<br />

Theil Henr(iett)a<br />

Wafen Julius<br />

Wagner Aug(ust)<br />

Wagner Wilh(elmin)a<br />

Wahl Johann<br />

Sonnborn, den 23. Dec(em)b(e)r 1839.<br />

J(ohann) Abr(aham) Hummeltenberg,<br />

Schullehrer.<br />

Anmerkungen:<br />

1 Fritz Jorde, Geschichte der Schulen von Elberfeld,<br />

Elberfeld 1903, S. 325 ff.<br />

2 Jorde gibt den Namen mit Pastor Hermann Weimer<br />

an, ebd., S. 325.<br />

3 Albert Rosenkranz (Hg.), Das Evangelische<br />

Rheinland, Bd. 1: Die Gemeinden, Düsseldorf<br />

1956, S. 231 f.<br />

4 Als Pfarrer wirkte Wilhelm Camerarius nur von<br />

1569 bis 1570 in Sonnborn. Sein Nachfolger als<br />

Lehrer war nach Jorde der Vikar Godschalkus<br />

Breuer aus Wipperfürth. Von ihm wird berichtet,<br />

dass er von dem geringen Schulgeld nicht leben<br />

konnte, deshalb beschloss das Konsistorium<br />

am 30. November 1595, dass in der Gemeinde<br />

für ihn gesammelt werden sollte. „Jeder Hausmann<br />

oder Junggesell, die etwas im Vermögen<br />

<strong>und</strong> gute Mittel haben, wollten aus ihren Mitteln<br />

nach ihrem Vermögen etwas geben zu der Schulen,<br />

daß man einen Schuldiener desto besser<br />

könne erhalten (…). Denn Kirchen <strong>und</strong> Schulen<br />

müssen erhalten werden zu der Ehren des allmächtigen<br />

Gottes <strong>und</strong> unserer Besserung <strong>und</strong><br />

endlich zu unserer Seelen Seligkeit“. So zitiert<br />

in Jorde (wie Anm. 1), S. 326; s.a. Jörg van<br />

Norden, Zwischen Tradition <strong>und</strong> Moderne. Die<br />

evangelische Kirche im Großherzogtum Berg<br />

1806–1813, in: Religiöse Erneuerung, Romantik,<br />

Nation im Kontext von Befreiungskriegen<br />

<strong>und</strong> Wiener Kongress, hg. von Michael Bunners<br />

<strong>und</strong> Erhard Piersig (Studien zur Deutschen Landeskirchengeschichte,<br />

Bd.5), in: Jahrbuch für<br />

Mecklenburgische Kirchengeschichte, Mecklenburgia<br />

Sacra, Bd. 5, S. 153.<br />

5 Jorde (wie Anm. 1), S. 325 f.<br />

6 Johann Friedrich Wilberg (1776–1846) war<br />

1802 als Inspektor <strong>und</strong> Lehrer der Armenanstalt<br />

nach Elberfeld berufen worden. 1814 wurde er<br />

Schulpfleger, 1829 Schulinspektor in Elberfeld;<br />

s.a. Volkmar Wittmütz, von Rochows Einfluß


auf Johann Friedrich Wilberg, Reckahner Hefte<br />

(Brandenburger Gesellschaft für Schulgeschichte)<br />

1/1998, S. 15 f.<br />

7 Johann Abraham Hummeltenberg (1795–1853).<br />

Über den Empfang bei seiner Ankunft in Sonnborn<br />

berichtet Jorde: „Am 15. Juli des Jahres<br />

1817 war es, als eine stattliche Reiterschar (…)<br />

Hummeltenberg nach Sonnborn geleitete, wo<br />

am Eingang des Dorfes festlich geschmückte<br />

Schulkinder <strong>und</strong> zahlreiche Bauern mit frohen<br />

Gesichtern den neuen Lehrer begrüßten <strong>und</strong><br />

zum Schulhaus führten.“ Jorde (wie Anm. 1),<br />

S. 338.<br />

8 Jorde gibt die Maße dieser Klassen an. Jede<br />

Klasse war 12 köln. Fuß lang, 11 Fuß breit <strong>und</strong> 7<br />

Fuß hoch. Es sind, wie damals üblich, sehr kleine<br />

Räume. Umgerechnet auf Meter ergeben sich<br />

die Maße: Die Länge betrug tatsächlich nur ca.<br />

3,60 m, die Breite ca. 3,30 m <strong>und</strong> die Höhe ca.<br />

2,10 m; der Fuß zu 30 cm gerechnet. Jorde (wie<br />

Anm. 1), S. 338.<br />

9 1825 wurde das Allgemeine preußische Landrecht<br />

<strong>und</strong> damit die Schulpflicht auch in den<br />

Westprovinzen Preußens eingeführt. Hermann<br />

Altgelt, Sammlung der gesetzlichen Bestimmungen<br />

<strong>und</strong> Vorschriften des Elementar-Schulwesens<br />

im Bezirke der Königl. Regierung zu<br />

Düsseldorf nebst einer historischen Einleitung<br />

in die Verwaltung des öffentlichen Unterrichts,<br />

aus den Zeiten des Churfürsten Carl Theodor,<br />

bis auf das Todesjahr König Friedrich Wilhelm<br />

III. 1794 bis 1840, 2. Aufl. Düsseldorf 1842.<br />

Nachdruck mit einer Einleitung hg. von Michael<br />

Klöcker, Köln - Wien 1986, S. 184 f.<br />

10 Schon im Jahre 1812 bestimmte eine „Instruction<br />

für die Eintheilung der Schulbezirke in<br />

ganzen Arrondissements“ unter Punkt 7: „Die<br />

sämmtlichen Primärschulen werden auf Kosten<br />

der betreffenden Mairie errichtet <strong>und</strong> unterhalten.“<br />

Schulakten, Akte Nr. 3: Schulpflege, Allgemeine<br />

Verordnungen, Sammlung Erika van<br />

Norden. (Ich habe vor Jahren von einem pensionierten<br />

Rektor eine umfangreiche, zum größten<br />

Teil handschriftliche, unpaginierte Sammlung<br />

von Schulakten aus dem Beginn des 19. Jhts.<br />

bekommen, die er auf dem Speicher seiner<br />

Schule gef<strong>und</strong>en hatte <strong>und</strong> nicht auf den Abfall<br />

werfen wollte.) Nachdem das Bergische Land<br />

preußisch geworden war, wurden die in französischer<br />

Zeit eingeführten Regelungen des<br />

Schulwesens weitgehend übernommen <strong>und</strong> fortgesetzt.<br />

S. dazu auch Hans-Jürgen Apel / Michael<br />

Klöcker, Schulwirklichkeit in Rheinpreußen,<br />

Analysen <strong>und</strong> Dokumente zur Modernisierung<br />

des Bildungswesens in der ersten Hälfte des<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>erts, Köln - Wien 1986, S. 5. Über<br />

die Schulpolitik im Großherzogtum Berg<br />

schreibt ausführlich Jörg van Norden (wie Anm.<br />

4), S. 152–155.<br />

In vielen Gemeinden wurde es notwendig, neue<br />

Schulen zu bauen. Mit der Finanzierung waren<br />

die einzelnen, finanzschwachen Gemeinden allerdings<br />

weitgehend überfordert. In einem ausführlichen<br />

Schreiben aus dem Jahre 1821, einer<br />

„Anleitung für die Herrn Schulpfleger <strong>und</strong><br />

Schulvorsteher im Bergischen zur Betreibung<br />

der Schulbauten“, werden einerseits die Gemeinden<br />

dennoch ermutigt, den notwendigen<br />

Neubau von Schulen in Angriff zu nehmenen,<br />

andererseits heißt es dort über die Finanzierung:<br />

„Gern möchte der Schul-Rath jetzt, die sich hier<br />

von selbst aufdringende Frage: welche allgemeine<br />

feste Bestimmungen über die Beibringung<br />

der Kosten für Schulbauten aufgestellt seyen<br />

genügend beantworten; allein er sieht sich in<br />

diesem Augenblicke bey der noch nicht ständig<br />

geordneten Verfassung der Landes-Verwaltung<br />

dazu außer Stande.“ Der Schulrat teilt „den jetzt<br />

zum Bauen geneigten Gemeinden“ mit, dass die<br />

Kosten in diesem Jahr, wie in den beiden früheren<br />

Jahren, umgelegt werden. Aber keine Gemeinde<br />

werde dadurch benachteiligt werden,<br />

„daß sie jetzt ihren Schulbau beschleunigt“.<br />

Weiter heißt es: „Indessen ist es doch nicht zu<br />

verkennen, daß mancher kleinen Gemeinde die<br />

Beibringung der Kosten schwer fallen wird“.<br />

Gerade diese haben jedoch noch „Hülfsquellen“,<br />

„welche bei Vereinigung mehrerer Gemeinen<br />

zur gemeinsamen Betreibung ihrer Schulbauten<br />

versiegen. Einige Gemeinen werden aus<br />

dem Kirchenvermögen, andere aus ihren Gemeine-Gründen,<br />

<strong>und</strong> wieder andere aus einer<br />

Sammlung bei Schulfre<strong>und</strong>en ihres Bezirkes<br />

sich Zufluß verschaffen.“ Schulakten, Akte Nr.<br />

3: Schulpflege, Allgemeine Verordnungen (s.o.);<br />

s.a. das Vorwort von Michael Klöcker zu Altgelt<br />

(wie Anm. 9), S. VII. Deshalb mobilisierte man<br />

auch in Sonnborn die Gelder für die neue Schule<br />

aus den verschiedensten „Hülfsquellen“, so<br />

dass sich für den Schulneubau eine „Mischfinanzierung“<br />

ergab. Der Lehrer Hummeltenberg<br />

sammelte „nach altem Brauch“ in den<br />

Nachbargemeinden mit dem „Kollektenbuch“.<br />

Diese Gelder erhöhten sich durch den Verkauf<br />

des alten Schulhauses auf 3000 Thaler. Jorde<br />

(wie Anm.1), S. 338.<br />

23


In dem Protokoll der Kreissynode Elberfeld<br />

vom Jahr 1831 wird unter § 4 berichtet: „Zu<br />

Sonnborn ist das Projekt eines neuen Kirchenbaues<br />

<strong>und</strong> Pfarrhausbaues so weit vorbereitet,<br />

daß im Frühjahr des künftigen Jahres der Anfang<br />

mit diesen Bauten gemacht werden kann.<br />

Die Gemeinde hat sich eines Gnaden Geschenkes<br />

Sr. Königlichen Majestät von 2000<br />

Th(a)l(e)r(n) Behufs des Kirchen- <strong>und</strong> Schulbaues<br />

zu erfreuen“. Jörg van Norden (Hg.), Protokolle<br />

der Kreissynoden Elberfeld von 1817 bis<br />

1850 (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische<br />

Kirchengeschichte, Bd. 148), Köln 2000, S. 117.<br />

In den Schulakten von Sonnborn findet sich in<br />

einem Schreiben des Bürgermeisters Schnittert<br />

von Haan (Sonnborn gehört zur Bürgermeisterei<br />

Haan <strong>und</strong> zur Synode Elberfeld) vom 11. August<br />

1839 im Zusammenhang mit der Sonnborner<br />

Schule ein weiterer Hinweis, nämlich dass<br />

die Gemeinde „in Folge des Schulbaues noch<br />

1300 Th(a)l(e)r verzinsliche Schulden hat.“<br />

Schulakten, Akte Nr. 12: Sonnborn, Sammlung<br />

Erika van Norden (s.o.). Aus diesen Teilinformationen<br />

sind die Gesamtkosten für den Schulneubau<br />

nicht mit Sicherheit auszumachen. Je<br />

nachdem wie das „Gnadengeschenk“ auf die geplanten<br />

Gebäude verteilt wurde, waren es mindestens<br />

etwa 5300 Taler.<br />

11 Erst nach dem Tode des Lehrers Hummeltenberg<br />

1853 wurde beschlossen, die längst notwendige<br />

dritte Klasse einzurichten <strong>und</strong> einen<br />

weiteren „Hülfslehrer“ einzustellen. In dem Protokoll<br />

über die „Verhandlungen des Preßbyteriums<br />

des Schulvorstandes der Repräsentation<br />

<strong>und</strong> des Schullehrer-Wahl-Kollegiums der evangelisch<br />

reformirten Gemeine zu Sonnborn“ vom<br />

31. März 1853 steht unter § 2, ad 5: „Ferner<br />

wurde (…) dringend beantragt, daß wegen der<br />

Ueberfüllung der zweiten Klasse nothwendig<br />

(…) ein zweiter Gehülfe, ein geprüfter Seminarist<br />

erwählt werde, weil es eine Unmöglichkeit<br />

sey, daß der Lehrer Zweiter Klasse zirka 180<br />

Kinder unterrichten könne“. Schulakten, Akte<br />

Nr. 12: Sonnborn (vgl. Anm. 10). Dieser Beschluss,<br />

eine dritte Klasse einzurichten <strong>und</strong> einen<br />

weiteren Lehrer einzustellen, wurde jedoch<br />

erst 1860 ausgeführt. Jorde (wie Anm.1), S. 338.<br />

- Damals wurden die Klassen anders gezählt als<br />

heute. Die ältesten Schüler waren jeweils in der<br />

1. Klasse. In einer zweiklassigen Schule waren<br />

also in der zweiten Klasse die Schulanfänger.<br />

12 Hammerstein wurde durch die „Kabinettsordre“<br />

vom 14. Dezember 1833 in die Matrikel der<br />

24<br />

landtagsfähigen Rittergüter eingetragen. Der<br />

Besitzer erhielt damit Sitz <strong>und</strong> Stimme im Rheinischen<br />

Provinziallandtag in Düsseldorf. Michael<br />

Knieriem, Aus den Tagebüchern des Fabrikanten<br />

Wilhelm Ehrenfest Jung (1800–1867)<br />

in Wuppertal-Hammerstein aus den Jahren<br />

1844–1846. Wuppertal 1984. Einführung zur<br />

Quellenveröffentlichung, S. 1. - Wilhelm Ehrenfest<br />

Jung war der Neffe <strong>und</strong> Schwiegersohn des<br />

Firmengründers Friedrich August Jung. Nachdem<br />

dieser 1852 gestorben war, übernahm er<br />

gemeinsam mit zweien von dessen drei Söhnen<br />

als Teilhaber die Spinnerei <strong>und</strong> das Gut in Hammerstein.<br />

In: Tania Ünlüdag, Historische Texte<br />

aus dem Wupperthale, Quellen zur Sozialgeschichte<br />

des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts, hg. von Karl-Hermann<br />

Beeck, Wuppertal 1989, S.168.<br />

13 Das Fabrikgebäude war von erstaunlichen Ausmaßen,<br />

nämlich etwa 46 m lang, 15,5 m tief <strong>und</strong><br />

20,5 m hoch. Tatsächlich hatte der Bau sieben<br />

Etagen. Ein Maschinenhaus war angegliedert.<br />

Die Häuser für die Arbeiter waren aus Bruchsteinen<br />

gebaut, die Villa des Besitzers <strong>und</strong> die<br />

Fabrik aus Backsteinen. Die Einstellung zur<br />

neuen Antriebskraft Dampf wird darin deutlich,<br />

dass, als nach 1857 eine weitere Dampfmaschine<br />

mit höherer Leistung aufgestellt wurde, diese<br />

einen Fußsockel aus Neandertaler Marmor bekam.<br />

Klaus Peter Huttel, Wuppertaler Bilddokumente.<br />

Ein Geschichtsbuch zum 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

in Bild <strong>und</strong> Text, hg. von Karl-Hermann Beeck,<br />

Wuppertal 1985, Bd. 1, S. 258.<br />

14 Aus den Lebenserinnerungen des Wilhelm Ehrenfest<br />

Jung. Zit. in Ünlüdag (wie Anm. 12),<br />

S. 168 f.; s.a. Knieriem (wie Anm. 12), S. 2.<br />

15 Knieriem (wie Anm. 12), S. 1.<br />

16 Ebd.; s.a. Ünlüdag (wie Anm.12), S.169; s.a.<br />

Hermann Kellenbenz, Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialentwicklung<br />

der nördlichen Rheinlande seit<br />

1815, in: Rheinische Geschichte, hg. von Franz<br />

Petri <strong>und</strong> Georg Droege, Bd. 3: Wirtschaft <strong>und</strong><br />

Kultur im 19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert, Düsseldorf,<br />

2. Aufl. 1980, S. 23 <strong>und</strong> 28.<br />

17 Außer der Fabrikschule in der Baumwollspinnerei<br />

Jung in Hammerstein gab es in Elberfeld eine<br />

Fabrikschule in der Seidenspinnerei Simons,<br />

in der Spinnerei des Fabrikanten <strong>und</strong> Stadtrats<br />

P.C. Peill <strong>und</strong> in der Spinnerei des Fabrikanten<br />

Oberempt in Rhauenthal, über die Berichte <strong>und</strong><br />

Informationen vorliegen. Ünlüdag (wie Anm.<br />

12), S. 334 <strong>und</strong> S. 338 f.; außerdem liegt ein Bericht<br />

über die Fabrikschule der Cromford-Fabrik<br />

des Fabrikanten Brügelmann in Ratingen vor.


Bericht des Lehrers Herlitschka über die Schule<br />

zu Cromford vom 6. Dez. 1838, in: Die Macht<br />

der Maschine. 200 Jahre Cromford-Ratingen.<br />

Eine Ausstellung zur Frühzeit des Fabrikwesens,<br />

Ratingen 1985, S. 227. Wittmütz nennt eine<br />

weitere Fabrikschule in Barmen, <strong>und</strong> zwar die<br />

der Baumwollspinnerei Wittenstein <strong>und</strong> Reinhold.<br />

Volkmar Wittmütz, Zwischen Schule <strong>und</strong><br />

Fabrik. Das Dilemma der Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen<br />

im Wuppertal 1800 bis 1850. In: Jugend<br />

zwischen Selbst- <strong>und</strong> Fremdbestimmung. Historische<br />

Jugendforschung zum rechtsrheinischen<br />

Industriegebiet im 19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert, hg.<br />

von Burkhard Dietz, Ute Lange, Manfred<br />

Wahle, Bochum 1996, S. 60.<br />

18 Altgelt (wie Anm. 9), S. 184 f.; s. a. Wilhelm<br />

Zimmermann, Der Aufbau des Lehrerbildungs<strong>und</strong><br />

Volksschulwesens unter der preußischen<br />

Verwaltung 1814–1840 (1846), Köln 1986, S.<br />

293.<br />

19 Schreiben des Landrats Carl Theodor Graf von<br />

Seyssel d’ Aix (1780–1863) an die Bürgermeister<br />

des Landkreises vom 9. Mai 1828. In:<br />

Schulakten, Akte Nr. 5: Schulpflege Kronenberg,<br />

Allgemeine Verhandlungen (vgl. Anm. 10).<br />

20 Altgelt (wie Anm. 9), S. XXV. In der Verordnung<br />

vom 30. Oktober 1825 der königl. Preußischen<br />

Regierung in Düsseldorf heißt es über die<br />

Geldstrafen zunächst noch unter Punkt 13: „Wir<br />

vertrauen jedoch, daß schärfere Zwangsmittel<br />

nirgend erforderlich seyn werden, vielmehr die<br />

regelmäßige Beitreibung des Schulgeldes im<br />

Allgemeinen hinreichen werde, den Schulbesuch<br />

zu fördern.“ Altgelt (wie Anm. 9), S.186.<br />

Diese Hoffnung bestätigt sich nicht. „Schulversäumnisse<br />

wurden im Anschluss an die Kabinetts-Ordre<br />

von 1825 mit Geldstrafen von 1 Silbergroschen<br />

bis 1 Taler bestraft.“ Ünlüdag (wie<br />

Anm. 12), S. 339. In der Verfügung vom 6. Juli<br />

1826 wird das Strafmaß noch erhöht. Hier heißt<br />

es unter Punkt 4: „Zur Beseitigung aller Bedenken<br />

<strong>und</strong> Zweifel setzen wir hiermit fest, daß die<br />

(…) Polizeistrafe in Geld gegen die säumigen<br />

Aeltern (…), welche ihre Kinder nicht zur Schule<br />

schicken, bis zu Fünf Thaler geschärft werden<br />

kann.“ Altgelt (wie Anm. 9), S. 197.<br />

Wiederholt fordert der Landrat von Seyssel die<br />

Bürgermeister der Gemeinden auf, unnachsichtig<br />

gegen Eltern vorzugehen, die ihre Kinder<br />

nicht zur Schule schicken. Sie wurden vom „Polizei-Gericht“<br />

verurteilt. Schulakten, Akte Nr. 5:<br />

Schulpflege Kronenberg, Allgemeine Verhandlungen<br />

(vgl. Anm. 10). „Bei Zahlungsunfähig-<br />

keit gab es Gefängnisstrafen bis zu 24 St<strong>und</strong>en,<br />

wobei für 5 Silbergroschen jeweils 4 St<strong>und</strong>en<br />

Gefängnis gerechnet wurden.“ Ünlüdag (wie<br />

Anm. 12) S. 339. Die Gefängnisstrafen für zahlungsunfähige<br />

Eltern wurden tatsächlich ausgesprochen<br />

<strong>und</strong> mussten an Sonntagen abgesessen<br />

werden. Erst im Jahr 1855 erklärt der Regierungspräsident<br />

in Düsseldorf: „Die Abbüßung<br />

der Strafen an Sonntagen hat wirklich stattgehabt,<br />

ist aber nun abgestellt, <strong>und</strong> haben wir die<br />

sämtlichen Landräte <strong>und</strong> Polizeibeamten darauf<br />

aufmerksam gemacht, daß der Sonntag nicht<br />

dazu verwendet werden dürfe, die Eltern von<br />

der Kirche <strong>und</strong> Familie abzusperren“. Klaus<br />

Goebel, Schule im Schatten. Die Volksschule in<br />

den Industriestädten des Wuppertals <strong>und</strong> seiner<br />

niederbergischen Umgebung (Beiträge zur Geschichte<br />

<strong>und</strong> Heimatk<strong>und</strong>e des Wuppertals, Bd.<br />

26), Wuppertal 1978, S. 89.<br />

In Sonnborn hatten sich 1838 im „Strafschulgelderfonds“<br />

43 Taler <strong>und</strong> 6 Silbergroschen gesammelt,<br />

<strong>und</strong> der Schulvorstand stellte an den<br />

Schulpfleger Hülsmann in Elberfeld den Antrag,<br />

„daß dem Lehrer Hummeltenberg aus dem vorhandenen<br />

Strafschulgelderfonds (…) die Hälfte<br />

als Remuneration bewilligt werde“, zum Ausgleich<br />

für fehlende Schulgeldeinnahmen, wenn<br />

Eltern nicht zahlten bzw. nicht zahlen konnten.<br />

Die andere Hälfte sollte für den notwendigen<br />

neuen Anstrich der Schulfenster verwendet werden.<br />

Schulakten, Akte Nr. 12: Sonnborn (vgl.<br />

Anm. 10). Dieser Antrag wurde bewilligt.<br />

21 In einem Schreiben der Königlichen Regierung<br />

vom 12. Juni 1827 geht es darum, in welchen<br />

Fällen „Dispensationen vom Unterricht oder<br />

Beschränkungen desselben auf einige Tage in<br />

der Woche oder auf wenige St<strong>und</strong>en des Tages<br />

(…) stattfinden können.“ Dort heißt es ausdrücklich:<br />

„(…) namentlich ist dem höchst<br />

schädlichen Mißbrauch des Viehhütens durch<br />

Kinder dadurch auf das Nachdrücklichste zu begegnen,<br />

daß für solche Beschäftigung der Kinder<br />

die Erlaubnis zu Schulversäumnissen gar<br />

nicht ertheilt, sondern auf den regelmäßigen<br />

Schulbesuch mit unnachsichtlicher Strenge gehalten<br />

werde.“ Schulakten, Akte Nr. 5: Schulpflege<br />

Kronenberg, Allgemeine Verhandlungen<br />

(vgl. Anm. 10).<br />

22 In den Schulakten der Elementarschule in<br />

Schöller befinden sich zwei Briefe, die solch<br />

eine Situation näher beschreiben: Am 4. August<br />

1845 schreibt der Schulpfleger Hülsmann an<br />

den Pfarrer Goldenberg in Schöller: „Eine Frau<br />

25


Schütter zu Buntenbeck wünscht für ihren Sohn<br />

August Dispensation vom Schulbesuch (…),<br />

weil sie denselben (…) zu ihren häuslichen Arbeiten<br />

nothwendig gebrauchen müsse.“ Hülsmann<br />

bittet Pfarrer Goldenberg „die Motive dieser<br />

Bitte (…) näher zu ermitteln“, um darüber<br />

entscheiden zu können. In dem Antwortschreiben<br />

des Pfarrers noch vom gleichen Tage erfahren<br />

wir einiges über dieses Kinderschicksal.<br />

Pfarrer Goldenberg schreibt: „Der Knabe ist<br />

stets unregelmäßig zur Schule gegangen <strong>und</strong><br />

konnte schon deshalb nichts lernen (…) (auch)<br />

seine große Kurzsichtigkeit war besonders hinderlich<br />

(…) <strong>und</strong> erst nach den wiederholtesten<br />

Bitten waren die Eltern zu bewegen, dem Knaben<br />

eine Brille anzuschaffen.“ Vermutlich ist<br />

der Junge inzwischen mindestens 12 Jahre alt,<br />

denn die Eltern stellen den Antrag, ihn ganz aus<br />

der Schule zu entlassen, was aber vom Schulvorstand<br />

nicht genehmigt wird, „da die dazu<br />

nothdürftigsten Kenntnisse mangelten.“ Weiter<br />

schreibt der Pfarrer: „Die Aeltern sind übrigens<br />

allerdings arm (…) der Mann arbeitet auf der Eisenbahn<br />

<strong>und</strong> verdient 15 S(ilber)gr(oschen) (…).<br />

Der Knabe (ist) seiner Mutter bei einem kleinen<br />

Kind sehr nothwendig (…), da sie Eisenbahnarbeiter<br />

in Kost u. Logis genommen.“ Schulakten,<br />

Akte Nr. 13: Schöller (vgl Anm. 10). Bereits in<br />

der Verordnung vom 30. Oktober 1825 war eingeräumt<br />

worden, dass „ländliche Beschäftigungen<br />

oder andere den Kindern übertragene Arbeiten<br />

ein Hindernis des täglichen zweimaligen<br />

Schulbesuchs sind“. Die Schulpfleger waren ermächtigt<br />

worden, „im Benehmen mit dem Bürgermeister<br />

<strong>und</strong> unter Zuziehung des Ortsschulvorstandes<br />

eine angemessene Abänderung in<br />

den Schulst<strong>und</strong>en zu treffen“. Altgelt (wie Anm.<br />

9), S. 186.<br />

23 Der Lehrer Krieger aus Schöller gibt in seinem<br />

Bericht vom 2. Juni 1840 an, dass 89 Kinder die<br />

Schule besuchen. Er fährt dann fort: „Diese Anzahl<br />

war indeß des hier endemischen Wechselfiebers,<br />

mitunter auch anderer Krankheiten<br />

(1841 nennt er Erkältungen <strong>und</strong> Husten), weiter<br />

<strong>und</strong> oft sehr schlimmer Wege <strong>und</strong> ungünstiger<br />

Witterung halber nicht häufig versammelt“.<br />

Schulakten, Akte Nr. 13: Schöller (vgl. Anm.<br />

10).<br />

24 Deshalb macht der Landrat von Seyssel in<br />

einem Schreiben vom 9. Juni 1828 an „sämmtliche<br />

Herrn Bürgermeister des Kreises“ auf eine<br />

„im Kreise Solingen getroffene zweckmäßige<br />

Anordnung“ aufmerksam. „Damit die Dürftigen<br />

26<br />

die Schulversäumnisse Ihrer Kinder nicht mit<br />

dem Mangel an nöthigen Kleidungsstücken entschuldigen<br />

können“, soll durch freiwillige<br />

Beiträge <strong>und</strong> durch Zuschüsse aus dem Straf-<br />

Schulgelde für die Beschaffung der Kleidungsstücke<br />

nach Möglichkeit gesorgt werden. Die<br />

Bürgermeister sollen zusammen mit den Schulpflegern<br />

<strong>und</strong> den Schulvorständen „nach Kräften<br />

dahin (…) wirken, daß die besagte Anordnung,<br />

welche zur Beförderung des Schulbesuchs<br />

sehr förderlich ist, auch in ihrer Bürgermeisterei<br />

Anwendung findet.“ Schulakten, Akte<br />

Nr. 5: Schulpflege Kronenberg, Allgemeine Verhandlungen<br />

(vgl. Anm. 10); s. a. Altgelt (wie<br />

Anm. 9) S. 200; s.a. Siegfried Quandt (Hg.),<br />

Kinderarbeit <strong>und</strong> Kinderschutz in Deutschland<br />

1783–1976, Paderborn 1978, S. 10 f.<br />

25 In den Erläuterungen vom 30. Juni 1826 zu der<br />

Verordnung vom 30. Oktober 1825 stellt man<br />

sich gegen Vorschläge, pro Kind ein geringeres<br />

Schulgeld als 3 Silbergroschen zu verlangen,<br />

<strong>und</strong> rechnet aus, dass ein Lehrer, der 100 Kinder<br />

unterrichtet „<strong>und</strong> größer darf die Zahl in der Regel<br />

nicht sein“, somit ein jährliches Einkommen<br />

von 186 Talern hat. Hinzu kommt die freie<br />

Wohnung <strong>und</strong> ein Garten. „Ein solches Einkommen<br />

kann wohl nicht zu hoch erscheinen.“ Altgelt<br />

(wie Anm. 9), S. 186 <strong>und</strong> 193. Es entsprach<br />

der allgemeinen Armut im Wuppertal. Ein Meister<br />

verdiente nicht viel mehr, wöchentlich 4 Taler,<br />

also etwa 192 Taler im Jahr. Ein Geselle verdiente<br />

wöchentlich etwa 2 bis 2 1 /2 Taler, eine<br />

Frau in der Textilindustrie 1 1 /2 bis 2 Taler <strong>und</strong><br />

ein Kind 1 bis 1 1 /2 Taler in der Woche; s. a. in<br />

den Schulakten, Akte Nr. 13: Schöller (vgl.<br />

Anm. 10), die Angaben des Pfarrers Goldenberg<br />

über die Einnahmen des Lehrers Jacob Theodor<br />

Krieger in dem Jahresbericht der Schule in<br />

Schöller vom 30. September 1841; s.a. Schulakten,<br />

Akte Nr. 5: Kronenberg (vgl. Anm. 10),<br />

Berufsschein des Lehrers Heinrich Witte vom<br />

20. Dezember 1832.<br />

Im Jahre 1829 wurde in Elberfeld das Schulgeld<br />

für die Elementarschule in der Stadt auf mtl. 10<br />

Silbergroschen erhöht, im „Kirchspiel Elberfeld“<br />

auf 6 Silbergroschen. Hinzu kam noch bei<br />

„Schreibschülern“ 1 Silbergroschen für Federn<br />

<strong>und</strong> Tinte. Das Schulgeld sollte von der städtischen<br />

Schulkasse eingezogen <strong>und</strong> die Gehälter<br />

der Lehrer daraus bezahlt werden. Beides ließ<br />

sich nicht durchsetzen <strong>und</strong> musste 1831 wieder<br />

rückgängig gemacht werden. Beibehalten wurden<br />

jedoch die gerichtlichen Zwangsmaßnah-


men bei „säumiger Zahlung“. So wurde dem<br />

Barmer Schreiner Karl Walbrächt wegen „rückständigen<br />

Schulgeldes“ eine Hobel- <strong>und</strong> eine<br />

Drehbank gepfändet. Erst 1868 wurde das<br />

Schulgeld in Elberfeld für die Elementarschulen<br />

aufgehoben. Ünlüdag (wie Anm. 12), S. 347.<br />

26 Für die Lehrer reichten aber diese Einnahmen<br />

kaum aus, wie z.B. ein Bettelbrief des Lehrers<br />

Jacob Theodor Krieger aus Schöller vom 26.<br />

Februar 1853 an den Schulpfleger Jaspis in Elberfeld<br />

zeigt. Schulakten, Akte Nr. 13: Schöller<br />

(vgl. Anm.10); s.a. Gerhard E. Sollbach, Schule<br />

am Vorabend der Industriellen Revolution, Eine<br />

Schulerhebung in der Grafschaft Mark 1798/99,<br />

Dortm<strong>und</strong>er Arbeiten zur Schulgeschichte <strong>und</strong><br />

zur historischen Didaktik, hg. von Klaus Goebel<br />

<strong>und</strong> Hans Georg Kirchhoff, Bd. 24, Bochum<br />

1997, S. 27.<br />

27 Ünlüdag (wie Anm. 12 ), S. 331; s.a. Sollbach<br />

(wie Anm. 26), S. 25. Ebenso in Wolfgang Marquardt,<br />

Geschichte <strong>und</strong> Strukturanalyse der Industrieschule,<br />

Arbeitserziehung, Industrieunterricht,<br />

Kinderarbeit in niederen Schulen (ca.<br />

1770–1850/70), Diss. phil. der Technischen<br />

Universität Hannover 1975, S. 359 f.<br />

28 Huttel (wie Anm.13 ), S. 260.<br />

29 Zitiert ebd.; Ursula Wölfel hat die Situation der<br />

in einer Fabrik arbeitenden Kinder in ihrem lesenswerten<br />

Buch wiedergegeben: Jakob unterwegs<br />

oder Das Kartoffelbergwerk, München<br />

2002; s.a. Quandt (wie Anm. 24), S. 22–34; s.a.<br />

Birgit Luxem, Die Kinder- <strong>und</strong> Jugendarbeit im<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>ert im Regierungsbezirk Düsseldorf,<br />

Diss. phil. der Universität Düsseldorf<br />

1983, S. 16–52.<br />

30 Wittmütz, (wie Anm. 17), S. 43 ff.<br />

31 Bericht des Lehrers Herlitschka (wie Anm. 17).<br />

32 Zit. in Ünlüdag (wie Anm. 12), S. 334.<br />

Im Jahr 1827 räumte ein Regierungsreskript ein,<br />

„daß in Fabrikgegenden eine billige Rücksicht<br />

auf die lokalen Verhältnisse genommen werden<br />

könne“. Zit. in Ünlüdag (wie Anm. 12), S. 337.<br />

33 Zit. in Ünlüdag (wie Anm. 12), S. 334.<br />

34 Bericht des Lehrers Herlitschka (wie Anm. 17).<br />

35 S. a. Altgelt (wie Anm.9), S. XXIII.<br />

36 1835 besuchten von 4496 unterrichtspflichtigen<br />

Kindern in Elberfeld nur 2762 die Elementarschulen;<br />

eine kleine Zahl besuchte die höheren<br />

Lehranstalten. Etwa 1000 Kinder wuchsen ohne<br />

Schulunterricht auf. 1838 stellte sich die Situation<br />

wie folgt dar: Elberfeld hatte 35400 Einwohner<br />

<strong>und</strong> 4609 schulpflichtige Kinder. Die 33<br />

Klassen der 15 Elementarschulen besuchten<br />

aber nur 3354 Kinder. Huttel (wie Anm. 13), Bd.<br />

2 , S. 684.<br />

37 Bericht an die Königliche Regierung (in Düsseldorf)<br />

„bei Gelegenheit der Inspektion der (Fabrik-)<br />

Schule zu Sonnborn“ am 23. Dez. 1839<br />

(hs.), in: Schulakten, Akte Nr. 12: Sonnborn<br />

(vgl. Anm. 10).<br />

Die Fabrikschulen wurden zum Elementarschulwesen<br />

gezählt. Deshalb unterstand die Fabrikschule<br />

in Sonnborn ebenso wie die Pfarrschule<br />

der Aufsicht des von der Synode Elberfeld<br />

bestimmten Schulpflegers, dem evangelischen<br />

Pfarrer August Wilhelm Hülsmann (1794-<br />

1857). Er war von 1830 bis 1846 Schulpfleger<br />

<strong>und</strong> außer für die Schulen in Sonnborn zuständig<br />

für die Schulen in Schöller, Gruiten, Cronenberg,<br />

Dohr, Sudberg, Kohlfurt <strong>und</strong> Kuchhausen.<br />

Altgeld (wie Anm. 9), S. 280. Hülsmann<br />

war von 1822 bis 1846 Pfarrer in Elberfeld <strong>und</strong><br />

in den Jahren 1829 bis1831 sowie von 1840 bis<br />

1846 Superintendent. Danach ging er als Konsistorial-<br />

<strong>und</strong> Schulrat nach Düsseldorf. Dort<br />

starb er 1857. Rosenkranz (wie Anm. 3), Bd. 2:<br />

Die Pfarrer, S. 230.<br />

38 Das Regulativ von 1839 bestimmte, dass Kinder<br />

erst in Fabriken beschäftigt werden durften, die<br />

mindestens 10 Jahre alt waren, bereits drei Jahre<br />

die Schule besucht hatten <strong>und</strong> lesen <strong>und</strong> schreiben<br />

konnten. Auch das hat sich nie durchsetzen<br />

lassen. Ende Februar 1855 besuchte der Direktor<br />

Wilhelm August Bühring vom Lehrerseminar<br />

in Neuwied im Rahmen einer Visitationsreise<br />

Elementarschulen im damaligen Kreis Elberfeld.<br />

Dazu gehörte auch die Jungsche Fabrikschule.<br />

Als er den ihn begleitenden Direktor<br />

Stein darauf ansprach, dass einige Kinder, „namentlich<br />

Mädchen sehr schwach <strong>und</strong> stümperhaft“<br />

lasen, erklärte ihm dieser, „daß, wenn sie<br />

die Kinder, deren sie genug ältere haben könnten,<br />

entließen, so wäre das Geschick der armen<br />

Kinder, daß sie auf den Bettel geschickt würden<br />

<strong>und</strong> in gar keine Schule kämen“. Goebel (wie<br />

Anm. 20), S. 77; Zum Problem der Bettelkinder<br />

s. Jürgen Kuczynski, Die Geschichte der Lage<br />

der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 19:<br />

Studien zur Geschichte der Lage des arbeitenden<br />

Kindes in Deutschland von 1700 bis zur Gegenwart,<br />

Berlin 1968, S. 4–8.<br />

In der Sek<strong>und</strong>ärliteratur wird das Mindestalter<br />

häufig fälschlicherweise mit 9 Jahren angegeben.<br />

Es heißt jedoch im Gesetzestext: „Vor<br />

zurückgelegtem neunten Lebensjahre darf niemand<br />

in einer Fabrik (…) zu einer regelmäßigen<br />

27


Beschäftigung angenommen werden“. Altgelt<br />

(wie Anm.9), S. 239 f.<br />

39 Ebd.<br />

40 „Zwischen den (…) Arbeitsst<strong>und</strong>en ist (…) Vor<strong>und</strong><br />

Nachmittags eine Muße von einer Viertelst<strong>und</strong>e,<br />

<strong>und</strong> Mittags eine ganze Freist<strong>und</strong>e, <strong>und</strong><br />

zwar jedesmal auch Bewegung in freier Luft, zu<br />

gewähren.“ Ebd.<br />

41 Johann Heinrich Adolf Herminghaus (um<br />

1783–1865), in Sonnborn Pfarrer von<br />

1833–1863.<br />

42 Pfarrer Hülsmann verweist auf diese Verfügung<br />

am Anfang seines Berichtes. Schulakten, Akte<br />

Nr. 12: Sonnborn (vgl Anm. 10); s.a. Marquardt<br />

(wie Anm. 27), S. 361.<br />

43 Die Maße sind in Fuß angegeben: 30’ lang, 25’<br />

breit <strong>und</strong> 11’ hoch. Ich habe die Maße in Meter<br />

umgerechnet.<br />

44 Schulakten, Akte Nr. 12: Sonnborn (vgl. Anm.<br />

10).<br />

45 1839 zum Zeitpunkt des Berichtes von Schulpfleger<br />

Hülsmann wurden in der Fabrikschule<br />

85 Kinder unterrichtet. Aus den vorliegenden<br />

Berichten des Lehrers Hummeltenberg <strong>und</strong> des<br />

Pfarrers Herminghaus über die beiden Sonnborner<br />

Schulen, die „Pfarr-Schule“ <strong>und</strong> die Fabrikschule<br />

der folgenden Jahre geht jeweils hervor,<br />

wie viele Kinder aus ihrem Schulbezirk in der<br />

Fabrikschule unterrichtet wurden. 1840 waren<br />

es von 332 schulpflichtigen Kindern 70. Hinzu<br />

kamen 15 Kinder aus anderen Bezirken. Für die<br />

folgenden Jahre liegen nur die Zahlen für den<br />

Schulbezirk Sonnborn selber vor: 1841 sind es<br />

von 342 Kindern im November 71, im Dezember<br />

70 Kinder, die in der Fabrik arbeiten <strong>und</strong><br />

dort unterrichtet werden. 1842 sind es von 366<br />

schulpflichtigen Kindern 68. Für das Jahr 1843<br />

liegen monatliche Zahlen vor: Bei 366 schulpflichtigen<br />

Kindern schwankt die Zahl derer, die<br />

in die Fabrikschule gehen, zwischen 63 <strong>und</strong> 73.<br />

Im Jahr 1848 <strong>und</strong> 1849 sind die vorliegenden<br />

Zahlen gleich: Von 386 Kindern gehen 75 in die<br />

Fabrikschule. 1850 sind es von 378 Kindern 76.<br />

1851 von 382 Kinder 73 <strong>und</strong> 1852 von 386 wieder<br />

mehr, nämlich 77 Kinder. Schulakten, Akte<br />

Nr. 12: Sonnborn (vgl. Anm. 10). Aus diesen<br />

vorliegenden Zahlen kann man schließen, dass<br />

die vorgesehene Zahl von 120 Kindern für die<br />

Fabrikschule wahrscheinlich nie erreicht wurde.<br />

Vergl. dazu auch Anm. 78.<br />

46 Schulakten, Akte Nr. 12: Sonnborn (vgl. Anm.<br />

10); s.a. Rudolf Schmidt, Volksschule <strong>und</strong><br />

Volksschulbau. Von den Anfängen des niederen<br />

28<br />

Schulwesens bis in die Gegenwart. Diss. phil.<br />

der Univ. Mainz 1961, S.136.<br />

47 Wittmütz (wie Anm. 17), S. 46. f.; s.a. Ünlüdag<br />

(wie Anm. 12), S. 325; s.a. Sollbach (wie Anm.<br />

26), S. 24. Auf Seite 37 ist die Zeichnung eines<br />

Schulhauses im ostelbischen Gebiet von 1893<br />

wiedergegeben. Schulhäuser im Wuppertal kann<br />

man sich mindestens zu Beginn des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

ähnlich vorstellen; zum Vergleich s.<br />

auch die Maße der Schulräume der Sonnborner<br />

Elementarschule vor dem Neubau, Anm. 8.<br />

48 Altgelt (wie Anm. 9), S. 193.<br />

49 Der Oberpräsident Kleist-Retzow schickte den<br />

Bericht Bührings an die zuständige Regierung<br />

in Düsseldorf. In seinem Begleitschreiben weist<br />

auch er darauf hin, dass von allen Missständen<br />

das Hauptübel die Überfüllung der Klassen sei,<br />

„während doch das im Vorjahr ergangene Regulativ<br />

für die einklassige Elementarschule in der<br />

Regel nicht mehr als 80 Kinder vorsehe“. S.<br />

Anm. 38. Goebel (wie Anm. 20), S. 88; vergl. a.<br />

Anm. 11.<br />

50 Zit. in Goebel (wie Anm. 20), S. 85 f.<br />

Den Lehrern war zwar die Möglichkeit eingeräumt,<br />

die Kinder gruppenweise zu unterrichten.<br />

„Wenn die Schulzimmer nicht groß genug<br />

sind, alle schulpflichtigen Kinder auf einmal<br />

aufzunehmen, so können die Kinder nach Alter<br />

<strong>und</strong> Fähigkeit oder nach dem Geschlecht getrennt<br />

<strong>und</strong> in verschiedenen Abteilungen unterrichtet<br />

werden“. Altgelt (wie Anm. 9), S. 186.<br />

Der Lehrer Hubert Ulrich von der katholischen<br />

Schule in Elberfeld kann seine Kinder nicht alle<br />

gleichzeitig unterrichten, weil ihm genügend<br />

Bänke fehlen. In seinem Antrag für diese Bänke<br />

erfährt man etwas über die zusätzlichen Schwierigkeiten,<br />

mit denen ein Lehrer konfrontiert ist,<br />

der nur einen Teil der Kinder in der Klasse unterrichten<br />

<strong>und</strong> nicht alle Kinder, die draußen<br />

sind, sehen <strong>und</strong> beaufsichtigen kann: „welches<br />

doch hie um so nothwendiger ist; weil die hiesige<br />

Jugend (…) sehr ausgelassen <strong>und</strong> ungesittet<br />

ist, <strong>und</strong> an gar keine Ordnung gewohnt war, die<br />

ich auch nicht einführen (…) kann (…)“ . Zit. in<br />

Ünlüdag, (wie Anm. 12), S. 325.<br />

51 In einem Schreiben der Königlichen Regierung,<br />

Abtheilung des Innern, gez. von Massenbach,<br />

vom 17. Juli 1838 an „ sämmtliche Herren<br />

Schullehrer“ heißt es, dass „kein Schüler entlassen<br />

werden darf, der nicht die Namen <strong>und</strong><br />

Hauptmomente aus dem Leben <strong>und</strong> Wirken der<br />

glorreichen Regenten unseres erhabenen Herrscherhauses<br />

von dem großen Churfürsten bis


auf die gegenwärtige Zeit <strong>und</strong> die Nachkommen,<br />

so wie die Namen der Geschwister <strong>und</strong><br />

nächsten Anverwandten Sn Majestät des Königs<br />

kennen sollte. (…) Zur Belehrung der Schüler<br />

über die Genealogie des Königlichen Hauses ist<br />

ein Stammbaum vom Jahre 1640 an in der Schule<br />

auszuhangen.“ Schulakten, Akte Nr. 3: Allgemeine<br />

Verordnungen (wie Anm. 10). Vgl. Anm.<br />

77.<br />

52 Jorde berichtet, dass es Schulbücher für Kinder<br />

im heutigen Sinne in der „alten Zeit“ nicht gab.<br />

Die wenigen, die es überhaupt gab, waren bestimmt<br />

für die Hand des Lehrers. Daniel Schürmann,<br />

bekannt als Schulmeister von Remscheid,<br />

initiierte den Zusammenschluss von Lehrern zu<br />

drei großen Schullehrer-Lesegesellschaften.<br />

Bücher, die für den Einzelnen zu teuer waren,<br />

wurden gemeinsam gelesen oder untereinander<br />

weitergereicht. Schulbücher wurden so allgemeiner<br />

bekannt <strong>und</strong> auch der Gedanke, Schulbücher<br />

für Kinder anzuschaffen, propagiert. Jorde<br />

(wie Anm. 1), S. 418.<br />

53 In den von der Regierung in Düsseldorf geforderten<br />

Berichten über die Elementarschulen<br />

sollte die Anzahl der vorhandenen Lese- <strong>und</strong><br />

Rechenbücher mit Titel bzw. Herausgeber genau<br />

aufgelistet werden. Der Lehrer Johann Abraham<br />

Hummeltenberg von der Elementarschule in<br />

Sonnborn unterrichtete auch die Kinder in der<br />

Fabrikschule. Es kann deshalb davon ausgegangen<br />

werden, dass für beide Schulen die gleichen<br />

Bücher angeschafft <strong>und</strong> benutzt wurden. In dem<br />

Bericht des Pfarrers Herminghaus über die Elementarschule<br />

in Sonnborn an den Superintendenten<br />

Hülsmann findet sich folgende Auflistung:<br />

„Die Schulbücher sind folgende: Die<br />

Heilige Schrift alten <strong>und</strong> neuen Testamentes.<br />

Die biblische Geschichte von Zahn. Schley<br />

Denkfre<strong>und</strong>. Willberg Lesebuch 1 u(nd) 2 ter<br />

Theil. Lieths 1 u(nd) 2 tes Elementarbüchlein.<br />

Diesterwegs Rechenbuch.“ Schulakten, Akte<br />

Nr. 12: Sonnborn (vgl. Anm. 10).<br />

54 Schon 1806 unter Joachim Murat hatten die<br />

Lehrer einen umfangreichen Fragebogen auszufüllen,<br />

in dem auch nach Handbüchern für den<br />

Unterricht gefragt wurde. Die meisten Lehrer<br />

besaßen keins. Jorde (wie Anm. 1), S. 421.<br />

55 S. a. Marquardt (wie Anm. 27), S. 36.<br />

56 Friedrich Eberhard von Rochow (1734–1805)<br />

richtete in seinen Dörfern Schulen ein, die die<br />

Kinder kostenlos besuchen konnten, stellte Lehrer<br />

ein, die im Vergleich zum Durchschnitt der<br />

Lehrer der damaligen Zeit besonders gebildet<br />

waren, <strong>und</strong> schuf selbst die fehlenden, nötigen<br />

Schulbücher. Sein Lesebuch „Der Kinderfre<strong>und</strong>“<br />

von 1776 ist das erste Lesebuch, das<br />

statt der bisher fast ausschließlich religiösen<br />

Unterweisung den Kindern in den Landschulen<br />

ein beträchtliches Sachwissen vermittelte. Er<br />

hatte bereits 1772 ein Lesebuch herausgegeben,<br />

das noch, wie damals üblich, nur für die Hand<br />

des Lehrers bestimmt war, das „Berliner Lesebuch“.<br />

Robert Alt, Bildatlas zur Schul- <strong>und</strong> Erziehungsgeschichte,<br />

Bd. 2: Von der Französischen<br />

Revolution bis zum Beginn der großen<br />

Sozialistischen Oktoberrevolution, Berlin 1965,<br />

S. 117. Jorde berichtet, dass dieses Buch aus der<br />

„Musterschule“ in Reckahn nach Elberfeld kam.<br />

Auch das Lesebuch Rochows „Der Kinderfre<strong>und</strong>“<br />

war im Bergischen verbreitet. Ihm folgte<br />

ein Lesebuch von Tops <strong>und</strong> Berger in Mühlheim<br />

am Rhein, das „Mühlheimer Lesebuch“.<br />

Auch Wilberg gab ein zweibändiges Lesebuch<br />

heraus, das in den Schulen im Wuppertal <strong>und</strong> in<br />

der Umgebung benutzt wurde, wie aus den jährlichen<br />

Schulberichten hervorgeht.<br />

Aus den Schulakten der Schulen in Sonnborn,<br />

Schöller, Kronenberg <strong>und</strong> Gruiten ergibt sich,<br />

dass diese Schulbücher teilweise parallel benutzt<br />

wurden. Dies steht im Gegensatz zur Meinung<br />

Jordes, sie hätten einander abgelöst. Ebenso<br />

ergibt sich aus den Listen der benutzten<br />

Bücher in den Schulakten, dass fast in allen<br />

Schulen viele Exemplare der „Biblischen Geschichten“<br />

von Franz Ludwig Zahn (1798–<br />

1890) vorhanden waren. Schulakten, Akte Nr.<br />

12: Sonnborn, Akte Nr. 13: Schöller, Akte Nr. 5:<br />

Schulpflege Kronenberg, Allgemeine Verhandlungen,<br />

Akte Nr. 14: Gruiten (vgl. Anm.10).<br />

Das älteste Rechenbuch im Bergischen Land<br />

war von Mauritius Zons. Es wurde schon 130<br />

Jahre benutzt, bevor Servatius Schlyper, genannt<br />

„der Rechenmeister von Elberfeld“, 1734<br />

ein Buch herausgab mit dem Titel: Die wohlgezierte<br />

Rechenstube. Es war in Versen gesetzt<br />

<strong>und</strong> gleichzeitig ein Sing-, Schreib- <strong>und</strong> Rechenbuch.<br />

Seine letzte Auflage aus dem Jahr<br />

1803 wurde von dem Rechenbuch Daniel<br />

Schürmanns aus Remscheid verdrängt mit dem<br />

Titel: Praktisches Schulbuch der gemeinen Rechenkunst<br />

<strong>und</strong> Geometrie mit Figuren. Jorde<br />

(wie Anm. 1), S. 420.<br />

57 Schulinteressenten waren solche Hof- <strong>und</strong><br />

Gr<strong>und</strong>besitzer, die unter der Aufsicht der Kirchengemeinde<br />

für die Schule verantwortlich<br />

waren, sowohl für die Ausstattung als auch für<br />

29


die Wahl des Lehrers. Sie setzten das Schulgeld<br />

fest <strong>und</strong> bestimmten oft auch, was gelehrt wurde.<br />

Sie waren nicht mit den Vätern der Schulkinder<br />

identisch. Wittmütz (wie Anm. 17), S.<br />

47.<br />

58 Zit. in Jorde (wie Anm. 1), S. 420 f.<br />

59 Zit. in Ünlüdag (wie Anm. 12), S. 337.<br />

60 Zit. in Jörg van Norden (wie Anm. 10), S. 249.<br />

61 Bei Jorde klingt es leicht mokant, wenn er den<br />

Lehrer Lantermann zitiert, der scheinbar naiv<br />

schreibt: „Ich besitze nur ein einziges pädagogisches<br />

Buch, den Robinson“. Jorde (wie Anm. 1),<br />

S. 421. Vergegenwärtigt man sich jedoch die Intention<br />

dieses Buches, erscheint diese Mitteilung<br />

in einem völlig anderen Licht. Die Erzählung<br />

Daniel Defoes (1660-1730) von Robinson<br />

Crusoe, der auf eine entfernte, einsame Insel<br />

verschlagen wird <strong>und</strong> kraft seines Verstandes<br />

<strong>und</strong> seiner Energie am Leben bleibt, hatte J. H.<br />

Campe zu einem vielgelesenen <strong>und</strong> überall verbreiteten<br />

<strong>und</strong> geliebten Jugendbuch umgearbeitet.<br />

Er war dazu von J. J. Rousseau angeregt worden,<br />

der seinem Emile als einziges Buch den<br />

„Robinson“ als Lektüre gestattete. Campe ließ<br />

als Rahmenhandlung einen Vater seinen Kindern<br />

die Geschichte Robinsons erzählen. Der<br />

Vater unterhält sich im Anschluss an seine Erzählung<br />

mit den Kindern über die Erlebnisse<br />

Robinsons <strong>und</strong> über dessen Verhalten. So hat er<br />

die Möglichkeit, mit den Kindern über naturk<strong>und</strong>liche<br />

Themen aller Art zu sprechen, <strong>und</strong><br />

kann die Gelegenheit „zu sittlichen, dem Verstand<br />

<strong>und</strong> dem Herzen des Kindes angemessenen<br />

Bemerkungen für gottesfürchtige <strong>und</strong> tugendhafte<br />

Empfindungen“ nutzen. Alt (wie<br />

Anm. 56) S. 117.<br />

62 Alt (wie Anm. 56), S. 117; s. a. Marquardt (wie<br />

Anm. 27), S. 36–41.<br />

63 Schulakten, Akte Nr. 3: Schulpflege, Allgemeine<br />

Verordnungen (wie Anm. 10).<br />

64 Ebd. Im Original gesperrt. Unter Punkt 4 heißt<br />

es weiter: „Hierzu würde sehr dienlich seyn,<br />

wenn die Wiederbelebung der Gymnastik schon<br />

so weit gediehen wäre, dass sie sich auf die<br />

Volkserziehung ausdehnen ließe. Da dieses aber<br />

im ganzen Umfange auf der Stelle nicht geschehen<br />

kann, so muss doch wenigstens soviel möglich<br />

dahin gewirkt <strong>und</strong> das, was überall thunlich<br />

<strong>und</strong> nöthig ist, nicht versäumt werden. Dahin<br />

gehören:<br />

a) Reinlichkeit <strong>und</strong> frische Luft in den Schulstuben.<br />

b) Nicht zu viel Schulst<strong>und</strong>en zum Sitzen, be-<br />

30<br />

sonders für die kleinen Kinder.<br />

c) Vor allem ein Spielplatz bey der Schule, auf<br />

welchem sich die Kinder zur Unterbrechung<br />

viertelst<strong>und</strong>enweise, <strong>und</strong> an bestimmten Tagen<br />

länger, herumtummeln.<br />

d) Nicht Beschränkung, sondern möglichste Beförderung<br />

der kindlichen Spiele, die an einem<br />

Orte hergebracht sind, <strong>und</strong> die meistens mit<br />

den Jahreszeiten regelmäßig wechseln. Je<br />

ausgedehnter, allgemeiner, anstrengender,<br />

desto besser.<br />

Wenn dabey hin <strong>und</strong> wieder ein reger, lebensrüstiger<br />

Lehrer auf dem Spielplatze einige einfache<br />

Veranstaltungen zu gymnastischen Übungen<br />

machen will, so muß er dazu auf alle Weise aufgemuntert<br />

werden, <strong>und</strong> der Schul-Pfleger wird<br />

durch seine Theilnahme an der Sache vieles<br />

beytragen können, um die etwaigen Vorurtheile<br />

dagegen zu beseitigen. Dergleichen einzelne<br />

Anfänge können zündende Funken für das<br />

ganze Land werden, <strong>und</strong> sind um so erwünschter,<br />

als solche Dinge Erzeugniß des eigenen lebendigen<br />

Triebes der Nation seyn müssen, <strong>und</strong><br />

sich nicht wohl als Pflicht gebieten lassen.“<br />

Allgemeine Ansichten über die Schulpflege an<br />

die Vorsteher des öffentlichen Unterrichts im<br />

Herzogthum Berg, Düsseldorf, den 15. Juli<br />

1814, Schulakten, Akte Nr. 3: Schulpflege, Allgemeine<br />

Verordnungen (wie Anm. 10).<br />

65 Verordnung vom 22. 6. 1813. Ebd.<br />

66 Brief des Lehrers Vogel an Landrat von Seyssel,<br />

Velbert, den 20. Januar 1822, ebd. In dem Antwortschreiben<br />

des Landrats vom 15. 2. 1822<br />

weist von Seyssel darauf hin, dass es den Schullehrern<br />

<strong>und</strong> Pfarrgeistlichen „anempfohlen“ ist,<br />

Kinder mit ansteckenden Hautausschlägen zum<br />

Arzt zu schicken <strong>und</strong> ihnen erst wieder zu erlauben,<br />

in die Schule zu kommen, wenn sie vom<br />

Arzt eine Bescheinigung vorlegen können, dass<br />

sie geheilt sind. Weiter teilt der Landrat mit,<br />

dass der Physikus Doctor Sonderland in Barmen<br />

„wegen der gegen die Krätze zu gebrauchenden<br />

Heilmittel (...) mit Rath <strong>und</strong> That gerne zur<br />

Hand“ gehen werde <strong>und</strong> „auch wegen von Zeit<br />

zu Zeit zu veranlaßenden Schulbesuche von Seiten<br />

eines Arztes das Nöthige vorkehren wird.“<br />

Ebd.<br />

67 Schulakten, Akte Nr. 12: Sonnborn (vgl. Anm.<br />

10).<br />

68 Bericht des Lehrers Krieger über seine Schule<br />

vom 2. Juni 1840. Schulakten, Akte Nr. 13:<br />

Schöller (vgl. Anm. 10).<br />

69 Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher


Arbeiter in Fabriken vom 9. März 1839. Altgelt<br />

(wie Anm. 9), S. 240.<br />

70 In der Bekanntmachung, die das Königliche<br />

Rheinische Konsistorium in Koblenz am Reformationstag,<br />

dem 31. Oktober 1828, <strong>und</strong> die Königliche<br />

Regierung in Düsseldorf am 11. November<br />

1828 herausgegeben hatte, heißt es: „Da<br />

es sich zuweilen noch ereignet, daß Kinder ohne<br />

allen Schul- <strong>und</strong> Religionsunterricht aufwachsen<br />

<strong>und</strong> dann ohne eingesegnet (…) zu seyn, zu<br />

dem bürgerlichen Leben übergehen (…), wenn<br />

solche Individuen Verbrechen begangen haben<br />

(…); so haben Sr. Majestät der König (...) befohlen<br />

(…), die Ortsgeistlichen zu gehöriger Aufmerksamkeit<br />

auf diesen wichtigen Gegenstand<br />

anzuhalten, damit solche Fälle gänzlicher Vernachlässigung<br />

des Schul- <strong>und</strong> Religions-Unterrichts<br />

nicht wieder vorkommen.“ Es wird der sicheren<br />

Erwartung Ausdruck verliehen, dass die<br />

„Herren Ortsgeistlichen (…) das Ihrige um so<br />

gewissenhafter beitragen werden, je schwerer<br />

sie es vor Gott <strong>und</strong> der weltlichen Obrigkeit zu<br />

verantworten haben würden, wenn aus Kindern<br />

ihrer Gemeine, ihrer Seelsorge anvertraut, Verbrecher<br />

erwüchsen, (…) indem sie sich um den<br />

Unterricht der armen, von ihren Aeltern <strong>und</strong> Angehörigen<br />

verwahrlosten Kinder nicht bekümmerten.“<br />

Altgelt (wie Anm. 9), S. 199 f. Zur Unterstützung<br />

der Geistlichen darin, den Religionsunterricht<br />

für alle Kinder durchzusetzen<br />

„gleichviel ob er in der Schule oder in dem<br />

Pfarrhause, oder in der Kirche (…) von den<br />

Pfarr-Geistlichen ertheilt wird“ wurde in der<br />

„Circular-Verfügung“ vom 4. März 1834 festgesetzt,<br />

dass der „Religions-Unterricht (…) als Bestandtheil<br />

des Schulunterrichtes betrachtet“<br />

wird <strong>und</strong> „demselben gesetzlichen Zwange unterliegen<br />

soll.“ Altgelt (wie Anm. 9), S. 201.<br />

71 Bericht des Schulpflegers Hülsmann. Schulakten,<br />

Akte Nr. 12: Sonnborn (vgl. Anm. 10).<br />

72 Jörg van Norden (wie Anm. 10), S. 55 <strong>und</strong> S.<br />

119.<br />

73 Es heißt nicht nur allgemein: „Jeder Nichtkonfirmierte<br />

steht unter der geistlichen Aufsicht des<br />

Pfarrers, der Eltern, <strong>und</strong> darf sich dessen Leitung,<br />

Warnung, <strong>und</strong> wo es nötig ist dessen Zucht<br />

nicht entziehen“ (ebd., S. 32), sondern bei seiner<br />

Anstellung als „Gehülfe“ in der Schule in<br />

Sonnborn musste der Seminarist aus Soest neben<br />

seinem Zeugnis über die Seminarausbildung<br />

auch seinen Konfirmationsschein vorlegen.<br />

Schulakten, Akte Nr. 12: Sonnborn (vgl.<br />

Anm. 10). In den Verhandlungen der Elberfelder<br />

Kreissynode von 1844 wird auf den Bericht des<br />

„Garnisonspredigers zu Saarlouis“ hingewiesen,<br />

„(…) der Sohn eines Gärtners aus Barmen,<br />

evang. Confession, (sei) bei seinem Eintritt in<br />

den Militärdienst (…) noch nicht konfirmiert gewesen<br />

(…); er ist zu Saarlouis noch unterrichtet<br />

<strong>und</strong> konfirmiert worden“. Aus diesem Text ergibt<br />

sich, dass auch die Militärbehörde bei ihren<br />

Rekruten wert auf den Konfirmationsschein<br />

legte. Jörg van Norden (wie Anm. 10), S. 308.<br />

74 Ebd., S. 405.<br />

75 Dies ist eine wohlwollende Umschreibung der<br />

Tatsache, dass Hummeltenberg bei einem Lehrer<br />

ausgebildet worden war <strong>und</strong> nicht in einem<br />

Seminar. Wenn letzteres der Fall war, wurde es<br />

jedesmal in einem Zusatz erwähnt. So heißt es<br />

z. B. im Bericht über die Schule im Jahr 1839:<br />

Der Lehrer der zweiten Klasse ist „der Gehülfe<br />

Christian Kirchlinne 25 Jahre alt (…) im Seminar<br />

zu Soest gebildet.“ Schulakten, Akte Nr. 12:<br />

Sonnborn (vgl. Anm. 10). In dem Protokoll der<br />

dritten Elberfelder Kreissynode vom September<br />

1819 wird zu dem Thema vermerkt: „Die Synode<br />

ist der Meinung, daß den in Seminaren gebildeten<br />

Schullehrern kein Vorzug vor den bei<br />

den Schullehrern gebildeten zukomme, weil die<br />

Erfahrung gelehrt hat, daß diese an theoretischen<br />

<strong>und</strong> praktischen Kenntnissen hinter jenen<br />

nicht zurückstehen.“ Zit. in: Jörg van Norden<br />

(wie Anm. 10), S. 49. Diese beiden Ausbildungsmöglichkeiten<br />

für Lehrer bestanden<br />

zunächst nebeneinander, wobei sich die Ausbildung<br />

in einem Seminar jedoch auf die Dauer<br />

durchsetzte.<br />

76 Bericht des Pfarrers Herminghaus über die<br />

Schule in Sonnborn vom 20. Dezember 1841.<br />

Schulakten, Akte Nr. 12: Sonnborn (vgl. Anm.<br />

10).<br />

77 Bericht des Schulpflegers Hülsmann. Ebd.<br />

Hülsmann erwähnt das Fach „Vaterländische<br />

Geschichte <strong>und</strong> Erdbeschreibung“ nicht. Offensichtlich<br />

wird es in der geringen Zeit, die für den<br />

Unterricht in der Fabrikschule zur Verfügung<br />

steht, nicht unterrichtet. Vgl. dazu Anm. 51.<br />

78 Als der Seminardirektor Bühring 1855 die Fabrikschule<br />

in Sonnborn besuchte, unterrichtete<br />

dort seit Februar 1854 Robert Hummeltenberg,<br />

„29 Jahre alt <strong>und</strong> früherer Moerser Seminarzögling“,<br />

der Sohn des 1853 verstorbenen Lehrers<br />

Johann Abraham Hummeltenberg, der auch dessen<br />

Nachfolger an der Pfarrschule in Sonnborn<br />

war. Der Lehrer Robert Hummeltenberg unterrichtete<br />

die Kinder in der Fabrikschule nicht<br />

31


mehr mittags, sondern morgens „also vor der<br />

müde <strong>und</strong> stumpf machenden Fabrikarbeit“ <strong>und</strong><br />

vor seinem Unterricht an der Pfarrschule in<br />

Sonnborn. Allerdings waren von den 99 Fabrikkindern,<br />

die in der Liste standen, an diesem Tag<br />

nur 24 Mädchen <strong>und</strong> 33 Knaben zum Unterricht<br />

gekommen. Goebel (wie Anm. 20), S. 77. Im<br />

Gegensatz dazu bestätigte Pfarrer Hülsmann einen<br />

regelmäßigen Schulbesuch der Fabrikkinder<br />

des mittags. Vergl. dazu auch Anm. 45.<br />

79 Bericht des Schulpflegers Hülsmann Schulakten,<br />

Akte Nr. 12: Sonnborn (vgl. Anm. 10).<br />

80 Bereits in den Amtsblättern vom 13. Dezember<br />

1817 hatte es eine Verfügung über die „fernere<br />

Betreibung (des) Gesangbildungs-Unterrichts<br />

gegeben“. Sie war offenk<strong>und</strong>ig nur wenig beachtet<br />

worden, so dass am 1. Oktober 1822 eine<br />

weitere Initiative des „Königlichen Consistoriums“<br />

zur „Beförderung <strong>und</strong> Wiedereinführung<br />

des Gesanges“ in den Schulen <strong>und</strong> Kirchengemeinden<br />

erfolgte. Schulakten, Akte Nr. 3:<br />

Schulpflege, Allgemeine Verordnungen (wie<br />

Anm. 10).<br />

81 Schulakten, Akte Nr. 3: Schulpflege, Allgemeine<br />

Verordnungen (wie Anm. 10).<br />

82 Ebd. Bereits im Jahr 1818 steht unter § 66 im<br />

Protokoll der zweiten Elberfelder Kreissynode<br />

zu lesen: „In den meisten Kirchspielen bilden<br />

sich, die Reinheit des Kirchengesanges zu befördern,<br />

Singschulen, welche allenthalben befördert<br />

werden sollen“. Jörg van Norden (wie<br />

Anm. 10 ), S. 36. Dies geht auf eine Verfügung<br />

des Jahres 1817 zurück. Dem folgt in der Angelegenheit<br />

der Verbesserung des Kirchengesangs<br />

das oben erwähnte Schreiben von 1822.<br />

Schulakten, Akte Nr. 3: Schulpflege, Allgemeine<br />

Verordnungen (wie Anm. 10).<br />

Im Protokoll der Kreissynode vom Oktober<br />

1831 heißt es unter § 3, Punkt 12: „Unter dem<br />

10. December 1830 eröffnete die Königliche<br />

Regierung zu Düsseldorf, daß zufolge Verfügung<br />

des Ministeriums der Geistlichen ec. ec.<br />

Angelegenheiten vom 10. November, keine Musiklehrer,<br />

Organisten <strong>und</strong> Elementarlehrer von<br />

Königlichen Behörden angestellt werden sollen,<br />

welche nicht bei einem Schullehrer-Seminario<br />

oder einem hierzu beauftragten Sachverständigen<br />

auch in Ansehung ihrer Tüchtigkeit zum<br />

Gesang-Unterricht <strong>und</strong> Orgelspiel geprüft worden<br />

sind <strong>und</strong> darüber ein genügendes Zeugniß<br />

beigebracht haben.“ Jörg van Norden (wie Anm.<br />

10), S.112 f.<br />

Bei den Verhandlungen der Kreissynode vom<br />

32<br />

April 1840 steht unter § 10, 4: „Unterm 10. Dec.<br />

1839 erinnert die Königl. Hochlöbl. Regierung<br />

der Förderung des Kirchengesanges, namentlich<br />

durch Einüben der Melodien in den Schulen stete<br />

Aufmerksamkeit zuzuwenden.“ Ebd. S. 233;<br />

s.a. Friedrich Adolph Wilhelm Diesterweg, Wert<br />

des Gesanges in der häuslichen <strong>und</strong> öffentlichen<br />

Erziehung, in: Sämtliche Werke, 1. Abteilung:<br />

Zeitschriftenbeiträge, Bd. 1: Aus den „Rheinischen<br />

Blättern für Erziehung <strong>und</strong> Unterricht“<br />

von 1827 bis 1829, bearb. von Ruth Hohendorf,<br />

Berlin 1956, S. 346–349.<br />

83 Schulakten, Akte Nr. 12: Sonnborn (vgl. Anm.<br />

10).<br />

84 Ebd.<br />

85 Ebd.; vergl. dazu Anm. 29.<br />

86 S.a. Marquardt (wie Anm. 27), S. 359.<br />

87 Jörg van Norden (wie Anm. 10), S. 140.<br />

88 Volkmar Wittmütz, Die Elberfelder Schulen<br />

1815. Bericht des Schulpflegers Johann Friedrich<br />

Wilberg, in: Geschichte im Wuppertal, Jg. 2<br />

(1993), S. 39.<br />

89 Ebd.<br />

90 Ünlüdag (wie Anm. 12), S. 202.<br />

91 Adolf Georg Heinrich Meyer, Schule <strong>und</strong> Kinderarbeit,<br />

Das Verhältnis von Schul- <strong>und</strong> Sozialpolitik<br />

in der Entwicklung der preußischen<br />

Volksschule zu Beginn des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />

Diss. phil. der Universität Hamburg, 1971,<br />

S.142; s.a. Lotte Adolphs, Industrielle Kinderarbeit<br />

im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert. In: Dies., Kinderarbeit<br />

im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert. Lehrerverhalten im 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert. Schulrevision im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />

Duisburg 1979, S. 19.<br />

92 Quandt (wie Anm. 24), S. 9–11.<br />

93 Zit. in Ünlüdag (wie Anm. 12), S. 202.<br />

94 Kellenbenz (wie Anm. 16), S. 28; s.a. Meyer<br />

(wie Anm. 91), S. 268.<br />

95 Bericht des Schulpflegers Hülsmann, in:<br />

Schulakten, Akte Nr. 12: Sonnborn (vgl. Anm.<br />

10).<br />

96 Notizen in der Handschrift des Schulpflegers<br />

Hülsmann für sein Begleitschreiben zum abschriftlichen<br />

Protokoll, das er am 2. Januar 1840<br />

an den Landrat schickte, zur Weiterleitung an<br />

die Königliche Regierung in Düsseldorf.<br />

Schulakten, Akte Nr. 12: Sonnborn (vgl. Anm.<br />

10).<br />

97 Brief des Landrats an den Schulpfleger Pfarrer<br />

Hülsmann vom 30. Januar 1840, ebd.<br />

98 Georg Weerth (1822–1856) war mit Friedrich<br />

Engels befre<strong>und</strong>et. In Brüssel lernte er Karl<br />

Marx kennen, an dessen „Neuer Rheinischer


Zeitung“ er 1848/49 Feuilletonredakteur war. In<br />

seinen lyrischen <strong>und</strong> erzählerischen Arbeiten<br />

nahm das Elend des Proletariats einen immer<br />

größeren Raum ein. Seine volksliedhaften,<br />

zunächst an der Philosophie Ludwig Feuerbachs<br />

orientierten, später proletarisch klassenbewussten<br />

Gedichte blieben zu seinen Lebzeiten ungedruckt.<br />

Uwe Eckardt<br />

99 Knieriem (wie Anm. 12), S. 1. Im Revolutionsjahr<br />

1848/49 kommt es in der Fabrik Hammerstein<br />

nicht zu Ausschreitungen durch die Arbeiterschaft,<br />

eine Folge der fortschrittlichen Sozialeinrichtungen.<br />

„Die Arbeiter verhalten sich<br />

loyal gegenüber Unternehmer <strong>und</strong> Staat“. Ebd.,<br />

S. 2.<br />

Die Fabrikschulklassen wurden 1874 aufgelöst.<br />

Elberfeld 1837 – Ein Reisebericht von Wilhelmine Funke aus Flensburg<br />

Im Jahre 1837 unternahm der Flensburger<br />

Kaufmann <strong>und</strong> Reeder Wilhelm Friedrich<br />

Funke (1785–1862) mit seiner Tochter Wilhelmine<br />

eine über zweimonatige Deutschlandreise.<br />

In ihrer Begleitung befanden sich Emilie<br />

Momsen, eine Fre<strong>und</strong>in der Tochter, <strong>und</strong> deren<br />

Vater. Wilhelmine Funke (1810–1871) schrieb<br />

ihre Erlebnisse in sechs schmalen Heftchen<br />

nieder, die sie, da Flensburg damals noch zu<br />

Dänemark gehörte, „Tagebuch während der<br />

Reise nach Deutschland“ betitelte. 1<br />

Die Tagebuchschreiberin schildert sehr detailliert,<br />

was sie zwischen der Abreise am 24.<br />

Juni <strong>und</strong> der Rückkunft am 2. September 1837<br />

erlebt. Die Reise führte sie von Flensburg über<br />

Hamburg, Braunschweig, Wernigerode, Leipzig,<br />

Dresden, Prag nach Wien <strong>und</strong> zurück über<br />

Passau, Nürnberg, Würzburg, Frankfurt, Köln,<br />

Soest <strong>und</strong> Hannover wieder nach Flensburg.<br />

Für die 26jährige Wilhelmine Funke <strong>und</strong> ihre<br />

Fre<strong>und</strong>in war dies eine Vergnügungs- <strong>und</strong> Bildungsreise<br />

mit allem Komfort. Außer den touristischen<br />

Sehenswürdigkeiten besuchten sie<br />

Theateraufführungen <strong>und</strong> Konzerte <strong>und</strong> machten<br />

immer wieder Einkäufe. Der Kaufmann<br />

Wilhelm Funke nutzte die Aufenthalte gelegentlich<br />

zur Vertiefung von Geschäftsbezie-<br />

hungen. Den größten Teil der Strecke legten<br />

die Reisenden mit der Kutsche zurück, gelegentlich<br />

unternahmen sie Ausflüge mit dem<br />

Schiff. Das ganze Unternehmen war offenbar<br />

hervorragend vorbereitet, in den großen Städten<br />

organisierten Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Geschäftpartner<br />

umfassende Besichtigungsprogramme.<br />

Von Köln fährt die Reisegruppe am 16. August<br />

1837 nach Solingen <strong>und</strong> von dort am<br />

nächsten Tage nach Elberfeld. Über diese beiden<br />

Stationen finden sich in den Tagebuchheften<br />

folgende Eintragungen: 2<br />

„Gleich nach Tisch setzten wir unsere Reise<br />

fort bis Langenfeld, 3 Meilen, dann Solingen,<br />

1 1 /2 M[eilen], welches wir gegen 7.00 Uhr erreichten,<br />

der Weg dahin ist äußerst intressant,<br />

u. zwar etwas bergig mit lieblichsten Thälern<br />

abwechselnd, die Gegend ist sehr bebaut u. hat<br />

etwas sehr ansprechendes, überall erkennt man<br />

den Fleiß u. die Betriebsamkeit, u. manches<br />

Häuschen, im Versteck gelegen, schaute recht<br />

romantisch hervor, u. gerne wären wir noch etwas<br />

herumgestreift. Solingen ist wegen seiner<br />

vorzüglichen Klingen berühmt, überhaupt bedeutender<br />

Fabrickort vieler Eisenwaaren. Wir<br />

logierten im deutschen Hause 3 , wo uns ein sehr<br />

aufmerksamer Wirth den Aufenthalt so ange-<br />

33


nehm wie möglich machte, eine erquickende<br />

Tasse Thee ließen Emilie u. ich uns vortrefflich<br />

schmecken. Vater ging zu einem Handlungsfre<strong>und</strong><br />

H[er]r Gratre (?) 4 , welchen er aber<br />

nicht zu Hause traf, doch / bald erschien er bei<br />

uns u. bat uns recht sehr, den Abend bei ihm zu<br />

zubringen, welches wir aber ablehnten, wie<br />

auch die Einladung für den folgenden Tag. Aus<br />

den Fenstern unsers Schlafzimmers hatten wir<br />

einen Ueberblick der fre<strong>und</strong>lichen Gegend,<br />

später am Abend kühlte ein leichtes Gewitter<br />

die Luft sehr angenehm.<br />

Den 17. August Morgens in aller Frühe bei<br />

heller fre<strong>und</strong>licher Luft führte unser Weg wieder<br />

durch die reizensten Gegenden, namentlich<br />

das höchst romantische Wupperthal, eine lange<br />

Strecke fährt man längs dem fre<strong>und</strong>lichen<br />

Flüßchen, an dessen Ufer die üppigsten grünen<br />

Wiesen sich erstrecken, dabei die Berge mit<br />

Bäumen, welche bald in Gruppen, bald Waldungen<br />

bilden, die Höhe begränzen, dabei ist<br />

die ganze Gegend mit Wohnungen stark versehen,<br />

u. überall sah man thätige Menschen.<br />

Bald schimmerten uns die Häuser von Elberfeld<br />

entgegen, nahe an der Stadt ist ein öffentlicher<br />

Garten, die Brille 5 genannt, sehr malerisch<br />

gelegen. Von Solingen bis Elberfeld<br />

2 M[eilen], wir logierten im Churfeldschen<br />

Hause 6 , wo wir unsere Zimmer aufs geschmackvollste/<br />

meublirt fanden, u. auch die<br />

Speisen waren vorzüglich gut zubereitet, namentlich<br />

schmeckte uns das Frühstück. Ehe wir<br />

in unsern Gasthof gelangten, durch fuhren wir<br />

einen großen Theil der Stadt, welche sehr bedeutend<br />

ist u. fortwährend durch neue große<br />

Häuser verschönert wird. Nachdem wir etwas<br />

Toilette gemacht hatten, fuhren wir nach Barmen,<br />

welches aber gewissermaßen mit Elberfeld<br />

vereinigt ist, man bemerkt keine Grenze<br />

zwischen beiden Städten, wir dachten es uns<br />

weiter entfernt, sonst hätten wir die Tour zu<br />

Fuß gemacht, da besonders H[er]r Schmidt 7 ,<br />

dem wir unseren Besuch abstatteten, eins der<br />

nächstgelegenen Häuser bewohnt. Wir wurden<br />

besonders von Mad[ame] Schmidt äußerst zuvorkommend<br />

empfangen u. durch ihr fre<strong>und</strong>lich<br />

Wesen ganz für sie eingenommen, so daß<br />

wir gerne ihre Einladung zum Thee annahmen.<br />

Auf dem Rückwege von Barmen fuhren wir der<br />

34<br />

neuen Kirche 8 u. dem Missionshaus 9 vorüber,<br />

auch zeigte man uns ein großes, schönes Armenhaus<br />

10 . Nahe an Elberfeld liegt die Hardt,<br />

ein Gebirge mit hübschen Anlagen, wir schickten<br />

den Wagen fort u. machten die Tour zu Fuß.<br />

Diese Anlage verdanken die Elberfelder / einem<br />

Doctor Diemel, 11 welchem auf der Höhe<br />

ein Denkmal errichtet ist, ein zweites Denkmal<br />

ist dem ersten evangelischen Prediger Swibertus<br />

12 geweiht. Leider schienen die schönen Anlagen<br />

etwas vernachläßigt, auf deren Höhe<br />

eine belohnende Aussicht über Elberfeld u. der<br />

herrlichen Umgebung uns sehr ansprach, noch<br />

weit umfassender fanden wir sie von der<br />

Mühle 13 aus, von wo aus man auch die Uebersicht<br />

von Barmen zugleich hat. Als wir in unsern<br />

Gasthof anlangten, läutete schon die Mittagsglocke,<br />

u. so verfügten wir uns in den<br />

Speisesaal, wo die Gesellschaft nicht sehr zahlreich<br />

war.<br />

Nachmittags stellte H[er]r Schmidt sich<br />

ein, um uns etwas herum zu führen, bekanntlich<br />

hat Elberfeld bedeutende Färbereien u. Webstühle,<br />

doch, daß wir nichts von den Sachen<br />

dort besahen, davon weiß ich den Gr<strong>und</strong> eigentlich<br />

nicht. H[er]r Schmidt führte uns zuerst<br />

ins Cassino 14 , ein großes Gebäude mit<br />

schönem Aeußeren, doch innen uns durchaus<br />

nicht zu sagend, freilich war man theilweise<br />

damit beschäftigt, es etwas in Ordnung zu bringen.<br />

Dann besahen wir die neue katholische<br />

Kirche 15 , von der sich aber nichts besonderes<br />

bemerken läßt, noch auch nicht vollendet. /<br />

Auch das neue Rathhaus 16 macht sich ausgezeichnet,<br />

doch begnügten wir uns mit dem<br />

äußern Anblick, welcher imponirend ist, vier<br />

Löwen machen sich majestätisch, oben führt<br />

eine Galerie herum. Durch mehrere neue<br />

Straßen spazierten wir später nach der Brille,<br />

einem öffentlichen Garten, dessen ich schon<br />

bei der Einfahrt in Elberfeld erwähnte, wo wir<br />

Caffe tranken, dann nach dem Garten von de<br />

Wörth 17 , wo aber außer einigen Punkten, von<br />

wo aus die Aussicht in die Gegend sehr ansprechend<br />

war, nichts weiter Erwähnung verdient.<br />

An einem Punkte hatte man die Landstraße 18<br />

vor sich, deren lebhafter Verkehr wirklich erstaunlich<br />

ist, wenn ich nicht irre, wurde uns erzählt,<br />

wie jede St<strong>und</strong>e Wagen, d. h. Diligen-


ces 19 , nach den nahgelegenen Oertern abgehen.<br />

Statt uns nun aber H[er]r Schmidt nach<br />

seiner Frau führen sollte, ging er mit uns nach<br />

unserm Logis, u. über dies Benehmen nichts<br />

weniger als zufrieden, ließen wir gerne ihn bei<br />

den Vätern u. gingen auf unser Zimmer, wie<br />

ganz anders angenehm hätten wir mit einer<br />

Spatziertour in die reizende Gegend uns die<br />

Zeit verkürzt“.<br />

Anmerkungen:<br />

1 Ich danke Herrn Hans-Joachim Camphausen<br />

(Wuppertal), der mich auf dieses Reisetagebuch<br />

aufmerksam gemacht <strong>und</strong> mir Kopien des Originals<br />

zur Verfügung gestellt hat. Das Original<br />

befindet sich in der Handschriftenabteilung des<br />

Stadtarchivs Flensburg: HS 2850 – Nachlaß<br />

Friedrichsen. – Archivamtfrau Susanne Fiedler<br />

hat dankenswerterweise umfangreiches Material<br />

für viele der Anmerkungen zusammengestellt.<br />

2 Die Transkription der Tagebuchaufzeichnungen<br />

erfolgt buchstabengetreu. Dies gilt auch für die<br />

Eigennamen, die Wilhelmine Funke offenbar<br />

zumeist nach dem Gehör aufgeschrieben hat.<br />

Zum besseren Verständnis sind allerdings vereinzelt<br />

Satzzeichen eingefügt worden. Eindeutige<br />

Abkürzungen habe ich in eckigen Klammern<br />

aufgelöst.<br />

3 Das „Deutsche Haus“ in Solingen (Ecke Kölner<br />

<strong>und</strong> Weyersberger Staße) stammt vermutlich aus<br />

dem Jahre 1592; vgl. Paul Clemen: Die Kunstdenkmäler<br />

der Städte Barmen, Elberfeld, Remscheid<br />

<strong>und</strong> der Kreise Lennep, Mettmann, Solingen,<br />

1894, S. 122. – Das Hotel, das auch „Im<br />

Himmel“ genannt wurde, war bis zu seiner Zerstörung<br />

1943 ein Mittelpunkt des gesellschaftlichen<br />

<strong>und</strong> geselligen Lebens in Solingen; vgl.<br />

Solinger Tageblatt vom 14. 8. 1940.<br />

4 Der Name ist verschrieben <strong>und</strong> nicht eindeutig<br />

zu lesen.; es ist denkbar, daß sich F. W. Funke<br />

mit Abraham Grah, Teilhaber der Stahl- <strong>und</strong> Eisenwarenhandlung<br />

„Peter Hendrichs & Grah“<br />

getroffen hat. – Ich danke meiner Solinger Kollegin<br />

Dr. Aline Poensgen für hilfreiche Auskünfte.<br />

5 Das heutige Briller Viertel ist zu dieser Zeit noch<br />

unbebaut. Die Gastwirtschaft „Brill“ (oder auch<br />

„Schinkenbrill“) ist mit ihrem großen Garten ein<br />

beliebtes Ausflugziel.; vgl. Wilhelm Langewiesche:<br />

Elberfeld <strong>und</strong> Barmen, Barmen, 1863,<br />

S. 61.<br />

6 Die Tagebuchschreiberin meint mit Sicherheit<br />

den „Churpfälzischen Hof“, der in dieser Zeit<br />

neben dem „Zweibrücker Hof“ <strong>und</strong> dem „Weidenhof“<br />

zu den führenden Gasthöfen Elberfelds<br />

zählt. Im „Fremdenblatt“, das der „Tägliche Anzeiger“<br />

am 18. August 1837 veröffentlicht, sind<br />

die Flensburger Besucher wie folgt aufgeführt:<br />

„Funke, Kaiserl. Russ. Consul u. Familie“ sowie<br />

„Momsen, Parti[culier] u. Familie“.<br />

7 Der Gastgeber bzw. Geschäftspartner Schmidt<br />

ist nicht zu identifizieren.<br />

8 Hier ist fraglos die Unterbarmer Hauptkirche<br />

gemeint, die nach vierjähriger Bauzeit 1832 eingeweiht<br />

worden ist. Die 1822 erfolgte Gründung<br />

der Vereinigt-evangelischen Gemeinde Unterbarmen<br />

geht maßgeblich auf die Initiative des<br />

Manufakturbesitzers Johann Caspar Engels<br />

(1753–1821) zurück.<br />

9 Die 1828 gegründete „Rheinische Missionsgesellschaft“<br />

weihte 1832 ihr auf dem von dem<br />

Kaufmann <strong>und</strong> Bankier Johann Keetman zur<br />

Verfügung gestellten Gr<strong>und</strong>stück an der Rudolfstraße<br />

errichtetes „Missionshaus“ ein.<br />

10 Das städtische Armenhaus ist 1827 am Ostersbaum<br />

errichtet worden.<br />

11 Der 1807 begonnene Ausbau der Hardt zu einer<br />

Parkanlage geht auf die Initiative des Arztes Dr.<br />

Johann Stephan Anton Diemel (1763–1821)<br />

zurück; vgl. Gerhart Werner: Johann. Stephan<br />

Anton Diemel, in Wuppertaler Biographien 8,<br />

1969, S. 45–48.<br />

12 Zum Suidbertus-Denkmal (1818) <strong>und</strong> Diemel-<br />

Denkmal (1824) vgl. Ruth Meyer-Kahrweg:<br />

Denkmäler, Brunnen <strong>und</strong> Plastiken in Wuppertal<br />

(= Beiträge zur Denkmal- <strong>und</strong> Stadtbildpflege<br />

des Wuppertals 10), Wuppertal, 1991, S. 23–26.<br />

13 Die Windmühle wurde 1812 auf der Hardt errichtet.<br />

1838 baute sie Engelbert Eller zum Aussichtsturm<br />

mit Sternwarte um. Der Turm wurde<br />

zu Ehren von Elisabeth Ludovika von Bayern,<br />

die 1823 den späteren preußischen König Friedrich<br />

Wilhelm IV. geheiratet hatte, „Elisenturm“<br />

genannt.<br />

14 Das 1820 von der Gesellschaft „Museum“ an<br />

der Königstraße (heute: Friedrich-Ebert-Straße)<br />

errichtete Gebäude ist für viele Jahre Zentrum<br />

des gesellschaftlichen <strong>und</strong> kulturellen Lebens<br />

der Stadt.<br />

15 Die zwischen 1829 <strong>und</strong> 1835 errichtete St. Laurentius-Kirche<br />

zählt zu den Hauptwerken des in<br />

Düsseldorf wirkenden Baumeisters Adolf von<br />

Vagedes (1777–1841). Die achteckigen Helme<br />

sind erst 1835/37 fertiggestellt worden.<br />

35


16 Die Fertigstellung des neuen Rathauses (heute:<br />

Von der Heydt-Museum) zieht sich nach dem<br />

Bezug der ersten Räume 1831 bis 1842 hin. Wilhelmine<br />

Funke spricht hier fälschlicherweise<br />

von vier Löwen. 1833 wurden als Schmuck der<br />

Freitreppe zum Rathaus zwei Löwen, die nach<br />

einem Modell des berühmten Berliner Bildhauers<br />

Daniel Christian Rauch (1777–1857) geschaffen<br />

worden waren, aufgestellt. Zum wechselvollen<br />

Schicksal dieser Skulpturen vgl. Michael<br />

Metschies: Die Löwen waren unerwünscht.<br />

Gußeisernes Original weiter auf dem<br />

Fabrikhof, in: Mitteilungen des Stadtarchivs, des<br />

Historischen Zentrums <strong>und</strong> des Bergischen Ge-<br />

Martin Blindow<br />

Albert Lortzings Jahre in Elberfeld<br />

Als am 17. Mai 1850 das neugebaute,<br />

prunkvolle Friedrich-Wilhelmstädter Theater<br />

in Berlin eröffnet wurde, saßen in der Ehrenloge<br />

die in der preußischen Politik einflußreichen<br />

Herren August von der Heydt <strong>und</strong> Louis<br />

Benjamin Simons 1 , die beide aus Elberfeld kamen.<br />

Ob sie sich beim Anhören der Festouverture<br />

von Albert Lortzing, die der als Kapellmeister<br />

verpflichtete Komponist selbst dirigierte,<br />

daran erinnerten, daß dieser auf den<br />

deutschen Bühnen inzwischen sehr erfolgreiche<br />

Musiker vor einigen Jahrzehnten für kurze<br />

Zeit in ihrer Heimatstadt aufgetreten war? Der<br />

Fabrikant Simons dürfte da nicht nur mit wohlwollenden<br />

Ohren zugehört haben, denn Lortzing<br />

hatte in seiner im Revolutionsjahr 1848<br />

geschriebenen Oper „Regina“, in der zum erstenmal<br />

in der Musikgeschichte ein Arbeiteraufstand<br />

auf die Bühne gebracht wurde, dem Fabrikherrn<br />

den Namen Simon gegeben, sicher<br />

eine Reminiszenz an seine Elberfelder Zeit. 2<br />

Wo Lortzing politisch stand, hatte er im Libretto<br />

unüberhörbar den Streikenden in den M<strong>und</strong><br />

gelegt: „Beschlossen ist’s: zu Ende sei die<br />

Knechtschaft <strong>und</strong> die Tyrannei. Wir werden<br />

Recht uns bald verschaffen! Wenn nicht mit<br />

Worten, dann mit Waffen!“<br />

36<br />

schichtsvereins, Abteilung Wuppertal 15/16,<br />

1990/91, H. 1–3, S. 3–22.<br />

17 Gemeint ist der Deweerthsche Garten, den 1802<br />

der kurkölnische Hofgärtner Peter Joseph Lenné<br />

im Auftrage des Gutsbesitzers Peter de Weerth<br />

(1767–1855) angelegt hat.<br />

18 Die Nevigeser Chaussee ist 1833 bis 1835 auf<br />

Kosten der Städte Elberfeld <strong>und</strong> Neviges zu einer<br />

wichtigen Verkehrsstraße ausgebaut worden.<br />

19 „Diligencen“ sind Postkutschen, die als Eilwagen<br />

zu bestimmten Uhrzeiten in die Nachbarstädte<br />

fahren.<br />

Lortzings Theatererfolge erklären sich mit<br />

seinen ausgezeichneten Kenntnissen der<br />

Schauspielpraxis. Er war im Theater groß geworden<br />

<strong>und</strong> hatte alle Sparten der Bühne kennengelernt.<br />

Zudem kam er aus einem Elternhaus,<br />

das vom <strong>und</strong> für das Theater lebte. Sein<br />

Vater war Mitglied der Theatergesellschaft<br />

Urania in Berlin gewesen, zu der Handwerker,<br />

Ladenbesitzer <strong>und</strong> einige vermögende Kaufleute<br />

gehörten. Für die öffentlichen Aufführungen<br />

verpflichtete man auch professionelle<br />

Schauspieler. Im eigenen Theaterbau wurden<br />

im Jahr ca. 15 Produktionen realisiert, darunter<br />

auch Opern <strong>und</strong> Singspiele unter der Leitung<br />

des damals in Berlin einflußreichen Kapellmeisters<br />

<strong>und</strong> Komponisten Rungenhagen, der<br />

den jungen Albert Lortzing in die Musiktheorie<br />

einführte. 3 Der Knabe, zu dessen Taufpaten<br />

der von Goethe engagierte Schauspieler Johann<br />

Friedrich Lortzing gehörte, 4 trat in diesen<br />

frühen Jahren schon mit Kinderrollen auf. Seine<br />

Eltern gaben 1812 – Albert, einziges Kind<br />

nach dem frühen Tod der älteren Schwester,<br />

war fast 11 Jahre – ihre Lederwarenhandlung<br />

auf, schlossen sich einer Theatergesellschaft an<br />

<strong>und</strong> wechselten häufig die Standorte. Nach<br />

Auftritten in Breslau, wo Bierey 5 als Nachfol-


ger von Carl Maria von Weber die musikalische<br />

Direktion innehatte, wechselte man nach<br />

Coburg <strong>und</strong> dann nach Bamberg. Dieses unstete<br />

Umherziehen erschwerte natürlich eine kontinuierliche<br />

<strong>und</strong> intensive Ausbildung des Jungen,<br />

dessen musikalische Begabung die Eltern<br />

schon früh erkannt hatten. Es ist bis heute nicht<br />

geklärt, wer Albert Lortzing in seiner Jugendzeit<br />

in der Musik entscheidend als Lehrer beeinflußt<br />

hat. In seiner kurzen Autobiographie 6<br />

gibt er für seine Berliner Zeit den schon erwähnten<br />

Rungenhagen 7 an. Aber dieser Unterricht<br />

kann nur für eine erste Einführung in die<br />

Musik gereicht haben, da Lortzing schon mit<br />

fast 11 Jahren Berlin verließ. Klavierspielen<br />

hatte er in Berlin bei Johann Heinrich Griebel<br />

gelernt, einem jungen Mitglied der Hofkapelle<br />

<strong>und</strong> sicher keinem ernst zu nehmenden Pianisten.<br />

8 Am liebsten spielte er jedoch das Cello.<br />

Für seine musikalische Weiterbildung war er in<br />

erster Linie auf eigene Initiativen <strong>und</strong> auf die<br />

Kapellmeister <strong>und</strong> Musiker der Theatergesellschaften<br />

angewiesen, bei denen die Familie<br />

verpflichtet war. In Bamberg leitete das Theater<br />

Karl August Freiherr von Lichtenstein, ehemaliger<br />

Minister, Diplomat <strong>und</strong> Opernkomponist.<br />

Ob er Albert Lortzing musikalisch gefördert<br />

hat, ist bisher unbekannt. 9 Als die Schauspieltruppe<br />

in Juni 1814 nach Straßburg wechselte,<br />

fre<strong>und</strong>ete sich hier der junge Lortzing<br />

mit dem fünf Jahre älteren Carl Gollmick 10 an,<br />

mit dem er noch in späteren Jahren intensiv<br />

über Fragen der Oper korrespondierte. 11<br />

Nach einem kurzen Engagement in Freiburg<br />

<strong>und</strong> Baden verpflichtete sich die Schauspielerfamilie<br />

Lortzing 1816 bei Derossi 12 , der<br />

vor allem unterhaltsame Lustspiele inszenierte<br />

<strong>und</strong> nicht ohne finanziellen Erfolg blieb. Bei<br />

ihm hatte die Familie Lortzing zum erstenmal<br />

in ihrer Theaterkarriere eine einigermaßen<br />

tragbare Berufsbasis gef<strong>und</strong>en. Sie blieb deshalb<br />

auch einige Jahre in dieser Gesellschaft.<br />

Derossi nannte das Ensemble „Düsseldorfer<br />

Schauspielgesellschaft“, später „Aachener <strong>und</strong><br />

Düsseldorfer Opernpersonal“. Man spielte in<br />

Düsseldorf, Köln, Bonn 13 <strong>und</strong> Aachen. 14 In Aachen<br />

trat der 17jährige Albert als „Stußli, der<br />

Flurschütz“ in Schillers „Wilhelm Tell“ auf. 15<br />

Der junge Schauspieler ist also inzwischen von<br />

seinen Kinderrollen zu Nebenrollen gewechselt.<br />

Derossi erhielt im Mai 1821 von der Kölner<br />

Behörde die Kündigung, zog sich auch aus<br />

Aachen zurück <strong>und</strong> konzentrierte sich auf Düsseldorf<br />

<strong>und</strong> Elberfeld.<br />

Als Albert Lortzing in Elberfeld 1821/22<br />

auftrat, hatte er mit seinen zwanzig Jahren<br />

schon einige musikalische Erfahrungen sammeln<br />

können. Da die Eltern keine großen Gagen<br />

erhielten – sie gehörten nie zu den ersten<br />

Kräften der Theatergesellschaften – <strong>und</strong> die<br />

Familie immer in Geldnöten lebte, verdiente<br />

sich Sohn Albert schon vor der Zeit im Rheinland<br />

einige Groschen mit Notenkopieren <strong>und</strong><br />

Aushilfen als Cellist im Orchester. Diese Arbeiten<br />

kamen natürlich seinen musikalischen<br />

Ambitionen sehr zugute. So lernte er die Partituren<br />

der Opernkomponisten seiner Zeit <strong>und</strong><br />

die Orchesterpraxis gründlich <strong>und</strong> früh kennen.<br />

Auch erste Kompositionsversuche hatte er<br />

hinter sich. Kleinere Klavierstücke, eine Vertonung<br />

der „Bürgschaft“ von Schiller <strong>und</strong> eine<br />

Schauspielmusik zu Kotzebus „Der Schutzgeist“<br />

sind verloren. Erhalten haben sich in<br />

einer Abschrift „Thema mit Variationen“ für<br />

Horn <strong>und</strong> Orchester, das den Vermerk trägt:<br />

componirt von Albert Lortzing in Cölln den<br />

9. Oktober 1820, 16 ein Stück mit einer simplen<br />

Harmonik, einem höchst einfachen Orchestersatz<br />

<strong>und</strong> einer floskelhaften Solostimme, die<br />

virtuose Fähigkeiten vom Hornisten erwartet.<br />

Man muß sagen, keine Aufsehen erregende<br />

Komposition, vor allem wenn man bedenkt,<br />

was Mozart, Lortzings großes Vorbild, in diesem<br />

Alter schon produziert hatte. Diese noch<br />

sehr oberflächliche Komposition argumentiert<br />

aber auch, daß Albert Lortzing in erster Linie<br />

als Komponist Autodidakt war <strong>und</strong> sich seine<br />

Kenntnisse der Kompositionstechnik mühsam<br />

erarbeiten mußte, wozu ihm sein alltägliches<br />

Theaterleben natürlich die besten Voraussetzungen<br />

bot. 17<br />

Im Jahr 1822 schrieb Albert Lortzing nachweislich<br />

zwei, wahrscheinlich aber vier Kompositionen,<br />

die für seine künstlerische Entwicklung<br />

sehr wichtig waren. Bedeutendste<br />

Arbeit dieses Jahres ist ohne Zweifel die Hymne<br />

„Dich preist, Allmächtiger“ für Vokalsoli,<br />

Chor <strong>und</strong> Orchester. Autographe Partitur, Or-<br />

37


chester- <strong>und</strong> Chorstimmen liegen in der Landesbibliothek<br />

Detmold. 18 Es überrascht natürlich,<br />

daß der spätere Meister der komischen<br />

Oper nach dem nicht überzeugenden ersten<br />

größeren instrumentalen Konzertstück nun den<br />

Versuch einer geistlichen Kantatenkomposition<br />

startet. Absicht war sicher, ein Werk für die damals<br />

florierenden Musikvereine zu schreiben,<br />

um über die Konzerte der Chöre bekannt zu<br />

werden. Daß auch in Wuppertal die musikliebende<br />

Bürgerschaft sehr aktiv war, läßt sich<br />

leicht einsehen, wenn man anhand der Presseberichte<br />

das Konzertleben im Jahre 1822 untersucht.<br />

19 Aufgeführt wurden u. a. Beethovens<br />

„Christus am Ölberg“, Händels „Messias“<br />

1. Teil <strong>und</strong> „Alexanderfest“, „Die Glocke“ von<br />

Andreas Romberg, Carl Maria von Webers<br />

Tonkunstkantate <strong>und</strong> Teile aus Schneiders<br />

„Weltgericht“. Es waren alle maßgebenden<br />

zeitgenössischen Oratorienkomponisten vertreten,<br />

dazu als einziges historisches Werk<br />

Händels „Messias“ <strong>und</strong> „Alexanderfest“, eine<br />

Programmkonstellation, wie man sie zu dieser<br />

Zeit in allen Städten Deutschlands findet, für<br />

den Anfang des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts aber eine bemerkenswerte<br />

<strong>und</strong> in anderen Städten nicht übliche<br />

Breite <strong>und</strong> Vielfalt. Bei den Instrumentalwerken<br />

werden Mozart, Beethoven, Spohr, Weber<br />

<strong>und</strong> die Konzerte der damals beliebten,<br />

aber heute vergessenen Virtuosen vorgezogen.<br />

Wie üblich hörte man in den Konzertprogrammen<br />

auch Auszüge aus den bekannten Opern.<br />

Organisiert war das Wuppertaler Musikleben<br />

durch den 1815 gegründeten Elberfelder Gesangverein<br />

unter Johannes Schornstein <strong>und</strong><br />

den Barmer Singverein unter Karl Gotthelf<br />

Gläser. 20 Hinzu kamen die Abonnementskonzerte<br />

der Konzertdirektion, die sicher ein höheres<br />

künstlerisches Niveau besaßen. Sie wurden<br />

nicht von den einheimischen Dirigenten<br />

Schornstein <strong>und</strong> Gläser geleitet, sonden vom<br />

Musikdirektor der Theatertruppe Derossi. Die<br />

Aufführung von Beethovens „Christus auf dem<br />

Ölberg“ am 1. Juni im Saal „Auf der Hardt“,<br />

bei dem auch auswärtige Musiker <strong>und</strong> Sänger<br />

mitwirkten, leitete der in der rheinischen Theatergeschichte<br />

nicht unbekannte Eschborn. Die<br />

Literatur macht über ihn sehr verschiedene Angaben.<br />

Da der Vorname einmal mit Karl<br />

38<br />

(Carl) 21 , dann mit Josef 22 angegeben wird,<br />

könnte man vermuten, es handele sich um zwei<br />

Personen. Viele Details stimmen aber überein,<br />

wie Aufenthaltsorte <strong>und</strong> Beruf der Ehefrau, so<br />

daß man eher eine Verwechslung des Vornamens<br />

vermutet. Anhand der Sterbeurk<strong>und</strong>e lassen<br />

sich aber die verwirrenden Angaben der<br />

verschiedenen Lexika klarstellen. 23 Joseph<br />

Eschborn wurde am 04.03.1800 nicht in Amorbach<br />

24 , sondern in Mainz geboren. Er hat also<br />

mit 22 Jahren das Elberfelder Konzert geleitet.<br />

Um 1828 verpflichtete er sich als Erster Violinist<br />

ans Theater Mannheim, heiratete hier die<br />

Sängerin Cizewsky, mit Künstlernamen Frassini.<br />

25 Für kurze Zeit dirigierte er im 1826 neuerbauten<br />

Theater Bonn am Vierecksplatz, <strong>und</strong> in<br />

Düsseldorf wurde seine Kantate „Die Würde<br />

der Frauen“ aufgeführt. 1830 gab er mit seiner<br />

Frau vor seiner Abfahrt zu seinem neuen<br />

Standort Frankfurt in Bonn ein Konzert im<br />

„Englischen Hof“. 26 Dann arbeitete er von<br />

1832–34 als Musikdirektor in Mannheim, verpflichtete<br />

sich anschließend bis 1842 in Köln<br />

<strong>und</strong> trat dann noch in Hamburg, Amsterdam,<br />

Aachen <strong>und</strong> Heidelberg auf. Er starb am 07.11.<br />

1881 in Coburg. 27 Eschborn hatte seine Musikerkarriere<br />

als Violinvirtuose begonnen <strong>und</strong><br />

machte sich dann als Dirigent <strong>und</strong> Komponist<br />

einen Namen. Er schrieb die Oper „Bastards<br />

oder das Stiergefecht“, Chöre <strong>und</strong> Lieder,<br />

Werke, die heute alle vergessen sind. 28 Lortzing<br />

stellte ihm in einem Brief an seinen Sängerkollegen<br />

Ludwig Schäfer ein gutes Zeugnis<br />

aus: Grüße doch die Madame Derossi vielmals<br />

von mir <strong>und</strong> meiner Frau, sowie Eschborns.<br />

Gelt? Eschborn ist ein anderer Kerl wie unser<br />

alter Nußknacker? 29 Der Name des Elberfelder<br />

Chordirigenten Johannes Schornstein ist eng<br />

mit den „Niederrheinischen Musikfesten“ verb<strong>und</strong>en,<br />

ein Festival, das u. a. von Mendelssohn<br />

<strong>und</strong> Robert Schumann geleitet wurde.<br />

Hier trafen sich Chöre <strong>und</strong> Musiker aus den<br />

Städten Aachen, Bonn, Köln, Düsseldorf <strong>und</strong><br />

Elberfeld, studierten die damals beliebten Oratorien<br />

von Händel, Haydn <strong>und</strong> Spohr ein <strong>und</strong><br />

machten das musikbegeisterte Rheinland in<br />

ganz Deutschland <strong>und</strong> den benachbarten Ländern<br />

bekannt. 30 Daß der junge Lortzing zusammen<br />

mit den professionellen Theatergesell-


schaften bei den Konzerten beteiligt war, wäre<br />

denkbar, läßt sich aber nicht nachweisen.<br />

Für seine Hymne wählte Lortzing einen<br />

Text von Friedrich von Matthison (1761–<br />

1831), 31 einem bei seinen Zeitgenossen sehr<br />

geschätzten Lyriker – Schiller lobte den<br />

„Wohllaut <strong>und</strong> die sanfte Schwermut seiner<br />

Verse“ – 32 <strong>und</strong> Theaterintendant des Königs<br />

von Württemberg, der ihm den Adel verlieh.<br />

Beethoven vertonte seine beliebte „Adelaide“,<br />

<strong>und</strong> auch Schubert benutze Texte von ihm. Der<br />

junge Lortzing, der auf der Bühne meist in<br />

Possen <strong>und</strong> flachen Lustspielen mitspielte,<br />

wagt sich hier an einen geistlichen Text der<br />

höheren Qualität, eine dreistrophige Hymne<br />

mit je vier alexandrinischen Langzeilen, 33 eine<br />

etwas sentimentale religiöse Naturlyrik, die<br />

dem hilflosen <strong>und</strong> ohnmächtigen Menschen<br />

Gottes Majestät <strong>und</strong> Gnade gegenüberstellt.<br />

Geistliche Chormusik erwartete <strong>und</strong> verlangte<br />

auch noch in den ersten Jahrzehnten des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts einen Komponisten, der die Kontrapunktformen<br />

sicher beherrschte, der ein Gespür<br />

für den Aufbau der Komposition mit einer<br />

gutdurchdachten Folge von Chören, Arien <strong>und</strong><br />

Orchesterteilen besaß, Qualitäten, die Lortzing<br />

bisher nie gezeigt hatte. Lortzing lernte die<br />

Kontrapunktregeln in Albrechtsbergers theoretischen<br />

Schriften 34 , <strong>und</strong> beim Kopieren der<br />

Partituren <strong>und</strong> Stimmen für seine Theatertruppe<br />

hatte er die Kompositionstechniken seiner<br />

großen Vorbilder kennengelernt, er wurde aber<br />

in seiner entscheidenden Lehrphase kaum intensiv<br />

von einem versierten <strong>und</strong> gebildeten<br />

Komponisten kontrolliert.<br />

Die Partitur der Hymne bewegt sich dann<br />

auch in statischen Akkordfolgen, nicht ohne<br />

melodiöse Reize <strong>und</strong> nur mit angedeuteten,<br />

aber nie konsequent durchgeführten polyphonen<br />

Einwürfen. Immerhin läßt sich ein auffälliger<br />

Fortschritt gegenüber den bisher abgelieferten<br />

Kompositionen konstatieren: eine besser<br />

durchgearbeitete Selbständigkeit der Orchesterstimmen,<br />

ein bewußterer Einsatz der Instrumentalfarben<br />

<strong>und</strong> – das ist für den späteren<br />

Lortzing charakteristisch – ein Wissen um dramatische<br />

Effekte <strong>und</strong> Überraschungen. Auch<br />

die harmonische Struktur ist vielschichtiger<br />

entwickelt. Öfter eingesetzte Modulationen,<br />

ein besserer Plan der Tonartenwahl <strong>und</strong> damit<br />

eine lebendigere Spannung schenken diesem<br />

Jugendwerk eine akzeptable Qualität. Seltenheitswert<br />

hat das Finale: Es wiederholt wörtlich<br />

den Eingangschor, also keine Verdichtung<br />

<strong>und</strong> Steigerung durch eine groß angelegte Fuge,<br />

wie es auch die klassischen Vorbilder kennen.<br />

Traute sich hier der junge Compositeur<br />

nicht? Oder stand er unter Zeitdruck?<br />

Schon der junge Lortzing komponierte<br />

nicht für die Schreibtischschublade. Er hatte<br />

immer Aufführungen seines jeweiligen Opus<br />

vor Augen <strong>und</strong> setzte alles daran, daß seine<br />

Werke auch publik wurden. Für die Hymne<br />

kennen wir einen direkten Anlaß nicht, so daß<br />

viele Biographen eine Uraufführung nicht<br />

nachweisen können 35 oder leugnen. 36 Lortzing<br />

hoffte vielleicht, daß einer der aktiven Musikvereine<br />

in Aachen, Bonn oder Düsseldorf sich<br />

der geistlichen Kantate annehmen würde, zumal<br />

die technischen Schwierigkeiten auch für<br />

Laien gut zu bewältigen waren. Vielleicht hat<br />

er auch an die Wuppertaler Chöre gedacht. In<br />

diesem Raum läßt sich keine Aufführung dokumentieren.<br />

Daß die Hymne aber bekannt<br />

war, zeigt eine spätere Aktennotiz im Münsterschen<br />

Stadtarchiv. 37 Die Stadtverwaltung, die<br />

öffentliche Konzerte genehmigen mußte, hatte<br />

Albert Lortzing die Uraufführung seines<br />

„Himmelfahrtsoratorium“ gestattet <strong>und</strong> wurde<br />

von der preußischen Regierung kritisiert:<br />

Ebensowenig waren Sie befugt, dem Schauspieler<br />

Lortzing ein Conzert zu gestatten, da<br />

derselbe als Musiker gar keinen Ruf <strong>und</strong> Werth<br />

hat. Diesen Vorwurf der bei den katholischen<br />

Münsteranern nicht gerade hochgeliebten protestantischen<br />

Preußen konterte der Bürgermeister<br />

mit der Bemerkung: Lortzing gab auch<br />

als Mitglied der hiesigen Bühne im vorigen<br />

Jahre mit Beyfall concert <strong>und</strong> selbst Componist<br />

einer Hymne <strong>und</strong> einer mit Beyfall aufgeführten<br />

Oper wegen konnte ich kaum abfelliges gegen<br />

seine Persönlichkeit <strong>und</strong> Kunst entgegensetzen.<br />

Man darf also davon ausgehen, daß die<br />

Hymne 1827/28 in Münster zum erstenmal erklang.<br />

Die hier angesprochene Oper „Ali<br />

Pascha von Janina“ feierte ihre Uraufführung<br />

am 1. Februar 1828 im Theater von Münster. 38<br />

Auch dieser erste Opernversuch, der 1823/24<br />

39


wahrscheinlich in Köln niedergeschrieben<br />

wurde, 39 fand zunächst keinen Veranstalter, obwohl<br />

Lortzing das Stück, das den in der zeitgenössischen<br />

Presse vielbeachteten Freiheitskampf<br />

der Griechen verherrlicht, einigen Kollegen<br />

für eigene Benefizaufführungen empfahl.<br />

40<br />

Direkt nach der Hymne brachte Lortzing in<br />

Elberfeld eine Bearbeitung einer Opernarie zu<br />

Papier: die 2. Arie „Es ist ein gar w<strong>und</strong>erlich,<br />

seltsames Ding“ des 2. Aktes aus der Oper<br />

„Carlo Floras“ von Ferdinand Fränzl (Text:<br />

Wilhelm Vogel). 41 Auf dem Autograph vermerkte<br />

er: Elberfeld den 13. Juli 1822, 42 versetzte<br />

die Frauenstimme in den Baß <strong>und</strong> hielt<br />

sich bei der Neuvertonung nur im Duktus an<br />

die Vorlage von Fränzl. Capelle vermutet, daß<br />

deshalb das Lied nicht in der Oper verwandt<br />

wurde, sondern als Hochzeitslied bestimmt<br />

war. 43 Daß Operarien aber für andere Stimmlagen<br />

transponiert wurden <strong>und</strong> auch Rollentausch<br />

eingeplant war, ist nicht unbekannt.<br />

Auch die Instrumentierung (Streicher, Flöte,<br />

Klarinetten, Fagott <strong>und</strong> Hörner) spricht für die<br />

Opernpraxis.<br />

Ins Jahr 1822 datiert man auch ein heute<br />

verlorengegangenes Scherzlied für Baßsolo<br />

<strong>und</strong> Orchester, dessen Dichter unbekannt ist:<br />

Cupido nahm sich einstens für<br />

doch auch einmal zu freyn.<br />

Er sprach zur Mutter: Sage mir<br />

wie schick ich mich darein,<br />

daß ich als ein gescheiter Mann<br />

in dieser Kunst bestehen kann.<br />

Die Partitur dieses Scherzliedes wurde<br />

1902 versteigert, war dem Lortzingforscher<br />

Kruse noch bekannt <strong>und</strong> ist dann verlorengegangen.<br />

44 In dasselbe Jahr verlegt Capelle noch<br />

die Komposition eines Liedes mit Gitarrenbegleitung<br />

„Der Kußhandel“ 45 auf einen Text von<br />

Langbein. 46 Lortzing hatte übrigens während<br />

seines Aufenthaltes in Breslau – er war damals<br />

11 Jahre – Gitarrenspielen bei Karl Töpfer gelernt.<br />

47 Das Autograph dieses Liedes liegt in<br />

der Nationalbibliothek Wien.<br />

Albert Lortzing war während seiner Elberfelder<br />

Zeit stark eingespannt in den Theaterbe-<br />

40<br />

trieb. Das anstrengende ewige Hin- <strong>und</strong> Herreisen<br />

zwischen Aachen, Bonn, Düsseldorf<br />

<strong>und</strong> Elberfeld <strong>und</strong> der zeitraubende Wechsel<br />

zwischen den Wohnquartieren, die bei den geringen<br />

Gagen, die man bekam, natürlich<br />

äußerst preiswert sein mußten, belasteten zusätzlich.<br />

In seinen rheinischen Jahren lernte<br />

der junge Schauspielsänger aber eine Menge<br />

klassischer Rollen. Er gehörte zwar nicht zu<br />

den ersten Kräften der Schauspielgesellschaft<br />

Derossi, aber er löste sich allmählich aus dem<br />

künstlerisch wenig anspruchsvollen Niveau<br />

seiner Eltern. Noch während seines Elberfelder<br />

Aufenthaltes hatte er nicht die Möglichkeit,<br />

die Wahl der Benefizstücke zu bestimmen. Er<br />

trat hier unter „Familie Lortzing“ auf <strong>und</strong> mußte<br />

bei flachen Possen <strong>und</strong> Lustspielen mitwirken.<br />

Schon die Titel in den Zeitungsanzeigen<br />

lassen Schlimmes befürchten: Roderich <strong>und</strong><br />

Cuneg<strong>und</strong>e oder Der Ermit vom Berge Parazzo<br />

oder: Die Windmühle auf der Westseiter oder<br />

Die lang verfolgte <strong>und</strong> zuletzt doch triumphierende<br />

Unschuld. Ein dramatischer Galimathias<br />

als Parodie aller Rettungsstücke. Vorher<br />

zum ersten Male: Die Damenhüte im Berliner<br />

Theater. Lokalposse in 1 Akt von Julius von<br />

Voß. 48 So kündigten die Eltern Lortzing am 16.<br />

Januar 1820 in der „Cölnischen Zeitung“ ihr<br />

Benefiz an, das in der ersten Hälfte des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts zu jedem Bühnenvertrag gehörte<br />

<strong>und</strong> einen nicht unwesentlichen Beitrag zur<br />

Lage der Künstler beisteuerte. In dieser Kölner<br />

Lortzing-Produktion waren gängige Opernmelodien<br />

von Mozart, Cherubini, Weigl <strong>und</strong><br />

anderen beliebten Komponisten eingeflochten.<br />

Auf ähnlicher Qualitätsstufe steht eine Eigenproduktion<br />

der Familie Lortzing, die für das<br />

Jahr 1822 in der Wuppertaler „Allgemeinen<br />

Zeitung“ gedruckt wird.<br />

Theater-Anzeige<br />

Freitag den 26. Juli.<br />

Zum Vortheil des Unterzeichneten.<br />

Zum Erstenmal.<br />

Pumpernickels Hochzeitstag.<br />

Fortsetzung des Rochus Pumpernickels.<br />

Ein musikalisches Quodlibet in drei Akten<br />

von Matheus Stegmeier;<br />

wozu die geehrten hiesigen <strong>und</strong>


enachbarten Theaterfre<strong>und</strong>e<br />

ergebenst einladen.<br />

Die Familie Lortzing<br />

Mitglieder hiesiger Bühne<br />

Da die Lortzings nicht zu den ersten Kräften<br />

der Derossi-Gesellschaft gehörten, konnten<br />

sie für ihre Benefizvorstellung keine Oper anbieten,<br />

wie das den großen Bühnenstars der damaligen<br />

Zeit möglich war. Sie mußten sich mit<br />

leichter Unterhaltungskost zufrieden geben,<br />

mit Stücken, wie sie beim Publikum beliebt<br />

waren <strong>und</strong> in denen man sie als Schauspieler<br />

auf der Bühne immer wieder erlebte. Schon<br />

der Zwang, möglichst viel Geld einzuspielen,<br />

führte zu solchen trivialen Possen wie „Rochus<br />

Pumpernickel“ von Matthäus Stegmayr, einem<br />

Hofschauspieler <strong>und</strong> Dichter in Wien, 49 dessen<br />

Sohn Ferdinand, einen anerkannten Kapellmeister<br />

<strong>und</strong> Komponisten, Lortzing später in<br />

Leipzig traf. 50<br />

Albert Lortzing hat in der Elberfelder Presse<br />

– sehen wir einmal von der erwähnten Benefizveranstaltung<br />

ab – keine Spuren hinterlassen.<br />

Im August erschien in der „Allgemeinen<br />

Zeitung“ ein Bericht über das Theaterleben, in<br />

dem die ganze Familie Lortzing übergangen<br />

wird. 51 Genannt wird als herausragende Kraft<br />

der Oper u. a. Gollmick, sicher Wilhelm Gollmick,<br />

52 ein Bruder des Tenors Friedrich Karl<br />

Gollmick, Vater des Lortzingfre<strong>und</strong>es Karl<br />

Gollmick, den der junge Lortzing in Straßburg<br />

kennengelernt hatte. Seine allerdings nicht<br />

sehr erfolgreiche Karriere hat auffällige Parallelen<br />

zu Lortzing: Er begann als Sänger <strong>und</strong><br />

Schauspieler <strong>und</strong> schrieb dann Opern.<br />

Am 27. Oktober 1822 erschien in der „Allgemeinen<br />

Zeitung“ eine kurze Anzeige: Die<br />

Räuber auf Maria Culm oder Der Schutz des<br />

Gnadenbildes. Schauspiel in 5 Akten von Ziegler.<br />

Wozu die hiesigen <strong>und</strong> benachbarten Theaterfre<strong>und</strong>e<br />

ergebenst einladet Rosine Ahles. Erwähnenswert<br />

ist hier nicht Dichter <strong>und</strong> Werk,<br />

sondern die Veranstalterin. Hinter der kleinen<br />

<strong>und</strong> bescheidenen Annonce verbirgt sich eine<br />

Benefizveranstaltung der Braut von Albert<br />

Lortzing. Rosina Regina Ahles <strong>und</strong> Lortzing<br />

hatten sich einige Jahre vorher in der Theater-<br />

gesellschaft Derossi getroffen. Wann <strong>und</strong> wo<br />

genau, ließ sich bisher nicht ausmachen. Lokalpatrioten<br />

siedeln die Romanze natürlich<br />

gerne in ihrer Heimatstadt an. Es könnte Köln,<br />

Aachen oder Düsseldorf in frage kommen. Elberfeld<br />

scheidet aus, weil man sich seit etwa<br />

1818 kannte, Elberfeld aber frühestens 1821<br />

von Derossi bespielt wurde. Rosina Ahles wurde<br />

am 8. Dezember 1799 in Bietigheim bei<br />

Stuttgart geboren. Ihren Vater, einen Weingärtner<br />

<strong>und</strong> Totengräber, verlor sie mit 5 Jahren,<br />

über die Mutter können wir nichts aussagen,<br />

die kleine Rosina wuchs in einem Waisenhaus<br />

auf. Wo sie als Schauspielerin anfing, wo sie<br />

vor ihren rheinischen Jahren engagiert war,<br />

liegt im Dunkeln. Die Hochzeit wurde erst am<br />

30. Januar 1824 gefeiert. Die Theaterfre<strong>und</strong>e<br />

lasen am 23. Januar in der „Kölnischen Zeitung“:<br />

Donnerstag, den 29. dieses, zum Vorteil<br />

der Unterzeichneten: van Dycks Landleben,<br />

malerisches Schauspiel in 3 Akten, nebst einem<br />

Vorspiel von Friedrich Kind. Da die Direktion<br />

uns heute diese Vorstellung zum Vorteil unserer<br />

nahen ehelichen Verbindung gütigst bewilligt<br />

hat, so nehmen wir uns die Freiheit, ein verehrungswürdiges<br />

Publikum hierzu ganz ergebenst<br />

einzuladen. 53 Daß Lortzing für diese Vorstellung,<br />

dessen Einnahmen das junge Paar<br />

sicher gut gebrauchen konnte, auf Musik verzichtete,<br />

mag zunächst überraschen. Wenn<br />

man aber weiß, daß die musikalischen Fähigkeiten<br />

seiner Frau begrenzt waren, kann man<br />

seine Entscheidung schon verstehen. So mußte<br />

bei einer Aufführung von Wolffs „Prezosa“ das<br />

Lied, das eigentlich Rosina Lortzing singen<br />

sollte, von einer Choristin übernommen werden.<br />

54 Immerhin wählte das Brautpaar ein<br />

bekanntes Schauspiel eines Autors, der als<br />

Librettist von Carl Maria von Webers<br />

„Freischütz“ <strong>und</strong> Kreutzers „Nachtlager von<br />

Granada“ literarische Anerkennung gef<strong>und</strong>en<br />

hatte. 55 Rosina Ahles war bei Derossi als erste<br />

Liebhaberin verpflichtet, hatte beim Publikum<br />

einen großen Erfolg <strong>und</strong> garantierte gute Einnahmen<br />

für die Gesellschaft. In Köln gründete<br />

in diesen Jahren Ringelhardt 56 eine eigene<br />

Truppe, in die Albert Lortzing mit seinen Eltern<br />

wechselte. Ringelhardt versuchte, auch<br />

Rosina für sich zu gewinnen. Aber Derossi, der<br />

41


in großen geschäftlichen Schwierigkeiten<br />

steckte, wollte natürlich nicht auf seine beste<br />

Schauspielerin verzichten <strong>und</strong> versuchte zuletzt<br />

mit hinterlistigen Mitteln, die Verlobten<br />

zu trennen. Er setzte das Gerücht in die Welt,<br />

daß der Bräutigam, in der Presse ein „Liebling<br />

der Damen“, es wohl mit der Treue nicht so genau<br />

nehme. Empört ließen nun Ringelhardt<br />

<strong>und</strong> Lortzing alle Bedenken fallen, <strong>und</strong> es kam<br />

in Elberfeld zu einer theaterreifen Entführungsszene.<br />

Als Rosina die Wuppertaler<br />

Bühne betreten wollte, wurde sie gekidnappt<br />

<strong>und</strong> in die Kutsche gebracht, wo Albert Lortzing<br />

auf sie sehnlichst wartete. Ringelhardt<br />

hatte an der Kasse Direktor Derossi während<br />

dieses Brautraubes erfolgreich abgelenkt. 57<br />

Welchen Erfolg Albert Lortzing bei den Elberfelder<br />

Theaterbesuchern als Sänger <strong>und</strong><br />

Schauspieler ernten konnte, läßt sich wegen<br />

fehlender Kritiken <strong>und</strong> Aussagen nicht dokumentieren.<br />

Zeitungsberichte kennen wir aus<br />

den ersten Jahren nach seinem Aufenthalt in<br />

Elberfeld. Seine Auftritte wurden nicht immer<br />

sehr wohlwollend beurteilt. Öfter wird sein<br />

mangelhaftes Stimmvolumen erwähnt. Herrn<br />

Lortzings d. J. Fleiß als Pedrillo (Mozarts Entführung)<br />

darf nicht übersehen werden, wenn<br />

auch jeder zugeben muß, daß seine Stimme<br />

nicht Kraft genug besitzt, diese Rolle durchzuführen.<br />

Und zu einer bekannten anderen Mozartrolle:<br />

Seine proteusähnliche Natur verdiente<br />

dankbare Anerkennung, wenngleich seine<br />

Leistung als Papageno nicht befriedigte. 58<br />

Unerträglich für Lortzing wurde ein Verriß<br />

im „Dresdener Merkur“ vom Juli 1826: Herr<br />

Lortzing, zweiter Liebhaber <strong>und</strong> Tenorist, ein<br />

junger Zierbengel mit einer Kastratenstimme,<br />

die keiner Modulation fähig ist, einem Milchgesicht<br />

– <strong>und</strong> Liebling der Damen. Auch in der<br />

Kölner Lokalpresse gab es für Lortzing unerfreuliche<br />

Besprechungen. In der „Rheinischen<br />

Flora“ attestierte man im Namen des Kölner<br />

<strong>und</strong> Aachener Publikums dem fleißigen, braven<br />

<strong>und</strong> talentvollen Herrn Lortzing zwar, daß<br />

diese kränkende Kritik den finsteren Gründen<br />

der Boulevardpresse entsprungen sei, aber<br />

Lortzing veröffentliche am 10. August 1826 in<br />

der „Rheinischen Flora“ eine temperamentvolle,<br />

wortgewandte <strong>und</strong> phantasievolle Antwort:<br />

42<br />

In Nro 92 des Kölnischen Unterhaltungsblattes<br />

fordert in einem Theaterbericht aus Aachen irgend<br />

ein arrogantes Gassengenie, das sich zum<br />

Kunstrichter aufwirft, die Erlaubniß, mir an<br />

den Puls zu fühlen. Da aber zum Pulsfühlen die<br />

Hand gehört, so verweigere ich die nachgesuchte<br />

Erlaubniß aus dem einfachen Gr<strong>und</strong>e,<br />

weil ich meine Hand nicht jedem namenlosen<br />

Gassenjungen reiche <strong>und</strong> sie von der Antastung<br />

verunreinigen lassen will. Zuerst zeige er,<br />

der unberufene kritische Wegelagerer, daß er<br />

einen Namen habe, der nicht etwa schon gebrandmarkt<br />

ist, wenn er die Hand eines ehrlichen<br />

Mannes, sei es auch nur zum Pulsfühlen,<br />

fassen will. Aachen. Albert Gustav Lortzing.<br />

Mitglied der hiesigen Bühne. Besser wurden<br />

seine Schauspielerischen Qualitäten beurteilt:<br />

H(err) L(ortzing) d(er) J(üngere) wurde für<br />

sein herrliches Spiel (in Schillers Don Carlos)<br />

mit der Ehre des einstimmigen Hervorrufens<br />

belohnt. 59 Daß Lortzing sich in seinen letzten<br />

Jahren im Rheinland als Schauspieler durchgesetzt<br />

hatte, beweist u. a. ein Abschiedsgedicht,<br />

das am 30. Oktober 1826 in Köln von H.<br />

Chorus aus Aachen veröffentlicht wurde:<br />

Du ziehest weg, o Fre<strong>und</strong>,<br />

<strong>und</strong> auch zugleich mit dir<br />

Dein hoher Künstlergeist,<br />

der uns so oft ergötzte.<br />

Acht Jahre konnte Albert Lortzing unter<br />

der Leitung eines erfahrenen Schauspielers <strong>und</strong><br />

Regisseurs seine Bühnenlaufbahn vorbereiten<br />

<strong>und</strong> erwähnte das auch in seiner Kurzbiographie:<br />

Ungefähr im Jahr 1820 (richtig wäre<br />

1815/16) betrat ich die Bühne als jugendlicher<br />

Liebhaber unter Direktion des Herrn Derossi<br />

in Düsseldorf, Aachen <strong>und</strong> Elberfeld. 60 Bei Derossi<br />

scheint Lortzing hauptsächlich als Schauspieler<br />

eingesetzt worden zu sein. Erst unter<br />

Ringelhardt übernahm er größere Gesangspartien.<br />

Als Lortzing für kurze Zeit in Elberfeld<br />

wohnte, stand er mit seinen 21 Jahren am Anfang<br />

seiner Musikerlaufbahn. Daß er sich zu<br />

einem großen Komponisten der deutschen<br />

Operngeschichte entwickeln würde, daß er<br />

zum meistgespielten Opernautor nach Mozart<br />

aufsteigen würde, ahnte damals in Wuppertal


wohl niemand. Man hätte ihn dann sicher nicht<br />

in der Presse so übergangen. Daß die Erfolge,<br />

die Lortzing noch miterleben konnte, auch<br />

Jahrh<strong>und</strong>erte überdauern würden, bezweifelten<br />

einige zeitgenössische Kritiker. Der bekannte<br />

Berliner Musikrezensent Friedrich Rellstab<br />

meinte, daß Lortzing als einziger deutscher<br />

Komponist das Gebiet der komischen Oper betreten,<br />

sich aber doch nicht über diejenige Stufe<br />

erhoben habe, die eine Zeitlang in der Gegenwart<br />

ihre Giltigkeit hat, ein Urteil, das die<br />

Geschichte korrigiert hat. Denn trotz der heute<br />

noch nicht beendeten Debatte besonders unter<br />

den Operndirigenten, ob man die Musik von<br />

„Zar <strong>und</strong> Zimmermann“ <strong>und</strong> vom „Waffenschmied“<br />

in die Rubrik „Unterhaltungs-“ oder<br />

„Ernste Musik“ einordnen muß, konnte der<br />

Komponist noch zu seinen Lebzeiten den Erfolgslauf<br />

seiner besten Opern erleben. In dem<br />

penibel geführten Einnahmebuch hat Lortzing<br />

zwischen 1837 <strong>und</strong> 1841 über 70 Aufführungen<br />

des „Zar <strong>und</strong> Zimmermann“ an deutschsprachigen<br />

Bühnen eintragen können. 61 Die<br />

Position, die noch heute Lortzing im deutschen<br />

Theaterleben einnimmt, hat der große Komponist<br />

Hans Pfitzner in einem treffenden Gedicht<br />

liebevoll beschrieben:<br />

Ach Du, der tausend noch heut’ erbaut<br />

Doch nie im Leben saß bei vollen Töpfen,<br />

Geringgeschätzt von aufgeblas’nen<br />

Tröpfen,<br />

Wie lachst du über sie so froh <strong>und</strong> laut!<br />

Ach, sag’ es doch den allzuweisen Leuten<br />

Mit ihren großen Gesten, hehren Stoffen,<br />

Daß dies nicht Schlüssel zum<br />

Parnasse sind. 62<br />

Anmerkungen:<br />

1 August von der Heydt (1801–1874), 1848–1869<br />

preußischer Handelsminister sowie 1862 <strong>und</strong><br />

1866–1869 zugleich preußischer Handelsminister.<br />

– Louis Benjamin Simons (1803–1870) war<br />

von 1849–1860 preußischer Justizminister.<br />

2 Lodemann, Jürgen: Lortzing, Göttingen 2000,<br />

S. 612.<br />

3 Schirmag, Heinz: Albert Lortzing, Berlin 1982,<br />

S. 11–13.<br />

4 Wittmann, Hermann: Lortzing, Leipzig o. J.,<br />

S. 22.<br />

5 Gottlob Benedikt Bierey (1772–1840) war<br />

Theaterkapellmeister mehrerer angesehener<br />

Theatergruppen.<br />

6 Kruse, Georg Richard (Hgb.): Albert Lortzing.<br />

Gesammelte Briefe. 2. Auflage Regensburg<br />

1913, S. XI (Wird zitiert Kruse Briefe).<br />

7 Karl Friedrich Rungenhagen wurde 1778 in<br />

Berlin geboren. Er starb im selben Jahr wie<br />

Lortzing, wurde Zelters Nachfolger als erster<br />

Dirigent der berühmten Berliner Singakademie<br />

<strong>und</strong> gehörte im frühen 19. Jahrh<strong>und</strong>ert neben<br />

dem jungen Felix Mendelssohn zu den bedeutendsten<br />

Musikern <strong>und</strong> Komponisten Berlins.<br />

8 Worbs, Christoph: Albert Lortzing, rororo 1979,<br />

S. 9.<br />

9 Hoffmann, Hans: Albert Lortzing. Libretto<br />

eines Komponisten-Lebens, Düsseldorf 1987,<br />

S. 31.<br />

10 Karl Gollmick (1796–1866) studierte in Straßburg<br />

Theologie <strong>und</strong> Musik, ging dann ans Theater<br />

nach Frankfurt. Er betätigte sich als Librettist,<br />

Musikschriftsteller, Kapellmeister <strong>und</strong><br />

Komponist.<br />

11 Schirmag a. a. O., S. 19. Vgl. den Briefwechsel<br />

Lortzing-Gollmick in: Kruse a.a.O.<br />

12 Josef Derossi (1765–1841) stammte aus einer<br />

alten italienischen Familie. Der Vater war<br />

Oberst in piemontischen Diensten. Josef Derossi<br />

studierte zunächst Forstwirtschaft, ging aber<br />

1786 zur Bühne als Schauspieler, trat in Freiburg,<br />

Baden-Baden <strong>und</strong> Karlsruhe auf. Dann arbeitete<br />

er bei Schikaneder in Wien <strong>und</strong> lebte anschließend<br />

12 Jahre in Innsbruck. Er kämpfte<br />

mit Andreas Hofer in Tirol, nahm dann seinen<br />

Schauspielerberuf wieder auf <strong>und</strong> kam über<br />

Mainz 1815 nach Düsseldorf, wo er 1816 von<br />

Karoline Müller die Direktion der Düsseldorfer<br />

Bühne übernahm. Während Immermann das<br />

Düsseldorfer Theater leitete (1834–1837), zog<br />

er sich zurück <strong>und</strong> trat dann später seinen Direktorenposten<br />

wieder an. Anfang 1841 setzte er<br />

sich zur Ruhe. Reden-Esbeck, Friedrich Johann<br />

von: Deutsches Bühnenlexikon 1879. Zitiert<br />

nach: Deutsches Biographisches Archiv I.<br />

13 Man nannte die Derossi-Gesellschaft auch<br />

ABC-Truppe nach den Spielorten Aachen, Bonn<br />

<strong>und</strong> Cöln. Lodemann a.a.O., S. 43 deutet B als<br />

Abkürzung für Barmen. Dort hat Derossi aber<br />

nicht gespielt.<br />

14 Hoffmann a.a.O., S. 43f.<br />

15 Faksimile des Theaterzettels bei Schirmag<br />

a.a.O., S. 22.<br />

43


16 Capelle, Irmlind: Chronologisch-thematisches<br />

Verzeichnis der Werke von Gustav Albert Lortzing,<br />

Köln 1994, S. 18.<br />

17 Dippel, Gerhardt: Albert Lortzing, Berlin 1951,<br />

S. 12.<br />

18 Capelle a.a.O., S. 21.<br />

19 Siehe Anhang.<br />

20 MGG (Musik in Geschichte <strong>und</strong> Gegenwart)<br />

Sachteil 9 Kassel 1998, Sp. 2081.<br />

21 Musikalisches Conservations-Lexikon Bd. 3,<br />

Berlin 1873, S. 420; MGG BD !6, Kassel 1974,<br />

Sp. 144; Conservations-Lexikon der Tonkunst,<br />

Verlag Tonger Köln o.J., S. 75.<br />

22 Kruse Briefe 287; Walterscheid, Josef: Das Bonner<br />

Theater im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert, Emsdetten,<br />

S. 23. Fétis, F.J.: Biographie universelle des musiciens,<br />

Paris 1878, S. 155, gibt keinen Vornamen<br />

an.<br />

23 Für bereitwillige Auskunft <strong>und</strong> Hilfe dankt der<br />

Verfasser Herrn Bürgermeister Neuser <strong>und</strong><br />

Herrn Kunz von der Stadtverwaltung Amorbach.<br />

24 Walterscheid a.a.O., S. 23; Conservations-Lexikon<br />

der Tonkunst a.a.O., S. 75 gibt 1814 als Geburtsjahr<br />

an, ohne den Geburtsort zu nennen.<br />

25 Walterscheid a.a.O., S. 23 heißt sie Ciszerweski.<br />

26 Walterscheid a.a.O., S. 20.<br />

27 Sterbeurk<strong>und</strong>e Nr. 269 Standesamt Coburg: Coburg,<br />

am 7. November 1881. Vor dem unterzeichneten<br />

Standesbeamten erschien heute, der<br />

Persönlichkeit nach bekannt Haushofmeister Johann<br />

Köppler, wohnhaft zu Coburg, Villa<br />

Ernsthöhe 2 <strong>und</strong> zeigte an, daß Capellmeister a.<br />

D. Joseph Eschborn 81 Jahre 8 Monate alt, katholischer<br />

Religion, wohnhaft zu Coburg, ebenfalls<br />

Ernsthöhe 2, geboren zu Mainz, am 4.<br />

März 1800, verheiratet mit der hier verstorbenen<br />

Maria Angelica, gen. Nina, geborene Cizewsky,<br />

Sohn des Oberamtmanns Johann Eschborn<br />

aus Amorbach <strong>und</strong> dessen Ehefrau Katharina<br />

geborenen Schwank, zu Coburg, am siebten<br />

November des Jahres tausendachth<strong>und</strong>ertachtzig<br />

<strong>und</strong> eins – morgens um einhalbein Uhr verstorben<br />

sei. Die Todesanzeige erschien am<br />

8.11.1881 in der „Coburger Zeitung“: Fre<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> Bekannten die Trauernachricht von dem<br />

heute Nacht nach längerem Leiden erfolgten<br />

Hinscheiden unseres geliebten Vaters, Goßvaters<br />

<strong>und</strong> Schwagers Herrn Josef Eschborn. Um<br />

stilles Beileid bittet im Namen der Hinterbliebenen<br />

Natalie von Grünhof. Die Beerdigung findet<br />

Mittwoch Nachmittag um 3 Uhr vom Leichenhaus<br />

aus statt. (Fre<strong>und</strong>liche Auskunft von Herrn<br />

H. J. Baier, Stadtarchiv Coburg).<br />

44<br />

28 Der Sohn Karl (nicht „Ernst“) erhielt am Konservatorium<br />

in Paris einen Kompositionspreis.<br />

Er starb schon mit 18 Jahren. Zwei Töchter wurden<br />

Sängerinnen. Die ältere Nina (1828–1910)<br />

war mit Hauptmann Gotthelf von Könneritz vermählt,<br />

der 1866 im Kriege fiel. Die jüngere Natalie<br />

(1834–1907) studierte in Florenz <strong>und</strong> Paris<br />

bei Rossini, nahm den Künstlernamen Frassini<br />

an, trat u. a. in Bonn auf <strong>und</strong> heiratete 1860 den<br />

Herzog Ernst von Württemberg, nachdem sie<br />

zur Frau von Grünhof geadelt worden war. Nach<br />

dem Tode des Herzogs lebte sie auf der<br />

Ernsthöhe in Coburg (nicht Koblenz), <strong>und</strong> nahm<br />

hier ihre Eltern auf. Die Mutter starb 1874, der<br />

Vater am 7.11.1881. Walterscheid a.a.O., S. 23<br />

gibt einige falsche Daten an.<br />

29 Kruse Briefe S. 2. Mit dem „Nußknacker“ ist<br />

Edm<strong>und</strong> von Weber gemeint, der Halbbruder<br />

von Carl Maria. Er wurde von Haydn ausgebildet<br />

<strong>und</strong> war u. a. Kapellmeister bei Derossi. Der<br />

Freischützkomponist nannte ihn etwas abfällig<br />

„einen braven Komponisten <strong>und</strong> routinierten<br />

Kapellmeister“. Riemann, Hugo: Musiklexikon<br />

7. Aufl., S. 1530. In einer Kritik der Rheinischen<br />

Flora“ heißt es: ... auch wurde es (das Orchester)<br />

von dem der Gesellschaft attachieren<br />

Musikdirektor, Herrn von Weber, älterem Bruder<br />

des Komponisten, träge <strong>und</strong> schläfrig geleitet.<br />

Hoffmann a.a.O., S. 59.<br />

30 In der Allgemeinen Zeitung wurde 1822 auf das<br />

Niederrheinische Musikfest am 26. <strong>und</strong> 27. Mai<br />

im ehemaligen Rittersaal des Schlosses in Düsseldorf<br />

hingewiesen. Programm: 1. Tag. Die Befreiung<br />

von Jerusalem. Oratorium. Text von<br />

Heinrich <strong>und</strong> Matthäus von Collin. Musik Maximilian<br />

Stadler. 2. Tag. 4. Sinfonie B-Dur Beethoven.<br />

Hymne In seiner Ordnung schafft der Herr.<br />

Text Friedrich Rochlitz. Musik C. M. von Weber.<br />

Ouverture Zauberflöte Mozart. Kampf <strong>und</strong> Sieg.<br />

Kantate zur Feier der Schlacht bei Waterloo <strong>und</strong><br />

Belle-Aliance. Text Wohlbrück. Musik C-M-von<br />

Weber. Im Schloßsaal konnten 400 Musiker auftreten.<br />

Maximilian Stadler (1748–1833) war ein<br />

enger Fre<strong>und</strong> von Haydn <strong>und</strong> Mozart, Abt von<br />

Kremsmünster <strong>und</strong> fleißiger Kirchenkomponist.<br />

31 Blindow, Martin: Albert Lortzings geistliche<br />

Chorwerke, in: Der Kirchenmusiker 1992, H. 5,<br />

S. 166ff.<br />

32 Lexikon der Weltliteratur Hgb.: Gero von Wilpert,<br />

2. Aufl., Bd. 1, S. 1068.<br />

33 Lodemann a.a.O., S. 56.<br />

34 Schirmag a.a.O., S. 20.<br />

35 Capelle a.a.O., S. 30.<br />

36 Lodemann a.a.O., S. 57.


37 Stadtarchiv Münster, Stadtregistr., Fach 151,<br />

Nr. 3.<br />

38 Kruse, Georg Richard.: Lortzings Erstlingsoper.<br />

Zur Erinnerung an die Uraufführung von Ali<br />

Pascha vor 100 Jahren, in: Der Friedenssaal 2<br />

(1928), H. 2, S. 216ff. Schroeder, Klaus-H.: Albert<br />

Lortzings erste Oper: Ali Pascha von Janina,<br />

in: Beiträge zur Südosteuropa-Forschung,<br />

München 1966, S. 168ff.<br />

39 Capelle a.a.O., S. 28.<br />

40 Am 21. August 1826 schrieb er aus Aachen an<br />

den Schauspieler <strong>und</strong> Sänger Ludwig Schäfer:<br />

Er (Philipp Reger) gibt zu seinem Hochzeits-Benefiz<br />

meine Oper, welche ihm, glaube ich, des<br />

imposanten Namens halber, eine gute Einnahme<br />

machen wird. Sollte die Aufführung mitBeifall<br />

aufgenommen werden, welches ich dir unverzüglich<br />

melde, so steht dir meine Oper ebenfalls<br />

zu Dienst, falls du noch kein Stück gewählt hättest.<br />

Kruse Briefe S. 1. Dieses Hochzeitsbenefiz<br />

fand aber nicht statt.<br />

41 Ferdinand Fränzl (1770–1833), Violinschüler<br />

seines Vaters, wurde international bekannt als<br />

Violinvirtuose, kam über Italien nach München<br />

<strong>und</strong> als Musikdirektor an die Frankfurter Oper.<br />

Nach einer Rußlandreise avancierte er zum Direktor<br />

der Deutschen Oper in München. Er<br />

schrieb Violinkonzerte, Kammermusik, Orchesterwerke<br />

<strong>und</strong> mehrere Opern.<br />

42 Capelle a.a.O., S. 32.<br />

43 Capelle a.a.O., S. 32.<br />

44 Kruse, Georg Richard: Ein unveröffentlichtes<br />

Scherzlied Lortzings, in: Die Musik 29 (1936),<br />

H. 5.<br />

45 Capelle a.a.O., S. 33.<br />

46 August Friedrich Ernst Langbein (1757–1835)<br />

Modeschriftsteller von Schwänken, Unterhaltungsromanen<br />

<strong>und</strong> Salongedichten. Zensor für<br />

Belletristik in Berlin.<br />

47 Wittmann, Hermann: Lortzing. Musiker-Biographien.<br />

Erster Band, Reclam Leipzig o.J.,<br />

S. 23.<br />

48 Julius von Voß (1768–1832) mußte als preußischer<br />

Leutnant seinen Abschied nehmen <strong>und</strong><br />

lebte dann als freier Schriftsteller meistens in<br />

Berlin. von seinen Werken (Gedichte <strong>und</strong> Romane)<br />

haben seine kleinbürgerlichen Lustspiele<br />

zwar keinen literarischen, aber einen kulturhistorischen<br />

Wert für das zeitgenössische Berliner<br />

Leben.<br />

49 Riemann a.a.O., S. 1353.<br />

50 Ferdinand Stegmayr wird von Lortzing schon<br />

1833 in Detmold erwähnt. Kruse a.a.O., S. 41.<br />

51 17. August. Ob der Verfasser, ein Leutnant E.<br />

Simons, dessen Prolog „Germania’s Schmach,<br />

Erwachen <strong>und</strong> Befreiung“ am 18. Oktober 1822<br />

auf dem Elberfelder Theaterprogramm stand,<br />

zur Elberfelder Fabrikantenfamilie Simons<br />

gehört, konnte noch nicht ermittelt werden.<br />

52 K. J. Kutsch/Leo Riemens: Großes Sängerlexikon,<br />

3. Auflage, Bd. 2, 1997.<br />

53 Hoffmann a.a.O., S. 48.<br />

54 Fritz a.a.O., S. 164. Das Große Sängerlexikon<br />

a.a.O., Bd. 3, S. 2122 behauptet, daß sie auf rheinischen<br />

Bühnen als Sängerin aufgetreten sei,<br />

was den Quellen widerspricht. Rosina gehörte<br />

nur zum Schauspielpersonal. Vgl. Anm. 56.<br />

55 Lortzing konnte 1822 in der Wuppertaler „Provinzial-Zeitung“<br />

lesen: Februar. Vermischte<br />

<strong>Nachrichten</strong>. Große Sensation macht jetzt auf<br />

den Bühnen zu Dresden <strong>und</strong> Berlin eine von dem<br />

Dresdener Dichter Fr. Kind gedichtete <strong>und</strong> von<br />

dem Kapellmeister Maria v. Weber in Musik gesetzte<br />

Oper. Der Freischütz. Zu Berlin wurde<br />

diese neue Oper, nach einem öffentlichen Blatte,<br />

fast schon 30 Mal, kurz nacheinander gegeben,<br />

umd immer war das Haus gedrängt voll. Zu<br />

Dresden wurde vor einiger Zeit die Hofbühne<br />

mit dieser Oper, unter der eigenen Direktion des<br />

berühmten Komponisten, eröffnet. Der Enthusiasmus<br />

des überfüllten Hauses durchbrach alle<br />

Schranken der Mäßigung, die sonst zu Dresden<br />

an der Tagesordnung ist. Ein bekränzter Lorbeerbaum,<br />

mit Gedichten behangen, wurde in<br />

dem Zwischenakte ins Orchester gebracht <strong>und</strong><br />

neben der Stelle, wo Weber dirigierte, aufgestellt.<br />

56 Friedrich Sebald Ringelhardt (1785–1855) begann<br />

als Schauspieler <strong>und</strong> entwickelte sich zu<br />

einem der angesehensten Theaterdirektoren in<br />

Deutschland. 1824 gehörten zu seinem Opernpersonal:<br />

Mutter Lortzing als komische Alte,<br />

Mütterrollen, Albert Lortzing für zweite Tenorpartie(n),<br />

naive Rollen <strong>und</strong> zum Schauspiel Albert<br />

Lortzings Frau als erste Liebhaberin, naive<br />

Rollen, Mutter Lortzing als komische Mutter,<br />

zänkische Alte <strong>und</strong> Albert Lortzing als jugendliche(r)<br />

<strong>und</strong> 2. Liebhaber. Hoffmann a.a.O., S. 55.<br />

57 Diese jedem Biographen willkommene Geschichte<br />

wird öfter erzählt. Zuletzt von Lodemann<br />

a.a.O., S. 50.<br />

58 Fritz a.a.O., S. 163.<br />

59 Fritz a.a.O., S. 162.<br />

60 Kruse a.a.O., S. XI.<br />

61 Hoffmann a.a.O., S. 373f.<br />

62 Pfitzner, Hans: Gesammelte Schriften II, Augsburg<br />

1926. Zitiert nach Worbs a.a.O., S. 141.<br />

45


Gerhard Deimling<br />

150 Jahre Elberfelder System – Ein Nachruf 1<br />

Vor 150 Jahren beschloss der Elberfelder<br />

Gemeinderat die Neue Armenordnung, 2 die die<br />

bis dahin gültigen Armenordnungen ablöste.<br />

Unter der Bezeichnung „Elberfelder System“<br />

ging die darauf gegründete Armenpflegepraxis<br />

in die einschlägige sozialpolitische Diskussion<br />

des 19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>erts ein. Es wurde auf<br />

Initiative des Gemeinderats geschaffen, von der<br />

Sozialbehörde implementiert <strong>und</strong> verwaltungsmäßig<br />

begleitet <strong>und</strong> in seiner praktischen<br />

Arbeit ausschließlich von freiwillig <strong>und</strong> unentgeltlich<br />

tätigen Personen mit Leben erfüllt.<br />

Kerngedanke des Systems war die durch die<br />

Preußische Gemeindeordnung legitimierte<br />

bürgerschaftliche Mitwirkung an der gemeindlichen<br />

Selbstverwaltung.<br />

Die Neue Armenordnung wurde Vorbild für<br />

eine ganzheitliche, individualisierende <strong>und</strong><br />

ortsbezogene Hilfe- <strong>und</strong> Beratungspraxis für<br />

Menschen, die unverschuldet in soziale <strong>und</strong><br />

wirtschaftliche Not geraten waren. Zugleich<br />

verfolgte sie den kommunalpolitischen Zweck,<br />

für „das Beste der Gemeinde zu sorgen“ <strong>und</strong><br />

eine Verschwendung der von den Bürgern aufgebrachten<br />

Mittel aus der Armensteuer zu verhindern.<br />

Ein moderner Gedanke des Elberfelder<br />

Systems bestand in dem Bestreben, Hilfe<br />

zur Selbsthilfe zu leisten, indem es arbeitsfähige<br />

Hilfesuchende dabei unterstützte, einen Arbeitsplatz<br />

zu finden. Außer ihrer sozialkaritativen<br />

<strong>und</strong> wirtschaftlichen Hilfe übernahm sie<br />

Aufgaben, die später die Arbeitsverwaltungen<br />

wahrnahmen.<br />

Internationale Ausbreitung<br />

des Elberfelder Systems<br />

Die Neue Armenordnung fand in der zweiten<br />

Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts ein rasch wachsendes<br />

Interesse, zunächst in Preußen, in anderen<br />

deutschen Partikularstaaten sowie im Ausland.<br />

3 Innerhalb von wenigen Jahrzehnten wur-<br />

46<br />

de sie in r<strong>und</strong> 170 deutschen Städten eingeführt.<br />

Die meisten Großstädte der Niederlande,<br />

Belgiens, der Schweiz, Russlands <strong>und</strong> Österreichs<br />

4 übernahmen das Elberfelder System in<br />

seinen wesentlichen Gr<strong>und</strong>zügen bis 1890. 5<br />

Auf den Weltausstellungen in Paris (1900) <strong>und</strong><br />

in St. Louis (1904) war es Gegenstand nationaler<br />

<strong>und</strong> internationaler sozialpolitischer Fachdiskussionen.<br />

In England stand es Pate beim<br />

Aufbau der Charity Organization Society. 6 In<br />

den USA 7 wurde um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende die<br />

Möglichkeit seiner Übertragung auf die spezifischen<br />

sozioökonomischen <strong>und</strong> ethnischen<br />

Verhältnisse der nordamerikanischen Großstädte<br />

diskutiert <strong>und</strong> eine Variante des Elberfelder<br />

Systems in Gestalt der „Community Organization<br />

Societies“ geschaffen. Nach dem<br />

Zweiten Weltkrieg wurde es unter der Bezeichnung<br />

„Soziale Gemeinwesenarbeit“ nach<br />

Deutschland reimportiert. 8 Gegen Ende des<br />

Ersten Weltkrieges <strong>und</strong> während der Meiji-Ära<br />

gelangte das Elberfelder System nach Okoyama<br />

<strong>und</strong> Osaka. 9 An diesen für die japanische<br />

Sozialpolitik bedeutsamen Ideentransfer erinnert<br />

eine kleine deutschsprachige Festschrift<br />

anlässlich des sechzigjährigen Bestehens der<br />

japanischen Vereinigung der Community Volunteers.<br />

10<br />

Organisation <strong>und</strong> Rechtliche Gr<strong>und</strong>lagen<br />

Das Elberfelder System stellt eine anspruchsvolle<br />

Form des Ehrenamtes dar, das im<br />

Gegensatz zu den heute üblichen Organisationsformen<br />

weder auf kirchen- noch auf vereins-,<br />

sondern auf kommunalrechtlicher Basis<br />

beruht. Mit ihm wurde eine mediatisierende<br />

Instanz geschaffen, die eine Brücke zwischen<br />

der Armenverwaltung <strong>und</strong> den einzelnen Hilfeempfängern<br />

schlug. Das Amt der Armenpfleger<br />

<strong>und</strong> Bezirksvorsteher gehörte seit seiner<br />

Einführung zu den wichtigsten bürgerlichen


Ehrenämtern der Gemeinde. 11 Rechtsgr<strong>und</strong>lage<br />

für die Institutionalisierung des Elberfelder<br />

Systems war die Preußische Gemeindeordnung<br />

vom 11.3.1850, derzufolge „sowohl zur dauernden<br />

Verwaltung einzelner Geschäftszweige,<br />

als zur Erledigung einzelner bestimmter Angelegenheiten<br />

<strong>und</strong> Aufträge (...) auf Beschluß des<br />

Gemeinderathes besondere Deputationen aus<br />

Mitgliedern des Vorstandes, Gemeindeverordneten<br />

<strong>und</strong> Gemeindewählern gebildet werden.<br />

Die Gemeindeverordneten <strong>und</strong> die Gemeindewähler<br />

werden von dem Gemeinderathe, die<br />

Mitglieder des Vorstandes von dem Bürgermeister<br />

bestimmt. Dergleichen Deputationen<br />

sind dem Gemeindevorstande untergeordnet.<br />

Ein von dem Bürgermeister bezeichnetes Mitglied<br />

des Gemeindevorstandes führt den Vorsitz“<br />

12 .<br />

Die 1852 beschlossene Elberfelder Armenverwaltung<br />

war eine „Deputation“ im Sinne<br />

der Preußischen Gemeindeordnung <strong>und</strong> bestand,<br />

unter dem Vorsitz des damaligen Oberbürgermeisters<br />

Lischke, aus vier Stadtverordneten<br />

<strong>und</strong> drei wahlberechtigten Bürgern, die<br />

für drei Jahre vom Gemeinderat gewählt wurden.<br />

13 Der Vorsitz ging wenig später an den<br />

Gemeindeverordneten Daniel von der Heydt<br />

über. 14 Die Bezirksvorsteher <strong>und</strong> Armenpfleger<br />

wurden auf Vorschlag der Armenverwaltung<br />

vom Gemeinderat mit der Möglichkeit der<br />

Wiederwahl für eine dreijährige Amtsdauer gewählt.<br />

15 Ein Bezirksvorsteher <strong>und</strong> 15 Armenpfleger<br />

bildeten die Bezirksversammlung als<br />

Organ der Armenverwaltung mit weitreichenden<br />

Befugnissen <strong>und</strong> Amtspflichten. Sie war<br />

als beschließendes Gremium für die Funktionsfähigkeit<br />

<strong>und</strong> die unmittelbare Ausübung<br />

der Armenhilfe innerhalb eines nach Straßen<br />

<strong>und</strong> Häusern in 15 Quartiere unterteilten Bezirks<br />

verantwortlich. Die Regelungskompetenz<br />

für das gesamte Armenwesen der Stadt blieb<br />

zentral beim Gemeinderat, der die Gr<strong>und</strong>sätze<br />

für die Durchführung der kommunalen Armenpflege<br />

beschloss <strong>und</strong> fortentwickelte, die<br />

Pflichten <strong>und</strong> Rechte der Pfleger, Vorsteher<br />

<strong>und</strong> der städtischen Armenerwaltung regelte<br />

<strong>und</strong> deren Einhaltung überwachte.<br />

Die Armenverwaltung war zuständig für<br />

die „Hausarmen“, die in drei geschlossenen<br />

städtischen Armenanstalten, nämlich im allgemeinen<br />

Armenhaus, im Waisenhaus <strong>und</strong> im Armenkrankenhaus,<br />

untergebracht waren. Hilfsbedürftige<br />

Personen, die keine „Hausarmen“<br />

waren, wurden als „Außenarme“ bezeichnet.<br />

Diese bildeten das eigentliche Klientel des Elberfelder<br />

Systems.<br />

Die Größe der Bezirke richtete sich nach<br />

der Zahl der zu versorgenden Außenarmen, die<br />

innerhalb eines näher bezeichneten Wohngebiets<br />

lebten. Insgesamt waren in den ersten<br />

zwei Jahren 160 ehrenamtlich tätige Bürger<br />

zur Durchführung der Neuen Armenordnung<br />

erforderlich, die nach ihrer Wahl durch den<br />

Gemeinderat verpflichtet waren, das Amt anzunehmen,<br />

falls sie keine gesetzlichen Ablehnungsgründe<br />

geltend machten konnten. 16 Als<br />

die Elberfelder lutherische Gemeinde wegen<br />

des großen Zuzugs Ortsfremder nicht mehr in<br />

der Lage war, die Armen ihrer Gemeinde selbst<br />

zu versorgen, <strong>und</strong> deshalb die Kirchliche Armenpflege<br />

an die Stadt abgeben musste, wurden<br />

1855 18 Bezirke mit je 14 Quartieren gebildet.<br />

Die kommunale Armenpflege wurde in<br />

den ersten 50 Jahren ihres Bestehens ausschließlich<br />

von Männern wahrgenommen. Erst<br />

von 1902 an wurde in Elberfeld auch Frauen<br />

dieses Amt übertragen. 17<br />

Die Armenpfleger traten 14-tägig an einem<br />

festgesetzten Wochentag unter dem Vorsitz des<br />

Vorstehers zur Bezirksversammlung zusammen,<br />

um die vorgebrachten Bitten um Unterstützung<br />

zu beraten. Die vor Ort geprüften Gesuche<br />

wurden in der Bezirksversammlung vorgetragen,<br />

erörtert <strong>und</strong> mit Stimmenmehrheit<br />

beschlossen. Bei Stimmengleichheit gab die<br />

Stimme des Vorstehers den Ausschlag. In strittigen<br />

Fällen konnte der Vorsteher einen Beschluss<br />

der Versammlung beanstanden <strong>und</strong> ihn<br />

der Armenverwaltung zur Entscheidung vortragen.<br />

Über den Sitzungsverlauf wurde ein<br />

Protokoll angefertigt, das der Armenverwaltung<br />

unverzüglich zugeleitet wurde. Auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage der Sitzungsprotokolle der stets<br />

gleichzeitig tagenden Bezirksversammlungen<br />

<strong>und</strong> der Teilnahme der Bezirksvorsteher an den<br />

14-tägig stattfindenden Sitzungen der Armenverwaltung<br />

gewann diese einen präzisen <strong>und</strong><br />

zeitnahen Überblick über die während eines<br />

47


Quartals tatsächlich verausgabten Sach- <strong>und</strong><br />

Geldmittel <strong>und</strong> über den voraussichtlichen<br />

Mittelbedarf für das folgende Quartal, der von<br />

der Armenverwaltung beantragt <strong>und</strong> vom Gemeinderat<br />

beschlossen werden musste.<br />

Als Unterstützung wurden geleistet: Bargeld,<br />

Bekleidung, Bettzeug, freier Schulunterricht,<br />

ärztliche Versorgung, Arzneien <strong>und</strong> Verbandmaterial,<br />

Hebammenhilfe <strong>und</strong> kostenlose<br />

Bestattung. Falls der begründete Verdacht bestand,<br />

dass ein Hilfeempfänger die ihm gewährte<br />

Hilfe missbräuchlich verwandte, erfolgte<br />

die Unterstützung ausschließlich durch<br />

Naturalien, d. h. durch tägliche kostenlose<br />

Ausgabe von Suppe <strong>und</strong> Brot im Armenhaus.<br />

Die Armenpfleger waren verpflichtet, die ordnungsgemäße<br />

Verwendung der gewährten Hilfen<br />

zu kontrollieren <strong>und</strong> im Falle eines Missbrauchs<br />

in der Bezirksversammlung Bericht zu<br />

erstatten.<br />

Anlässlich der Prüfung des ersten Hilfegesuchs<br />

wurden anhand eines von der Armenverwaltung<br />

erstellten „Abhörbogens“ die persönlichen<br />

Verhältnisse des Bittstellers <strong>und</strong> der von<br />

ihm zu versorgenden Angehörigen, deren Erwerbseinkommen<br />

<strong>und</strong> Arbeitsfähigkeit, Größe<br />

<strong>und</strong> Zustand der Wohnung, Zahl <strong>und</strong> Art der<br />

Einrichtungsgegenstände, die zum Unterhalt<br />

verpflichteten Angehörigen, der gesetzliche<br />

Unterstützungswohnsitz 18 <strong>und</strong> die sonstigen<br />

Gründe für das Vorliegen eines gesetzlichen<br />

Anspruchs auf Armenhilfe ermittelt. Als unterstützungsbedürftig<br />

galt ein Armer nur dann,<br />

wenn er nicht arbeitsfähig war <strong>und</strong> zu seinem<br />

Unterhalt andere Personen nicht verpflichtet<br />

oder imstande waren. Die „Instruction“ 19 führt<br />

dazu aus: „Arbeitsfähiger Personen darf die<br />

Armenverwaltung sich nur dann annehmen,<br />

wenn sie genügend nachzuweisen im Stande<br />

sind, sich ernstlich <strong>und</strong> mit allen ihnen zu Gebote<br />

stehenden Mitteln, aber erfolglos, um<br />

Arbeit bemüht zu haben. Solche Personen sind<br />

jedoch verpflichtet, jede ihnen angewiesene,<br />

angemessene Arbeit zu übernehmen, oder,<br />

falls ihnen solche nicht angewiesen werden<br />

kann, sich mit einer zeitweisen Unterstützung<br />

zu begnügen. Sowohl die Armenpfleger als<br />

auch die Bezirksvorsteher werden solchen Armen<br />

zunächst mit Rat <strong>und</strong> Tat behilflich sein,<br />

48<br />

dass sie wo möglich Arbeit finden <strong>und</strong> dadurch<br />

ihren Unterhalt selbst erwerben“. In dringenden<br />

Fällen war der Pfleger befugt, unverzüglich<br />

die erforderlichen Hilfen zu leisten. Seine<br />

Entscheidung bedurfte der Bestätigung in der<br />

nächstfolgenden Bezirksversammlung.<br />

Der Missbrauch von Unterstützungen wurde<br />

strafrechtlich gem. § 119 des Preußischen<br />

Strafgesetzbuchs von 1851 mit einer Gefängnisstrafe<br />

von einer Woche bis zu drei Monaten<br />

geahndet, wenn sich eine Person dem Spiel,<br />

dem Trunk oder dem Müßiggang ergeben hatte<br />

<strong>und</strong> dadurch in eine Lage geriet, die es ihm unmöglich<br />

machte, für sich selbst oder für unterhaltsbedürftige<br />

Angehörige den Lebensunterhalt<br />

zu verdienen. Die gleiche Strafe drohte<br />

dem Empfänger von Mitteln aus der Armenkasse,<br />

der sich weigerte, die ihm zugewiesene<br />

oder sich innerhalb einer von der Ortspolizeibehörde<br />

bestimmten Frist, „aller angewandten<br />

Bemühungen ungeachtet“, keine neue Erwerbsquelle<br />

verschafft hatte. 20 Die seit dem ausgehenden<br />

16. bis weit in das 20. Jahrh<strong>und</strong>ert in<br />

Europa bestehenden Zucht- <strong>und</strong> Arbeitshäuser<br />

dienten hauptsächlich der Unterbringung von<br />

„arbeitsscheuen Personen“, die sich – wie es in<br />

der „Instruction“ heißt – „dem Spiele, dem<br />

Trunke oder dem Müßiggange“ hingegeben<br />

hatten. 21 Ihre Unterbringung in einem Arbeitshaus<br />

galt bis 1969 22 als Nebenstrafe bzw. als<br />

„correctionelle Nachhaft“ nach verbüßter Gefängnisstrafe.<br />

Der Zweck dieser Maßnahme im<br />

Sinne des Preußischen StGB war die „Wiederherstellung<br />

<strong>und</strong> Besserung von meist geistig<br />

<strong>und</strong> körperlich verkommenen Subjekten ohne<br />

moralische Willenskraft“, die sich „nur durch<br />

längeres zwangsweises Anhalten zur Ordnung<br />

<strong>und</strong> Arbeitsamkeit erzielen“ lässt. 23 Die Armenpfleger<br />

übten im Rahmen der „Instruction“<br />

<strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> ihrer persönlichen Orts<strong>und</strong><br />

Personenkenntnis eine durch das Strafrecht<br />

<strong>und</strong> die staatliche Sozialpolitik sanktionierte<br />

<strong>und</strong> effiziente Sozialkontrolle aus. Sie<br />

waren verpflichtet, dem Vorsitzenden der Armenverwaltung<br />

im Falle des Verdachts einer<br />

missbräuchlichen Entgegennahme <strong>und</strong> Verwendung<br />

von Mitteln der Armenhilfe „zur weiteren<br />

Veranlassung Anzeige zu machen, auch<br />

dafür zu sorgen, dass die für die Familienglie-


der solcher Personen bestimmten Gaben unmittelbar<br />

an die Ersteren gelangen“ 24 .<br />

Vor der Einführung der Neuen Armenordnung<br />

erhielten 5–7 % der Bevölkerung eine<br />

Unterstützung aus dem Armenfonds, der aus<br />

den Einnahmen der Armensteuer gespeist wurde.<br />

Im Jahr 1852 betrug der Anteil der Außenarmen<br />

an der Bevölkerung sogar 8,0 %. 25 Von<br />

1853 sank der Anteil der Betreuten trotz starker<br />

Zuwanderung allmählich auf 4,0 % <strong>und</strong> erreichte<br />

1865 den Wert von 2,5 %. Die Armenpflegeausgaben<br />

der Stadt Elberfeld gingen<br />

1853 innerhalb eines Jahres von 47.149 Thlr.<br />

auf 23.550 Thlr. zurück. Zum Zeitpunkt der<br />

Reichsgründung zählte Elberfeld nach dem<br />

vollständigen Verschwinden des Straßen- <strong>und</strong><br />

Hausbettels zu den „bettelfreiesten“ Städten in<br />

Deutschland. Vor allem die Reduzierung der<br />

„Armenlast“, die trotz wiederkehrender Wirtschaftskrisen<br />

vergleichsweise niedrig bleib,<br />

war wesentlicher Anreiz für andere Städte <strong>und</strong><br />

Gemeinden, das Elberfelder System einzuführen.<br />

Vom Elberfelder System<br />

zur Ehrenamtlichen Sozialhilfe<br />

Die allgemeine Entwicklung von Wirtschaft<br />

<strong>und</strong> Gesellschaft machte von Zeit zu<br />

Zeit Anpassungen der Dienstordnungen für<br />

den ehrenamtlichen Sozialdienst in den Städten<br />

erforderlich, die das Elberfelder System<br />

übernommen hatten. Eine vollständige Übersicht<br />

über die diesbezügliche Literatur kann<br />

hier wegen der Fülle der Publikationen <strong>und</strong><br />

des Aktenmaterials nicht gegeben werden. 26<br />

Berücksichtigt werden müssten vor allem die<br />

Entwicklung <strong>und</strong> die Periodisierung der deutschen<br />

Sozialgesetzgebung in Bezug auf die<br />

wichtigsten Lebensrisiken wie Unfall, Krankheit,<br />

Invalidität, Alter <strong>und</strong> Arbeitslosigkeit <strong>und</strong><br />

deren kodifikatorische Zusammenfassung in<br />

der Reichsversicherungsordnung von 1911 sowie<br />

deren Einfluss auf die Gestaltung der Systeme<br />

ehrenamtlicher Armen- bzw. Sozialhilfe.<br />

27 An dieser Stelle muss eine kursorische<br />

Übersicht über wesentliche Veränderungen<br />

<strong>und</strong> Modifikationen genügen.<br />

Einen gravierenden Einschnitt in die Organisation<br />

der Armenpflege nach dem Vorbild<br />

des Elberfelder Systems stellt der Erste Weltkrieg<br />

mit seinen sozialen <strong>und</strong> wirtschaftlichen<br />

Folgen dar, die in Elberfeld gegen Kriegsende<br />

zur Planung <strong>und</strong> 1919 zur Errichtung eines in<br />

vier Abteilungen gegliederten städtischen<br />

Wohlfahrtsamtes 28 führten, das zusätzlich zur<br />

ehrenamtlichen Wohlfahrtspflege die von professionellen<br />

Sozialbediensteten geleiteten Aufgabenbereiche<br />

umfasste. Während die amtliche<br />

Wohlfahrtspflege vorrangig kriegsfolgenbedingte<br />

Hilfen leistete, beschränkte sich die<br />

ehrenamtliche auf ihre ursprünglichen armenpflegerischen<br />

Aufgaben, wobei darauf geachtet<br />

wurde, dass typisch ehrenamtliche nicht durch<br />

professionelle Tätigkeit ersetzt wurde. 1928<br />

bestanden in Elberfeld 42 Wohlfahrtsbezirke<br />

sowie ein Bezirk für Sonderfälle, in denen 716<br />

Ehrenbeamte auf der Gr<strong>und</strong>lage einer Dienstordnung<br />

vom 8.6.1923 tätig waren <strong>und</strong> die<br />

Durchführung neuer Aufgaben nach In-Kraft-<br />

Treten des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes<br />

(1922) <strong>und</strong> des Reichsjugendgerichtsgesetzes<br />

(1923) wahrnahmen. Nach der Vereinigung der<br />

beiden Städte Barmen <strong>und</strong> Elberfeld (1929)<br />

gab es in der Stadt Wuppertal 120 Wohlfahrtsbezirke,<br />

in denen insgesamt 1832 Ehrenbeamte,<br />

darunter 311 Frauen, freiwillig tätig waren.<br />

Bis 1933 stieg deren Zahl auf 1958 an.<br />

Während der Herrschaft des Nationalsozialismus<br />

(1937) erfolgte eine Anpassung der<br />

Zahl der Wohlfahrtsbezirke an die der Ortsgruppen<br />

der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt“<br />

(NSV). Die Zahl der in 83 Bezirken<br />

ehrenamtlich tätigen Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürger<br />

stieg auf 1627. 1936 war eine neue „Dienstordnung<br />

für die ehrenamtliche städtische Wohlfahrtspflege<br />

in Wuppertal“ in Kraft getreten,<br />

die deren Gleichschaltung mit der NSV besiegelte.<br />

In der Dienstordnung heißt es: „Das Ehrenamt<br />

des Pflegers verpflichtet durch geschichtliche<br />

Überlieferung <strong>und</strong> durch Anerkennung<br />

seiner Bedeutung <strong>und</strong> Notwendigkeit<br />

durch den nationalsozialistischen Staat den<br />

Träger des Amtes zu vorbildlicher <strong>und</strong> besonders<br />

verantwortungsbewusster Haltung innerhalb<br />

der Volksgemeinschaft <strong>und</strong> zur vorbehaltlosen<br />

Hingabe an die nationalsozialistische<br />

49


Staatsführung.“ 29 Bei der Bestellung der Bezirksvorsteher<br />

<strong>und</strong> der Pfleger wirkten die<br />

NSV-Ortsgruppenleiter mit. Nach der Einziehung<br />

zahlreicher ehrenamtlicher Mitarbeiter<br />

zur Wehrmacht verwaiste ein großer Teil der<br />

Bezirke. Nach den schweren Bombenangriffen<br />

auf Barmen <strong>und</strong> Elberfeld im Mai <strong>und</strong> Juni<br />

1943, die 7.700 Tote <strong>und</strong> Tausende von<br />

Schwerverletzten forderten, ganze Stadtteile<br />

vernichteten <strong>und</strong> eine Massenevakuierung der<br />

Bevölkerung notwendig machten, fielen 33<br />

Wohlfahrtsbezirke aus. 1946 waren aber immerhin<br />

in 49 Bezirken noch 608 ehrenamtliche<br />

Bezirksvorsteher <strong>und</strong> Pfleger im Amt. Ihre<br />

Zahl sank in der Folgezeit auf ca. 500, Ende<br />

1949 waren es 547 in 52 Bezirken. Die Zahl<br />

der Bezirke blieb danach bis Anfang der 90er-<br />

Jahre konstant. Unter Berücksichtigung der<br />

unvergleichlich schwierigeren sozialen <strong>und</strong><br />

wirtschaftlichen Umstände während der<br />

Kriegs- <strong>und</strong> Nachkriegszeit grenzt es an ein<br />

W<strong>und</strong>er, dass sich allen demotivierenden Hindernissen<br />

zum Trotz überhaupt noch Menschen<br />

fanden, die sich neben ihren eigenen<br />

kriegsbedingten persönlichen Problemen freiwillig<br />

<strong>und</strong> uneigennützig in den Dienst für das<br />

Gemeinwohl stellten <strong>und</strong> ihren gewissenhaften<br />

Beitrag zur Aufrechterhaltung des ehrenamtlichen<br />

Sozialdienstes der Stadt Wuppertal nach<br />

den Katastrophen zweier Weltkriege leisteten.<br />

Ehrenamtliche Sozialhilfe in der Praxis<br />

Das Elberfelder System war von Anfang an<br />

integraler Bestandteil der kommunalen Sozialbehörde,<br />

die unter Aufsicht <strong>und</strong> Kontrolle des<br />

von den Bürgern gewählten Stadtrats stand. 30<br />

Die Bezirksvorsteher <strong>und</strong> Armenpfleger 31 nahmen<br />

nach ihrer täglichen Berufsarbeit in unterschiedlichen<br />

Erwerbszweigen die ihnen obliegenden<br />

Pflichten während eines längeren Zeitraums<br />

unentgeltlich wahr. Sie unterlagen einer<br />

Dienstordnung, deren Einhaltung ein hohes<br />

Maß an Disziplin forderte. Bezüglich ihrer<br />

Aufgaben gab es keinen Unterschied zu den im<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>ert noch relativ wenigen besoldeten<br />

Sozialbeamten, die ihnen nicht über-, sondern<br />

nebengeordnet waren. Sie nahmen exakt<br />

50<br />

dieselben Aufgaben wahr, die gegenwärtig von<br />

einer wachsenden Zahl hauptamtlicher Sozialarbeiterinnen<br />

<strong>und</strong> Sozialarbeiter ausgeübt werden.<br />

Trotz der hohen Ansprüche an Leistungsfähigkeit<br />

<strong>und</strong> Einsatzbereitschaft bestand kein<br />

Mangel an Interessenten für das Amt: ihre Zahl<br />

war zeitweise höher als der Bedarf. Der unbezahlte,<br />

freiwillige Dienst für das Gemeinwesen<br />

galt als hohe Ehre. Das öffentliche Ansehen<br />

<strong>und</strong> das den Ehrenamtlichen entgegengebrachte<br />

Vertrauen reichten als Motivation zur Amtsführung<br />

aus. 32 Daran änderte sich im Prinzip<br />

nichts im Verlauf von 140 Jahren.<br />

Bis etwa 1992 blieb die organisatorische<br />

Einbindung des ehrenamtlichen Sozialdienstes<br />

in die Sozialbehörde unbestritten. Die Mitarbeiter<br />

wurden zwar nicht mehr vom Rat der<br />

Stadt gewählt, sondern vom Oberstadtdirektor<br />

auf Vorschlag der Sozialhilfebezirke, Kirchen<br />

<strong>und</strong> Verbände urk<strong>und</strong>lich bestellt <strong>und</strong> vereidigt.<br />

33 Die Vorgeschlagenen mussten die für<br />

Ehrenbeamte erforderlichen Voraussetzungen<br />

nach dem Beamtengesetz des Landes NW erfüllen<br />

<strong>und</strong> erhielten einen Dienstausweis der<br />

Stadt, der sie zur Ausübung ihres Amtes gegenüber<br />

Dritten legitimierte. 34 Sie waren zur<br />

Verschwiegenheit <strong>und</strong> zur Treue gegenüber der<br />

Stadt verpflichtet. 35 Sie sollten nicht jünger als<br />

25 <strong>und</strong> nicht älter als 75 Jahre sein. Sie wurden<br />

für eine Amtszeit von fünf Jahren ernannt, 36<br />

die meisten übten ihr Amt jedoch wesentlich<br />

länger, manche sogar 30, 40 <strong>und</strong> 50 Jahre,<br />

aus. 37 Ihre Tätigkeiten umfassten außer den<br />

„klassischen“ Aufgaben der Bedarfsermittlung<br />

<strong>und</strong> der Gewährung materieller Hilfe nach geltendem<br />

Sozialhilferecht insbesondere regelmäßige<br />

Besuchsdienste, persönliche Beratung,<br />

Behördengänge, Übernahme von Vorm<strong>und</strong>schaften<br />

<strong>und</strong> Pflegschaften sowie eine Vielzahl<br />

unterschiedlicher persönlicher Hilfen für Personen<br />

aller Altersgruppen. Sie wohnten in der<br />

Regel innerhalb des Sozialhilfebezirks <strong>und</strong> besuchten<br />

mindestens einmal im Monat, bei Bedarf<br />

wesentlich öfter, die ihnen in der Bezirksversammlung<br />

zugewiesenen Hilfeempfänger,<br />

deren Zahl zwischen sechs <strong>und</strong> zehn je Mitarbeiter<br />

schwankte. Der Vorsteher betreute keinen<br />

eigenen Personenkreis, sondern suchte alle<br />

Hilfeempfänger etwa viermal jährlich in ihren


Wohnungen auf, um sich persönlich ein Bild<br />

von der Art <strong>und</strong> Notwendigkeit wirtschaftlicher<br />

<strong>und</strong> psychosozialer Hilfe des Klientels<br />

zu machen.<br />

Die Bezirksversammlung trat in den letzten<br />

Jahrzehnten monatlich einmal unter dem Vorsitz<br />

des Vorstehers an einem Werktag 38 in einem<br />

zentral gelegenen Raum innerhalb des Bezirks<br />

zusammen. Die Sitzung dauerte in der<br />

Regel zwei St<strong>und</strong>en. Die Versammlung bestand<br />

aus den Ehrenbeamten, den im Bezirk<br />

tätigen Sozialarbeitern <strong>und</strong> einem vom Sozialamt<br />

bestellten, beamteten Schriftführer, der<br />

das Sitzungsprotokoll verfasste <strong>und</strong> den kurzen<br />

Dienstweg zwischen Bezirk <strong>und</strong> Sozialamt sicherstellte.<br />

Der Vorsteher führte den Schriftverkehr<br />

<strong>und</strong> die Akten des Bezirks, stellte die<br />

Bewilligungsscheine für Sachleistungen <strong>und</strong><br />

Krankenscheine für nicht krankenversicherte<br />

Personen aus. Er nahm an den vom Sozialdezernenten<br />

einberufenen Bezirksvorsteherversammlungen<br />

teil <strong>und</strong> informierte die Mitarbeiter<br />

seines Bezirks über die behandelten Beratungspunkte.<br />

Exemplarisch sollen die Dienstleistungen<br />

eines Bezirks aufgezeigt werden, die im Verlauf<br />

von mehr als 30 Jahren zusätzlich zu zahlreichen<br />

Vorm<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Pflegschaften erbracht<br />

wurden. In ihm wurden insgesamt 72 Personen<br />

von durchschnittlich fünf bis sechs Ehrenbeamten<br />

betreut: Bei Betreuungsaufnahme waren<br />

17 % jünger als 60 Jahre, 42 % 60–70 Jahre,<br />

35 % 70–80 Jahre <strong>und</strong> 6 % älter als 80 Jahre.<br />

Zum Zeitpunkt der Betreuungseinstellung waren<br />

12 % jünger als 70 Jahre, der Anteil der<br />

70–80-Jährigen betrug 26 % <strong>und</strong> der der<br />

80–100-Jährigen 62 %. Bis zu ihrem Tod wurden<br />

mehr als die Hälfte aller Hilfeempfänger in<br />

ihren Wohnungen von ehrenamtlichen Mitarbeitern<br />

betreut <strong>und</strong> damit ihre Hospitalisierung<br />

vermieden. Wegen Umzugs in ein Altenheim<br />

schieden 12,6 % aus, 7,6 % wegen z. T. geringfügiger<br />

Überschreitung der Einkommensgrenzen<br />

nach Rentenerhöhungen <strong>und</strong> 6,0 % wegen<br />

Wohnortwechsels. Zu den aus finanziellen<br />

Gründen aus der Betreuung ausgeschiedenen<br />

<strong>und</strong> den in Altenheime verzogenen Hilfeempfängern<br />

blieben die regelmäßigen Kontakte erhalten.<br />

Die durchschnittliche Dauer der vom<br />

Bezirk durchgeführten Betreuung betrug 19,7<br />

Jahre; knapp 50 % wurden sogar 25 <strong>und</strong> mehr<br />

Jahre betreut. 1997 verblieben dem Bezirk<br />

noch 15 hochaltrige Personen, die bis zu ihrem<br />

Tod regelmäßig besucht wurden.<br />

Das langjährige, kontinuierliche Engagement<br />

der Mitarbeiter vermittelte ihnen innerhalb<br />

des Sozialhilfebezirks öffentliche Bekanntheit<br />

<strong>und</strong> eine genaue Orts- <strong>und</strong> Personenkenntnis.<br />

Sie kannten nicht nur die Hilfeempfänger<br />

<strong>und</strong> ihre Angehörigen, Nachbarn <strong>und</strong><br />

Bekannten, sondern auch deren Hausärzte, Gemeindepfarrer<br />

<strong>und</strong> -schwestern. In den im Bezirk<br />

befindlichen Altenheimen, Altentagesstätten,<br />

Kindergärten <strong>und</strong> Kinderheimen waren sie<br />

gern gesehene Ansprechpartner. Ihre Tätigkeit<br />

beschränkte sich nicht nur auf die Betreuung<br />

der ihnen zugewiesenen Personen, sondern bezog<br />

auch andere, vor allem Alleinstehende <strong>und</strong><br />

von sozialer Isolierung Bedrohte ihres Bezirks<br />

im Rahmen der Altenhilfe 39 sowie Kinder, Jugendliche<br />

<strong>und</strong> deren Eltern im Rahmen der Jugendhilfe<br />

40 mit ein. Die Besuche wurden auch<br />

während eines vorübergehenden Krankenhausaufenthaltes<br />

fortgesetzt. Einmal jährlich wurden<br />

von den Mitarbeitern privat finanzierte<br />

Ausflüge in die nähere Umgebung mit kurzen<br />

Spaziergängen <strong>und</strong> Kaffeetrinken unternommen.<br />

Nie wurde ein Fall bekannt, in dem ein<br />

Mitarbeiter von einem Hilfebedürftigen abgelehnt<br />

wurde.<br />

Der Niedergang des Elberfelder Systems<br />

Er setzte im Laufe des Jahres 1991 ein <strong>und</strong><br />

vollzog sich in mehreren Schritten bis etwa<br />

zum Frühjahr 1997.<br />

1. Er begann zunächst mit der Verzögerung <strong>und</strong><br />

bald darauf mit der völligen Einstellung der<br />

Informationsvermittlung durch das Sozialamt.<br />

Änderungen z. B. der Pflegesätze <strong>und</strong><br />

einschlägiger Sozialgesetze, die zur verantwortlichen<br />

Beratung des Klientels dringend<br />

erforderlich waren, wurden nicht mehr weitergegeben.<br />

Schriftführer blieben den Bezirkssitzungen<br />

unentschuldigt fern, Sitzungsniederschriften<br />

wurden nicht mehr erstellt.<br />

51


2. Obwohl die meisten Bezirke über eine ausreichende<br />

Betreuungskapazität verfügten, 41<br />

erfolgten keine Neuzuweisungen von Hilfeempfängern<br />

mehr. Die Folge war, dass die<br />

Zahl der zu betreuenden Personen bei<br />

gleichzeitigem Anstieg der Sozialhilfequote<br />

stark zurückging, zahlreiche Sozialhelfer die<br />

Freude an ihrer Tätigkeit verloren <strong>und</strong> deshalb<br />

ausschieden <strong>und</strong> eine Werbung neuer<br />

ehrenamtlicher Mitarbeiter nicht mehr sinnvoll<br />

erschien. Die allmähliche Drosselung<br />

der Zahl der Betreuungsfälle im Verlauf weniger<br />

Jahre stand im Widerspruch zum Prinzip<br />

des Vorrangs der Betreuung des Klientels<br />

durch Ehrenbeamte. 42<br />

3. Im zeitlichen Zusammenhang mit der Reduzierung<br />

der Betreuungskapazität folgte der<br />

Entzug der Bewilligung von Sozialhilfeleistungen<br />

durch den Bezirksvorteher. 43<br />

Nachdem die dazu erforderlichen Informationen<br />

den Bezirken vorenthalten worden<br />

waren, wurde dieser Schritt mit der angeblich<br />

schwieriger werdenden Rechtslage im<br />

Sozialhilfebereich begründet. 44 Die vom Bezirk<br />

aufgr<strong>und</strong> individueller Prüfung vor Ort<br />

bewilligten Sachbeihilfen <strong>und</strong> Mehrbedarfsleistungen<br />

wurden den Hilfeempfängern<br />

von der Stadtkasse nicht mehr überwiesen.<br />

Damit wurde den Bezirken die Zuständigkeit<br />

für die wirtschaftliche Hilfe entzogen.<br />

4. Nach Beseitigung der für die Ehrenamtliche<br />

Sozialhilfe essentiellen personellen, wirtschaftlichen<br />

<strong>und</strong> organisatorischen Ressourcen<br />

wurden die Bezirke ohne Einwilligung<br />

der ehrenamtlichen Mitarbeiter aufgelöst.<br />

An ihre Stelle traten sieben Bezirkssozialdienste,<br />

die historisch unterschiedlich entwickelte<br />

<strong>und</strong> sozialökonomisch heterogene<br />

Stadtteile umfassten, die fortan von je einem<br />

hauptamtlichen Mitarbeiter der Sozialverwaltung<br />

geleitet wurden. Die in ihren früheren<br />

Bezirken verbliebenen Ehrenbeamten<br />

wurden ohne ihr Einverständnis auf die neuen<br />

Bezirkssozialdienste verteilt. 45 Die ohne<br />

Rücksicht auf gewachsene persönliche Bindungen<br />

zwischen den Mitarbeitern <strong>und</strong> zu<br />

ihrem Klientel willkürlich vorgenommene<br />

52<br />

Zuordnung der Ehrenamtlichen zu den Bezirkssozialdiensten<br />

wurde mit Entrüstung<br />

aufgenommen <strong>und</strong> abgelehnt. Mit der Beseitigung<br />

der kleinräumlichen Bezirksstruktur<br />

endete die Zusammenarbeit mit den Kirchengemeinden,<br />

Alten- <strong>und</strong> Kinderheimen,<br />

Kindergärten, Altentagesstätten, Ärzten,<br />

Apothekern, Einzelhandelsgeschäften, Industrie-<br />

<strong>und</strong> Handwerksunternehmen in den<br />

Bezirken. Ihnen wurde jede Chance genommen,<br />

die zur Unterstützung ihres Klientels<br />

notwendigen Informationen zu erhalten. 46<br />

Damit war der irreversible Schritt zur Abkehr<br />

vom Prinzip der Ortsbezogenheit 47 individueller<br />

Sozialhilfe vollzogen.<br />

5. Der Institutionalisierung von Bezirkssozialdiensten<br />

folgte zeitgleich die Abschaffung<br />

des Amtes der Vorsteher <strong>und</strong> der Bezirksversammlung.<br />

48 Eine weitere Folge war die Beseitigung<br />

des Ehrenbeamtenstatus. Eine Entlassungsurk<strong>und</strong>e<br />

wurde nicht ausgestellt,<br />

auch die Dienstausweise <strong>und</strong> -siegel wurden<br />

nicht eingezogen. Der gesamte Vorgang<br />

vollzog sich unter Ausschluss des Plenums<br />

des Stadtrats, dem die Satzungskompetenz<br />

für einen Schritt von weittragender kommunalpolitischer<br />

Bedeutung zusteht. 49 An der<br />

denkwürdigen „Diskussion mit den Ehrenbeamtinnen<br />

<strong>und</strong> Ehrenbeamten“, die unter<br />

Leitung des Sozialdezernenten am „Europäischen<br />

Tag der Ehrenamtlichkeit“ am<br />

5.12.1996 stattfand, erlosch de facto das<br />

„Elberfelder System“, zu dessen 125.<br />

Jahrestag seines Bestehens im Jahr 1978 der<br />

damalige Ministerpräsident des Landes NW,<br />

Dr. h. c. Johannes Rau, die Festrede in der<br />

Wuppertaler Stadthalle hielt. Bei jener Diskussion<br />

im Dezember 1996 waren nur drei<br />

Mitglieder zweier Ratsfraktionen anwesend,<br />

die sich aber laut Protokoll nicht zu Wort<br />

meldeten. 50 Die als Reform ausgegebene<br />

Beseitigung der letzten Reste des Elberfelder<br />

Systems <strong>und</strong> deren Ersatz durch neue<br />

Formen ehrenamtlicher Sozialarbeit sollte<br />

im Juli 1994 von einer aus Ehren- <strong>und</strong><br />

Hauptamtlichen bestehenden Planungsgruppe<br />

vorbereitet werden. Doch schon wenige<br />

Wochen später stellte sie ihre Arbeit ergeb-


nislos ein. Zwei Jahre später, im April 1996,<br />

wurde eine neue siebenköpfige „Planungsgruppe“<br />

gebildet, die sich ausschließlich aus<br />

Hauptamtlichen zusammensetzte. Diese<br />

Gruppe entwarf das Konzept zur „Weiterentwicklung<br />

der ehrenamtlichen sozialen<br />

Arbeit in Wuppertal“, das sich inzwischen<br />

als nicht realisierbar erwiesen hat.<br />

Gegenwärtiger Stand<br />

150 Jahre nach In-Kraft-Treten der Neuen<br />

Armenordnung bleibt nur noch die unter Einsatz<br />

systemüberwindender Planungsstrategien<br />

nicht mehr rückgängig zu machende Zerschlagung<br />

des Elberfelder Systems festzustellen. An<br />

seine Stelle trat eine Sozialbürokratie, die es in<br />

den vergangenen Jahren nicht vermochte, die<br />

notwendige Zahl von Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürgern<br />

für ein verantwortungsvolles ehrenamtliches<br />

Engagement in der Sozialarbeit zu gewinnen<br />

<strong>und</strong> damit ihr Versprechen einzulösen, eine<br />

Reform des Ehrenamtlichen Sozialdienstes zu<br />

realisieren. Durch dessen Beseitigung ist die<br />

Stadt Wuppertal um ein herausragendes Spezifikum<br />

ihrer Bürgerkultur <strong>und</strong> Urbanität ärmer<br />

geworden: ärmer an flächendeckender, intensiver<br />

<strong>und</strong> individualisierender sozialer Hilfe von<br />

Mensch zu Mensch, ärmer auch an Erfahrungen,<br />

dass ehrenamtliche Mitwirkung der Bürger<br />

an der kommunalen Selbstverwaltung ein<br />

unverzichtbares Prinzip freiheitlich-demokratischer<br />

Gr<strong>und</strong>ordnung ist. 51<br />

Im November 1985 besuchte eine Gruppe<br />

von 40 Japanern die Stadt Wuppertal, um sich<br />

über das zum damaligen Zeitpunkt noch intakte<br />

„Elberfelder System“ zu informieren. Aus<br />

diesem Anlass überreichte der Leiter der Delegation<br />

der Freiwilligen Wohlfahrtspfleger Japans,<br />

Shigetoshi Takahashi, eine Gedenktafel<br />

mit folgendem Wortlaut:<br />

„Liebe Wuppertaler! Im Namen der freiwilligen<br />

Wohlfahrtspfleger Japans möchte ich<br />

Ihnen hiermit meinen Dank für die tiefe<br />

Fre<strong>und</strong>schaft unserer beiden Organisationen<br />

k<strong>und</strong>tun. – Das bestehende Sozialreformkomitee,<br />

welches nach dem Muster Ihrer im 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert gegründeten Bewegung aufgebaut<br />

ist, zählt nach knapp 70-jähriger Tätigkeit<br />

174.000 Mitglieder. Es freut mich überaus,<br />

dass ich dieses Jahr die Gelegenheit habe, Ihre<br />

Stadt, welche als die Wiege der Freiwilligen<br />

Wohlfahrtspflege gilt, persönlich kennenzulernen.<br />

Möge der Geist <strong>und</strong> die fre<strong>und</strong>schaftlichen<br />

Bande dazu beitragen, unsere allerseits<br />

ersprießlichen Kontakte weiter zu vertiefen.“ 52<br />

Anmerkungen:<br />

1 Dieser Aufsatz ist zuerst erschienen in: Zeitschrift<br />

für Sozialhilfe <strong>und</strong> Sozialgesetzbuch<br />

12/2002, S. 716–722.<br />

2 Die Beschlussfassung erfolgte am 9.7.1852. Die<br />

am 28.12.1852 beschlossene Geschäftsordnung<br />

regelte die Pflichten der unter dem Vorsitz des<br />

Bürgermeisters oder seines Vertreters tagenden<br />

Gemeindeverordneten. Die am selben Tag beschlossene<br />

„Instruction für die Armenpfleger<br />

<strong>und</strong> Bezirksvorsteher der städtischen Armenverwaltung<br />

in Elberfeld“ trat am 1.1.1853 in<br />

Kraft.<br />

3 Lammers, Stadt Elberfeld, in: Arwed Emminghaus<br />

(Hrsg.), Das Armenwesen <strong>und</strong> die Armengesetzgebung<br />

in europäischen Staaten, Berlin<br />

1870. Des Weiteren: Münsterberg, Das Elberfelder<br />

System, Festbericht aus Anlaß des fünfzigjährigen<br />

Bestehens der Elberfelder Armenordnung,<br />

Leipzig 1903, S. 44–46. Die Schrift<br />

Münsterbergs erschien anlässlich der 50-Jahr-<br />

Feier des Elberfelder Systems <strong>und</strong> enthält zahlreiche<br />

deutsch- <strong>und</strong> fremdsprachige Literaturangaben<br />

zu den in den ersten Jahrzehnten seines<br />

Bestehens erschienenen Schriften.<br />

4 Mischler/v. Carona, die Armenpflege nach Elberfelder<br />

Vorbild in den österreichischen Städten,<br />

in: Österreichs Wohlfahrtseinrichtungen<br />

1848–1898, Bd. 1, S. 391–419, Wien 1907.<br />

5 Münsterberg (Hrsg.), Bibliographie des Armenwesens,<br />

Bibliographie charitable, Schriften der<br />

Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrts-Einrichtungen,<br />

Abteilung für Armenpflege <strong>und</strong><br />

Wohlthätigkeit, Berlin 1900. Das Werk enthält<br />

chronologisch <strong>und</strong> nach Ländern geordnete Angaben<br />

über die Beziehungen, die zwischen den<br />

Wohlfahrtseinrichtungen der einzelnen Länder<br />

<strong>und</strong> dem Elberfelder System bestanden.<br />

6 Münsterberg, Das Elberfelder System, Festschrift,<br />

a. a. O., S. 46.<br />

7 Münsterberg, Das Elberfelder System, Festschrift,<br />

a. a. O. S. 47 f.<br />

53


8 Friedländer, Deutsches Vorwort zu „Gr<strong>und</strong>begriffe<br />

<strong>und</strong> Methoden der Sozialarbeit“, Neuwied<br />

<strong>und</strong> Berlin 1966, S. V. Friedländer (geb. 1891)<br />

war von 1921–1933 Stadtrat <strong>und</strong> Dezernent des<br />

Wohlfahrtsamtes in Berlin, später Dozent in<br />

Chicago <strong>und</strong> Professor of Social Welfare an der<br />

University of California, at Berkeley. Er hat entscheidend<br />

zur internationalen Verbreitung der<br />

Kenntnis des „Elberfelder Systems“ beigetragen.<br />

Siehe hierzu seine autobiographischen Notizen<br />

in: Ludwig J. Pongratz (Hrsg.), Pädagogik<br />

in Selbstdarstellungen, Bd. IV, Hamburg 1982,<br />

S. 58–80, insbes. S. 62.<br />

9 Unter der Bezeichnung „The System of Community<br />

Volunteers in Japan“.<br />

10 Minsei-Iin, The System of Community Volunteers<br />

in Japan, September 1979. Im Brief eines<br />

japanischen Gastprofessors am Japanologischen<br />

Institut der Universität Bonn, Prof. Dr. Shuzo<br />

Ono, an den Verfasser vom Januar 1993 wird<br />

auf die erste japanische Publikation zum „Elberfelder<br />

System“ von Yuichi Inoue, Entwicklung<br />

der Selbstregierung, hingewiesen, die schon<br />

1912 in japanischer Sprache erschien.<br />

11 § 1 der “Instruction für die Armenpfleger <strong>und</strong><br />

Bezirksvorsteher der städtischen Armenverwaltung<br />

in Elberfeld“ vom 28.12.1852 [im Folgenden<br />

zitiert: „Instruction] hat folgenden Wortlaut:<br />

„Zu den wichtigsten bürgerlichen Ehrenämtern<br />

gehören die der Armenpfleger <strong>und</strong> Bezirksvorsteher.<br />

Berufen, für das Wohl der ihnen anvertrauten<br />

Armen zum Besten der Gemeinde zu<br />

sorgen, bedürfen sie vor allem zu einer würdigen<br />

Führung ihres Amtes der Liebe <strong>und</strong> des<br />

Ernstes; - der Liebe, um mit wohlwollendem<br />

Herzen in Fre<strong>und</strong>lichkeit zu pflegen, <strong>und</strong> des<br />

Ernstes, um mit Festigkeit zu verhindern, daß<br />

die Gaben nicht zur Trägheit <strong>und</strong> zum Müßiggange<br />

führen, oder gar im Dienste des Lasters<br />

vergeudet werden“ (Hervorh. im Original). Die<br />

„Instruction“ schließt mit dem Satz (in Fettdruck):<br />

„Möge Gott seinen Segen zu der neuen<br />

Einrichtung geben!“<br />

12 Gemeinde-Ordnung für den Preußischen Staat<br />

vom 11.3.1850. Ausgegeben zu Berlin, den<br />

27.3.1850, in: Gesetz-Sammlung für die Königlichen<br />

Preußischen Staaten, Nr., 18. Jg. 1850<br />

(Nr. 3254.), S. 228.<br />

13 „Gemeindewähler“ sind wahlberechtigte Bürger<br />

einer Kommunalgemeinde.<br />

14 Bankier Daniel von der Heydt (1802–1874) entstammte<br />

einer evangelisch-reformierten Elberfelder<br />

Bankiersfamilie <strong>und</strong> gründete 1847 zu-<br />

54<br />

sammen mit Hermann Friedrich Kohlbrügge die<br />

Niederländisch-Reformierte Gemeinde Elberfeld.<br />

Er genießt das besondere Interesse sozialkritischer<br />

Geschichtsschreiber, die ihn aus dem<br />

Blickwinkel der Emanzipation der Arbeiterklasse<br />

als exemplarischen Repräsentanten einer reaktionären,<br />

vorindustriellen Armenpolitik identifizieren<br />

<strong>und</strong> die „Entmythologisierung“ des<br />

ihm zugeschriebenen Konzepts des „Elberfelder<br />

Systems“ betreiben möchten. Siehe hierzu: Herberts,<br />

Alles ist Kirche <strong>und</strong> Handel ..., Wirtschaft<br />

<strong>und</strong> Gesellschaft des Wuppertals im Vormärz<br />

<strong>und</strong> in der Revolution 1848/49. Bergische<br />

Forschungen, Bd. XII, hrsg. im Auftrage des<br />

Bergischen Geschichtsvereins von Köllmann<br />

<strong>und</strong> Reulecke, Neustadt an der Aisch 1980,<br />

S. 228–230; des Weiteren vor allem: Lube,<br />

Mythos <strong>und</strong> Wirklichkeit des Elberfelder<br />

Systems, in: Gründerzeit. Versuch einer Grenzbestimmung<br />

im Wuppertal. Abhandlungen <strong>und</strong><br />

Spezialbiographie, Hrsg. von Beeck unter Mitarbeit<br />

von Becker, Köln 1984, S. 154–184, sowie<br />

Lube, Vom „Gemeinsamen Wohl“ zur<br />

Wohltätigkeit – Elberfelder Armenpflege im<br />

Wandel des Zeitgeistes, in: de Buhr/ Küppers/<br />

Wittmütz (Hrsg.), Die Bergischen, „ein Volk<br />

von zugespitzter Reflexion“. Region-Schule-<br />

Mentalität, in: Festschrift für Karl-Hermann<br />

Beeck, Wuppertal 1992, S. 59–71.<br />

15 Zur Annahme der Wahl war der Gewählte<br />

gemäß § 137 der Preußischen Gemeindeordnung<br />

verpflichtet. Siehe auch §§ 20 <strong>und</strong> 21 der<br />

Gemeindeordnung des Landes Nordrhein-Westfalen<br />

vom 6.10.1987 (künftig zitiert GO NW).<br />

16 So auch gegenwärtig noch § 20 Abs. 2 der Gemeindeordnung<br />

des Landes NW vom<br />

6.10.1987: „Der Bürger ist zur nebenberuflichen<br />

Übernahme eines auf Dauer berechneten<br />

Kreises von Verwaltungsgeschäften verpflichtet<br />

(Ehrenamt).“<br />

17 Siehe: Werner, H<strong>und</strong>ert Jahre Hilfe von Mensch<br />

zu Mensch, in: Hilfe von Mensch zu Mensch,<br />

100 Jahre Elberfelder Armenpflege-System<br />

1853–1953, hrsg. im Auftrage der Stadtverwaltung<br />

Wuppertal vom Presse- <strong>und</strong> Werbeamt,<br />

Wuppertal o. J., S. 42. Im Zusammenhang mit<br />

der Frauenbewegung vollzog sich eine radikale<br />

Wendung von der ehrenamtlich-männlichen zu<br />

einer überwiegend weiblich-professionellen Sozialarbeit<br />

in Deutschland. In die vor dem ersten<br />

Weltkrieg entstandenen Wohlfahrtsschulen<br />

(Gertrud Bäumer, Alice Salomon, Hedwig Lange<br />

<strong>und</strong> Anna von Gierke) wurden ausschließlich


Frauen aufgenommen. Erst ab 1924 wurden, z.<br />

B. in das Berliner Seminar für Jugendwohlfahrt,<br />

auch Männer als Schüler aufgenommen. Siehe<br />

Friedländer, Selbstdarstellung, a. a. O., S. 64.<br />

Bis zu ihrer faktischen Auflösung 1996/97 arbeiteten<br />

in der ehrenamtlichen Sozialhilfe der<br />

Stadt Wuppertal 57 Männer <strong>und</strong> 63 Frauen.<br />

18 Die Verpflichtung der Gemeinden zur Armenpflege<br />

war im gleichnamigen preußischen Gesetz<br />

vom 31.12.1842 geregelt.<br />

19 Instruction, § 4. Diese Definition blieb jahrzehntelang<br />

unverändert, 70 Jahre später wurde<br />

sie sogar noch enger gefasst. So heißt es in § 4<br />

der Dienstordnung [künftig zitiert: DO] von<br />

1923: „Wer nicht im Besitze der notwendigsten<br />

Mittel zur Bestreitung der zum Lebensunterhalt<br />

unentbehrlichsten Gegenstände für sich <strong>und</strong> seine<br />

Familie <strong>und</strong> dabei körperlich oder aus anderen<br />

zwingenden Gründen außerstande ist, sich<br />

diese Mittel durch eigene Arbeit oder durch die<br />

Arbeit von Familienangehörigen zu beschaffen,<br />

ist, wenn er nicht von irgendeiner Seite die erforderlichen<br />

Mittel erhält, für die Dauer dieses<br />

Zustandes als hilfsbedürftig anzusehen“. Zitiert<br />

nach: Werner, a. a. O. S. 66 f.<br />

20 Instruction, § 5.<br />

21 Siehe hierzu: Deimling, Die Gründung Bridewells<br />

im Kontext der europäischen Armenfürsorge<br />

im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert, in: Josef Maria Häußling,<br />

Richard Reindl (Hrsg.), Sozialpädagogik<br />

<strong>und</strong> Strafrechtspflege. Gedächtnisschrift für<br />

Max Busch, Pfaffenweiler 1995, S. 42–84.<br />

22 Durch das 1. Gesetz zur Reform des Strafrechts<br />

vom 25.6.1969 wurde der Arbeitszwang (§ 362<br />

StGB) aufgehoben <strong>und</strong> das Arbeitshaus abgeschafft,<br />

nachdem das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht<br />

durch eine Entscheidung 1968 den Zweck der<br />

Besserung eines Erwachsenen nicht mehr als<br />

gewichtigen Gr<strong>und</strong> für die Entziehung der persönlichen<br />

Freiheit gemäß § 73 Abs. 2 <strong>und</strong> 3 BS-<br />

HG für ausreichend anerkannt hatte (BVerfGE<br />

22. Bd. (1968), S. 218, 219, 220).<br />

23 V. Holtzendorff/v. Jagemann (Hrsg.), Handbuch<br />

des Gefängniswesens, 2. Bd., Hamburg 1888,<br />

S. 267.<br />

24 Instruction § 5.<br />

25 1852 hatte Elberfeld 50.364 Einwohner; es mussten<br />

also rd. 4.000 Personen unterstützt werden.<br />

150 Jahre später beträgt die Sozialhilfequote bei<br />

367.000 Einwohnern in Wuppertal 6,0 %. Siehe:<br />

Wuppertal statistik-info, I. Quartal 2002, hrsg.<br />

vom Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal.<br />

Das Landesamt für Statistik NW gibt für Wup-<br />

pertal im Jahre 2001 die Zahl von 20.974 Empfängern<br />

von Sozialhilfe an; auf je 1.000 Einwohner<br />

kamen 57 Empfänger von laufender Hilfe<br />

zum Lebensunterhalt. 1998 waren es noch<br />

49 je 1000. Das Durchschnittsalter der Hilfeempfänger<br />

beträgt 30 Jahre; 7.697 sind unter<br />

18 Jahren. Quelle: Westdeutsche Zeitung vom<br />

17.7.2002.<br />

26 Über die in Fn. 2 genannte Literatur hinaus wird<br />

exemplarisch verwiesen auf die von Münsterberg,<br />

Berlin 1900, zusammengestellte 160-seitige<br />

<strong>und</strong> mit einem Register versehene „Bibliographie<br />

des Armenwesens. Bibliographie charitable“,<br />

auf die staatswissenschaftliche Dissertation<br />

von Müller, „Die theoretischen <strong>und</strong> allgemeinpraktischen<br />

Fürsorgelehren Emil Münsterbergs,<br />

eine Darstellung <strong>und</strong> Würdigung“ (Univ.<br />

Münster), Bottrop 1933, die staatswissenschaftliche<br />

Dissertation von Schlaudraff, „Ein Vergleich<br />

zwischen dem Elberfelder, dem Straßburger<br />

<strong>und</strong> dem Frankfurter System in der Armenpflege“<br />

(Univ. Erlangen), Nürnberg-Zirndorf<br />

1932, Deimling, 125 Jahre ehrenamtliche Sozialhilfe<br />

der Stadt Wuppertal – Vorgeschichte<br />

<strong>und</strong> gegenwärtige Situation, Zeitschrift für Sozialhilfe,<br />

16. Jg., H. 12, Dezember 1977, S. 353-<br />

358; Berger, Die ehrenamtliche Tätigkeit in der<br />

Sozialarbeit – Motive, Tendenzen, Probleme –<br />

Dargestellt am Beispiel des Elberfelder Systems.<br />

Mit einem Vorwort von Deimling, Frankfurt<br />

a. M. Bern, Las Vegas 1979.<br />

27 Siehe hierzu: Hockerts; Die historische Perspektive<br />

– Entwicklung <strong>und</strong> Gestalt des modernen<br />

Sozialstaats in Europa, in: Veröffentlichungen<br />

der Walter-Raymond-Stiftung, Bd. 35: Sozialstaat<br />

– Idee <strong>und</strong> Entwicklung, Reformzwänge<br />

<strong>und</strong> Reformziele, Köln 1996, S. 27–48.<br />

28 Der Wandel sozialpolitischer Auffassungen in<br />

Legislative <strong>und</strong> Exekutive im Verlauf von 150<br />

Jahren spiegelt sich u. a. in der Aufeinanderfolge<br />

der „Kennworte“ Armenpflege – Wohlfahrtspflege<br />

– Volkswohlfahrtspflege – Fürsorge – Sozialhilfe<br />

wieder, denen sich zeitgleich die Berufsbezeichnungen<br />

der Haupt- <strong>und</strong> Ehrenamtlichen<br />

anpassen. Aus dem Armenpfleger wird der<br />

Wohlfahrtspfleger <strong>und</strong> Volkswohlfahrtspfleger,<br />

aus diesem der Fürsorger <strong>und</strong> aus diesem der<br />

Sozialarbeiter bzw. Sozialhelfer. Konstant blieb<br />

die Bezeichnung des Bedürftigen als „Empfänger“<br />

von Armen-, Wohlfahrts-, Fürsorge- <strong>und</strong><br />

Sozialhilfe. Neuerdings scheint sich ein dienstleitungs-<br />

<strong>und</strong> professionstheoretischer Paradigmenwechsel<br />

anzukündigen, der von interessier-<br />

55


ter berufspolitischer Seite favorisiert wird. Der<br />

Empfänger staatlicher Sozialleistungen wird<br />

nun zum „Konsumenten“, „Nutzer“, „Verbraucher“<br />

bzw. „K<strong>und</strong>en“, also zum „Geber“ bzw.<br />

„Gewährer“ ideeller Gratifikationen zusätzlich<br />

zum Tarifgehalt des „Dienstleisters“. Die<br />

Rechtsansprüche des „K<strong>und</strong>en“ sollen durch<br />

„professionelle Erbringungsverhältnisse“ <strong>und</strong><br />

die Einführung neuer Qualitätsmanagementsysteme<br />

gesichert werden.<br />

29 Zitiert nach: Werner, a. a. O., S. 70.<br />

30 Noch in den Erläuterungen 1. 2. d) zur „Dienstordnung<br />

für den Ehrenamtlichen Sozialdienst<br />

der Stadt Wuppertal vom 1.3.1987“ (im Folgenden:<br />

DO 87) heißt es: „Der ehrenamtliche Sozialdienst<br />

nimmt einen wichtigen Teil der Aufgaben<br />

des Sozialamtes wahr. Er betreut Hilfeempfänger<br />

<strong>und</strong> bewilligt im Rahmen einer Dienstordnung<br />

materielle Hilfe. (...) Er erkennt frühzeitig<br />

die Notwendigkeit wirtschaftlicher oder anderer<br />

Hilfen nach dem BSHG.“<br />

31 Es handelte sich bei ihnen keineswegs um Honoratioren<br />

der „Leisure Class“, sondern um berufstätige<br />

Personen mit hohen Wochen-, Jahres<strong>und</strong><br />

Lebensarbeitszeiten, die sich überwiegend<br />

aus der sozialen Mittelschicht rekrutierten.<br />

32 Erst in den letzten Jahrzehnten wurde eine Aufwandspauschale<br />

von monatlich 10 DM für<br />

Briefporto, Telefon <strong>und</strong> Fahrtkosten vom Sozialamt<br />

bezahlt <strong>und</strong> einmal jährlich ein allseits beliebter,<br />

eintägiger Ausflug mit den Ehrenbeamten<br />

sämtlicher Bezirke <strong>und</strong> deren Angehörigen<br />

durchgeführt.<br />

33 Die Ernennungsurk<strong>und</strong>e, die von Oberstadtdirektor<br />

<strong>und</strong> Sozialdezernenten unterzeichnet<br />

wurde, hatte folgenden Wortlaut: „Ich ernenne<br />

(Name) zum ehrenamtlichen Sozialhelfer (bzw.<br />

Bezirksvorsteher) des x. Bezirks der ehrenamtlichen<br />

Sozialhilfe der Stadt Wuppertal unter Berufung<br />

in das Beamtenverhältnis als Ehrenbeamter.<br />

Ich vollziehe diese Urk<strong>und</strong>e in der Erwartung,<br />

daß der/die Ernannte seine/ihre Amtspflichten<br />

gewissenhaft erfüllt <strong>und</strong> das Vertrauen<br />

rechtfertigt, das ihm/ihr durch die Ernennung<br />

bewiesen wird.<br />

34 DO 1965, II. 1. 1. So auch Erläuterung zur DO<br />

1987, Ziff. 2.5.<br />

35 DO 1987, III. Siehe auch GO NW § 22 (Verschwiegenheitspflicht)<br />

<strong>und</strong> § 24 (Treuepflicht).<br />

36 Erläuterung zur DO 1987, Ziff. 2.6.<br />

37 Für Verdienste in ihrer langjährigen ehrenamtlichen<br />

Sozialarbeit wurden zuletzt in den 80er-<br />

Jahren <strong>und</strong> in den Jahrzehnten zuvor zahlreiche<br />

56<br />

Sozialhelfer <strong>und</strong> Bezirksvorsteher vom B<strong>und</strong>espräsidenten<br />

mit dem B<strong>und</strong>esverdienstkreuz ausgezeichnet.<br />

38 Wegen der Berufstätigkeit der meisten Ehrenbeamten<br />

kamen für die Bezirkssitzungen nur die<br />

Abendst<strong>und</strong>en in Frage. Mit den hauptamtlich<br />

tätigen Sozialarbeitern <strong>und</strong> dem Schriftführer<br />

kam es nach Jahrzehnten kollegialer Zusammenarbeit<br />

dieserhalb in den letzten Jahren zu<br />

Konflikten, die auch nicht durch eine entgegenkommende<br />

Vorverlegung der Sitzungszeiten<br />

gelöst werden konnten, weil die Freizeitinteressen<br />

der Hauptamtlichen mit der berufsbedingten<br />

Unabkömmlichkeit der Ehrenbeamten zu einer<br />

früheren Tageszeit kollidierten.<br />

39 DO 65, Ziff. 1.8.<br />

40 DO 65, Ziff. 3.3.<br />

41 1985/86 erbrachte eine einmalige Aktion zur<br />

Anwerbung neuer Mitarbeiter auf Anhieb 50<br />

Freiwillige, die am 23.7.1986 im Ratssaal des<br />

Wuppertaler Rathauses in Anwesenheit der<br />

Oberbürgermeisterin <strong>und</strong> einiger Stadtverordneter<br />

vom Oberstadtdirektor vereidigt wurden<br />

(s. hierzu: WZ vom 24.7.1986). Eine jährliche<br />

Wiederholung dieser Werbeaktion hätte mit<br />

niedrigstem Kostenaufwand nicht nur den altersbedingten<br />

Rückgang der Zahl der ehrenamtlichen<br />

Mitarbeiter ausgeglichen, sondern dazu<br />

beigetragen, die Personalstärke vergangener<br />

Jahrzehnte wiederherzustellen.<br />

42 Siehe Ziff. 5.1 der Dienstanweisung vom<br />

6.5.1980.<br />

43 DO 1987, Punkt III.<br />

44 Dieses Argument wurde von der Sozialverwaltung<br />

auch in Zeiten schwierigster Wirtschaftslagen<br />

im 19. Jh. <strong>und</strong> nach dem Ersten <strong>und</strong> Zweiten<br />

Weltkrieg niemals vorgebracht. Eine sozialrechtlich<br />

korrekte Ermittlung der Regelsätze<br />

<strong>und</strong> deren unverzügliche Auszahlung durch die<br />

Ehrenbeamten an die Bedürftigen waren im Verlauf<br />

von 140 Jahren niemals Anlass zu Beanstandungen.<br />

Nach einem Zeitungsbericht (WZ<br />

vom 18.5.2000) sollen neuerdings neben den<br />

Bezirkssozialdiensten 14 Stellen für einen „Bedarfsfeststellungsdienst“<br />

geschaffen werden.<br />

45 Sie erfuhren ihre Versetzung aus einem Anhang<br />

zum “Bericht zur Weiterentwicklung der ehrenamtlichen<br />

sozialen Arbeit in Wuppertal – Reform<br />

des Ehrenamtlichen Sozialdienstes der Stadt<br />

Wuppertal“, hrsg. vom Geschäftsbereich Soziales<br />

& Kultur, 1997, S. 115–118. Über die weitere<br />

Verwendung der verbliebenen Ehrenbeamten<br />

heißt es a. a. O., S. 48, lapidar: „Die städtischen


Ehrenbeamten sollten sich überlegen, welche<br />

Tätigkeiten sie zukünftig ausüben wollen.“<br />

46 Erläuterung zur DO 87, Ziff. 1. 2. e.<br />

47 § 13 c (2) GO NW.<br />

48 Mit der Abschaffung des Vorsteheramts wurde<br />

auch die Bezirksvorsteherversammlung als letztes<br />

Organ des Elberfelder Systems aufgelöst<br />

(DO 65, Ziff. 4. 2 <strong>und</strong> DO 87, V).<br />

49 § 4 (1) GO NW.<br />

50 Siehe hierzu: Reform des ehrenamtlichen Sozialdienstes<br />

der Stadt Wuppertal, a. a. O., S. 5–18.<br />

Sigbert Zesewitz<br />

51 § 1 GO NW: „Die Gemeinden sind die Gr<strong>und</strong>lagen<br />

des demokratischen Staatsaufbaus. Sie fördern<br />

das Wohl der Einwohner in freier Selbstverwaltung<br />

durch ihre von der Bürgerschaft gewählten<br />

Organe.“<br />

52 Dieser Text wurde vom Oberstadtdirektor der<br />

Stadt Wuppertal, Amt 50/40, im Dezember 1985<br />

als Anlage zu seinem R<strong>und</strong>schreiben an die Vorsteher<br />

der Bezirke der ehrenamtlichen Sozialhilfe<br />

weitergegeben. Er datiert vom 21.11.1985.<br />

Ein Leben für die Schifffahrt. Ewald Bellingrath zum 100. Todestag<br />

Ewald Bellingrath stammte aus Barmen,<br />

aber seine Lebensaufgabe fand er in der sächsischen<br />

Landeshauptstadt Dresden, wo er seit<br />

Mitte des Jahres 1867 bis zu seinem Tode ansässig<br />

war. 1 Hier war er der Initiator der Aktiengesellschaft<br />

„Kettenschleppschiffahrt der<br />

Oberelbe“. Bei deren Gründung im Jahre 1869<br />

wurde er als Direktor bestellt, <strong>und</strong> seit 1881,<br />

nach der Ausweitung des Unternehmens zur<br />

„KETTE – Deutsche Elbschiffahrts-Gesellschaft“,<br />

war er Generaldirektor, bis er 1898 in<br />

den Aufsichtsrat gewählt wurde. Die von ihm<br />

geleitete Gesellschaft entwickelte sich im Laufe<br />

eines Jahrzehnts zum führenden Unternehmen<br />

der deutschen Elbeschifffahrt.<br />

Bellingrath wurde am 18. April 1838 geboren.<br />

Sein Vater, Carl Friedrich Bellingrath<br />

(1801–1844), war Seidenwarenfabrikant. Er<br />

gehörte zwar nicht zu den führenden Industriellen<br />

von Barmen, aber er war immerhin Stadtrat<br />

<strong>und</strong> als solcher auch nicht ohne Einfluss. 2<br />

Da er schon früh verstorben war, führte<br />

Bellingraths Mutter, Christine geb. Karthaus<br />

(1802–1881), das Geschäft weiter. Sie ermöglichte<br />

ihrem Sohn eine gute Ausbildung. Der<br />

junge Bellingrath besuchte das Realgymnasium,<br />

das er allerdings ohne Abschluss verließ,<br />

<strong>und</strong> ging dann zwei Jahre auf die Gewerbeschule<br />

in Hagen/Westfalen. Es folgten ein Volontariat<br />

in der Krupp’schen Gussstahlfabrik in<br />

Essen <strong>und</strong> 1858 der Militärdienst bei den Gar-<br />

Dr.-Ing. E. h. Ewald Bellingrath (1838–1903).<br />

Foto: Technische Universität Dresden, Universitätsarchiv.<br />

depionieren in Berlin. Anschließend studierte<br />

Bellingrath an den polytechnischen Schulen in<br />

Lüttich, Karlsruhe (vom Herbst 1859 bis<br />

57


Ostern 1861) <strong>und</strong> Zürich. 1864 engagierte er<br />

sich als Teilhaber eines Stahlwerks, das jedoch<br />

gegen Krupp nicht bestehen konnte. Danach<br />

war Bellingrath noch zwei Jahre als Ingenieur<br />

in rheinischen Maschinenfabriken tätig, bevor<br />

er nach Dresden kam.<br />

Hier bemühten sich Handels- <strong>und</strong> Schifffahrtskreise<br />

um die Verbesserung der Verkehrsverhältnisse<br />

auf der Elbe. Der Massengutverkehr,<br />

der infolge der fortschreitenden Industrialisierung<br />

schnell anwuchs, konnte nicht mehr<br />

auf herkömmliche Weise durch das Segeln <strong>und</strong><br />

Treideln der antriebslosen Güterschiffe bewältigt<br />

werden. Aber die verfügbaren Radschleppdampfer<br />

waren noch unwirtschaftlich <strong>und</strong> leistungsschwach<br />

<strong>und</strong> hatten einen zu großen Tiefgang.<br />

Da war das aus Frankreich bekannte <strong>und</strong><br />

auf der Magdeburger Stromelbe bereits seit<br />

1866 betriebene eigenartige System, bei dem<br />

sich die Schleppdampfer mittels einer Dampfwinde<br />

an einer im Flussbett ausgelegten Kette<br />

entlangzogen, eine Erfolg versprechende Alternative,<br />

um der Elbeschifffahrt die erforderliche<br />

Leistungsfähigkeit für den Wettbewerb mit den<br />

Eisenbahnen zu verschaffen.<br />

Wir können nur vermuten, warum sich Bellingrath<br />

nach Dresden wandte. Kam er schon<br />

mit Kettenschifffahrtsprojekten, oder fasste er<br />

erst unter dem Eindruck der erwähnten Bestrebungen<br />

seine Entschlüsse? Vielleicht hatte ihn<br />

Gustav Zeuner empfohlen, 3 der ihn von seiner<br />

Züricher Studienzeit kannte <strong>und</strong> mit dem er<br />

später während dessen Tätigkeit am Dresdner<br />

Polytechnikum eng zusammenarbeitete, oder<br />

es bestanden Verbindungen zwischen den rheinischen<br />

Unternehmen, in denen Bellingrath<br />

gearbeitet hatte, <strong>und</strong> der Sächsischen Gussstahlfabrik<br />

in Döhlen, deren Direktor Richard<br />

Grahl bei Gründung der Dresdner Kettenschifffahrtsgesellschaft<br />

ihr stellvertretender<br />

Verwaltungsratsvorsitzender wurde. Jedenfalls<br />

widmete sich Bellingrath voller Tatendrang –<br />

er war erst 30 Jahre alt – der Einführung der<br />

Kettenschifffahrt. Er fand Geldgeber, hauptsächlich<br />

das Dresdner Bankhaus Philipp Elimeyer,<br />

<strong>und</strong> es gelang ihm auch, die kleingewerblichen<br />

Privatschiffer nach anfänglich heftiger<br />

Gegnerschaft für sein Projekt zu gewinnen.<br />

4 So konnte am 5. Mai 1869 die Ketten-<br />

58<br />

schleppschifffahrt der Oberelbe (KSO) in Dresden<br />

gegründet werden. Schon am 1. November<br />

1869 wurde der Betrieb auf der 49 km langen<br />

Teilstrecke zwischen Merschwitz (oberhalb<br />

von Riesa) <strong>und</strong> Loschwitz (oberhalb von Dresden)<br />

eröffnet. Im Juli 1870 war die Kette auf<br />

der gesamten sächsischen Strecke von Kreinitz<br />

bis Schmilka (118 km) ausgelegt, <strong>und</strong> im September<br />

1871 wurde die Gesamtstrecke bis<br />

Magdeburg vollendet (331 km). 1873 nahm<br />

die Gesellschaft auch auf der Saale die Kettenschifffahrt<br />

auf, zunächst nur von der Mündung<br />

bis Calbe (22 km); diese Strecke wurde 1884<br />

nach Halle verlängert (105 km).<br />

Bereits nach kurzer Zeit beherrschte die<br />

KSO das Schleppgeschäft oberhalb Magdeburgs.<br />

Aber Bellingrath erkannte bald, dass<br />

seine Gesellschaft diese Stellung nur erhalten<br />

<strong>und</strong> ausbauen konnte, wenn sie sich auch im<br />

Frachtgeschäft betätigte. 1876 übernahm sie<br />

die Leitung des Verbandes oberelbischer Schiffer.<br />

Bellingrath hatte eine Organisationsform<br />

gef<strong>und</strong>en, mit der er die zersplittert wirtschaftenden<br />

Privatschiffer zusammenfasste <strong>und</strong> in<br />

seine Konzentrationsbestrebungen einbezog,<br />

wobei er sogar an bestimmte Vorstellungen der<br />

Privatschiffer anknüpfen konnte. Diesem Vorbild<br />

folgend, gründeten später auch andere<br />

Elbeschifffahrtsgesellschaften ähnliche Verbände.<br />

Nach dem Ankauf der Dresdner Frachtschiffahrts-Gesellschaft<br />

(gegr. 1872) im Jahre<br />

1878 gelang es Bellingrath in den Jahren<br />

1879/80, die Vereinigte Hamburg-Magdeburger<br />

Dampfschiffahrts-Compagnie 5 (gegr.<br />

1837) <strong>und</strong> die Dresdner Elbdampfschifffahrts-<br />

Gesellschaft (gegr. 1865), die beiden anderen<br />

bedeutenden Elbeschifffahrtsunternehmen neben<br />

der KSO, in ein Kartell bzw. eine Betriebsgemeinschaft<br />

mit der KSO einzubinden. Das<br />

waren die Vorstufen zur Fusion der genannten<br />

Unternehmen, die am 13. September 1881 mit<br />

der Gründung der KETTE – Deutsche Elbschiffahrts-Gesellschaft<br />

vollzogen wurde. Ende<br />

1882 besaß die KETTE das gesamte im<br />

deutschen Elbegebiet vorhandene Kettenschifffahrtsmaterial<br />

(625 km Elbe-Kette von<br />

Hamburg bis Schmilka, 22 km Saale-Kette von<br />

der Mündung bis Calbe, 27 Kettendampfer)


sowie zwölf Radschleppdampfer, acht Eilgutdampfer,<br />

zwei Personendampfer, einen Bugsierdampfer<br />

<strong>und</strong> 107 Schleppkähne. Unternehmen<br />

dieser Größe hatte es bisher in der Elbeschifffahrt<br />

nicht gegeben.<br />

Kehren wir noch einmal zur Gründung <strong>und</strong><br />

den ersten Betriebsjahren der KSO zurück.<br />

Parallel zum Aufbau dieser Gesellschaft befasste<br />

sich Bellingrath nämlich noch mit weiteren<br />

Projekten, <strong>und</strong> es ist schon erstaunlich,<br />

dass er trotz der vielen Schwierigkeiten der<br />

Unternehmensgründung dafür noch Zeit fand.<br />

Am 25. Juni 1869 war auf Initiative von Friedrich<br />

Harkort der Zentralverein für die Hebung<br />

der deutschen Fluss- <strong>und</strong> Kanalschifffahrt in<br />

Berlin gegründet worden. 6 Schon Bellingraths<br />

Engagement für die Kettenschifffahrt war von<br />

dem Bestreben getragen, die Position der Binnenschifffahrt<br />

im Wettbewerb mit den Eisenbahnen<br />

zu stärken. Der Zentralverein bot dafür<br />

das geeignete Podium. Bellingrath muss ihm<br />

bald nach der Gründung beigetreten sein.<br />

Wahrscheinlich lernte er hier den Berliner<br />

Kaufmann Friedrich Eduard Gustav Grosse<br />

kennen, der den Bau eines Elbe-Spree-Kanals<br />

von Dresden nach Berlin propagierte <strong>und</strong> sein<br />

Projekt im Dezember 1868 vorgestellt hatte.<br />

Bellingrath vertiefte dessen Vorschläge zur<br />

Bauausführung <strong>und</strong> zur Betriebsführung sowie<br />

die Nutzen-Kosten-Berechnung des Kanals.<br />

Gemeinsam mit Grosse verfolgte Bellingrath<br />

außerdem das Projekt eines Kanals zwischen<br />

dem Jungfernsee (bei Potsdam) <strong>und</strong> Paretz<br />

(nordwestlich von Potsdam), der die Fahrt<br />

durch die Potsdamer Havelseen abkürzen sollte.<br />

Im August 1872 beantragten die beiden die<br />

Baugenehmigung; sie wurde jedoch nicht erteilt,<br />

weil der Sacrow-Paretzer Kanal bereits<br />

als öffentliche Wasserstraße geplant war. Wenn<br />

auch nicht von Bellingrath <strong>und</strong> Grosse, so wurde<br />

dieser Kanal zwischen 1874 <strong>und</strong> 1876 immerhin<br />

gebaut. Der Elbe-Spree-Kanal ist dagegen<br />

nie ausgeführt worden.<br />

Trotzdem setzte Bellingrath auch in den<br />

folgenden Jahren seine Bemühungen um den<br />

Ausbau der Wasserstraßen fort. Er stellte das<br />

Projekt des Elbe-Spree-Kanals in den größeren<br />

Zusammenhang eines ganzen Systems leistungsfähiger<br />

Wasserstraßen <strong>und</strong> machte auf<br />

dessen volkswirtschaftliche Bedeutung aufmerksam.<br />

1879 erschienen seine „Studien über<br />

Bau <strong>und</strong> Betriebsweise eines deutschen Kanalnetzes“,<br />

die auf umfassender Auswertung des<br />

internationalen Schrifttums <strong>und</strong> eigenen Erkenntnissen<br />

beruhten. Das Buch galt lange als<br />

das Hand- <strong>und</strong> Lehrbuch des Fachgebiets. Im<br />

Interesse der Wirtschaftlichkeit der Schifffahrt<br />

forderte Bellingrath einheitliche Mindestabmessungen<br />

der künstlichen Wasserstraßen.<br />

Diese sollten für das 350-t-Schiff geeignet<br />

sein. Zur Überwindung großer Höhenunterschiede<br />

hatte er einen „hydrostatischen Wagen“<br />

erf<strong>und</strong>en, mit dem die Schiffe auf einem<br />

Schrägaufzug über die Wasserscheide zwischen<br />

zwei Kanalhaltungen gebracht werden<br />

sollten. Als wissenschaftlich gebildeter Ingenieur<br />

hatte Bellingrath aber auch erkannt, dass<br />

noch viele technische Fragen nicht geklärt waren.<br />

So regte er insbesondere an, den Einfluss<br />

der Schiffsform <strong>und</strong> des Kanalquerschnitts auf<br />

den Schiffswiderstand zu untersuchen.<br />

Als 1883/86 die Gesetzesvorlage für den<br />

Bau des Dortm<strong>und</strong>-Ems-Kanals im preußischen<br />

Landtag behandelt wurde, machte sich<br />

der nationalliberale Abgeordnete Ernst v. Eynern,<br />

ein Fre<strong>und</strong> Bellingraths aus der Barmer<br />

Schulzeit, dessen Sachverstand zunutze <strong>und</strong><br />

zog ihn zu den Sitzungen des Herrenhauses<br />

hinzu. 7 Auf dem 5. Internationalen Binnenschifffahrts-Kongress<br />

1892 in Paris erstattete<br />

Bellingrath gemeinsam mit dem Potsdamer<br />

Geheimen Baurat Dieckhoff einen Bericht<br />

über die Schifffahrtsverhältnisse auf der Elbe<br />

<strong>und</strong> der Oder.<br />

Im Zusammenhang mit dem Ausbau des<br />

Wasserstraßennetzes interessierten Bellingrath<br />

nicht nur wasserbauliche <strong>und</strong> wirtschaftliche<br />

Fragen. Intensiv widmete er sich auch der Verbesserung<br />

der Schiffstechnik. Dazu nutzte er<br />

vor allem die seit 1878 zur KSO gehörende<br />

Werft Übigau, die unter seiner Leitung großzügig<br />

ausgebaut wurde. 1892 ließ er hier nach<br />

dem Vorbild von William Froude eine Versuchsanstalt<br />

einrichten; sie war die erste <strong>und</strong><br />

acht Jahre lang auch die einzige in Deutschland.<br />

8 Die erwähnten, bereits 1879 angeregten<br />

Untersuchungen konnten nun im eigenen Hause<br />

systematisch betrieben werden. Bellingrath<br />

59


gewann dafür in Hubert Engels den geeigneten<br />

Fachmann. 9 Engels untersuchte seit 1897 den<br />

Einfluss von Form <strong>und</strong> Größe eines Kanalquerschnitts<br />

auf den Schiffswiderstand. Darüber<br />

hinaus sind in Übigau zahlreiche Versuche<br />

für fremde Auftraggeber, u.a. für die Kaiserliche<br />

Marine, zur Ermittlung der günstigsten<br />

Schiffsform von See- <strong>und</strong> Binnenschiffen <strong>und</strong><br />

zur Schaffung von Berechnungsgr<strong>und</strong>lagen<br />

für Schraubenpropeller ausgeführt worden.<br />

1903/04 wurde mit staatlicher Förderung ein<br />

Neubau errichtet, den auch die Technische<br />

Hochschule Dresden für Forschung <strong>und</strong> Lehre<br />

nutzte.<br />

Neuen Wirkprinzipien für den Antrieb<br />

flachgehender Binnenschiffe stand Bellingrath<br />

stets aufgeschlossen gegenüber. Selbst unkonventionelle<br />

Lösungen waren ihm eine nähere<br />

Untersuchung wert. Dies beweisen das Versuchsschiff,<br />

das 1882 in Übigau erbaut wurde,<br />

um den „Hydromotor“ von Emil Fleischer zu<br />

erproben, <strong>und</strong> die Entwicklung des „Turbinenpropellers“<br />

durch Gustav Zeuner. 10 Während<br />

sich das Hydromotorschiff als Fehlschlag erwies,<br />

war der Turbinenpropeller eine zukunftsträchtige<br />

Erfindung. Für dessen Erprobung<br />

stellte Bellingrath im Herbst 1891 das Dampfboot<br />

„Elbfee“ zur Verfügung. Seit 1893 wurden<br />

mehrere auf der Schiffswerft Übigau erbaute<br />

Schiffe mit Turbinenpropellern ausgerüstet,<br />

darunter zwei Kettendampfer für die<br />

KETTE <strong>und</strong> acht Kettendampfer für den Einsatz<br />

auf dem oberen Main. Nach h<strong>und</strong>ert Jahren<br />

erfährt dieses Vortriebsmittel heute – natürlich<br />

weiterentwickelt <strong>und</strong> verbessert – als<br />

„Pump-Jet“ eine Wiedergeburt.<br />

Bellingrath hat auf diese Weise auch den<br />

Fortschritt der Schiffstechnik im Allgemeinen<br />

gefördert. So war es nur folgerichtig, dass er<br />

sogleich der Schiffbautechnischen Gesellschaft<br />

beitrat, als diese 1899 in Berlin nach<br />

dem Vorbild der britischen Institution of Naval<br />

Architects (gegr. 1860) zur Förderung des wissenschaftlichen<br />

Austauschs auf dem Gebiet der<br />

Schiffstechnik gegründet worden war.<br />

Seit 1880 war Bellingrath Mitglied der<br />

Handelskammer zu Dresden, wo er seinen Einfluss<br />

geltend machte, um der Elbeschifffahrt<br />

günstige Rahmenbedingungen zu verschaffen.<br />

60<br />

So hat er die Schifffahrtspolizeiordnung von<br />

1894, das Binnenschifffahrtsgesetz von 1895<br />

<strong>und</strong> die Eichordnung von 1899 mitgestaltet.<br />

Vor allem beschäftigte ihn jedoch die Wirtschaftlichkeit<br />

der Binnenschifffahrt. Mit dieser<br />

Frage war er seit der Gründung der KSO <strong>und</strong><br />

seit seinen Kanalprojekten konfrontiert, <strong>und</strong><br />

sie ließ ihn bis an sein Lebensende nicht mehr<br />

los. Als Unternehmer befürwortete Bellingrath<br />

natürlich Tarife, die an Wirtschaftlichkeitskriterien<br />

<strong>und</strong> an den Regeln des Marktes ausgerichtet<br />

waren, <strong>und</strong> kritisierte die staatlich reglementierten<br />

Eisenbahn- <strong>und</strong> Kettenschifffahrts-Tarife.<br />

Die soziale Frage beantwortete Bellingrath<br />

für sein Unternehmen schon wenige Jahre nach<br />

dessen Gründung. Am 1. März 1874 errichtete<br />

die KSO eine Pensions- <strong>und</strong> Unterstützungskasse<br />

für ihre Schiffsmannschaft. Sie wurde<br />

aus Beiträgen der Mitglieder <strong>und</strong> Zuschüssen<br />

des Unternehmens finanziert. Ob Bellingrath<br />

aus eigenem Antrieb handelte, oder ob er<br />

durch das Vorbild der Sächsisch-Böhmischen<br />

Dampfschiffahrts-Gesellschaft (SBDG) in<br />

Dresden angeregt wurde, ist nicht überliefert. 11<br />

Jedenfalls waren dafür nicht allein humanitäre<br />

Gründe maßgebend, sondern auch das Interesse<br />

der Gesellschaft am „Zusammenhalt der<br />

Schiffsmannschaften“ <strong>und</strong> an der „Wahrung<br />

der nothwendigen Disciplin“. 12 Offensichtlich<br />

war die Fluktuation vor allem unter den jüngeren<br />

Besatzungsmitgliedern hoch, was erklärlich<br />

ist, wenn man an die auf den Schiffen übliche<br />

tägliche Arbeitszeit von 15 bis 16 St<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> an die oft wochenlange Abwesenheit vom<br />

Heimatort denkt. 13 Mit dem Bestreben, in patriarchalischer<br />

Manier die soziale Not der<br />

Lohnarbeiter bei Krankheit, Unfall <strong>und</strong> im Alter<br />

zu lindern <strong>und</strong> ein Treueverhältnis zwischen<br />

ihnen <strong>und</strong> dem Unternehmen zu schaffen,<br />

stand Bellingrath nicht allein. Dennoch ist<br />

zu würdigen, dass diese Kasse zehn bzw. 15<br />

Jahre vor der gesetzlichen Regelung der Kranken-<br />

<strong>und</strong> Unfallversicherung (1883/84) <strong>und</strong><br />

der Alters- <strong>und</strong> Invalidenversicherung (1889)<br />

gegründet wurde.<br />

Über den Menschen Bellingrath ist nur<br />

wenig bekannt. Sein Barmer Landsmann<br />

Gustav Soll von der Burschenschaft „Teutonia“,


der Bellingrath seit seiner Karlsruher Studienzeit<br />

angehörte, schildert ihn als „stattlichen,<br />

blonden Jüngling, schneidigen Fechter <strong>und</strong><br />

schlagfertigen Redner“, der schon nach einem<br />

Semester zum Sprecher ernannt worden war.<br />

Als überzeugter Burschenschafter sei er „vom<br />

nationalen Einheitsgedanken durchdrungen“<br />

gewesen <strong>und</strong> habe sich als „eifriges Mitglied<br />

des damaligen Nationalvereins“ betätigt. 14 Der<br />

preußische Gesandte in Dresden führte<br />

1883/84 das scharfe Vorgehen der KETTE gegen<br />

die konkurrierenden Gesellschaften auf<br />

den „unruhigen Geist“ <strong>und</strong> den Ehrgeiz Bellingraths<br />

zurück. 15 Hinsichtlich der Charaktereigenschaften<br />

dieses Mannes mag das immerhin<br />

zutreffen, aber es wird wohl eher so gewesen<br />

sein, dass Bellingrath im Interesse seiner Gesellschaft<br />

einen ihm richtig erscheinenden Weg<br />

zielstrebig <strong>und</strong> konsequent verfolgte. Dies ist<br />

auch in den zahlreichen Schreiben Bellingraths<br />

zu spüren, die er an die preußischen <strong>und</strong> die<br />

sächsischen Ministerien richtete, um den bürokratischen<br />

Gang der jeweiligen Konzessionsangelegenheiten<br />

zu beschleunigen <strong>und</strong> deren<br />

Ton im Laufe der Jahre immer streitbarer wurde.<br />

Dass sein sachbezogenes Engagement auch<br />

an Rücksichtslosigkeit grenzen konnte, zeigt<br />

Bellingraths Verhalten gegenüber seinem Mitbewerber<br />

um die sächsische Kettenschifffahrtskonzession,<br />

den Baumeister F. A. Fiedler,<br />

den er im April 1869 aus dem Gründungskomitee<br />

der KSO verdrängt hatte. Andere Quellen<br />

würdigen die „vornehme Natur“ Bellingraths,<br />

der „auch inmitten der regsten Erwerbstätigkeit<br />

niemals seinen idealen Sinn“ verleugnet<br />

<strong>und</strong> „stets ein lebhaftes Interesse für Kunst <strong>und</strong><br />

Wissenschaft“ bewahrt habe. 16<br />

Am 4. April 1868 heirate Bellingrath Emilie<br />

Juliane Josephine Catharina Wagner (geb.<br />

30. August 1838, gest. 17. März 1900) aus<br />

Karlsruhe, eine Tochter des pensionierten Registrators<br />

Maximilian Joseph Wagner <strong>und</strong><br />

dessen verstorbener Frau Caroline, geb.<br />

Schmolz. 17 Emilie Wagner, die Bellingrath<br />

vielleicht schon während seiner Studienzeit in<br />

Karlsruhe kennen gelernt hatte, war Konzertsängerin<br />

<strong>und</strong> wird als „eine der glänzendsten<br />

Erscheinungen in den süd- <strong>und</strong> westdeutschen<br />

Concertsälen <strong>und</strong> auf den rheinischen<br />

Musikfesten“ geschildert. 18 Zwischen 1866<br />

<strong>und</strong> 1869 trat sie viermal in dem berühmten<br />

Leipziger Gewandhaus auf, zuletzt in der Uraufführung<br />

des Deutschen Requiems von Johannes<br />

Brahms am 18. Februar 1869, wo sie<br />

das Sopran-Solo sang. 19 Bald darauf scheint sie<br />

sich allerdings aus der Öffentlichkeit zurückgezogen<br />

zu haben. Sicher hat sie jedoch auch<br />

später die Hausmusik gepflegt, ja wahrscheinlich<br />

sogar vor geladenen Gästen private Konzerte<br />

unter Mitwirkung von Musikern der<br />

Dresdner Staatskapelle gegeben. 20 Nach ihrem<br />

Tod heiratete Bellingrath Mathilde Henriette<br />

Therese, verw. Posen, geb. v. Bothmer, eine<br />

Tochter des hannoverschen Obersten Theodor<br />

Freiherrn v. Bothmer. 21<br />

Auf dem Gebiet der Kettenschifffahrt wurde<br />

Bellingrath bald zur ersten Autorität<br />

Deutschlands. Zwischen 1870 <strong>und</strong> 1874 bemühte<br />

er sich gemeinsam mit seinem Kanalprojekt-Partner<br />

Grosse um Kettenschifffahrtskonzessionen<br />

für die Havel, die Spree, den<br />

Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal <strong>und</strong> die<br />

Rüdersdorfer Gewässer. Zehn Jahre später, im<br />

November 1880, sehen wir ihn als Beauftragten<br />

der Breslauer Discontobank Friedenthal &<br />

Co. <strong>und</strong> des uns bereits bekannten Dresdner<br />

Bankhauses Ph. Elimeyer, die einen Kettenoder<br />

Seilschifffahrtsbetrieb auf der Oder oberhalb<br />

von Küstrin <strong>und</strong> auf der Warthe einrichten<br />

wollten. Diese Projekte sind jedoch nicht ausgeführt<br />

worden.<br />

Am Neckar bemühte sich ein Heilbronner<br />

Komitee seit 1872 um die Einführung der Kettenschifffahrt.<br />

Es gewann Bellingrath als Berater,<br />

der die technischen <strong>und</strong> organisatorischen<br />

Vorarbeiten übernahm <strong>und</strong> die Bauaufträge für<br />

die Kettendampfer an die Sächsische Dampfschiffs-<br />

<strong>und</strong> Maschinenbauanstalt in Dresden-<br />

Neustadt vermittelte. Der Betrieb auf der r<strong>und</strong><br />

115 km langen Strecke zwischen Mannheim<br />

<strong>und</strong> Heilbronn wurde am 23. Mai 1878 aufgenommen.<br />

Er entwickelte sich von Anfang an<br />

erfolgreich. Bis zur Jahrh<strong>und</strong>ertwende stieg<br />

die Transportmenge auf durchschnittlich<br />

130.000 t im Jahr an. Als „Vater der Kettenschiffahrt<br />

auf dem Neckar“ erhielt Bellingrath<br />

„aus der Hand des württembergischen Königs“<br />

den Friedrichsorden 1. Klasse. 22 Belling-<br />

61


ath war außerdem Träger des sächsischen Albrechtsordens<br />

1. Klasse <strong>und</strong> des preußischen<br />

Kronenordens 3. Klasse. 23<br />

In ähnlicher Weise engagierte sich Bellingrath<br />

für die Kettenschifffahrt auf dem Main.<br />

Auch hier wurde die Verbesserung der Schifffahrtsverhältnisse<br />

dringend gefordert. Die<br />

Uferstaaten hatten sich zu einer Stauregelung<br />

des unteren Mains entschlossen, <strong>und</strong> nun stritten<br />

die Fachleute um die wirtschaftlichste Fortbewegung<br />

der antriebslosen Güterschiffe. Bellingrath<br />

befürwortete in einem Gutachten vom<br />

10. November 1879 <strong>und</strong> in einer 1880 erschienenen<br />

Schrift Kettenschlepper als die günstigste<br />

Lösung. Die Aktiengesellschaft Mainkette<br />

in Mainz konnte allerdings erst 1883 gegründet<br />

werden, nachdem das schon mehrmals<br />

erwähnte Bankhaus Ph. Elimeyer, vermutlich<br />

62<br />

durch Bellingraths Vermittlung, die Hälfte des<br />

Gründungskapitals übernommen hatte. Der<br />

Betrieb zwischen Mainz <strong>und</strong> Aschaffenburg<br />

wurde am 7. August 1886 eröffnet; im Sommer<br />

1895 wurde die Strecke bis Lohr verlängert.<br />

Inzwischen hatte Bayern 1894 auch auf dem<br />

oberen Main die Voraussetzungen für die Einrichtung<br />

der Kettenschifffahrt geschaffen. Die<br />

Betriebsführung auf der bayerischen Strecke<br />

wurde der Königlich Bayerischen Ketten-<br />

Schleppschiffahrt (KBKS) übertragen. Diese<br />

beschaffte zwischen 1898 <strong>und</strong> 1911 insgesamt<br />

acht Kettendampfer von der Schiffswerft Übigau.<br />

1912 wurde der Endpunkt Bamberg erreicht.<br />

In ähnlicher Weise wie auf dem Neckar<br />

waren auch auf dem Main der Fortbestand <strong>und</strong><br />

die weitere Entwicklung der Schifffahrt gesichert<br />

worden. Abgesehen von den natürlichen<br />

Prinzipskizze eines Kettendampfers <strong>und</strong> Lage der Kette in der Elbe bei Dresden, vermutlich von Bellingrath<br />

entworfen. Die rechts vor dem Dampfer im Fluss liegende Kette wird über den Ausleger<br />

„A“ aufgenommen, umschlingt die beiden von einer Dampfmaschine angetriebenen Kettentrommeln<br />

„T“ auf je drei halben Trommelumfängen <strong>und</strong> fällt am hinteren Ausleger wieder ins Wasser.<br />

Quelle: Prospekt für die Ketten-Schleppschifffahrt auf der Oder-Elbe.


Bedingungen beider Flüsse, unter denen die<br />

Kettenschifffahrt besonders wirksam war, hatte<br />

hier an dem wirtschaftlichen Erfolg dieses Betriebssystems<br />

sicher die sachverständige Mitwirkung<br />

Bellingraths gehörigen Anteil. Natürlich<br />

verfolgte Bellingrath auch eigene Interessen,<br />

wenn er die Bauaufträge für die Neckar-<br />

Kettendampfer <strong>und</strong> die Kapitalbeteiligung an<br />

der AG Mainkette nach Dresden vermittelte.<br />

An der KBKS war er insofern unmittelbar interessiert,<br />

als deren Kettendampfer von seiner<br />

Gesellschaft <strong>und</strong> vor allem nach seinen Patenten<br />

gebaut werden sollten.<br />

Im Elbegebiet war die Kettenschifffahrt<br />

Mitte der achtziger Jahre des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

auf dem Höhepunkt angelangt. Innerhalb weniger<br />

Jahre hatte sie die Jahrh<strong>und</strong>erte lang unveränderte<br />

Betriebsweise vollkommen umgewälzt.<br />

Erst ihre maschinelle Zugkraft, die jedermann<br />

zu staatlich genehmigten Tarifen zur<br />

Verfügung stand, konnte den Segel- <strong>und</strong> Treidelbetrieb<br />

ablösen. Ein Heer von Treidlern<br />

wurde entbehrlich, die Besatzung der Kähne<br />

um die Hälfte verringert. Beträchtliche soziale<br />

Wirkungen waren die Folge. Gleichzeitig wurden<br />

die Langsamkeit <strong>und</strong> die Unzuverlässigkeit<br />

des Gütertransports überw<strong>und</strong>en. Selbst<br />

große Fahrzeuge konnten jetzt mühelos fortbewegt<br />

werden. Die Abmessungen der Elbkähne<br />

wuchsen daher seit der Einführung der Kettenschifffahrt<br />

ständig. Der günstige Wirkungsgrad<br />

der Energieumwandlung führte außerdem zu<br />

einer anhaltenden Senkung der Schlepptarife<br />

<strong>und</strong> in ihrem Gefolge auch der Frachtraten.<br />

Damit war die Elbeschifffahrt gegenüber den<br />

Eisenbahnen wieder wettbewerbsfähig geworden.<br />

Insbesondere gewann sie bedeutende Anteile<br />

am Massengutverkehr. Der Bergverkehr<br />

in Hamburg, der zwischen 1855 <strong>und</strong> 1870 bei<br />

etwa 350.000 t jährlich stehen geblieben war,<br />

stieg nach dem Ausbau der Kettenschifffahrt<br />

zwischen 1872 <strong>und</strong> 1874 auf durchschnittlich<br />

550.000 t <strong>und</strong> erreichte zehn Jahre später bereits<br />

1,1 Mio. t. Schließlich ist nicht zu übersehen,<br />

dass die Kettenschifffahrt ein Kapital von<br />

solcher Höhe erforderte, wie es in der Elbeschifffahrt<br />

bisher nicht angelegt worden war.<br />

So wurde die KSO mit einem Kapital von 2,4<br />

Mio. Mark gegründet, das der KETTE betrug<br />

7,2 Mio. Mark. Das neue System förderte damit<br />

auch die Entstehung moderner großer<br />

Transportunternehmen.<br />

Aber bereits Ende der siebziger Jahre des<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>erts begann sich eine zunehmende<br />

Leistungsfähigkeit der Radschleppdampfer abzuzeichnen.<br />

Zwischen 1880 <strong>und</strong> 1890 machte<br />

ihre technische Weiterentwicklung geradezu<br />

sprunghafte Fortschritte. Durch die Stromregelung<br />

war auch das Fahrwasser erheblich verbessert<br />

worden. Verglichen mit den Radschleppdampfern<br />

band die Kettenschifffahrt<br />

außerdem ein erhebliches Anlagekapital; allein<br />

die Elbe-Kette hatte 1888 einen Wert von<br />

knapp 2,9 Mio. Mark. Die Kettendampfer verloren<br />

dadurch sowohl in technischer als auch in<br />

wirtschaftlicher Hinsicht ihre einstige Überlegenheit.<br />

Bellingrath verfolgte diese Entwicklung<br />

mit großer Aufmerksamkeit <strong>und</strong> wachsender<br />

Besorgnis. Schon 1879 hatte er darauf hingewiesen,<br />

dass die Leistungsfähigkeit der Radschleppdampfer<br />

dank der Einführung der Verb<strong>und</strong>maschine<br />

<strong>und</strong> der Fahrwasserverbesserungen<br />

zugenommen habe. 1884 kam er dann<br />

zu dem ernüchternden Schluss, dass die Kettenschifffahrt<br />

für seine Gesellschaft wertlos<br />

geworden sei.<br />

Bellingrath verstärkte nunmehr seine Anstrengungen<br />

zur Aufhebung der den freien<br />

Wettbewerb hemmenden Kettenschifffahrts-<br />

Konzessionen der Uferstaaten sowie zur Diversifikation<br />

des Unternehmens <strong>und</strong> zur Erneuerung<br />

der Betriebsmittel. Insbesondere die<br />

Frachtschifffahrt <strong>und</strong> der Werftbetrieb wurden<br />

zielstrebig ausgebaut. 1898 hob die Gesellschaft<br />

die Kettenschifffahrt auf dem besonders<br />

unwirtschaftlichen Abschnitt zwischen Hamburg<br />

<strong>und</strong> Niegripp (unterhalb von Magdeburg)<br />

auf. Gleichzeitig versuchte Bellingrath, das<br />

System auf der verbleibenden Strecke zwischen<br />

Niegripp <strong>und</strong> Schmilka (348 km) weiterzuentwickeln,<br />

ohne das Gr<strong>und</strong>prinzip der Fortbewegung<br />

aufgeben zu müssen. Er ersetzte die<br />

Trommelwinde, die er als die Ursache des starken<br />

Kettenverschleißes erkannt hatte, durch<br />

das von ihm erf<strong>und</strong>ene „Greifrad“. Außerdem<br />

sollten die Kettendampfer zu Tal nicht mehr an<br />

der Kette fahren, um die Kette zu schonen <strong>und</strong><br />

die langwierigen Begegnungsmanöver der<br />

63


Kettendampfer zu vermeiden. Als Vortriebsmittel<br />

waren Turbinenpropeller vorgesehen.<br />

1895 wurde der erste Kettendampfer dieses<br />

Typs in Dienst gestellt. Anders als auf dem<br />

Main hatte die mit großer Zuversicht angekündigte<br />

Reform der Kettenschifffahrt auf der Elbe<br />

jedoch nicht den erhofften durchschlagenden<br />

Erfolg. Hier war der Radschleppdampfer<br />

um die Wende vom 19. zum 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

auf seiner höchsten Entwicklungsstufe angelangt<br />

<strong>und</strong> durch kein anderes mit Dampfkraft<br />

arbeitendes System mehr zu übertreffen.<br />

Die zunehmende Schwächung der Kettenschifffahrt,<br />

ihrer vormals stärksten Stütze,<br />

brachte die KETTE schon im letzten Jahrzehnt<br />

des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts in eine immer schwierigere<br />

Lage. Schließlich wurde sie durch die Wirtschaftskrise<br />

von 1901/02 derart angeschlagen,<br />

dass sie im Oktober 1903 gezwungen war, auf<br />

ein Fusionsangebot der Dampfschleppschifffahrts-Gesellschaft<br />

vereinigter Elbe- <strong>und</strong> Saale-Schiffer<br />

einzugehen. Am 12. Dezember<br />

1903 übertrug die KETTE ihr Vermögen unter<br />

hohem Verlust auf die „Vereinigten“ <strong>und</strong> löste<br />

sich auf.<br />

So sind Bellingraths letzte Lebensjahre von<br />

einer gewissen Tragik überschattet. Der frühe<br />

Tod seiner Frau Emilie am 17. März 1900 hatte<br />

ihn sehr erschüttert. Als er im Sommer 1900<br />

das letzte Mal an einem Treffen seiner Burschenschaft<br />

teilnahm, erschien er seinen B<strong>und</strong>esbrüdern<br />

gealtert <strong>und</strong> wusste „um die tückische<br />

Art seiner Krankheit“. 24 Vor allem belastete<br />

ihn der Niedergang der Kettenschifffahrt<br />

auf der Elbe. Bellingrath hatte diese Entwicklung<br />

rechtzeitig erkannt. Aber er konnte<br />

die Betriebsmittel der Kettenschifffahrt wegen<br />

ihres hohen Anlagekapitals nicht einfach zum<br />

alten Eisen werfen. So versuchte er, der Entwertung<br />

dieses Kapitals gegenzusteuern. Seine<br />

„Reform der Kettenschiffahrt“ hatte jedoch<br />

nicht den gewünschten Erfolg. Die unternehmerischen<br />

Entscheidungen Bellingraths zur<br />

Verlagerung des Schleppbetriebs auf Radschleppdampfer<br />

sowie zum Ausbau des Frachtgeschäfts<br />

<strong>und</strong> des Werftbetriebs als zusätzlichen<br />

Standbeinen der Gesellschaft konnten die<br />

zunehmende Schwächung des Gesamtunternehmens<br />

nur bremsen, aber schließlich nicht<br />

64<br />

verhindern. Den Zusammenbruch seines Lebenswerks<br />

erlebte Bellingrath nicht mehr; er<br />

war bereits am 22. August 1903 im Alter von<br />

65 Jahren nach einem „Herzschlag“ verstorben.<br />

Bellingrath war ins Berufsleben eingetreten,<br />

als die industrielle Revolution in Deutschland<br />

in die Phase der Hochindustrialisierung<br />

überging. Das Wirtschaftswachstum wurde<br />

stärker denn je durch neue Technologien, die<br />

anstelle der anfänglichen Empirie zunehmend<br />

auf naturwissenschaftlichen Gr<strong>und</strong>lagen beruhten,<br />

<strong>und</strong> durch Unternehmensstrategien getragen,<br />

denen neue Organisationsprinzipien<br />

<strong>und</strong> Leistungskriterien zugr<strong>und</strong>e lagen. Bellingrath<br />

stellte sich den Anforderungen der<br />

Zeit <strong>und</strong> trieb auf seinem Arbeitsgebiet die<br />

eben angedeuteten Entwicklungen voran. Als<br />

Ingenieur konnte er sich dabei auf eine solide<br />

Ausbildung an den besten Hochschulen seiner<br />

Zeit stützen, jedoch sind weniger seine eigenständigen<br />

Leistungen von Bedeutung, obwohl<br />

er mehrere Erfindungen gemacht <strong>und</strong> damit<br />

Originalität <strong>und</strong> Kreativität bewiesen hatte.<br />

Vielmehr sind sein Weitblick für die Entwicklungstendenzen<br />

der Schiffstechnik <strong>und</strong> des<br />

Schifffahrtsbetriebs <strong>und</strong> seine Rolle als Förderer<br />

<strong>und</strong> Organisator dieser Entwicklung zu<br />

würdigen.<br />

Erinnert sei an die Kettenschifffahrt, die er<br />

nicht erf<strong>und</strong>en, ja nicht einmal als Erster in<br />

Deutschland eingeführt hatte, durch deren<br />

Ausbau auf der Elbe <strong>und</strong> deren Einrichtung auf<br />

dem Neckar <strong>und</strong> dem Main jedoch die Leistungsfähigkeit<br />

der Schifffahrt auf diesen Flüssen<br />

so beträchtlich gesteigert wurde, dass ihr<br />

Fortbestand gesichert war. So ist Bellingrath in<br />

das Bewusstsein der Zeitgenossen als „Vater<br />

der Kettenschiffahrt“ eingegangen, <strong>und</strong> aus<br />

dem gleichen Gr<strong>und</strong>e ist am Postament des<br />

König-Johann-Denkmals auf dem Dresdner<br />

Theaterplatz neben anderen unter Johanns Regentschaft<br />

(1854–1873) erreichten Fortschritten<br />

auch die Kettenschifffahrt symbolisch dargestellt<br />

worden. Die Stadt Dresden ehrte Bellingrath,<br />

indem sie eine Straße im Stadtteil Tolkewitz<br />

nach ihm benannte.<br />

Erinnert sei weiter an die Einrichtung der<br />

Versuchsanstalt in Übigau <strong>und</strong> an die enge Zu-


sammenarbeit mit der Technischen Hochschule<br />

Dresden, die für beide Seiten Vorteile brachte,<br />

indem sie einerseits den Wissenschaftlern der<br />

Hochschule die praktische Erprobung <strong>und</strong> die<br />

Umsetzung ihrer Erkenntnisse ermöglichte<br />

<strong>und</strong> andererseits die Ingenieure der Gesellschaft<br />

unmittelbar am Fortschritt der Schiffs<strong>und</strong><br />

der Maschinentechnik teilhaben ließ. Bellingrath<br />

hat das aktiv gefördert. Hauptsächlich<br />

für diese Verdienste, aber auch für seine<br />

Beiträge zur Entwicklung der Binnenschifffahrt,<br />

der Binnenwasserstraßen <strong>und</strong> der<br />

Schiffstechnik verlieh ihm die Technische<br />

Hochschule Dresden am 23. April 1901 die<br />

Ehrendoktorwürde. 25<br />

Bellingrath war jedoch gleichzeitig <strong>und</strong> in<br />

hohem Maße ein Manager-Unternehmer. Dieser<br />

moderne Begriff bezeichnet am besten, was<br />

ihn von den zeitgenössischen Direktoren anderer<br />

Elbeschifffahrtsgesellschaften unterscheidet.<br />

Bellingraths beharrlich verfolgtes Ziel war<br />

die Konzentration der Elbeschifffahrt. Dabei<br />

ging er konsequent im Sinne der allgemeinen<br />

Tendenz zur Kartellierung <strong>und</strong> anschließenden<br />

Fusionierung kleinerer Unternehmen zu<br />

großen Konzernen vor. Eine originäre Leistung<br />

Bellingraths war die Zusammenfassung der<br />

Privatschiffer unter dem Dach seiner Gesellschaft.<br />

So entwickelte sich die von ihm geleitete<br />

Gesellschaft im Laufe eines Jahrzehnts zum<br />

führenden Unternehmen der deutschen Elbeschifffahrt.<br />

26<br />

Quellen <strong>und</strong> Literatur:<br />

- : Emilie Bellingrath-Wagner. In: Kutsch, K. J.;<br />

Riemens, Leo (Hrsg.): Großes Sängerlexikon. Bern<br />

<strong>und</strong> München 31997, Bd. 1, S. 247.<br />

- : Emilie Bellingrath-Wagner. In: Monatshefte<br />

für Musikgeschichte 33 (1901), S. 111.<br />

- : Ernennung Bellingraths zum Dr.-Ing. E.h. In:<br />

Zentralblatt der Bauverwaltung 21 (1901), S. 207 f.<br />

- : Ewald Bellingrath, Ehrendoctor der Technischen<br />

Hochschule Dresden. In: Zeitschrift für Gewässerk<strong>und</strong>e<br />

4 (1902), S. 119 f.<br />

- : Ewald Bellingrath. In: Franke, Paul-Gerhard;<br />

Kleinschroth, Adolf (Hrsg.): Kurzbiographien<br />

Hydraulik <strong>und</strong> Wasserbau. München 1991, S. 224.<br />

- : Nachruf Bellingrath. In: Jahrbuch der Schiffbautechnischen<br />

Gesellschaft 5 (1904), S. 73 f.<br />

- : Nachruf Bellingrath. In: Schiffahrts-Kalender<br />

für das Elbegebiet 22 (1904), S. 209 f.<br />

- : Nachruf Bellingrath. In: Zentralblatt der Bauverwaltung<br />

23 (1903), S. 440.<br />

- : Reform der Kettenschifffahrt auf der Elbe<br />

(Vortrag Bellingraths auf der Generalversammlung<br />

der KETTE am 24. April 1894). In: Das Schiff 15<br />

(1894), S. 217 f.<br />

Adressbuch für Dresden <strong>und</strong> seine Vororte,<br />

1903.<br />

Bellingrath, Ewald: Über den Elbe-Spree-Canal,<br />

seine bauliche Ausführung nebst Kosten-Anschlag,<br />

die Betriebsweise, Leistungsfähigkeit <strong>und</strong><br />

Rentabilität. Dresden o.J. (1872/73).<br />

Bellingrath, Ewald: Gutachten über die Einführung<br />

der Schleppschiffahrt an versenktem Tau<br />

oder Kette auf dem Neckar. Heilbronn 1873.<br />

Bellingrath, Ewald: Studien über Bau <strong>und</strong> Betriebsweise<br />

eines deutschen Kanalnetzes. Berlin<br />

1879.<br />

Bellingrath, Ewald: Die Reform der Mainschifffahrt.<br />

Dresden 1880.<br />

Bellingrath, Ewald: Memorandum, betreffend<br />

die Errichtung neuer Elbschiffahrts-Gesellschaften.<br />

Dresden 1881.<br />

Bellingrath, Ewald: Die Fortbewegung der<br />

Schiffe im Gebiet der Elbe <strong>und</strong> der Oder. Bericht<br />

zum 5. Internationalen Binnenschiffahrts-Kongress<br />

in Paris, 1892 (gemeinsam mit Geheimem Baurat<br />

Dieckhoff, Potsdam).<br />

Berninger, Otto: Die Kettenschiffahrt auf dem<br />

Main. Wörth/Main 1987 (Mitteilungsblatt Nr. 6 des<br />

Vereins zur Förderung des Schiffahrts- <strong>und</strong> Schiffbaumuseums<br />

Wörth am Main).<br />

Birk, A.: Bellingrath. In: Bettelheim, Anton<br />

(Hrsg.): Biographisches Jahrbuch <strong>und</strong> deutscher<br />

Nekrolog. Berlin 1905, Band 8, S. 146.<br />

C. P.: Nachruf Bellingrath. In: Zeitschrift des<br />

Vereins deutscher Ingenieure 47 (1903), S. 1390.<br />

Dörffel, Alfred: Festschrift zur h<strong>und</strong>ertjährigen<br />

Jubelfeier der Einweihung des Concertsaales im Gewandhause<br />

zu Leipzig. Leipzig 1881, Abt. 2, S. 95<br />

<strong>und</strong> S. 100.<br />

(Dresdner) Neueste <strong>Nachrichten</strong> Nr. 76 v. 20.<br />

März 1900, S. 1 (Der Tod der Frau Emilie Bellingrath-Wagner),<br />

Nr. 235 v. 25. August 1903, S. 2<br />

(Ewald Bellingrath †), Nr. 236 v. 26. August 1903,<br />

65


S. 3 (Trauerbeflaggung) <strong>und</strong> S. 16 (Traueranzeigen<br />

der KETTE), Nr. 237 v. 27. August 1903, S. 3 (Das<br />

Begräbnis des Herrn Generaldirektors Dr. Ewald<br />

Bellingrath).<br />

Eckoldt, Martin: Ewald Bellingrath<br />

(1838–1903). In: Richter, Helmut (Hrsg.): Sächsische<br />

Tüftler <strong>und</strong> Denker – Pionierleistungen Sachsens<br />

(Reihe „Der Neue Sachsenspiegel“). Stuttgart/Fellbach<br />

1986.<br />

Grosse, Friedrich Eduard Gustav: Der Elb-<br />

Spree-Kanal zwischen Dresden <strong>und</strong> Berlin. Berlin<br />

1868.<br />

Gründungskomitee der Kettenschleppschiffahrt<br />

der Oberelbe (Hrsg.): Prospect für die Ketten-<br />

Schleppschiffahrt auf der Ober-Elbe von Magdeburg<br />

bis Schandau. Dresden o.J. (1869).<br />

(Leipziger) Allgemeine Musikalische Zeitung<br />

Nr. 44 v. 31. Oktober 1866, S. 354 (2. Abonnements-Konzert<br />

im Gewandhaus), Nr. 6 v. 6. Februar<br />

1867, S. 51 (14. Abonnements-Konzert), Nr. 11 v.<br />

17. März 1869, S. 85 f. (17. Abonnements-Konzert),<br />

Nr. 14 v. 7. April 1869, S. 109 f. (17. Abonnements-<br />

Konzert; jeweils Kritiken der Auftritte von Emilie<br />

Wagner).<br />

Pönicke, Herbert: Bellingrath. In: Neue Deutsche<br />

Biographie. Berlin 1955, Bd. 2, S. 30 f.<br />

Register der Verwaltung des Elias-, Trinitatis<strong>und</strong><br />

Johannisfriedhofs in Dresden.<br />

Soll, Gustav: Ewald Bellingrath. In: Haupt, Herman;<br />

Wentzcke, Paul (Hrsg.): H<strong>und</strong>ert Jahre Deutscher<br />

Burschenschaft – Burschenschaftliche Lebensläufe.<br />

Heidelberg 1921, S. 204-211.<br />

Zesewitz, Sigbert; Düntzsch, Helmut; Grötschel,<br />

Theodor: Kettenschiffahrt. Berlin 1987.<br />

Zesewitz, Sigbert; Düntzsch, Helmut; Grötschel<br />

Theodor: Ewald Bellingrath – Ein Leben für die<br />

Schifffahrt. Lauenburg 2003 (Schriften des Vereins<br />

zur Förderung des Lauenburger Elbschiffahrtsmuseums,<br />

Bd. 4).<br />

Zimmermann, Willi: Kettenschleppschiffahrt<br />

auf dem Neckar 1878–1935. Zum 100. Geburtstag.<br />

Heilbronn 1978 (Heilbronner Museumshefte 6).<br />

Anmerkungen:<br />

1 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden: Wasserbaudirektion<br />

Nr. 716, Bl. 9 <strong>und</strong> Bl. 18.<br />

2 Adreß-Buch für Rheinland-Westphalen, Jg.<br />

1841, S. 92.<br />

66<br />

3 Gustav Anton Zeuner (1828–1907), von 1855<br />

bis 1871 Professor für Mechanik <strong>und</strong> Theoretische<br />

Maschinenlehre am Eidgenössischen Polytechnikum<br />

in Zürich, danach an der Bergakademie<br />

Freiberg/Sachsen, seit 1873 Direktor des<br />

Polytechnikums Dresden <strong>und</strong> Professor für das<br />

gleiche Fachgebiet (bis 1897).<br />

4 Privatschiffer sind Schiffseigner mit nicht mehr<br />

als drei Fahrzeugen. Am Rhein werden sie Partikuliere<br />

genannt.<br />

5 Die VHMDC hatte zwischen 1866 <strong>und</strong> 1874<br />

schrittweise eine Kettenschifffahrtsstrecke zwischen<br />

Magdeburg <strong>und</strong> Hamburg eingerichtet.<br />

6 Friedrich Harkort (1793–1880), Industrieller,<br />

Förderer von Eisenbahn- <strong>und</strong> Wasserstraßenprojekten,<br />

führender Vertreter der rheinischen Liberalen,<br />

1848 Mitglied der preußischen Nationalversammlung,<br />

seit 1867 Mitglied des (Norddeutschen,<br />

seit 1871 Deutschen) Reichstags.<br />

7 Soll, S. 208.–1883 war die Vorlage vom Abgeordnetenhaus<br />

angenommen, vom Herrenhaus<br />

jedoch abgelehnt worden. Erst eine zweite Vorlage<br />

wurde 1886 von beiden Häusern des<br />

preußischen Landtags genehmigt.<br />

8 Die Ergebnisse von Modellversuchen können<br />

mit Hilfe des von dem britischen Schiffbauer<br />

William Froude (1810–1879) gef<strong>und</strong>enen Ähnlichkeitsgesetzes<br />

auf die Großausführung übertragen<br />

werden. Froude führte seit 1870/71 Modellversuche<br />

in seiner Schlepprinne in Chelston<br />

Cross bei Torquay durch.<br />

9 Hubert Engels (1854–1945), Begründer des modernen<br />

wasserbaulichen Versuchswesens, seit<br />

1877 Professor für Hydraulik <strong>und</strong> Wasserbau an<br />

der Technischen Hochschule Braunschweig, von<br />

1890 bis 1924 an der Technischen Hochschule<br />

Dresden, wo er 1898 das erste deutsche Flussbaulaboratorium<br />

einrichtete.<br />

10 Bei beiden Vortriebsmitteln handelte es sich um<br />

Wasserstrahl-(Reaktions-)Antriebe.<br />

11 Die Pensions- <strong>und</strong> Unterstützungskasse der<br />

SBDG bestand seit dem 1. Januar 1865 (vgl.<br />

Denkschrift der SBDG zur Erinnerung ihres<br />

fünfzigjährigen Bestehens. Dresden 1886,<br />

S. 28 f.)<br />

12 Geschäftsbericht der KSO für 1874.<br />

13 1878 betrug die durchschnittliche Arbeitszeit<br />

bei der KSO 15 St<strong>und</strong>en 10 Minuten, im Jahre<br />

1880 sogar 16 St<strong>und</strong>en 25 Minuten (vgl. die Geschäftsberichte<br />

der betreffenden Jahre).<br />

14 Soll, S. 209. – Der Deutsche Nationalverein,<br />

1859 von dem hannoverschen Liberalen Rudolph<br />

v. Bennigsen gegründet, Vorgänger der


Fortschrittspartei <strong>und</strong> der Nationalliberalen Partei,<br />

forderte die nationale Einigung unter preußischer<br />

Führung, Gewerbefreiheit <strong>und</strong> den bürgerlichen<br />

Rechtsstaat.<br />

15 Geheimes Staatsarchiv – Preußischer Kulturbesitz,<br />

Berlin: Rep. 120 C XVII 2, Nr. 59, Bd. 3,<br />

Bl. 5 ff.<br />

16 Nachruf im Zentralblatt der Bauverwaltung;<br />

Birk.<br />

17 Generallandesarchiv Karlsruhe: Standesbücher<br />

der ev. Gemeinde Karlsruhe Nr. 390/1969. – Todestag:<br />

Friedhofsregister Dresden.<br />

18 Dresdner Neueste <strong>Nachrichten</strong> Nr. 76 vom<br />

20. März 1900, S. 1.<br />

19 Allgemeine Musikalische Zeitung 4 (1869), Nr.<br />

11, S. 85 f.; Dörffel, S. 95 <strong>und</strong> S. 100; Kutsch/<br />

Riemens, S. 247.<br />

20 Diese Vermutung stützt sich auf die ausdrückliche<br />

Erwähnung des Kammervirtuosen Böckmann<br />

als Grabredner bei der Beisetzung Bellingraths<br />

(vgl. Dresdner Neueste <strong>Nachrichten</strong><br />

Nr. 237 vom 27. August 1903, S. 3).<br />

21 Pönicke. – In keinem der Nachrufe <strong>und</strong> Lebensläufe<br />

werden Bellingraths familiäre Verhältnisse<br />

erwähnt. Lediglich Pönicke gibt einen kurzen<br />

Hinweis auf Bellingraths zweite Frau. Auch die<br />

<strong>Nachrichten</strong> über das künstlerische Schaffen<br />

Reiner Rhefus<br />

von Emilie Bellingrath-Wagner fließen nur<br />

spärlich. Ihr Geburtsdatum wird nirgends genannt,<br />

was auf eine gewisse Eitelkeit der Künstlerin<br />

hindeuten könnte.<br />

22 Zimmermann, S. 46.<br />

23 Adressbuch für Dresden; Nachruf in den Dresdner<br />

Neuesten <strong>Nachrichten</strong>.<br />

24 Soll, S. 211<br />

25 Eckoldt (S. 47) nennt auf Gr<strong>und</strong> einer missverständlichen<br />

Datierung in der Zeitschrift für Gewässerk<strong>und</strong>e<br />

(S. 119) 1902 als das Jahr der Ehrenpromotion.<br />

Einige spätere Autoren haben das<br />

übernommen. Die zeitgenössischen Quellen<br />

nennen übereinstimmend mit den Akten der TU<br />

Dresden den 23. April 1901.<br />

26 Anlässlich des 100. Todestages Bellingraths<br />

zeigt das Lauenburger Elbschifffahrtsmuseum<br />

in Zusammenarbeit mit der Technischen Universität<br />

Dresden <strong>und</strong> dem Verkehrsmuseum Dresden<br />

vom 22. August bis zum 31. Dezember<br />

2003 eine Sonderausstellung, zu der ein umfangreiches,<br />

reich illustriertes Begleitheft erschienen<br />

ist. Der Besuch der Ausstellung ist<br />

nicht nur Fre<strong>und</strong>en der Elbeschifffahrt zu empfehlen,<br />

sondern auch dem allgemein an der<br />

Technikgeschichte interessierten Publikum.<br />

Der Sozialdemokrat Hugo Landé (1859 – 1936) – Stationen aus seinem<br />

politischen Leben zwischen „Sozialistengesetz“ <strong>und</strong> Nationalsozialismus<br />

Im Oktober 2001 erinnerte die B<strong>und</strong>es-<br />

SPD an historischem Ort, im „Kaisersaal“ in<br />

Erfurt, an den 110. Jahrestag des „Erfurter Programms“.<br />

Mit einem Festakt <strong>und</strong> einer Ausstellung<br />

wurde der wichtige Meilenstein der<br />

Parteigeschichte gewürdigt. Die rheinische<br />

<strong>und</strong> insbesondere die Wuppertaler SPD hätte<br />

sich in diesem Zusammenhang auch an Hugo<br />

Landé, einen Mann aus ihren Reihen, erinnern<br />

können, der an diesem Programm maßgeblich<br />

beteiligt war. Alfred Dobbert, der legendäre<br />

Wuppertaler Sozialdemokrat <strong>und</strong> Vizepräsident<br />

des Landtages, formulierte zum Parteijubiläum<br />

1963, bezogen auf den lokalen Partei-<br />

gründer Hugo Hillmann (1823–1898): „100<br />

Jahre Geschichte der Sozialdemokratie in<br />

Deutschland sind (...) auch 100 Jahre Geschichte<br />

der organisierten Wuppertaler Sozialdemokratie.<br />

Wie in einem Brennspiegel gefaßt,<br />

vollzieht sich in unserem Wuppertal die gleiche<br />

Entwicklung wie in der SPD selbst, mit allen<br />

Hoffnungen, mit allen Enttäuschungen, mit<br />

Siegen <strong>und</strong> Niederlagen“. 1<br />

Dies trifft in besonderer Weise auf Hugo<br />

Landé zu, dessen Lebenslauf von den Zäsuren<br />

sozialdemokratischer Geschichte maßgeblich<br />

geprägt wurde. 1891 gestaltete er das „Erfurter<br />

Programm“ mit. In den folgenden Jahren<br />

67


gehörte er zu den programmatischen Wegbereitern<br />

sozialdemokratischer Kommunalpolitik<br />

im Rheinland. Über 40 Jahre begleitete er die<br />

sozialdemokratische Geschichte in Elberfeld<br />

<strong>und</strong> später in Wuppertal. Sein Leben ist bestimmt<br />

durch die zähen Kämpfe um politische<br />

Anerkennung während des Kaiserreiches.<br />

Nach der „Novemberrevolution“ übernimmt er<br />

1919 für kurze Zeit das Amt des ersten demokratischen<br />

Regierungspräsidenten in Düsseldorf.<br />

In den Jahren der „Weimarer Republik“<br />

widmet Landé sich ganz den „Mühen der Ebene“,<br />

der sozialdemokratischen Kommunalpolitik<br />

im Wuppertal. Bemerkenswert ist aber auch<br />

seine Herkunft: Als assimilierter Jude aus bürgerlich-wohlhabender<br />

Familie <strong>und</strong> Anwalt findet<br />

er zur deutschen Arbeiterbewegung. Damit<br />

steht er in einer Reihe mit berühmten Vorgängern<br />

wie Karl Marx <strong>und</strong> Ferdinand Lassalle.<br />

Diese Juristen jüdischer Herkunft wurden,<br />

Hugo Landé, ca. 1929. – Foto: Stadtarchiv<br />

Wuppertal.<br />

68<br />

durch die besondere Unterdrückungsgeschichte<br />

der Juden in Deutschland geprägt, zu Vorkämpfern<br />

für politische Gleichberechtigung<br />

<strong>und</strong> soziale Gerechtigkeit. Simon Katzenstein<br />

(1868–1945), wie Landé sozialdemokratischer<br />

Jurist jüdischer Herkunft <strong>und</strong> Lehrer an der<br />

zentralen Parteischule, bemerkte zu diesem<br />

Verhältnis: „Uralte Überlieferung, ein bis auf<br />

Propheten zurückreichender Gerechtigkeitsfanatismus,<br />

durch gemeinsame Not wachgehaltene<br />

Wohlfahrtspflege fanden sich zusammen<br />

mit den neuen Idealen bürgerlicher Freiheit.<br />

So sind aus geistig regen, wirtschaftlicher<br />

Erkenntnis zugänglichen jüdischen Bürgerkreisen,<br />

weit über ihr Klasseninteresse hinaus<br />

<strong>und</strong> nicht selten ihm zuwider, dem Sozialismus<br />

zahlreiche Anhänger <strong>und</strong> geistige Führer, von<br />

Moses Hess bis in die Gegenwart, erwachsen“.<br />

2 Ein weiteres Merkmal jüdischen Gefühlslebens<br />

spricht Gustav Mayer, der Biograph<br />

von Friedrich Engels an, wenn er von<br />

„gärenden, Vollendung <strong>und</strong> Erfüllung suchenden<br />

Kräften“ 3 spricht, die in der Heilserwartung<br />

des jüdischen Glaubens begründet sind.<br />

Auch in ihrem persönlichen Leben versuchen<br />

Hugo <strong>und</strong> seine Frau Thekla Landé, ihre<br />

politischen Ideale mit Leben zu füllen: Frauenemanzipation<br />

<strong>und</strong> -bildung, Kultur, Musik,<br />

Gastfre<strong>und</strong>schaft <strong>und</strong>, wenn es sein muss, mutiger<br />

politischer Widerstand prägen ihren Lebensweg<br />

<strong>und</strong> den ihrer Kinder.<br />

Beginn in Elberfeld<br />

Hugo Landé entstammt einer jüdischen<br />

Kaufmannsfamilie aus Schlesien. Er wird in<br />

dem kleinen Ort Ostrowo am 6.3.1859 geboren.<br />

Sein Vater Josef Landé ist ein liberal denkender<br />

Jude <strong>und</strong> Demokrat. Einige Vorfahren<br />

dienten als Rabbi jüdischer Gemeinden <strong>und</strong><br />

auch auf dem jüdischen Friedhof von Prag finden<br />

sich Gräber der Familie Landé. 4 Hugo<br />

Landé hat gut ausgeprägte mathematische<br />

Fähigkeiten <strong>und</strong> träumt davon, „Astronom“ zu<br />

werden. Doch die Familie fürchtet die hohen<br />

Ausgaben für eine wissenschaftliche Ausbildung.<br />

5 Sie ermöglicht ihm nach dem Gymnasi-


um das Studium der Rechtswissenschaften.<br />

Hierbei lernt er weite Teile Deutschlands kennen.<br />

Er studiert in Berlin, Leipzig, Breslau <strong>und</strong><br />

Heidelberg. Während seines Aufenthaltes in<br />

Heidelberg bereist er auch das Rheinland <strong>und</strong><br />

entschließt sich, dort später hinzuziehen. Im<br />

Anschluss an das juristische Examen im Februar<br />

1881 beginnt er sein Referendariat in Neuwied<br />

<strong>und</strong> Frankfurt, das er im Februar 1886<br />

mit dem Assessorexamen abschließt. 6<br />

Am 26.5.1886 findet sich im „Täglichen<br />

Anzeiger für Berg <strong>und</strong> Mark“ eine kleine Anzeige:<br />

„Ich habe mich hierorts als Rechtsanwalt<br />

niedergelassen. Mein Büreau befindet<br />

sich Zollstraße 5, parterre – Landé, Rechtsanwalt“.<br />

7 Mit 27 Jahren also eröffnete der junge<br />

Mann eine eigene Anwaltskanzlei in Elberfeld.<br />

Im folgenden Jahr heiratet er seine Kusine<br />

Thekla Landé. Thekla, fünf Jahre jünger als ihr<br />

Mann, entstammt dem Berliner Zweig der Familie<br />

Landé. Sie ist in einem vornehmen Haus<br />

am Kurfürstendamm aufgewachsen, wo sich<br />

die Eheleute schon als Kinder begegnet sind.<br />

Das junge Paar bezieht in diesen ersten Ehejahren<br />

eine Wohnung in der Elberfelder Herzogstraße<br />

40 8 , einem Wohn- <strong>und</strong> Geschäftshaus<br />

gleich gegenüber der damaligen Handwerker-<br />

<strong>und</strong> Kunstgewerbeschule <strong>und</strong> dem Geburtshaus<br />

von Else Lasker-Schüler (heute<br />

Buchhandlung Nettesheim).<br />

In diesen Jahren kommen Hugo <strong>und</strong> Thekla<br />

Landé in Kontakt mit verbotenen sozialistischen<br />

Schriften. Dies wird für ihren Lebensweg<br />

entscheidend. 9 Von 1879 bis 1890 gilt das<br />

„Sozialistengesetz“. Die politische Betätigung<br />

der sozialdemokratischen Partei, der Vertrieb<br />

sozialdemokratischer Bücher <strong>und</strong> Zeitungen,<br />

gewerkschaftliche Arbeit usw. steht unter Strafe.<br />

Die Städte Elberfeld <strong>und</strong> Barmen waren<br />

schon seit den ersten Anfängen der organisierten<br />

Arbeiterbewegung eine der Hochburgen<br />

der Sozialdemokratie. In diesen Jahren der politischen<br />

Repression werden sie zu Zentren der<br />

illegalen politischen Aktivitäten. In den Wupperstädten<br />

werden ca. 8% der Gesamtauflage<br />

der illegalen Parteizeitung „Sozialdemokrat“<br />

über geheime Wege aus der Schweiz eingeführt,<br />

unter Ladentischen vertrieben. Trotz<br />

Verbots der Partei wird hier der Weber <strong>und</strong> Sozialdemokrat<br />

Friedrich Harm als „unabhängiger“<br />

Kandidat in den Reichstag gewählt. Um<br />

diesen politischen Widerstand zu brechen, hatte<br />

der Elberfelder Staatsanwalt schon im Jahr<br />

1883 intensive Nachforschungen <strong>und</strong> Verfolgungen<br />

in Gang gesetzt. 10 Anwälte, die für sozialdemokratische<br />

Angeklagte stritten, waren<br />

selten <strong>und</strong> für die Betroffenen oft nicht zu bezahlen.<br />

Hier liegt wahrscheinlich der frühe<br />

Berührungspunkt zwischen dem Anwalt Landé<br />

aus wohlhabendem Hause <strong>und</strong> der diffamierten<br />

sozialdemokratischen Arbeiterbewegung.<br />

Im April 1888 begann in Elberfeld-Barmen<br />

eine regelrechte Verfolgungswelle gegen Sozialdemokraten.<br />

Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmungen<br />

von Schriftmaterial <strong>und</strong> Verhaftungen<br />

waren an der Tagesordnung. Im März<br />

1889 wurden schließlich 91 Personen vor dem<br />

Landgericht Elberfeld angeklagt, darunter fünf<br />

sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete.<br />

Dieser sogenannte „Elberfelder Geheimb<strong>und</strong>prozess“<br />

löste in ganz Deutschland Empörung,<br />

Spott für den Staatsanwalt <strong>und</strong> Solidarität mit<br />

den Angeklagten aus. 11 Als die Verhandlungen<br />

Mitte November 1889 vor der Elberfelder<br />

Strafkammer begannen <strong>und</strong> sich über volle<br />

sechs Wochen hinzogen, war der junge Rechtsanwalt<br />

Landé täglich ein aufmerksamer Zuhörer.<br />

12 Die Atmosphäre in der Stadt schildert der<br />

junge Drechslergeselle Wilhelm Keil, der sich<br />

damals auf Wanderschaft in Elberfeld aufhielt,<br />

in seinen Memoiren folgendermaßen: „Die<br />

Anklage richtete sich gegen 91 Angeklagte aus<br />

allen Teilen Deutschlands, die bis auf zwei<br />

sämtlich vor Gericht erschienen. Da der Staatsanwalt<br />

so unvorsichtig gewesen war, auch August<br />

Bebel in den Prozess zu verwickeln, wurde<br />

dieser hochbegabte Politiker <strong>und</strong> glänzende<br />

Redner der Hauptverteidiger der Angeklagten.<br />

Immer wieder verschaffte sich Bebel Gehör,<br />

<strong>und</strong> neben ihm fanden auch andere wortgewandte<br />

Angeklagte Gelegenheit, die Anklagen<br />

des Staatsanwaltes zu erschüttern <strong>und</strong> die Ziele<br />

<strong>und</strong> Ideen der Partei zu verkünden. Sie machten<br />

aus dem „Prozeß gegen die gemeingefährlichen<br />

Bestrebungen der Sozialdemokratie“<br />

eine Propagandatribüne für die sozialistischen<br />

Ideale. Man sprach vom Sozialisten-‚K o n -<br />

69


g r e ß‘ statt vom Sozialistenprozeß. Wir jungen<br />

Sozialisten waren natürlich leidenschaftlich<br />

interessiert am Verlauf der Verhandlungen.<br />

Die ‚Freie Presse‘ berichtete ausführlich darüber<br />

<strong>und</strong> in den Parteiwirtschaften saßen wir<br />

mitten unter den Angeklagten <strong>und</strong> ließen uns<br />

erzählen“. 13<br />

Der Prozess endete im Dezember 1889 mit<br />

der Verurteilung von lediglich 44 der 91 Angeklagten.<br />

Es gelang dem Staatsanwalt nicht, ein<br />

reichsweites Netz der Sozialdemokratie nachzuweisen.<br />

Vornehmlich bergische Sozialdemokraten<br />

wurden zu Haft- <strong>und</strong> Geldstrafen verurteilt.<br />

Der Elberfelder Reichstagsabgeordnete<br />

Friedrich Harm erhielt die Höchststrafe <strong>und</strong><br />

wurde zu einem halben Jahr Haft verurteilt.<br />

Dennoch wurde das Urteil als moralischer Sieg<br />

der Arbeiterbewegung gewertet: Der Prozess<br />

hatte das umfangreiche System von politischen<br />

Spitzeln <strong>und</strong> Denunzianten, das die preußische<br />

Polizei unterhielt, aufgedeckt <strong>und</strong> der Lächerlichkeit<br />

preisgegeben. Das war vor allem der<br />

geschickten Verteidigung von August Bebel zu<br />

danken, der in einem Brief an Friedrich Engels<br />

hierzu schrieb: „Den Prozeß anlangend, so darf<br />

ich wohl sagen, daß ich in meinem Leben keinen<br />

aufregenderen Verhandlungen beiwohnte<br />

<strong>und</strong> einer solchen, in welcher versucht wurde,<br />

einem mit allen, aber auch allen Mitteln den<br />

Genickstoß zu geben“. 14 Der grandiose juristisch-politische<br />

Sieg der Sozialdemokraten <strong>und</strong><br />

das Debakel der Staatsanwaltschaft läuteten<br />

das baldige Ende des „Sozialistengesetzes“ ein.<br />

Im März 1890 fanden Reichstagswahlen<br />

statt, die den Sozialdemokraten enormen Zuwachs<br />

brachten. Friedrich Harm, der nun im<br />

Elberfelder Gefängnis saß, wurde trotz Haft<br />

wieder in den Reichstag gewählt. Wenige Tage<br />

später wurde der „Volksbildungsverein zu Elberfeld“<br />

gegründet. Neben Goethe, Schiller<br />

<strong>und</strong> Heine wurden „die großen Forscher der<br />

Neuzeit“ Charles Darwin <strong>und</strong> Karl Marx in<br />

wissenschaftlichen <strong>und</strong> literarischen Vorträgen<br />

behandelt. 15 Thekla <strong>und</strong> Hugo Landé wurden<br />

engagierte Mitglieder. 16 Nicht selten traten sie<br />

bei Vortragsabenden als Dozenten auf. Wilhelm<br />

Keil berichtet über die Aktivitäten: „Dieser<br />

Verein wahrte nach außen parteipolitische<br />

Neutralität, bestand aber überwiegend aus So-<br />

70<br />

zialdemokraten <strong>und</strong> ließ regelmäßig Redner<br />

der Sozialdemokratie oder Naturwissenschaftler<br />

als Vortragende auftreten. Die Versammlungen<br />

des Vereins wurden polizeilich überwacht.<br />

Das hinderte nicht, daß sie zur Verteilung verbotener<br />

Schriften benutzt wurden. Unter den<br />

Tischen wurde neben anderen verbotenen<br />

Schriften der „Sozialdemokrat“ weitergereicht.<br />

Der Verein besaß auch eine kleine Bibliothek<br />

vor allem naturwissenschaftlicher Werke, die<br />

wir benützten.“ 17 August Bebels Buch „Die<br />

Frau <strong>und</strong> der Sozialismus“ war trotz Verbots<br />

eines der populärsten der Zeit. Es gilt als Meilenstein<br />

auf dem Weg zur Emanzipation der<br />

Frauen <strong>und</strong> wird auch Thekla Landés emanzipatorisches<br />

Engagement beeinflusst haben.<br />

Einer der ersten Vortragsredner im Elberfelder<br />

Vereinslokal am Hombüchel, dem späteren<br />

„Volkshaus“, war der Arzt <strong>und</strong> prominente<br />

Redner Prof. Ludwig Büchner 18 , der Bruder<br />

des Dichters Georg Büchner. Ludwig Büchner,<br />

der Vorsitzende <strong>und</strong> Begründer der Freidenkerbewegung,<br />

warb für das wissenschaftliche<br />

Weltbild Darwins <strong>und</strong> stritt gegen die „Verdummungspolitik“<br />

der Kirchen. Das Ehepaar<br />

Landé folgte dem atheistischen Weltbild der<br />

Freidenker <strong>und</strong> trat aus der jüdischen Gemeinde<br />

aus. Frau Landé ließ sich in der Tradition<br />

der Freidenker bestatten. 19 Trotzdem spricht<br />

die Tochter Lotte später von einer religiösen<br />

Erziehung, die die Eltern Landé den Kindern<br />

zukommen lassen 20 . Die Bibel wurde als<br />

„außerordentlich wertvolles Buch“ geschätzt<br />

<strong>und</strong> die Kinder, obschon konfessionslos, besuchten<br />

den jüdischen oder, wo dies nicht möglich,<br />

den christlichen Religionsunterricht, weil<br />

hier die biblische Geschichte gelehrt wurde. 21<br />

Der Parteitag in Erfurt <strong>und</strong> die Mitwirkung<br />

am „Erfurter Programm“<br />

Im Zusammenhang mit dem Elberfelder<br />

„Sozialistenprozeß“ entstanden möglicherweise<br />

erstmals Kontakte zur sozialdemokratischen<br />

Parteispitze, 22 die Hugo Landé zwei Jahre später<br />

als Delegierten der SPD auf den Parteitag in<br />

Erfurt führen sollten. Neben ihm wurden noch<br />

der prominente Reichstagsabgeordnete Fried-


ich Harm <strong>und</strong> zwei weitere Delegierte, der<br />

Kaufmann Carl Haberland aus Barmen <strong>und</strong> der<br />

Weber Emil Müller aus Elberfeld, entsandt. Es<br />

war der wichtigste Parteikongress seit dem<br />

Vereinigungsparteitag 1875 in Gotha. 23 Nach<br />

der Beendigung der Sozialistenverfolgung im<br />

Jahr 1890 <strong>und</strong> den neuen Bedingungen der Legalität<br />

war eine programmatische Neuorientierung<br />

der SPD nötig. Der erste Parteitag in Halle<br />

(1890) beschloss deshalb, eine Kommission<br />

aus den „tüchtigsten Kräften des Parteitages“ 24<br />

zu bilden, um einen Entwurf für dieses neue<br />

Programm zu erstellen. Die Kommission bestand<br />

aus 21 Genossen <strong>und</strong> wurde von Wilhelm<br />

Liebknecht (1826–1900) geleitet. Neben<br />

den wichtigsten Köpfen der Partei wie August<br />

Bebel, Hermann Molkenbuhr, Karl Kautsky<br />

gehörten ihr auch zwei Sozialdemokraten aus<br />

Elberfeld an: der Jurist Hugo Landé <strong>und</strong> der<br />

Weber Emil Müller. 25<br />

Hugo Landé zählte zu den bürgerlichen<br />

Gebildeten, die sich nach der erfolgreichen<br />

Entwicklung während des „Sozialistengesetzes“<br />

der Partei angeschlossen hatten. Friedrich<br />

Engels, der große Mentor der Partei in London,<br />

der sich maßgeblich an der Programmdebatte<br />

beteiligte, begrüßte im Gegensatz zu<br />

früheren Stellungnahmen die Einbeziehung<br />

der bürgerlichen Intellektuellen in die Parteiarbeit.<br />

26 „Über je mehr von diesen Elementen<br />

man im geeigneten Moment verfüge, um so<br />

glatter werde sich verhältnismäßig die Übernahme<br />

der Geschäfte abwickeln“, äußerte er in<br />

einem Brief an Bebel am 24. Oktober 1891. 27<br />

Der Jurist Landé unterstützte sicherlich die Erarbeitung<br />

des neuen Programms, zumal viele<br />

sozialdemokratische Forderungen äußerst vorsichtig<br />

formuliert werden mussten, da sie angesichts<br />

der unsicheren politischen Situation<br />

erneut zu Verbotsanträgen <strong>und</strong> Repressalien<br />

hätten führen können.<br />

Über Monate wurden verschiedene, z.T.<br />

gegensätzliche Entwürfe heftig diskutiert. Die<br />

bedeutenden Köpfe der SPD waren daran beteiligt.<br />

Neben dem Entwurf des Parteivorstandes<br />

hatten auch die Redakteure der Zeitschrift<br />

„Neue Zeit“, 28 Karl Kautsky <strong>und</strong> Eduard Bernstein,<br />

einen Entwurf vorgelegt. Daneben standen<br />

zwei weitere Entwürfe 29 zur Debatte, die<br />

sich auf den I. Teil, die Gr<strong>und</strong>satzerklärungen<br />

zum gesellschaftlichen Selbstverständnis, bezogen.<br />

Der Entwurf der „Neuen Zeit“ war von<br />

Friedrich Engels redigiert worden <strong>und</strong> wurde<br />

nun auch von ihm unterstützt. Als indirekten<br />

Diskussionsbeitrag veröffentlichte er zu diesem<br />

Zeitpunkt erstmals die Marx’sche „Kritik<br />

des Gothaer Programmentwurfs“. 30<br />

Als im Oktober 1891 der Parteitag in Erfurt<br />

zusammentrat, musste die Kommission über<br />

die endgültige Formulierung der konkurrierenden<br />

Entwürfe entscheiden. Hugo Landé als<br />

Mitglied der Programmkommission hatte sich<br />

nicht mit einzelnen Änderungsvorschlägen begnügt.<br />

Zu dem Forderungskatalog, der den<br />

zweiten Teil des Programmentwurfs umfasste,<br />

hatte er einen Gegenentwurf verfasst <strong>und</strong> zu<br />

Beginn dem Parteitag vorgelegt. Der Vorschlag<br />

Landés war, ganz im Sinne der Kritik von<br />

Friedrich Engels, knapper <strong>und</strong> in einer ganzen<br />

Reihe von Punkten konkreter gefasst. Neben<br />

der gr<strong>und</strong>sätzlichen Forderung nach Sozialisierung<br />

der Produktionsmittel (Bergwerke,<br />

Fabriken u.a.) enthielt er vor allem einen Maßnahmekatalog<br />

zur Demokratisierung der Verwaltung<br />

(Wahl der Beamten auf Zeit), des Justizwesens<br />

(direkte Gesetzgebung durch das<br />

Volk, Stärkung der Zivil- <strong>und</strong> Geschworenengerichte)<br />

<strong>und</strong> des Militärs (Volkswehr, kommunale<br />

Wehrverbände, Wahl der Führer) sowie<br />

zur Verbesserung des Schulwesens (obligatorischer<br />

Unterricht, Vermehrung der Zahl der<br />

Lehrer, Erhöhung der Lehrergehälter <strong>und</strong> bessere<br />

Ausbildung der Lehrkräfte). 31<br />

Zum Justizwesen wurden konkrete wie allgemeine<br />

Forderungen entwickelt: Unentgeltlichkeit<br />

der Rechtspflege, die Abschaffung der<br />

Todesstrafe, Wahl der Geschworenen <strong>und</strong> die<br />

Zulassung der Öffentlichkeit bei Militär-Strafverfahren.<br />

Einige wesentliche Themen wie die<br />

Arbeiterschutzgesetzgebung, die Forderung<br />

nach dem Acht-St<strong>und</strong>en-Tag <strong>und</strong> die weitere<br />

Beschränkung der Kinderarbeit fehlten jedoch<br />

gänzlich. Trotz der vorherigen Kontroversen<br />

wurde in der Kommission ein Entwurf einmütig<br />

angenommen, der überwiegend auf den<br />

weitergehenden Vorschlägen <strong>und</strong> Forderungen<br />

von Kautsky, Bernstein <strong>und</strong> Engels beruhte.<br />

Das neue Programm wurde danach fast ohne<br />

71


Gegenstimmen auf dem Parteitag verabschiedet.<br />

Neben der gr<strong>und</strong>legenden Forderung des<br />

„Übergang(s) der Produktionsmittel in den Besitz<br />

der Gesamtheit“ enthielt das Programm die<br />

politischen Forderungen, die bei der Gründung<br />

der ersten deutschen Republik zu einem<br />

großen Teil durchgesetzt werden konnten: gleiches<br />

<strong>und</strong> direktes Stimmrecht, Gleichberechtigung<br />

der Frauen, Weltlichkeit der Schule, Unentgeltlichkeit<br />

der Rechtspflege <strong>und</strong> der ärztlichen<br />

Hilfeleistung, selbstverwaltete Sozialversicherung<br />

sowie der Acht-St<strong>und</strong>en-Tag. Alle<br />

diese Rechte wurden zu Gr<strong>und</strong>pfeilern des demokratischen<br />

Staates. Gerade deshalb stellte<br />

dieses Programm einen der wichtigsten programmatischen<br />

Schritte der SPD dar <strong>und</strong> sollte<br />

über Jahrzehnte die Richtschnur der Partei<br />

bleiben.<br />

Auch an anderer Stelle waren Sozialdemokraten<br />

aus dem Wuppertal maßgeblich an programmatischen<br />

Weichenstellungen der Partei<br />

beteiligt: Der Elberfelder Hugo Hillmann war<br />

Mitbegründer des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins<br />

32 <strong>und</strong> zeitweise dessen Präsident.<br />

33 An der programmatischen Erneuerung<br />

der SPD in Godesberg (1959) wirkte der spätere<br />

Oberbürgermeister Wuppertals <strong>und</strong> heutige<br />

B<strong>und</strong>espräsident Johannes Rau mit. So ist eine<br />

Traditionslinie entstanden: von Friedrich Engels<br />

über Hillmann <strong>und</strong> Landé bis zu Johannes<br />

Rau spannt sie sich von den Anfängen der<br />

deutschen Arbeiterbewegung bis in die Gegenwart.<br />

Der Erfurter Parteitag wurde auch die Geburtsst<strong>und</strong>e<br />

der rheinisch-westfälischen Parteibezirke.<br />

Die Delegierten aus Rheinland <strong>und</strong><br />

Westfalen einigten sich bei einem separaten<br />

Treffen auf die politische Trennung der beiden<br />

bisher in einem „Agitationsbezirk“ vereinten<br />

Provinzen. Bisher war die Stadt Elberfeld Sitz<br />

des Agitationsbezirks Rheinland-Westfalen.<br />

Die Sozialdemokraten im Ruhrgebiet hatten<br />

vor allem durch den Bergarbeiterstreik 1889 an<br />

Kraft gewonnen <strong>und</strong> organisierten sich nun<br />

eigenständig. Die Stadt Dortm<strong>und</strong> wurde Sitz<br />

des neuen Bezirks Westfalen, während Elberfeld<br />

noch einige Jahrzehnte Sitz der (neuen)<br />

„Bezirksleitung Niederrhein“ blieb.<br />

72<br />

Kontroverse Debatten<br />

Der Religionsstreit<br />

In Hugo Landés Entwurf des „Erfurter Parteiprogramms“<br />

fehlte ein Passus, der zuvor in<br />

der Partei viel diskutiert worden war: die „Erklärung<br />

der Religion zur Privatsache“. Dieser<br />

Passus zielte auf die deutliche Trennung von<br />

Staat <strong>und</strong> Kirche. Er sollte neben der Einschränkung<br />

der Macht der Kirchen aber auch<br />

deutlich machen, dass gläubige Christen <strong>und</strong><br />

Juden die Möglichkeit der Mitwirkung in der<br />

sozialdemokratischen Partei hätten. Dies war<br />

nicht unumstritten. Viele Parteigenossen <strong>und</strong><br />

Freidenker vertraten nämlich die Auffassung,<br />

dass die SPD als marxistische Partei eine rein<br />

wissenschaftliche <strong>und</strong> atheistische Gr<strong>und</strong>auffassung<br />

vertreten müsse. 34 „Wir Sozialdemokraten<br />

haben die richtige Religion“, wurde<br />

propagiert <strong>und</strong> damit das Selbstverständnis<br />

weiter Parteikreise ausgedrückt. Sie erhoben<br />

den Anspruch einer neuen „modernen“ Glaubensgemeinschaft.<br />

35 In der Gründungserklärung<br />

des von Hugo <strong>und</strong> Thekla Landé mitgegründeten<br />

Elberfelder „Volksbildungsvereins“<br />

heißt es dann auch: „In der heutigen bewegten<br />

Zeit, welche dem hehren Befreiungskampfe<br />

der unteren Volksschichten aus materieller <strong>und</strong><br />

geistiger Knechtschaft geweiht ist, steht der<br />

Volksbildungsverein zu Elberfeld als Pionier<br />

der Neuzeit <strong>und</strong> Verfechter der modernen<br />

Weltanschauung mit in der ersten Reihe“. 36<br />

Die wissenschaftliche Auffassung der Welt<br />

<strong>und</strong> des Sozialismus stellte nach Hugo Landé<br />

eine sozialdemokratische Alternative zur Religion<br />

dar. Mit dem Marxismus als Wissenschaft<br />

wollte er auch die Kirchen bekämpft wissen.<br />

Mit dieser Auffassung löste der konvertierte<br />

Jude Landé eine lebhafte Diskussion in der<br />

Führung der Wuppertaler Sozialdemokraten<br />

aus. Im November 1891, nach Abschluss des<br />

Parteitages in Erfurt, wurde der Streit in der lokalen<br />

Parteipresse ausgetragen. Die Mehrzahl<br />

der Parteiführer hielt „daran fest, daß ein Sozialdemokrat<br />

auch religiös sein könne“. 37 Hugo<br />

Landé blieb mit seiner Haltung in der Minderheit.<br />

Auch in das „Erfurter Programm“ wurde<br />

der von Landé bekämpfte Passus aufgenommen.<br />

Die Religion blieb Privatsache <strong>und</strong> die


SPD eine für verschiedene Weltanschauungen<br />

offene Partei. Die Punkte sechs <strong>und</strong> sieben des<br />

„Erfurter Programms“ sollten jedoch noch oft<br />

in den folgenden Jahrzehnten Gegenstand leidenschaftlicher<br />

Vorträge <strong>und</strong> Diskussionen<br />

sein. 38<br />

Die Abspaltung der<br />

„unabhängigen Sozialisten“<br />

Die ersten Jahre nach dem Scheitern der<br />

„Sozialistengesetze“ waren eine Zeit intensiver<br />

politischer Debatten. Der Erfurter Parteitag<br />

war neben der Diskussion um das neue Parteiprogramm<br />

von dem Streit mit den oppositionellen<br />

„Jungen“ Sozialdemokraten geprägt.<br />

Sie, die „Jungen“, wie damals dieser syndikalistische<br />

Parteiflügel genannt wurde, plädierten<br />

für lokale, unabhängige Gewerkschaftsgruppen,<br />

sympathisierten mit direkten Aktionen<br />

<strong>und</strong> gefielen sich in radikalen Losungen. Die<br />

Unterdrückungsmaßnahmen der vorausgegangenen<br />

Jahre <strong>und</strong> das immer noch übliche Spitzelwesen<br />

hatten zu dieser Radikalisierung geführt.<br />

Die Polizei observierte auch nach Abschaffung<br />

der Verbotsgesetze noch jede politische<br />

Versammlung.<br />

Auf dem Parteitag hatte Hugo Landé in<br />

dieser Kontroverse zwischen den unterschiedlichen<br />

Flügeln vermittelnd eingegriffen. Das<br />

Protokoll verzeichnet zwei Redebeiträge Landés,<br />

bei denen er für eine Versachlichung der<br />

Diskussion plädiert. 39 Er wollte eine Blockbildung<br />

<strong>und</strong> Spaltung vermeiden. Vermutlich<br />

wusste er um die großen Sympathien, die diese<br />

Bewegung auch unter den Elberfelder Sozialdemokraten<br />

genoss. Trotzdem wurden einige<br />

Exponenten dieser Richtung vom Parteitag<br />

ausgeschlossen.<br />

In Elberfeld hatte diese Kontroverse weitreichende<br />

Folgen <strong>und</strong> setzte sich noch einige<br />

Jahre fort. Hier hatten sich die „Jungen“ Sozialdemokraten<br />

im „Diskutierklub unabhängiger<br />

Sozialisten“ zusammengeschlossen <strong>und</strong> 1892<br />

abgespalten. 40 In Barmen <strong>und</strong> Ronsdorf 41 drohten<br />

sie sogar, die Mehrheit der Parteigenossen<br />

in den sozialdemokratischen Volksvereinen<br />

hinter sich zu bringen. Unter anderem ging es<br />

auch um die Organisationsform der zukünftigen<br />

Gewerkschaften: lokal oder zentral, mit<br />

mehr oder weniger Autonomie. 42 Einer der Kritikpunkte<br />

der „Jungen“ war auch der wachsende<br />

Einfluss von „bürgerlichen“ Parteigenossen.<br />

In einem Flugblatt heißt es: „Als die Partei<br />

noch jung war <strong>und</strong> nur aus Proletariern bestand,<br />

da wäre eine Taktik wie die heutige ganz<br />

unmöglich gewesen. [Die Partei werde heute]<br />

aus Elementen geleitet (...), die zum Teil ganz<br />

andere Ziele verfolgen, keinesfalls aber identisch<br />

sind mit jenen, die Gut <strong>und</strong> Blut ihrer<br />

Überzeugung zu opfern stets bereit waren <strong>und</strong><br />

noch sind“. 43 Mit diesem Angriff war auch Hugo<br />

Landé gemeint, zumal der Jurist aus wohlhabendem<br />

Hause kurz zuvor einen wenig revolutionär<br />

klingenden Programmvorschlag unterbreitet<br />

hatte. In einem der Polizeiberichte vom<br />

Oktober 1892, kurz nach der Abspaltung des<br />

„Diskutier-Klubs“, wird Landés Auffassung<br />

wiedergegeben: „Landé ergreift das Wort <strong>und</strong><br />

bezeichnet die Anarchisten als Schwärmer,<br />

dieselben seien ohne Organisation, im übrigen<br />

seien sie ein Ausfluss des Liberalismus. (...)<br />

Die soviel gewünschten Revolutionen wären<br />

ohne alle Bedeutung, durch derartige Putsche,<br />

wie sie hie <strong>und</strong> da auftreten, sei die Schädigung<br />

größer als der Nutzen. Der Zweck des<br />

Socialismus solle nur der Aufklärung des<br />

Volkes dienen, erst wenn sie überall vorhanden,<br />

dann wisse jeder was er zu thun habe.“ 44<br />

Die Auseinandersetzung mit dem „Diskutierklub“<br />

dauerte noch bis ins Jahr 1895. Der<br />

Club selber wurde im Laufe der Jahre zu einer<br />

kräftigen syndikalistischen Bewegung. Bis in<br />

die zwanziger Jahre blieben die beiden Wupperstädte<br />

eine Hochburg des Arbeiter-Syndikalismus.<br />

Der Disput um das Marx’sche Wertgesetz<br />

Doch nicht nur auf lokaler Ebene beteiligte<br />

sich Landé an den Debatten. Seine Mitarbeit<br />

am „Erfurter Programm“ zeigt, dass er sich mit<br />

den Fragen der politischen Theorie beschäftigte<br />

<strong>und</strong> die politisch-wissenschaftliche Kontroverse<br />

suchte. Im Jahr 1885 hatte Friedrich Engels<br />

aus den fragmentarischen Unterlagen von<br />

73


Karl Marx den zweiten Band des „Kapitals“<br />

veröffentlicht. Engels hatte sich eng an die unvollständigen<br />

Marx’schen Manuskripte gehalten,<br />

<strong>und</strong> so mussten viele Fragen der weiteren<br />

wissenschaftlichen Klärung vorbehalten bleiben.<br />

Der sozialdemokratische Ökonom <strong>und</strong><br />

Philosoph Conrad Schmidt (1863–1932) hatte<br />

den Ehrgeiz, diese Lücken zu füllen. Conrad<br />

Schmidt war ein Bruder der namhaften Künstlerin<br />

Käthe Kollwitz (1867–1945). Eine Hochschullaufbahn<br />

als Ökonom hatte man dem<br />

Wissenschaftler aus politischen Gründen verwehrt.<br />

So arbeitete er u.a. als Redakteur des<br />

„Vorwärts“ <strong>und</strong> der „Sozialistischen Monatshefte“<br />

<strong>und</strong> widmete sich nationalökonomischen<br />

Untersuchungen. Seit einem Studienaufenthalt<br />

in England stand er mit Friedrich Engels<br />

in fre<strong>und</strong>schaftlicher Verbindung 45 <strong>und</strong><br />

pflegte mit ihm Briefkontakt zu philosophischen<br />

<strong>und</strong> ökonomischen Fragen. 46 Schmidts<br />

Publikation mit dem Titel „Die Durchschnittsprofitrate<br />

auf der Gr<strong>und</strong>lage der Marx’schen<br />

Werthgesetze“ (1889) wurde Gegenstand der<br />

Auseinandersetzung mit Hugo Landé. Landé<br />

nahm Anstoß an den ökonomischen Definitionen<br />

des Verfassers <strong>und</strong> an einer „zu engen Auffassung<br />

des Werthgesetzes“. 47<br />

Mit dem Widerspruch löst Landé eine Kontroverse<br />

aus, die sich durch die Jahre 1892 <strong>und</strong><br />

1893 hinzieht. Über mehrere Ausgaben der<br />

„Neuen Zeit“ hinweg disputierten die Kontrahenten<br />

über Warenwert <strong>und</strong> Preis <strong>und</strong> ihre Bestimmung<br />

durch die verschiedenen Faktoren<br />

wie aufgebrachte Arbeitszeit bzw. die Konkurrenzverhältnisse<br />

am Markt. 48<br />

Friedrich Engels arbeitete in den Jahren<br />

1892/93 in London an der Herausgabe des dritten<br />

Bandes des „Kapital“. Die Kontrahenten<br />

Schmidt <strong>und</strong> Landé, die hiervon wussten, erhofften<br />

sich durch die Veröffentlichung dieses<br />

Buches Aufschluss zu den von ihnen aufgeworfenen<br />

ökonomischen Fragestellungen.<br />

Friedrich Engels greift diesen Ball auf. In seinem<br />

Aufsatz „Ergänzung <strong>und</strong> Nachtrag zum<br />

III. Buche des „Kapital“ 49 setzt er sich u.a. mit<br />

den Thesen von Conrad Schmidt auseinander,<br />

der dem Marx´schen Wertgesetz lediglich den<br />

Rang einer Hypothese <strong>und</strong> „notwendigen Fiktion“<br />

zubilligt. „Solche Kontroversen sind nun<br />

74<br />

selbstverständlich bei einem Werk, das so viel<br />

Neues <strong>und</strong> dies nur in rasch hingeworfener <strong>und</strong><br />

teilweise lückenhafter erster Bearbeitung<br />

bringt“, kommentiert er die Debatte. In einem<br />

persönlichen Antwortschreiben an Conrad<br />

Schmidt beschwichtigt Engels jedoch auch den<br />

wissenschaftlichen Ehrgeiz des Diskutanten:<br />

„Aber seien Sie doch nur ja ruhig. Sie können<br />

wahrhaft zufrieden sein. Haben Sie doch die<br />

Ursache des tendenziellen Falls der Profitrate<br />

<strong>und</strong> die Bildung des Handelsprofits selbstständig<br />

gef<strong>und</strong>en, <strong>und</strong> das nicht zu 2 /3 wie Firemann<br />

50 die Profitrate, sondern ganz <strong>und</strong> gar.“ 51<br />

Engels kritisiert die Neigung Schmidts,<br />

„die sich auch in (Ihrem) brieflichen Exkurs<br />

über das Wertgesetz zeigt, sich in Einzelheiten<br />

zu vertiefen, wobei mir der Gesamtzusammenhang<br />

nicht mehr beachtet scheint, derart, das<br />

Sie das Wertgesetz zu einer Fiktion, einer notwendigen<br />

Fiktion, degradieren“. 52 Ähnlich lautete<br />

auch die Kritik von Hugo Landé. Sowohl<br />

der Aufsatz „Ergänzung <strong>und</strong> Nachtrag zum III.<br />

Buche des ‚Kapital‘“ als auch Engels’ Briefe<br />

an Schmidt fanden Eingang in die „Ausgewählten<br />

Werke“ <strong>und</strong> gehören wohl zu den<br />

gr<strong>und</strong>legenden Schriften marxistischer Wirtschaftswissenschaft.<br />

Conrad Schmidt <strong>und</strong> Hugo<br />

Landé zählen zu den wenigen zeitgenössischen<br />

Sozialdemokraten, die sich auf hohem<br />

Niveau mit dem Wertgesetz auseinandersetzten.<br />

53 Zu den Auffassungen Landés gibt es keine<br />

Bemerkungen von Engels, doch er wird die<br />

Debatte in der „Neuen Zeit“ lebhaft verfolgt<br />

haben. Conrad Schmidt wurde neben Eduard<br />

Bernstein später zu einem der maßgeblichen<br />

Theoretiker der Revisionisten in der SPD. Er<br />

wurde 1895 Mitbegründer der Zeitschrift „Der<br />

sozialistische Akademiker“ – ab 1897 „Sozialistische<br />

Monatshefte“ –, die bald zum Sprachrohr<br />

der Revisionisten in der Partei wurden. 54<br />

Auch Landé stand dieser Parteifraktion nahe.<br />

Der Streit mit den Antisemiten<br />

Im November 1890 wurde auch der „christlich-sociale<br />

Verein“ in Elberfeld gegründet.<br />

Diese Gruppierung trat als „antisemitische<br />

Partei“ zu den Wahlen an 55 <strong>und</strong> verfügte sogar


über ein eigenes Blatt, die „Rheinische<br />

Wacht“, das in Elberfeld gedruckt wurde. Rassistische<br />

Propaganda <strong>und</strong> Boykottaufrufe richteten<br />

sich gegen die jüdische Bevölkerung.<br />

Doch nicht nur die jüdischen Kaufleute wurden<br />

diffamiert, die Antisemiten versuchten in<br />

den ersten Jahren ihres Bestehens auch, in der<br />

Arbeiterschaft <strong>und</strong> der sozialdemokratischen<br />

Partei ihre Vorurteile zu verankern. Juden, die<br />

eine herausragende Stellung in der SPD innehatten,<br />

wurden angegriffen. So heißt es in<br />

einem Flugblatt: „Ihr unter Juden-Commando<br />

gerathenen Arbeiter seid – ohne daß ihr es<br />

selbst wißt – die größten Feinde des Socialismus!“<br />

56 Diese Angriffe zielten auf den Juden<br />

Hugo Landé, der mittlerweile ein prominentes<br />

Parteimitglied war. Die Wuppertaler Sozialdemokraten<br />

setzten sich mit den Anwürfen der<br />

„Christlich-Socialen“ offensiv auseinander<br />

<strong>und</strong> scheuten auch nicht, in deren Versammlungen<br />

aufzutreten. Diese Strategie hatte Erfolg:<br />

Während es in den Anzeigen der antisemitischen<br />

Partei zunächst nur hieß, „Juden haben<br />

keinen Zutritt“, wurden später auch Sozialdemokraten<br />

von der Teilnahme an den öffentlichen<br />

Parteiversammlungen ausgeschlossen. 57<br />

Die angestrebte scharfe Trennung zwischen<br />

Antisemitismus <strong>und</strong> Sozialdemokratie war gelungen.<br />

Die Arbeiterpartei blieb frei von Rassenhass.<br />

Erst durch die NSDAP sollte diese unglückselige<br />

Verknüpfung zwischen Arbeitersozialismus<br />

<strong>und</strong> Antisemitismus wiederhergestellt<br />

werden.<br />

Die antisemitische Partei blieb für ca. 15<br />

Jahre in Elberfeld eine relevante politische<br />

Kraft, die über Stadtverordnete <strong>und</strong> Reichstagskandidaten<br />

verfügte. Die Saat dieser Partei<br />

ging auf. Für Jahrzehnte blieben die Sozialdemokratie<br />

<strong>und</strong> das Judentum das Feindbild in<br />

diesen deutsch-völkischen Kreisen. Immer<br />

wieder im Laufe seines Lebens sollte Hugo<br />

Landè mit diesen politischen Kräften konfrontiert<br />

werden.<br />

Besuch von Wilhelm Liebknecht<br />

In den neunziger Jahren zieht Hugo Landé<br />

um. Am 28.4.1890 verkündet eine Anzeige in<br />

der sozialdemokratischen „Freien Presse“,<br />

dass das „Büreau“ in die Casinogartenstraße<br />

15 a (heute Kolpingstraße) verlegt wird. Die<br />

Familie Landé bezog auch eine neue Wohnung.<br />

1888 wurde der älteste Sohn Alfred (1888–<br />

1975) geboren, es folgten Charlotte (1890–<br />

1977), Franz (1893–1942) <strong>und</strong> Eva (1901–<br />

1977). Die Familie Landé erwarb oder erbaute<br />

ein stattliches Wohnhaus am unteren Ende der<br />

Luisenstraße, das sie allein bewohnte. 58 Das<br />

Haus Luisenstraße 85 hat neun Zimmer <strong>und</strong> ist<br />

umgeben von einem großen Garten mit einer<br />

hohen Mauer. Das Viertel ist gutbürgerlich –<br />

auch die Familie Landé hat zwei Dienstmädchen<br />

<strong>und</strong> eine Putzfrau als Hausangestellte.<br />

59 Das Haus liegt jedoch am Fuß des Elberfelder<br />

Ölbergs, einem ausgeprägten Arbeiterviertel.<br />

Seine politische Tätigkeit <strong>und</strong> auch die<br />

Werbeanzeige in der Arbeiterzeitung „Freie<br />

Presse“ legen nahe, dass Hugo Landé seine<br />

Klienten auch in Arbeiterkreisen hatte. Sein<br />

Beruf ermöglichte ihm jedoch einen bemerkenswerten<br />

Wohlstand.<br />

Wilhelm Liebknecht, der populäre sozialdemokratische<br />

Redner, besuchte im Jahr 1894<br />

das Wuppertal. Vor einer Versammlung von<br />

2000 Menschen auf dem Johannisberg setzte er<br />

sich mit den anarchistischen Tendenzen der<br />

„unabhängigen Sozialisten“ auseinander. 60 Im<br />

Anschluss gab es ein fre<strong>und</strong>schaftliches Wiedersehen<br />

mit Hugo Landé. Es gehört zu den<br />

frühesten Erinnerungen der Tochter Charlotte,<br />

bei einer Kaffeetafel im Garten des Hauses auf<br />

dem Schoß von Wilhelm Liebknecht gesessen<br />

zu haben. 61 Wilhelm Liebknecht hatte schon<br />

im Jahr zuvor Kontakte in das Wuppertal geknüpft.<br />

Er schenkte seinem Fre<strong>und</strong> Friedrich<br />

Engels in London Fotografien von dessen Elternhaus<br />

am Barmer Bruch, die er zuvor hier<br />

besorgen ließ. 62<br />

Der Anwalt Landé <strong>und</strong> der Prozess<br />

Garschagen<br />

Recht <strong>und</strong> Rechtsprechung stehen häufig in<br />

engem Zusammenhang mit gesellschaftspolitischen<br />

Kontroversen <strong>und</strong> gesellschaftlichem<br />

Fortschritt. So fanden sich auch immer wieder<br />

75


Anwälte <strong>und</strong> Juristen in den Reihen der sozialdemokratischen<br />

Partei. Die berühmtesten unter<br />

ihnen waren sicherlich Karl Marx, Ferdinand<br />

Lassalle, Karl Liebknecht <strong>und</strong> Hugo Haase.<br />

Einige ihrer Prozesse, so z.B. der Scheidungsprozess<br />

der Gräfin Sophie von Hatzfeld, 63 gingen<br />

als Meilensteine in die Rechtsgeschichte<br />

ein. Auch der Anwalt Hugo Landé erwarb sich<br />

einen Ruf als Verteidiger, der ihn weit über seine<br />

Heimatstadt hinaus bekannt machte. Seine<br />

Tochter schrieb, dass er oftmals als Anwalt<br />

nach auswärts gerufen wurde. 64 Allerdings<br />

wurde sein Name nicht mit bedeutenden Prozessen<br />

in Verbindung gebracht. Einer der Prozesse<br />

Landés, der zumindest in Elberfeld<br />

großes Aufsehen erregte, war der um die „Naturheilärztin“<br />

Sophie Garschagen <strong>und</strong> ihre<br />

„Privat-Krankenanstalt“ im Zooviertel.<br />

Im Zusammenhang mit den radikalen Veränderungen<br />

in Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft zu<br />

Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts entfalteten sich<br />

auch vielfältige lebensreformerische Bewegungen:<br />

Kleider- <strong>und</strong> Ernährungsreformer, Anti-<br />

Alkohol-Bewegung, Freikörperkultur, Siedlungs-<br />

<strong>und</strong> Gartenstadtbewegung <strong>und</strong> nicht zuletzt<br />

ges<strong>und</strong>heitsreformerische Vereine. Diese<br />

Ideen wurden auch in der sozialdemokratischen<br />

Arbeiterbewegung aufgegriffen <strong>und</strong><br />

führten oft zu eigenen Vereinsgründungen. Allein<br />

in Elberfeld bestanden um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende<br />

zwölf homöopathische <strong>und</strong> Naturheil-Vereine.<br />

65<br />

Von Seiten der Behörden <strong>und</strong> der etablierten<br />

Ärzteschaft wurden diese Bestrebungen<br />

auf vielfältige Weise bekämpft <strong>und</strong> behindert.<br />

Die „Naturheilärztin“ Sophie Garschagen<br />

(1856–1938) eröffnete im Jahr 1904 eine erste<br />

„Privat-Krankenanstalt“ für Naturheilmedizin<br />

mit acht Angestellten in ihrem Wohnhaus auf<br />

der Wotanstraße im Elberfelder Zooviertel.<br />

Hier wurden Kranke mit Bädern verschiedenster<br />

Art, mit Massagen <strong>und</strong> Ernährungsumstellung<br />

therapiert. Schon nach wenigen Wochen<br />

wurde das Unternehmen von den städtischen<br />

Behörden gerichtlich belangt. Sophie Garschagen<br />

beauftragte den Anwalt Hugo Landé, eine<br />

Konzession für ihr Haus bei dem zuständigen<br />

Ausschuss in Düsseldorf zu erstreiten. Über<br />

ein Jahr ging es hier um Heilerfolge, mögliche<br />

76<br />

Todesursachen 66 <strong>und</strong> bauliche Auflagen für<br />

Krankenhäuser. 67 Im Jahre 1906 mußte die<br />

„Pension Sophie Garschagen“ denn auch kurzzeitig<br />

geschlossen werden. Während Landé die<br />

medizinisch-fachlichen Vorwürfe entkräften<br />

konnte, scheiterte jedoch sein Versuch, die<br />

baulichen Auflagen auf ein machbares Maß<br />

abzumildern. 68 Die nun verordneten Veränderungen<br />

<strong>und</strong> Auflagen waren in dem vorhandenen<br />

Gebäude nicht durchzuführen. Doch immerhin<br />

erhielt Frau Garschagen, wenn auch<br />

unter bestimmten Auflagen, eine Konzession<br />

für den Betrieb ihres Hauses. Die „Naturheilärztin“<br />

verfügte mittlerweile über kapitalkräftige<br />

Unterstützer unter den Elberfelder<br />

Fabrikanten, die sich meist selbst von den Heilerfolgen<br />

der Naturheilmedizin überzeugt hatten.<br />

69 Mit deren Hilfe entstand nicht weit vom<br />

alten Standort, am Boltenberg am Rande des<br />

Burgholz, ein neues Krankenhaus, das „Kurhaus<br />

Waldesruh“. Dieses modern ausgestattete<br />

Kurhaus genoss einige Jahre später auch die<br />

Anerkennung der städtischen Würdenträger<br />

<strong>und</strong> der Presse. Als das Haus 1912 in wirtschaftliche<br />

Schwierigkeiten geriet <strong>und</strong> Sophie<br />

Garschagen nach Bonn umsiedelte, wurde es<br />

von Unterstützern als GmbH weitergeführt.<br />

Der Erste Weltkrieg bedeutete für dieses ges<strong>und</strong>heitspolitische<br />

Experiment in Elberfeld<br />

jedoch das endgültiges Aus. 70<br />

Das erste Kommunalwahlprogramm<br />

Die Städte Elferfeld-Barmen als Hochburgen<br />

der Sozialdemokratie übernahmen auch eine<br />

Vorreiterrolle bei der Entwicklung einer sozialdemokratischen<br />

Kommunalpolitik. An dieser<br />

Entwicklung war der Jurist Landé maßgeblich<br />

beteiligt. In den ersten Jahrzehnten der<br />

Parteigeschichte galt die Kommunalpolitik als<br />

unwichtig <strong>und</strong> wurde völlig vernachlässigt.<br />

Zum einen waren tatsächliche Einflussmöglichkeiten<br />

durch das Dreiklassenwahlrecht in<br />

den Kommunen ausgeschlossen, zum anderen<br />

ging es der Partei um die großen gesellschaftlichen<br />

Veränderungen: den Umsturz der kapitalistischen<br />

Gesellschaft.


Erstmals im Jahr 1893, im Zusammenhang<br />

mit der Reichstagswahl, wurden zu den parallel<br />

anstehenden Barmer Stadtverordnetenwahlen<br />

sozialdemokratische Kandidaten in der<br />

dritten Abteilung aufgestellt. Zu dieser Wahl<br />

war der Steuerzensus für die dritte Abteilung,<br />

die Voraussetzung zur Wahlberechtigung, von<br />

zwölf auf sechs Mark gesenkt worden, so dass<br />

erstmals eine nennenswerte Anzahl von Arbeitern<br />

wahlberechtigt wurde. Die beiden sozialdemokratischen<br />

Führer Eberle (Barmen) <strong>und</strong><br />

Landé (Elberfeld) erarbeiten hierzu ein Kommunalwahlprogramm<br />

mit vielen sozialpolitischen<br />

Anliegen. 71 Dieses erste SPD-Kommunalwahlprogramm<br />

im Rheinland umfasste 13<br />

Forderungen wie die Unentgeltlichkeit der<br />

Lehrmittel, die Einrichtung einer kostenfreien<br />

kommunalen Arbeitsvermittlung <strong>und</strong> eines<br />

städtischen Arbeitsprogramms zur Beseitigung<br />

der Arbeitslosigkeit. Ein kommunaler Friedhof<br />

sollte das Monopol der christlichen Gemeinden<br />

auf diesem Sektor brechen. Das<br />

Wahlrecht selbst <strong>und</strong> damit die Gleichberechtigung<br />

der unteren Volksklassen war auch ein<br />

wichtiges Thema. Die Bezieher öffentlicher<br />

Unterstützung sollten endlich auch das Wahlrecht<br />

erhalten. Die Einrichtung von Stimmlokalen<br />

im Stadtgebiet 72 sollte den Arbeitern den<br />

oft langen Fußweg ersparen <strong>und</strong> damit die Teilnahme<br />

an der Wahl erleichtern. 73<br />

Die Erfahrungen waren positiv. Mit diesem<br />

Programm leitete die Partei ihren Angriff auf<br />

das Honoratiorenregiment ein. 74 Erstmals zeigten<br />

auch die Arbeiter Interesse an dieser Wahl,<br />

<strong>und</strong> die sozialdemokratischen Kandidaten kamen<br />

in die Stichwahl. Das Beispiel wurde in<br />

anderen Städten (Dortm<strong>und</strong>, 1897) aufgegriffen.<br />

75 Von Elberfeld ging einige Jahre später<br />

auch die Initiative aus, sich an den Kommunalwahlen<br />

generell zu beteiligen. Im Jahr 1900<br />

unterbreitete der Elberfelder Sozialdemokrat<br />

Hermann Grimpe (1850–1907) den Vorschlag<br />

für ein „Niederrheinisches Kommunalwahlprogramm“.<br />

Es wurde auf dem Bezirksparteitag<br />

für den Niederrhein in Ronsdorf im Jahr<br />

1901 auch beschlossen. 76<br />

Das bezirksweite Programm enthielt eine<br />

Reihe von Forderungen, die Landé schon auf<br />

dem Erfurter Parteitag 1891 eingebracht hatte.<br />

So die kommunale Selbstverwaltung, eine Armenpflege<br />

ohne politische Entmündigung, die<br />

„Einheitsschule“, die Einstellung <strong>und</strong> Qualifizierung<br />

von Lehrern <strong>und</strong> freie Lehrmittel.<br />

Andere Forderungen wie Kommunalisierung<br />

der öffentlichen Aufgaben 77 , Errichtung von<br />

Schulbädern <strong>und</strong> -kantinen <strong>und</strong> die Anstellung<br />

von Schulärzten waren dem Barmen-Elberfelder<br />

Katalog von 1893 entnommen. Ein neuer<br />

Punkt war eine städtische Wohnungsbaupolitik,<br />

mit der die Sozialdemokraten die allgemeine<br />

Wohnungsnot zu lindern suchten. 78<br />

Hugo Landé, als Anwalt an öffentliches<br />

Reden gewöhnt, entwickelte wie seine Frau ein<br />

„allseits gerühmtes Rednertalent“. 79 Er stellte<br />

sich seiner Partei als Reichstagskandidat zur<br />

Verfügung <strong>und</strong> wurde im Wahlkreis Bielefeld<br />

nominiert. Dort, in der Provinz, waren Sozialdemokraten<br />

weitaus stärker stigmatisiert als in<br />

den bergischen Industriestädten <strong>und</strong> wurden<br />

als vaterlandslose Gesellen ausgegrenzt. Landé<br />

beschwerte sich später über die dortige<br />

„Saalabtreiberei“ 80 : überall, wo Gastwirte den<br />

Sozialdemokraten Räumlichkeiten zur Verfügung<br />

gestellt hatten, wurden sie von den<br />

Behörden massiv unter Druck gesetzt. Diese<br />

Praxis zwang auch Landé, „unter freiem Himmel<br />

<strong>und</strong> von einem Leiterwagen herunter zu<br />

reden“. 81 Als 1898 der Reichstagsabgeordnete<br />

Friedrich Harm (1844–1905), der seit 1884<br />

viermal hintereinander das Mandat im Wahlkreis<br />

Elberfeld-Barmen gewonnen hatte, nicht<br />

mehr kandidierten wollte, 82 wurde Hugo Landé<br />

vom Parteivorstand für die Kandidatur in seiner<br />

Heimatstadt ins Gespräch gebracht. Diese<br />

Nominierung war bei den örtlichen Sozialdemokraten<br />

jedoch umstritten. Hier dominierten<br />

linke Sozialdemokraten die örtliche Parteiorganisation.<br />

Schon Friedrich Harm sei, so ein<br />

Behördendossier, „von der radikalen Richtung,<br />

der er nicht scharf genug sei, zur Aufgabe moralisch<br />

gezwungen worden“. 83 Ähnlich lag es<br />

bei Hugo Landé: Er hätte wegen seiner bürgerlichen<br />

Herkunft <strong>und</strong> seiner Nähe zu dem damals<br />

noch recht schwachen reformistischen<br />

Flügel ebenfalls schnell in die parteiinterne<br />

Kritik geraten können. So lehnte er aus „beruflichen<br />

Gründen“ – wie es offiziell hieß – das<br />

Angebot zur Kandidatur ab. 84<br />

77


Stattdessen wurde der bekannte Hamburger<br />

Sozialdemokrat Hermann Molkenbuhr (1851–<br />

1927) vom Parteivorstand vorgeschlagen <strong>und</strong><br />

nominiert. Er sollte für 14 Jahre den Wahlkreis<br />

im Reichstag vertreten <strong>und</strong> eine prägende Person<br />

der örtlichen Sozialdemokratie werden.<br />

Noch heute ist die parteieigene Verlagsgesellschaft<br />

„Molkenbuhr & Cie.“ nach ihm benannt.<br />

Im Jahr 1908 gab die SPD erstmals auch<br />

den Boykott 85 der preußischen Landtagswahlen<br />

auf. Hugo Landé entschied sich diesmal anders<br />

als bei der Reichstagswahl 1898 <strong>und</strong> kandidierte<br />

in seinem Heimatwahlkreis. Aber bei<br />

diesen Wahlen galt das Dreiklassenwahlrecht,<br />

<strong>und</strong> somit war kein Direktmandat zu erwarten.<br />

Die Entscheidung hatte also (noch) keine Konsequenzen<br />

für sein Berufsleben.<br />

Der erste kommunale Wahlsieg in Elberfeld<br />

Ein umso erfreulicheres politisches Ereignis<br />

wurde für Hugo Landé der lang erhoffte<br />

Durchbruch der Elberfelder Sozialdemokraten<br />

bei den Kommunalwahlen im Jahr 1909.<br />

In Preußen herrschte bei allen Wahlen, mit<br />

Ausnahme der Reichstagswahlen, das Dreiklassenwahlrecht.<br />

Das Wahlrecht hing von der<br />

Höhe der Steuer ab.<br />

So waren auch bei den Kommunalwahlen<br />

die Wähler in drei Steuerklassen eingeteilt. Der<br />

Stadtrat bestand aus 36 Personen, die in drei<br />

verschiedene Abteilungen (Steuerklassen) gegliedert<br />

waren. Jedes zweite Jahr wurde ein<br />

Drittel der Stadtverordneten, jeweils vier in jeder<br />

Abteilung, für sechs Jahre neu gewählt. 86<br />

Doch selbst in der dritten Klasse war ein hoher<br />

Steuersatz nötig, so dass nur ca. 20–25 % der<br />

männlichen Bevölkerung wahlberechtigt war.<br />

Da jedoch 12% der Wahlberechtigten 66% der<br />

Abgeordneten wählten, waren die gering verdienenden<br />

Bevölkerungsklassen, die Wähler<br />

der dritten Abteilung, nur schwer zu motivieren,<br />

an den Wahlen teilzunehmen. Diese Bedingungen<br />

hatten bisher einen Erfolg der Sozialdemokraten<br />

in der Kommune unmöglich gemacht.<br />

Seit Jahrzehnten hatten deshalb die Sozialdemokraten<br />

das <strong>und</strong>emokratische Wahlrecht<br />

angegriffen.<br />

78<br />

Zu den Wahlen im Jahr 1909 war es ihnen<br />

jedoch gelungen, zumindest partielle Verbesserungen<br />

zu erreichen. Der erforderliche Mindeststeuerbetrag<br />

in der dritten Abteilung wurde<br />

in Elberfeld <strong>und</strong> Barmen von 6 auf 4 Mark gesenkt.<br />

Erstmals stieg die Zahl der Wahlberechtigten<br />

auf insgesamt 28.578 Personen bzw.<br />

35,2 % der männlichen Bevölkerung. 87 Nun<br />

konnten 25.378 Wahlberechtigte die vier neuen<br />

Abgeordneten der dritten Abteilung wählen. 88<br />

In der zweiten Abteilung entsandten 2.905<br />

Wahlberechtigte die gleiche Anzahl von Abgeordneten.<br />

89 Auf Drängen der Sozialdemokraten<br />

war es auch gelungen, das einzige Wahlbüro<br />

im Elberfelder Rathaus an fünf Tagen, statt wie<br />

bisher an einem Tag, geöffnet zu halten. Auch<br />

dies kam vornehmlich den Sozialdemokraten<br />

zugute. Der oft lange Fußweg <strong>und</strong> die knappe<br />

Zeit hatte viele der armen Wähler aus den Vorstadtbezirken<br />

abgehalten, zur Wahl zu gehen.<br />

Die Wahlbeteiligung stieg auf bisher unerreichte<br />

62,5%.<br />

Hugo Landé <strong>und</strong> der Redakteur Oskar<br />

Hoffmann (1877–1953) führten die Kandidatenliste<br />

der SPD-Elberfeld in der dritten Abteilung<br />

an. Nach der Wahlordnung musste mindestens<br />

die Hälfte der Abgeordneten in jeder<br />

Abteilung Hausbesitzer sein. Diese Bestimmung<br />

warf für die Kandidatensuche des sozialdemokratischen<br />

Volksvereins erhebliche Probleme<br />

auf 90 <strong>und</strong> begünstigte möglicherweise<br />

die Aufstellung des Kandidaten Hugo Landé.<br />

Die Liberalen, Konservativen <strong>und</strong> Zentrumsleute<br />

hatten zum Schutz der „Honoratiorenbastion“<br />

ein Bündnis der „Vereinigten Parteien“<br />

gebildet <strong>und</strong> dachten, so den Wahlsieg der Sozialdemokraten<br />

zu verhindern.<br />

Die SPD startete im Sommer 1909 im<br />

ganzen Deutschen Reich eine Kampagne gegen<br />

das <strong>und</strong>emokratische Dreiklassenwahlrecht<br />

in Preußen. In vielen Städten im Rheinland<br />

gab es große Massendemonstrationen.<br />

Unter anderen war Karl Liebknecht (1871–<br />

1919), der Sohn von Wilhelm Liebknecht <strong>und</strong><br />

der jüngste Reichstagsabgeordnete, im Juli<br />

1909 als Redner auf einer Versammlung der<br />

sozialdemokratischen Jugend auf dem Königsplatz<br />

(heute Laurentiusplatz) zu hören. 91 Mög-


licherweise war Karl Liebknecht bei dieser Gelegenheit<br />

auch im nahegelegenen Hause Landé<br />

zu Gast, wie sein Vater schon einige Jahre zuvor.<br />

92 Diese Kampagne wird auch die sozialdemokratischen<br />

Wähler im Wuppertal erreicht<br />

<strong>und</strong> mobilisiert haben. Während der heißen<br />

Wahlkampfzeit im September 1909 sprach Hugo<br />

Landé im dichtbesetzten „Volkshaus“. 93 Bei<br />

diesen Auftritten forderte er u.a. das Wahlrecht<br />

auch für Frauen <strong>und</strong> Unterstützungsempfänger.<br />

Ein städtisches Wohnungsbauprogramm sollte<br />

die Wohnungsnot mildern <strong>und</strong> den Mietwucher<br />

bekämpfen. Ein weiteres Thema war eine gerechte<br />

Berücksichtigung der ärmeren Bevölkerungsschichten<br />

bei den städtischen Kulturausgaben.<br />

94<br />

Unter den neuen günstigeren Bedingungen<br />

<strong>und</strong> nach langjährigen Vorarbeiten gelang den<br />

Sozialdemokraten endlich der Durchbruch.<br />

Die Liste der SPD verdoppelte ihre Stimmzahl<br />

<strong>und</strong> erreichte die Mehrheit in der dritten Klasse.<br />

Damit waren erstmals Sozialdemokraten im<br />

Stadtrat vertreten. 95 Hugo Landé erzielte mit<br />

8.583 Stimmen das Spitzenergebnis. 96 In den<br />

Reden von Hugo Landé kam zum Ausdruck,<br />

dass ihm die Entscheidung für die parlamentarische<br />

Arbeit durchaus schwergefallen ist. Die<br />

beruflichen Konsequenzen <strong>und</strong> die nun knappere<br />

Zeit für die Familie wogen schwer. Doch<br />

die politische Leidenschaft prägte sein weiteres<br />

Leben. Die Wahl hatte Hugo Landé gemeinsam<br />

mit dem Redakteur der „Freien Presse“<br />

Oskar Hoffmann gewonnen. Oskar Hoffmann<br />

war seit 1905 in Elberfeld. Von nun an<br />

bis zur Zäsur von 1933 sollten diese beiden Sozialdemokraten<br />

die kommunale Politik <strong>und</strong> die<br />

Geschicke der Elberfelder Partei prägen.<br />

Das Dreiklassenwahlrecht wurde erst durch<br />

die Revolution im Jahr 1918 abgeschafft. Daher<br />

verfügte die SPD noch im Jahr 1912 im<br />

Regierungsbezirk Düsseldorf insgesamt nur<br />

über 208 kommunale Mandatsträger. Allerdings<br />

waren die Sozialdemokraten in den bergischen<br />

Gemeinden schon vergleichsweise<br />

früh in die Stadtverordnetenversammlungen<br />

gelangt. 97 So auch in den damals selbstständigen<br />

Städten des heutigen Wuppertals: in Ronsdorf<br />

<strong>und</strong> Cronenberg 1904, in Elberfeld <strong>und</strong><br />

Barmen 1909. Das bergische Städtedreieck<br />

war auch kommunalpolitisch zu einer sozialdemokratischen<br />

Hochburg geworden.<br />

Der Familienvater Hugo Landé<br />

Das parteipolitische Engagement <strong>und</strong> die<br />

Wahl zum Stadtverordneten blieben nicht ohne<br />

Folgen für das Familienleben 98 <strong>und</strong> die Entwicklung<br />

der Kinder. Sohn Franz 99 ging in das<br />

Realgymnasium Elberfeld an der Aue. Das besuchte<br />

auch Martin Niemöller 100 (1892–1984),<br />

Sohn des Pfarrers Niemöller an der lutherischen<br />

Trinitatiskirche im benachbarten Stadtteil<br />

Arrenberg. Aus den Jahren von 1900 bis<br />

1910 berichtet Martin Niemöller: „Wir hatten<br />

damals einen sozialdemokratischen Stadtverordneten,<br />

einen Rechtsanwalt, <strong>und</strong> dessen<br />

Sohn war eine Klasse tiefer als ich <strong>und</strong> war<br />

Dissident. Denn ein Sozialdemokrat, der damals<br />

überzeugter Sozialist war, glaubte, daß<br />

man als Sozialist eben nicht Christ sein könne.<br />

– Es war ganz selbstverständlich. Mit dem Jungen<br />

sprach kein Mensch. Er hatte in seiner<br />

Klasse keinen Menschen, der sich mit ihm unterhielt.<br />

Und der ganze Gr<strong>und</strong> dafür war: sein<br />

Vater ist sozialdemokratischer Stadtverordneter.<br />

Mit solchen Leuten redet man nicht. (…)<br />

Ich erinnere mich noch, wie wir damals bei<br />

den Reichstagswahlen, die während meiner<br />

Schulzeit stattfanden, ohne überhaupt eine politische<br />

Überzeugung zu haben, die Werbeplakate<br />

für die sozialdemokratischen Abgeordneten<br />

abrissen. Und das galt als gute christliche<br />

Tat, denn auf diese Weise traf man beide, die<br />

Feinde des Thrones <strong>und</strong> die Feinde des Altars.“<br />

101 Diese Ausgrenzung durch die Kinder<br />

der „besseren“ Kreise scheinen jedoch ohne<br />

nachhaltige Schäden überstanden worden zu<br />

sein.<br />

Die Berichte der Kinder Landé jedenfalls<br />

heben immer wieder die glückliche <strong>und</strong> erfüllte<br />

Kindheit im Haus in der Luisenstraße hervor.<br />

Daran hatte neben Thekla auch der Vater<br />

Hugo einen gewichtigen <strong>und</strong> bewussten Anteil.<br />

Er war zwar regelmäßig an zwei Abenden der<br />

Woche auf politischen Sitzungen im Rathaus,<br />

doch fand er trotz des Engagements genügend<br />

Zeit für die Kinder. Die Tochter Lotta 102 be-<br />

79


ichtet: „Ich möchte aber nicht vergessen, davon<br />

auch zu berichten, daß mein Vater also ein<br />

ausgesprochener Familienmensch war. Er wurde<br />

mal eine Zeitlang nach auswärts gerufen als<br />

bekannter Verteidiger <strong>und</strong> hat das dann einfach<br />

immer abgelehnt <strong>und</strong> (…) hat gesagt, ‚Zum<br />

Wochenende gehöre ich nach Hause‘. (…) Papa<br />

hat mit uns jeden Samstagnachmittag (…) weite<br />

Spaziergänge in unsere w<strong>und</strong>erschöne Umgebung<br />

gemacht, ins Gelpetal, Burgholz. (…)<br />

Auf diesen Spaziergängen, als wir noch klein<br />

waren, hat er uns erst Märchen erzählt, später<br />

(…) die griechischen Sagen, <strong>und</strong> noch später<br />

haben wir uns über alle Dinge, die uns betrafen,<br />

mit ihm unterhalten können <strong>und</strong> er hat an<br />

allem teilgenommen <strong>und</strong> es war sehr schön.<br />

(…) Wir machten auch w<strong>und</strong>erschöne Radtouren<br />

an den Rhein mit unserem Vater (…). Meine<br />

Mutter war nicht so ges<strong>und</strong>, so leistungsfähig.“<br />

103<br />

Die Kinder erhielten alle eine musische Erziehung<br />

<strong>und</strong> abends gab es Hausmusik mit<br />

Klavier <strong>und</strong> Geige. An anderen Abenden saß<br />

man um den großen Esstisch, las Geschichten<br />

oder knobelte „mit großem Vergnügen“ 104 an<br />

mathematischen Aufgaben, die der Vater gestellt<br />

hatte. Aufgr<strong>und</strong> des sozialistischen<br />

Selbstverständnisses der Eltern hatte aber auch<br />

die ethische Erziehung eine große Bedeutung.<br />

Die Tochter Charlotte hierzu: „Wir Kinder sind<br />

konfessionslos erzogen worden. Aber das bedeutete<br />

nicht etwa unreligiös, sondern meinem<br />

Gefühl nach sind wir besonders religiös erzogen<br />

worden. Wir [wurden dazu angehalten]<br />

duldsam zu sein, anderen Menschen zu helfen<br />

<strong>und</strong> immer die Wahrheit zu sagen, <strong>und</strong> nichts<br />

Schlechtes über andere Menschen zu reden.“ 105<br />

Die Kinder reisten oft zu den Großeltern<br />

<strong>und</strong> Verwandten nach Berlin <strong>und</strong> anderswo.<br />

Später unternahm Hugo Landé mit seinen<br />

erwachsenen Kindern auch sommerliche<br />

Ferienreisen. So berichtet Lotta Landé von einer<br />

Reise an die Nordsee im Jahr 1911 oder<br />

von einer dreiwöchigen Schiffsreise im Jahr<br />

1927 ans Nordkap – zur Mitternachtssonne.<br />

Unterwegs habe sie so viel getanzt wie nie<br />

mehr in ihrem Leben, habe viele Wanderungen<br />

in die Berge <strong>und</strong> Ausflüge ins Land der Fjorde<br />

mit ihrem Vater unternommen. Tochter Lotta<br />

80<br />

berichtet auch von einer Reise in ein elegantes<br />

belgisches Seebad „wo [es] Papas größte Freude<br />

war, nachmittags am Strand vor einem kleinen<br />

Cafe zu sitzen, wo eine Sängerin klassische<br />

Musik sang“. 106<br />

Der Stein des Anstoßes<br />

in der Novemberrevolution<br />

In den Vorkriegsjahren waren die wichtigsten<br />

Führungspersönlichkeiten der Elberfelder<br />

Sozialdemokraten, die Generation der Veteranen<br />

aus der Zeit des „Sozialistengesetzes“ wie<br />

Friedrich Harm (1905), Hermann Grimpe<br />

(1907) <strong>und</strong> Wilhelm Gewehr (1913) gestorben.<br />

Hugo Landé war nun neben Otto Ibanez 107<br />

(1858–?) der letzte Vertreter dieser Generation<br />

<strong>und</strong> somit dienstältester lokaler Parteiführer.<br />

Der Krieg unterbrach die sozialdemokratische<br />

Erfolgsgeschichte im Wuppertal jäh. Die Bewilligung<br />

der Kriegskredite durch die sozialdemokratische<br />

Reichtagsfraktion entzweite die<br />

Partei. Im Juli 1917 spalteten sich die entschiedenen<br />

Kriegsgegner ab. Diese „Unabgängige“<br />

SPD (USPD) bildete in der Gesamtpartei eine<br />

Minderheit, im Bezirk Niederrhein <strong>und</strong> in Elberfeld-Barmen<br />

vertrat sie jedoch eine deutliche<br />

Mehrheit von 60–80% der örtlichen Sozialdemokraten.<br />

Hugo Landé blieb bei den „Regierungssozialisten“,<br />

während seine alten Mitstreiter<br />

Otto Ibanez <strong>und</strong> Oskar Hoffmann Führer<br />

der USPD wurden. 108 Hunger, enorme Kindersterblichkeit,<br />

109 Trauer über die Gefallenen<br />

<strong>und</strong> die Winter ohne Heizmaterial führten<br />

zunächst zu Streiks, ab dem Winter 1917 sogar<br />

zu Straßenunruhen. Die „Mehrheitssozialdemokraten“<br />

– nun auch „Regierungssozialisten“<br />

genannt – versuchten zu beschwichtigen, wo es<br />

ging. Landé hatte den stellvertretenden Vorsitz<br />

des „Mieteinigungsamtes“, das während des<br />

Krieges gegründet worden war <strong>und</strong> versuchte<br />

in dieser Funktion, die ärgsten Wohnraummissstände<br />

der ärmeren Bevölkerungsschichten<br />

zu lindern. Doch mit zunehmendem Elend<br />

verlor diese Politik die Zustimmung in der angestammten<br />

sozialdemokratischen Wählerschaft.


Der alte Staatsapparat machte den „Regierungssozialisten“<br />

nun Zugeständnisse <strong>und</strong><br />

Avancen. So wurde Hugo Landé im Jahr 1917,<br />

im Alter von fast 60 Jahren, endlich der Titel<br />

des „Justizrates“ verliehen. Diesen Titel erhielten<br />

praktizierende Anwälte üblicherweise<br />

schon viel früher, doch Hugo Landé hatte man<br />

diese Ehrung bis dahin aus politischen Gründen<br />

verweigert. Seine Parteigenossen von der<br />

USPD, die wie Oskar Hoffmann <strong>und</strong> andere 110<br />

aktiv gegen den Krieg auftraten, erhielten in<br />

dieser Zeit aus den gleichen Amtszimmern der<br />

Justiz weniger erfreuliche Schreiben: Vorladungen,<br />

Einberufungen aus politischen Gründen<br />

<strong>und</strong> Haftbefehle. 111 Noch am 8. November<br />

– in Kiel hatten die Matrosen schon mit der<br />

Meuterei begonnen – bildete der Elberfelder<br />

Stadtrat eine ständige Kommission, die der<br />

städtischen Verwaltung bei den zu erwartenden<br />

Unruhen zur Seite stehen sollte. Hugo Landé<br />

vertrat die (M)SPD in dieser Kommission 112<br />

<strong>und</strong> wurde für die Revolutionäre so zur<br />

Hauptangriffsperson unter den „Regierungssozialisten“.<br />

Die Revolution war nicht mehr aufzuhalten.<br />

Am Nachmittag des 8. Novembers zogen<br />

100 Kieler Matrosen einer riesigen Menschenmenge<br />

voran von Elberfeld nach Barmen,<br />

die „Internationale“ auf den Lippen. Am<br />

Abend wurde die Republik ausgerufen. Ein<br />

„Arbeiter- <strong>und</strong> Soldatenrat“ wurde gebildet<br />

<strong>und</strong> übernahm die Macht. „Bloß kein Bruderstreit“,<br />

hieß die Parole. So wurde der Rat von<br />

den Vertretern beider sozialdemokratischen<br />

Parteien paritätisch besetzt. Während die<br />

USPD den Vorsitzenden des Rates stellte, wurde<br />

Hugo Landé in das zweitwichtigste Amt gewählt.<br />

113 Als „städtischer Kommissar“ hatte er<br />

die Aufgabe, die städtische Verwaltung, den<br />

Oberbürgermeister <strong>und</strong> die Stadtverordnetenversammlung<br />

zu kontrollieren. Landé leitete<br />

auch den „Demobilisierungsausschuss“, der<br />

sich um die Arbeitsplätze für die heimkehrenden<br />

Soldaten, die Einführung des Achtst<strong>und</strong>entages<br />

(des wichtigsten sozialpolitischen Ergebnisses<br />

der Revolution) <strong>und</strong> andere beschäftigungspolitische<br />

Aufgaben kümmerte. Dieser<br />

Ausschuss bildete ab Januar 1919 den Gr<strong>und</strong>stein<br />

des späteren Elberfelder Arbeitsamtes. 114<br />

Die Einigkeit der beiden sozialdemokratischen<br />

Parteien währte nicht lange. Schon im<br />

Dezember kam es in Elberfeld zu einem handgreiflichen<br />

Streit um die Verfügungsgewalt<br />

über die sozialdemokratische Parteizeitung<br />

„Freie Presse“ <strong>und</strong> um die Delegiertenmandate<br />

zur Reichskonferenz der Arbeiter- <strong>und</strong> Soldatenräte<br />

in Berlin. Auch in Berlin wuchsen die<br />

politischen Spannungen. Der sozialdemokratische<br />

Volksbeauftragte Friedrich Ebert hatte ein<br />

geheimes Bündnis mit den kaiserlichen Generälen<br />

geschlossen. Freikorps schossen auf<br />

radikale Anhänger der Revolution. Hugo Landé<br />

<strong>und</strong> Ernst Dröner (1878–1951) 115 drängten<br />

auch in Elberfeld zunehmend, „die Institution<br />

der Arbeiter- <strong>und</strong> Soldatenräte zu überwinden“.<br />

116 Landé forderte sogar den Boykott des<br />

Bezirksarbeiter- <strong>und</strong> Soldatenrates, „weil dort<br />

die große Mehrheit (…) einen Standpunkt einnehme,<br />

dem er sich nicht anschließen könne“.<br />

117 Die anstehende Wahl zur Nationalversammlung<br />

am 19. Januar 1919 verschärfte die<br />

Spannungen. Auf einer Versammlung des Arbeiter-<br />

<strong>und</strong> Soldatenrates am 4. Januar in der<br />

Stadthalle erstattete der Rat seinen Rechenschaftsbericht.<br />

Carl Drescher (USPD) sprach<br />

trotz mehrfacher Ermahnung zu dem umstrittenen<br />

Thema „Freie Presse“.<br />

Der Besitz der alten Parteizeitung „Freie<br />

Presse“ war der heftigste Streitpunkt der beiden<br />

Parteien. Während die MSPD juristische<br />

Argumente anführte, konnte die USPD auf die<br />

örtliche Mehrheit der übergetretenen Parteimitglieder<br />

verweisen. Im November war es<br />

sogar zu einer nächtlichen Besetzungsaktion<br />

im Zeitungsgebäude gekommen. 118 Die „Freie<br />

Presse“ war „Offizielles Organ der Arbeiter<strong>und</strong><br />

Soldatenräte“. Die MSPD verfügte weiter<br />

über die Zeitung. Hugo Landé ließ sich bei diesem<br />

Thema zu einem heftigen Wortwechsel<br />

hinreißen, sprang ans Rednerpult <strong>und</strong> entriss<br />

dem Redner das Notizblatt. Es kam zu Handgreiflichkeiten.<br />

Auch von den Parteifre<strong>und</strong>en<br />

wurde das Verhalten nicht gebilligt, <strong>und</strong> Landé<br />

verfasste eine öffentliche Entschuldigung: „Ich<br />

bedaure (…) mein Vorgehen, das durch meinen<br />

Ärger über die ganze unmotivierte Störung der<br />

bis dahin tadellos verlaufenen Versammlung<br />

<strong>und</strong> durch meine auf die Überarbeitung der<br />

81


letzten Wochen zurückzuführende Nervosität<br />

erklärlich erscheinen wird.“ 119<br />

Doch die Stimmung war angeheizt. Am<br />

nächsten Tag demonstrierten mehrere h<strong>und</strong>ert<br />

Menschen nach einer Versammlung der USPD<br />

vor dem Haus der Familie Landé in der Luisenstraße<br />

<strong>und</strong> verlangten den Rücktritt Landés<br />

von allen politischen Ämtern. Linke USPD-<br />

Anhänger wie Heinrich Drewes (1876–<br />

1958) 120 führten die Demonstration an. 121 Doch<br />

auch Otto Ibanez (USPD), der Vorsitzende des<br />

Arbeiter- <strong>und</strong> Soldatenrates, war unter den Demonstranten.<br />

Man drohte sogar, das Haus zu<br />

stürmen. Landé sah keine andere Möglichkeit<br />

<strong>und</strong> erklärte: „Der Gewalt weichend lege ich<br />

mein Amt als Mitglied des Arbeiter- <strong>und</strong> Soldatenrates<br />

nieder <strong>und</strong> stelle meine Tätigkeit in<br />

der Arbeiterbewegung ein.“ 122 Zwar wurde die<br />

Aktion am folgenden Tag von beiden Fraktionen<br />

des Arbeiter- <strong>und</strong> Soldatenrates missbilligt<br />

<strong>und</strong> die Erklärung Landés annulliert – das<br />

USPD-Mitglied Drewes wurde später zu einem<br />

Monat Haft verurteilt 123 – doch nun verließen<br />

die führenden Mehrheitssozialdemokraten 124<br />

den Arbeiter- <strong>und</strong> Soldatenrat. Man hatte einen<br />

Vorwand gef<strong>und</strong>en, das missliebige Organ<br />

der Revolution ohne Gesichtsverlust zu<br />

schwächen. Oskar Hoffmann, gerade erst aus<br />

dem Krieg zurückgekehrt, übernahm am 7. Januar<br />

das Amt Landés als „städtischer Kommissar“.<br />

125 Dieser Bruch kündigte das Ende der<br />

Revolution in Elberfeld an. Sie konnte nicht<br />

von den „Unabhängigen“ allein gegen die starken<br />

kaisertreuen <strong>und</strong> nationalistischen Kräfte<br />

getragen werden.<br />

Die bis dahin gewaltfrei gebliebene Revolution<br />

sollte wenige Wochen später blutig enden.<br />

Am 18./19. Februar rief man die Arbeiter<br />

zum Generalstreik. In Münster war der „Generalsoldatenrat“<br />

aufgelöst worden. Die kaiserlichen<br />

Generäle hatten in der Armee wieder das<br />

Sagen. Im Ruhrgebiet streikten die Bergleute.<br />

Am Bahnhof Elberfeld entfachte sich der Streit<br />

an einem Plakat, das der Bahnhofsvorsteher<br />

nicht aufhängen lassen wollte. Die Bahnpolizei<br />

rief das Freicorps Niederrhein gegen aufgebrachte<br />

Anhänger der Revolution. Es kam zu<br />

erbitterten Kämpfen am Bahnhof <strong>und</strong> im Gebäude<br />

der Eisenbahndirektion. Das Freikorps<br />

82<br />

hinterließ zwölf tote Elberfelder. 126 Die Anhänger<br />

der Revolution waren entsetzt <strong>und</strong> verbittert,<br />

ihr Mut war gebrochen. Der Graben zwischen<br />

den sozialistischen Fraktionen war tiefer<br />

geworden.<br />

Der Sturz des Oberbürgermeisters<br />

Bei den ersten demokratischen Kommunalwahlen<br />

im März 1919 traten die sozialdemokratischen<br />

Parteien getrennt an. Gegen Hugo<br />

Landé <strong>und</strong> seine Partei kandidierte die USPD<br />

mit der „Liste Oskar Hoffmann“. Aufgr<strong>und</strong> ihres<br />

„Bruderstreits“ blieben beide sozialdemokratischen<br />

Listen weit hinter den Erwartungen<br />

zurück <strong>und</strong> erreichten nicht die erhoffte Mehrheit.<br />

Erstmals konnten auch Frauen zur Wahl<br />

gehen, <strong>und</strong> so wurde Thekla Landé eine der<br />

ersten Frauen der Elberfelder Stadtverordnetenversammlung.<br />

Vier Wochen nach der Wahl der neuen demokratischen<br />

Stadtverordnetenversammlung<br />

kam es zum Eklat zwischen dem langjährigen<br />

Oberbürgermeister Wilhelm Funck <strong>und</strong> Hugo<br />

Landé, dem Sprecher der (mehrheits-) sozialdemokratischen<br />

Stadtratsfraktion. Anlass war<br />

die beschlossene Einrichtung von vier neuen<br />

Kindergärten <strong>und</strong> die Einstellung von zwei<br />

Schulärzten. Bürgermeister Funck wollte nur<br />

die Hälfte des nötigen Geldes bewilligen. Landé<br />

sprach namens seiner Fraktion das schärfste<br />

Misstrauen aus. Er habe von der Revolution<br />

nichts gelernt <strong>und</strong> sei noch immer der Reaktionär<br />

von früher. Seit den zehn Jahren, die<br />

Landé dem Stadtverordnetenkollegium angehöre,<br />

sei fast jeder Antrag der Sozialdemokraten<br />

von ihm in rücksichtsloser Weise<br />

bekämpft worden. 127 Bürgermeister Funck war<br />

für seine Frontstellung gegen die Sozialdemokraten<br />

bekannt. So war er es, der dafür sorgte,<br />

dass die Stadthalle über viele Jahre den Arbeitervereinen<br />

als Versammlungsort verwehrt<br />

worden war.<br />

Walter Stoecker (1891–1939), 128 damals<br />

der Fraktionssprecher der „Unabhängigen“<br />

Stadtverordneten <strong>und</strong> später Fraktionssprecher<br />

der KPD-Reichstagsfraktion, unterstützte die<br />

Ausführungen Landés. Wenige Tage später


eichte Bürgermeister Funk sein Rücktrittsgesuch<br />

ein. In seiner Erklärung heißt es: „Nachdem<br />

nunmehr in der Stadtverordnetensitzung<br />

(…) die stärkste Partei des Kollegiums, der<br />

sich die Unabhängige Sozialdemokratische<br />

Partei angeschlossen hat, durch Herrn Justizrat<br />

Landé, noch dazu in verletzender Form, die Erklärung<br />

abgegeben hat, daß die sozialdemokratische<br />

Partei mir kein Vertrauen mehr schenken<br />

könne, sondern von jetzt ab mir mit dem allergrößten<br />

Misstrauen begegne, ist diese Voraussetzung<br />

für ein gedeihliches Zusammenarbeiten<br />

der Verwaltung mit der Verordnetenversammlung<br />

nicht mehr gegeben <strong>und</strong> ein alsbaldiger<br />

Wechsel in der Leitung der Verwaltung<br />

im Interesse der Stadt geboten.“ 129<br />

Nach 20 Jahren verließ Funck die politische<br />

Bühne. Zu den Abschiedsfeierlichkeiten<br />

in der Elberfelder Stadthalle erschienen keine<br />

Vertreter der Arbeiterparteien. Während das<br />

bürgerliche Lager seine Verdienste für die „zuverlässige<br />

Beamtenschaft“ in Elberfeld hervorhob,<br />

geißelte die sozialdemokratische „Freie<br />

Presse“ den scheidenden Oberbürgermeister.<br />

Er sei ein „echter Reaktionär der alten Schule“,<br />

der „schärfste Gegner des Koalitionsrechts für<br />

städtische Arbeiter“, 130 ein „Durchschnittsbeamter“,<br />

der durch „seine herrischen <strong>und</strong> rechthaberischen<br />

Allüren <strong>und</strong> seine unverwüstliche<br />

Abneigung gegen Demokratie <strong>und</strong> Sozialismus<br />

unangenehm abstach“. 131 Der bisherige<br />

Beigeordnete Dr. Paul Hopf wurde wenige Wochen<br />

später mit den Stimmen der Sozialdemokraten<br />

zum Oberbürgermeister der Stadt Elberfeld<br />

gewählt. Damit war nach der Revolution<br />

ein halbherziger neuer Anfang in der Kommunalpolitik<br />

gemacht. Der oberste kaiserliche<br />

Verwaltungsbeamte <strong>und</strong> Oberbürgermeister<br />

ging – ein liberalerer Beigeordneter der bisherigen<br />

Verwaltungsspitze rückte an seine Stelle.<br />

Ergänzt wurde diese Spitze durch den sozialdemokratischen<br />

Dezernenten Ernst Dröner –<br />

die übrige Beamtenschaft blieb weitgehend unverändert<br />

auf ihrem Posten.<br />

Als kommissarischer Regierungspräsident<br />

Schon auf der ersten Volksversammlung<br />

der Revolution am 9. November in der Elber-<br />

felder Stadthalle lauteten einige der wichtigsten<br />

Forderungen der sozialdemokratischen<br />

Redner:<br />

• Demokratisierung der preußischen Verwaltung<br />

• Ersatz der Regierungspräsidenten <strong>und</strong> Landräte<br />

durch Personen aus Arbeiter- <strong>und</strong> Bürgerkreisen.<br />

132<br />

Im Mai 1919 wurde Hugo Landé vom sozialdemokratischen<br />

preußischen Innenminister<br />

Wolfgang Heine (1861–1944) gebeten, das<br />

Amt eines Regierungspräsidenten zu übernehmen.<br />

Der gesamte Verwaltungsapparat war von<br />

kaiserlichen Beamten – oft adliger Herkunft –<br />

geprägt, die der Republik <strong>und</strong> einer sozialdemokratisch<br />

geführten Regierung nur widerwillig<br />

dienten. Die Umgestaltung des Staatsapparates<br />

<strong>und</strong> der Reichswehr war eine der schwierigsten<br />

Aufgaben der Revolution <strong>und</strong> der Republik.<br />

Ihre halbherzige Bewältigung erwies<br />

sich später als einer der entscheidenden Fehler,<br />

die zum Scheitern der Weimarer Republik<br />

führten. So wurde auch erst ein Jahr nach dem<br />

Sieg der Revolution der alte Regierungspräsident<br />

in Düsseldorf, Francis Kruse, abgelöst,<br />

der seit 1909 im Amt gewesen war.<br />

Horst Romeyk, der sich intensiv mit der<br />

Geschichte der Regierungspräsidenten beschäftigt<br />

hat, schildert die Umstände der kommissarischen<br />

Amtszeit Landés als Regierungspräsident<br />

folgendermaßen: „Am 30. September<br />

ging Landé die offizielle Mitteilung der<br />

kommissarischen Ernennung zu, ab dem 1.<br />

Oktober sein Amt anzutreten. Schon an diesem<br />

Tage wurde er telefonisch zur Präsidentenkonferenz<br />

am 3. Oktober in Berlin beordert.“ 133<br />

Der Innenminister äußerte sich sehr zufrieden,<br />

„daß er die Ernennung eines Rechtsanwaltes,<br />

der zugleich geborener Jude war, durchsetzen<br />

konnte“. 134 Er kannte die antisemitischen<br />

Kräfte aus eigenem Erleben: kam er doch<br />

selbst aus der „guten Gesellschaft“ <strong>und</strong> gehörte<br />

als Student einer konservativ-antisemitischen<br />

Verbindung an. 135<br />

Die Übernahme der Düsseldorfer Präsidentengeschäfte<br />

bedeutete für Landé in der Tat<br />

keine Annehmlichkeit. Er klagte: „Hätte ich<br />

geahnt, dass schon die Vorbereitung zur Über-<br />

83


nahme eines Regierungspostens mit derartigen<br />

Unannehmlichkeiten verknüpft sind, ich hätte<br />

die Sache mir doch wohl anders überlegt“. 136<br />

Der definitiven Ernennung Landés standen<br />

jedoch erhebliche Schwierigkeiten entgegen,<br />

die sich aus der Besetzung der Rheinlande ergaben.<br />

„Die Besatzungsmächte hatten sich ein<br />

Einspruchsrecht bei Beamtenernennungen vorbehalten.<br />

Trotz mehrfacher <strong>und</strong> intensiver<br />

Bemühungen des rheinischen Oberpräsidiums<br />

zögerte sich eine positive Entscheidung der<br />

Besatzungsbehörden immer mehr hinaus <strong>und</strong><br />

brachte Landé auch innerhalb seiner Behörde<br />

in Schwierigkeiten. In der Erwartung einer baldigen<br />

offiziellen Diensteinführung hatte er<br />

nicht von sich aus eine förmliche Vorstellung<br />

bei den höheren Beamten der Regierung unternommen,<br />

was diese als einen Affront deuteten<br />

<strong>und</strong> sich deswegen bei dem Innenminister beschwerten.“<br />

Bei der Amtseinführung des neugewählten<br />

Düsseldorfer Oberbürgermeisters Emil Köttgen<br />

kam es gar zu deutlichen spöttischen Bemerkungen<br />

aus der Beamtenschaft gegenüber<br />

dem angeblich „kaiserbüstenscheuen“ Regierungspräsidenten<br />

– weil die Sozialdemokraten<br />

zuvor die Büsten der deutschen Kaiser aus dem<br />

Saal der Düsseldorfer Tonhalle entfernen lassen<br />

wollten. 137 Doch sie hatten sich in solchen<br />

symbolischen Fragen nicht durchsetzen können<br />

<strong>und</strong> auch die Situation Landés innerhalb<br />

der Behörde wurde immer prekärer. Die mangelnde<br />

Amtsautorität aufgr<strong>und</strong> des schwebenden<br />

Verfahrens nutzten konservative <strong>und</strong> antisemitische<br />

Kräfte, um die Ernennung Landés<br />

zu hintertreiben.<br />

Am 10. Dezember 1919 unterbreitete deshalb<br />

Hugo Landé dem Minister den Vorschlag,<br />

ihn sofort definitiv zum Regierungspräsidenten<br />

zu ernennen <strong>und</strong> ihn gegebenenfalls auf eine<br />

Stelle außerhalb des besetzten Gebietes zu<br />

versetzen. Hierzu fehlte jedoch dem sozialdemokratischen<br />

Innenminister der Mut. Ähnlich<br />

wie der Reichspräsident Ebert (1871–1925)<br />

oder der Reichwehrminister Noske (1868–<br />

1946) setzte er auf den Ausgleich <strong>und</strong> den<br />

Kompromiss mit den monarchistisch-konservativen<br />

Kreisen. Wenige Monate später, im<br />

März 1920, wurde er wegen dieser Politik sei-<br />

84<br />

nes Amtes enthoben. Die quälende Bestellung<br />

Landés zum Regierungspräsidenten fand<br />

schließlich am 16. Dezember 1919 ihr Ende:<br />

Die belgische Besatzungsbehörde sprach sich<br />

gegen seine Ernennung aus. Die Belgier beriefen<br />

sich darauf, dass laut Erk<strong>und</strong>igungen in der<br />

Bevölkerung der Kandidat „ungünstig aufgenommen<br />

werden könnte“. 138 Gegen Landé<br />

wurde geltend gemacht, dass er aus der preußischen<br />

Provinz Posen <strong>und</strong> kein Rheinländer sei.<br />

Die formellen <strong>und</strong> fachlichen Voraussetzungen<br />

hätte der Sozialdemokrat Landé mitgebracht:<br />

eine solide juristische Ausbildung <strong>und</strong> anwaltliche<br />

Praxis <strong>und</strong> einen starken Idealismus. 139<br />

Als Neuling in der Verwaltung fehlte ihm „Vertrautheit<br />

mit den Amtsgeschäften“, 140 die notwendigerweise<br />

auftritt, wenn ein bestehender<br />

Apparat gr<strong>und</strong>legend reformiert werden soll.<br />

Letztlich war jedoch die erfolgreiche Wühlarbeit<br />

des kaisertreuen Beamtenapparates der<br />

Gr<strong>und</strong>, warum sich seine Gegner gegen ihn<br />

durchgesetzten konnten. Sicherlich spielte die<br />

entscheidende Rolle, dass er Jude <strong>und</strong> Sozialdemokrat<br />

war. 141 Ohne Verbitterung beendete<br />

Landé zum 31. Dezember 1919 seinen Dienst<br />

<strong>und</strong> widmete sich wieder seiner Kanzlei <strong>und</strong><br />

der Elberfelder Kommunalpolitik.<br />

Der Generalstreik gegen den Kapp-Putsch<br />

Schon zweieinhalb Monate später musste<br />

sich Hugo Landé erneut mit den reaktionären<br />

Kräften im Beamtenapparat <strong>und</strong> in der Reichswehr<br />

auseinandersetzen. In Berlin hatten General<br />

Lüttwitz <strong>und</strong> Generallandschaftsdirektor<br />

142 Kapp aus Königsberg geputscht <strong>und</strong> die<br />

verfassungsgemäße Regierung vertrieben. Elberfeld<br />

war der Sitz der Bezirksleitungen von<br />

(M)SPD <strong>und</strong> der USPD im Bezirk Niederrhein<br />

<strong>und</strong> hatte dadurch eine besondere strategische<br />

Bedeutung. An dem Morgen des 13.3.1920<br />

sollte eine regionale Konferenz im Rathaus Elberfeld<br />

stattfinden, zu der die sozialdemokratischen<br />

Stadtverordneten der umliegenden Gemeinden<br />

eingeladen waren. Es sollte über die<br />

Versorgung der Gemeinden mit „elektrischer<br />

Kraft“ beraten werden. Doch als die Gerüchte<br />

vom Putsch des Militärs in Berlin aufkamen,


wurde diese Konferenz der Ausgangspunkt<br />

einer Bewegung mit weittragender politischer<br />

Bedeutung. Die SPD-Bezirksleitung ergriff<br />

nach dem Eintreffen der ersten <strong>Nachrichten</strong><br />

vom drohenden Putsch die Initiative <strong>und</strong> bat<br />

die anderen Arbeiterparteien, USPD <strong>und</strong> KPD,<br />

<strong>und</strong> die Gewerkschaften, an der anberaumten<br />

Sitzung teilzunehmen.<br />

Der SPD-Bezirkssekretär <strong>und</strong> Abgeordnete<br />

der Nationalversammlung Ernst Dröner hob<br />

einleitend hervor, „daß alle Sozialisten sich in<br />

der Abwehr einig sein müssten“. Justizrat Landé<br />

ergriff die Initiative <strong>und</strong> schlug eine gemeinsame<br />

Plattform aller Sozialisten mit weitergehenden<br />

Forderungen an die wieder ins<br />

Amt zu hebende verfassungsmäßige Regierung<br />

vor:<br />

„1. Sofortige Entfernung aller Monarchisten<br />

aus dem Heere.<br />

2. Sofortige Amtsenthebung aller monarchistischen<br />

Beamten in Reich, Ländern<br />

<strong>und</strong> Gemeinden.<br />

3. Sofortige Zurückziehung der Vorlage<br />

zur Abfindung der Hohenzollern; statt<br />

dessen sofortige entschädigungslose<br />

Enteignung der Hohenzollern.<br />

4. Die Sozialisierung ist energischer zu betreiben,<br />

besonders in der Großeisenindustrie<br />

<strong>und</strong> im Großgr<strong>und</strong>besitz.“<br />

„Erfülle die Regierung diese Forderungen<br />

nicht, so müsse sie durch ein ‚sozialistisches<br />

Ministerium‘ ersetzt werden.“ 143<br />

Diese Forderungen kamen denjenigen entgegen,<br />

die schon seit geraumer Zeit durchgreifende<br />

Reformen von der Regierung erwarteten.<br />

Landé betonte am Ende seiner Rede: „Die erste<br />

Vorbedingung gemeinsamen erfolgreichen<br />

Wirkens sei allerdings, daß man nicht mehr<br />

über die Vergangenheit rede, sondern lediglich<br />

in die Zukunft schaue.“ 144 Hiermit schuf er die<br />

Voraussetzung für den gemeinsamen Aufruf.<br />

USPD, KPD <strong>und</strong> die Gewerkschaften erklärten<br />

ihre Solidarität im Kampf gegen die Reaktion.<br />

Nach weiteren Beratungen kam es zu einem<br />

gemeinsamen Aufruf der Bezirksleitungen<br />

zum Generalstreik. Darin heißt es:<br />

„Nachdem durch einen vorläufig gelungenen<br />

Putsch in Berlin es der Reaktion gelungen<br />

ist, eine gegenrevolutionäre Regierung aufzu-<br />

richten, verpflichten sich die sozialistischen<br />

Parteien des Bezirks Niederrhein, den Kampf<br />

gegen die neugebildete Kapp-Regierung mit<br />

allen Kräften geschlossen aufzunehmen.<br />

Der einheitliche Kampf ist zu führen mit<br />

dem Ziele:<br />

1. Erringung der politischen Macht, durch<br />

die Diktatur des Proletariats bis zum Siege<br />

des Sozialismus, auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />

des Rätesystems.<br />

2. Sofortige Sozialisierung der dazu reifen<br />

Wirtschaftszweige.“ 145<br />

Dieser Aufruf hatte eine enorme mobilisierende<br />

Wirkung weit über den Bezirk Niederrhein<br />

hinaus. Erstmals seit der Jahreswende<br />

1918/19 waren die Sozialisten wieder vereint.<br />

In Elberfeld, Remscheid <strong>und</strong> im Ruhrgebiet<br />

kam es zu heftigen Kämpfen, <strong>und</strong> überall wurden<br />

die Freikorps bzw. die Reichswehr vertrieben.<br />

Doch der Aufruf wird in der Parteigeschichte<br />

der SPD auch als „Elberfelder Sündenfall“<br />

146 bezeichnet. Die Mehrheitssozialdemokraten<br />

hatten aufgr<strong>und</strong> des starken Drängens<br />

der Arbeiterschaft nach gemeinsamem<br />

Vorgehen der Arbeiterparteien <strong>und</strong> der starken<br />

Präsenz der „Unabhängigen“ in den örtlichen<br />

Gewerkschaften den Forderungen der USPD<br />

zugestimmt. „Diktatur des Proletariats“ <strong>und</strong><br />

„Rätesystem“ sollten die Ziele des Generalstreiks<br />

sein. Der „Reformist“ Landé setzte vermutlich<br />

das gemeinsame praktische Handeln<br />

zur Rettung der Republik über den gesellschaftstheoretischen<br />

Streit. So war er als einer<br />

der wichtigsten SPD-Repräsentanten an diesem<br />

„Sündenfall“ maßgeblich beteiligt.<br />

Die Arbeiterwehren konnten das Bergische<br />

Land <strong>und</strong> das gesamte Ruhrgebiet von den putschenden<br />

Militäreinheiten befreien. Nach diesem<br />

Sieg kam es in Bielefeld zu Verhandlungen<br />

zwischen der zurückgekehrten Regierung,<br />

den Militärs <strong>und</strong> den Arbeitereinheiten, die<br />

nun politische Zugeständnisse erwarteten. Die<br />

Losungen des Aufrufes waren jedoch nicht<br />

mehr das Thema. Die Arbeiter forderten Garantien<br />

für eine demokratische Entwicklung<br />

der Republik, ganz im Sinne der von Landé<br />

vorgeschlagenen Plattform.<br />

In 17 Punkten wurden der Arbeiterschaft<br />

viele Zugeständnisse gemacht, u.a. bei der Ent-<br />

85


lassung der monarchistisch gesonnenen Beamten<br />

<strong>und</strong> Offiziere. Die Entlassung der kompromittierten<br />

sozialdemokratischen Minister Gustav<br />

Noske (Reichswehr) <strong>und</strong> Wolfgang Heine<br />

(Innenminister), deren politische Fahrlässigkeit<br />

wesentlich für die entstandene Situation<br />

verantwortlich war, wurde ebenfalls in den<br />

Verhandlungen durchgesetzt.<br />

Am 24. März 1920, als man in Elberfeld-<br />

Barmen die Kommissionäre aus Bielefeld<br />

zurückerwartete, legte Hugo Landé vor ca.<br />

300 Arbeitervertretern im Hotel Hegelich 147<br />

dar, „welche furchtbare Situation eintreten<br />

würde, wenn sich die Verhandlungen zerschlagen<br />

<strong>und</strong> es nochmals zu einer blutigen Auseinandersetzung<br />

zwischen der zusammengezogenen<br />

Reichswehr <strong>und</strong> den bewaffneten rheinisch-westfälischen<br />

Arbeitern kommen sollte.<br />

Wenn bei dieser Auseinandersetzung die<br />

Reichswehrtruppen siegen würden, so werde<br />

dieser Sieg fürchterliche Folgen haben. Der<br />

Kampf würde ungeheure Opfer erfordern (…)<br />

<strong>und</strong> ein Sieg der Reichswehrtruppen werde<br />

höchstwahrscheinlich zur Militärdiktatur der<br />

Generäle führen, zumal der größte Teil der alten<br />

Behörden der Gegenrevolution keinen Widerstand<br />

entgegensetzte“. 148 Wie recht Hugo<br />

Landé mit einzelnen Punkten seiner Befürchtungen<br />

haben sollte, zeigte sich später, als das<br />

unterzeichnete Bielefelder Abkommen vom<br />

Militär missachtet wurde 149 .<br />

Hugo Landé schlug den Versammelten vor,<br />

sich mit der „intensiven Kleinarbeit“ zu beschäftigen,<br />

„mit der ja im Wuppertal schon begonnen“<br />

worden sei, um „die Republik zu sichern<br />

<strong>und</strong> das Errungene festzuhalten“. 150 Die<br />

Behörden müssten von reaktionären Beamten<br />

gesäubert werden. Die höheren Schulen seien<br />

eine Brutstätte der Reaktion <strong>und</strong> auch in „den<br />

Volksschulen stecke noch viel reaktionärer<br />

Geist“. „Zahlreiche Kräfte seien am Werke, die<br />

die Errungenschaften der Revolution lächerlich<br />

zu machen <strong>und</strong> als minderwertig zu bezeichnen<br />

suchen“. 151 Die hier angesprochene<br />

Kleinarbeit für die Republik <strong>und</strong> den Sozialismus<br />

sollte die politische Tätigkeit von Hugo<br />

<strong>und</strong> Thekla Landé bis zu ihrem Lebensende<br />

prägen.<br />

86<br />

Kommunalpolitiker in der Weimarer Zeit<br />

Als Listen- <strong>und</strong> Fraktionsführer der SPD<br />

musste Hugo Landé sich mit allen gr<strong>und</strong>sätzlichen<br />

Themen der Kommunalpolitik befassen.<br />

Als Stadtverordneter bearbeitete er Fragen der<br />

Steuergerechtigkeit, der Demokratisierung des<br />

Schulwesens <strong>und</strong> der Kultur. Er saß im Aufsichtsrat<br />

der Theater-Aktien-Gesellschaft <strong>und</strong><br />

engagierte sich für die Entwicklung der städtischen<br />

Betriebe. Er setzte die Beheizung der<br />

Straßenbahnen durch <strong>und</strong> verhinderte in Krisenzeiten<br />

größere Entlassungen bei den städtischen<br />

Verkehrsbetrieben, der „Bergischen<br />

Kleinbahnen AG“.<br />

Seit dem Zusammenschluss der USPD mit<br />

der (M)SPD im Jahr 1922 saßen die beiden alten<br />

Sozialdemokraten Hugo Landé <strong>und</strong> Oskar<br />

Hoffmann wieder in der gleichen Ratsfraktion.<br />

Die Funktionen der verschiedenen sozialdemokratischen<br />

Spitzenpolitiker lassen auf<br />

eine bestimmte Aufgabenverteilung schließen:<br />

Oskar Hoffmann als Landtagabgeordneter <strong>und</strong><br />

hauptverantwortlicher Redakteur der Parteizeitung<br />

„Freie Presse“, Robert Daum als Gewerkschaftssekretär<br />

<strong>und</strong> Führer des örtlichen<br />

„Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold“, Ernst<br />

Dröner als Dezernent für Soziales <strong>und</strong> Geschäftsführer<br />

in der Konsumgenossenschaft<br />

„Befreiung“. Wilhelm Ullenbaum leitete zeitweise<br />

den Parteibezirk Niederrhein <strong>und</strong> hatte<br />

parteiinterne Aufgaben. Die Hauptverantwortung<br />

für die Kommunalpolitik oblag somit dem<br />

Fraktionsführer Landé. Diese Verantwortung<br />

wog schwer in der alten sozialdemokratischen<br />

Hochburg, in der die SPD zwar immer die<br />

stärkste Fraktion stellte, jedoch mit ihren Stimmenanteilen<br />

deutlich unter dem Reichsdurchschnitt<br />

lag. 152 Ein Großteil der alten sozialdemokratischen<br />

Wählerschaft gerade im Bergischen<br />

Land war nach den Erfahrungen des<br />

Kapp-Putsches von der Republik enttäuscht<br />

<strong>und</strong> unterstützte nun die KPD. Die KPD jedoch<br />

war nur wenig an konkreten kommunalpolitischen<br />

Fortschritten interessiert oder wurde von<br />

der entsprechenden Arbeit ausgeschlossen.<br />

In Zusammenarbeit mit einigen bürgerlichen<br />

Parteien wurde in diesen Jahren ein<br />

ehrgeiziges Wohnungsbauprogramm 153 umge-


setzt, eine alte sozialdemokratische Forderung.<br />

Vorbildliche Sportstätten wie das europaweit<br />

beachtete Stadion am Zoo 154 <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitseinrichtungen<br />

wie die „Lichtheilstätte“ der<br />

AOK 155 oder die städtische Zahnklinik wurden<br />

errichtet. Ein ständiger Streitpunkt der Kommunalpolitik<br />

war die städtische Wohlfahrtspflege.<br />

Sie machte in den Jahren der Weimarer<br />

Republik selbst in den wirtschaftlich relativ<br />

„guten“ Jahren“ 1925/26 fast ein Viertel der<br />

ordentlichen Ausgaben aus. Hugo Landé beklagte,<br />

dass durch die Reichsfinanzpolitik „die<br />

Gemeinde nur noch eine Wohlfahrtsanstalt ist“<br />

<strong>und</strong> „keine politischen Aufgaben mehr habe“<br />

156 – eine Kritik, die auch heute wieder aktuell<br />

ist. Die Auffassungen zu den Spielräumen<br />

städtischer Wohlfahrtspolitik gingen auch innerhalb<br />

der sozialdemokratischen Fraktion<br />

auseinander. Während Oskar Hoffmann für die<br />

Erhöhung der Fürsorgesätze plädierte, um die<br />

Arbeitgeber zu zwingen, die „Hungerlöhne“<br />

auf ein erträgliches Maß zu steigern, näherten<br />

sich andere Fraktionsmitglieder, wie Robert<br />

Daum, den Auffassungen der bürgerlich dominierten<br />

Stadtverwaltung. 157 Dank des Drucks<br />

der beiden Arbeiterparteien (KPD <strong>und</strong> SPD)<br />

<strong>und</strong> des sozialdemokratischen Beigeordneten<br />

Ernst Dröner lagen die Elberfelder Unterstützungssätze<br />

während dieser Jahre im reichsweiten<br />

Vergleich im vorderen Bereich. 158<br />

In der lokalen SPD-Spitze wurde ein<br />

fre<strong>und</strong>schaftlicher Umgang gepflegt. So waren<br />

Hugo Landé <strong>und</strong> Robert Daum häufig Gast bei<br />

Oskar Hoffmann <strong>und</strong> seiner Familie. Die Kinder<br />

der Familie Hoffmann mochten <strong>und</strong> achteten<br />

den alten sympathischen Herrn. Das Verbindende<br />

der langen gemeinsamen politischen<br />

Kämpfe stand im Vordergr<strong>und</strong>, auch wenn sie<br />

öfter in unterschiedlichen politischen Lagern<br />

innerhalb der Sozialdemokratie standen. 159 Das<br />

beherrschende Thema gegen Ende der zwanziger<br />

Jahre war die vom Staat erzwungene Fusion<br />

der beiden Schwesterstädte Elberfeld-Barmen<br />

<strong>und</strong> der Anschluss weiterer umliegender<br />

Städte. Die Sozialdemokraten standen diesem<br />

Zusammenschluss positiv gegenüber <strong>und</strong> wirkten<br />

als konstruktive Kraft. Oskar Hoffmann<br />

hatte namens der Fraktion den Namen „Wup-<br />

pertal“ vorgeschlagen, der dann auch angenommen<br />

wurde.<br />

Welches Ansehen der Kommunalpolitiker<br />

Hugo Landé in diesen Jahren genoss, wird daran<br />

deutlich, dass er auch nach dem Zusammenschluss<br />

der bis dahin selbständigen fünf Städte<br />

im November 1929 zum Fraktionsvorsteher<br />

der neuen gemeinsamen Wuppertaler SPD-<br />

Stadtratsfraktion gewählt wurde.<br />

Die Wuppertaler Kommunalpolitik war wie<br />

die Reichspolitik von zunehmend scharfen<br />

Auseinandersetzungen zwischen der sich radikalisierenden<br />

kommunistischen Partei <strong>und</strong> der<br />

Verantwortung tragenden SPD gekennzeichnet.<br />

Diese Konflikte führten im Jahr 1929 bei<br />

der Wahl des neuen Oberbürgermeisters der<br />

Stadt Wuppertal zu handgreiflichen Tumulten.<br />

Als der KPD-Stadtverordnete Nellessen,<br />

Landé schon aus den Kapp-Putsch-Tagen bekannt,<br />

160 von vier „Schuposchakos“ gewaltsam<br />

entfernt werden sollte, kam es zum Handgemenge.<br />

„Stadtverordneter Justizrat Landé<br />

rettet seine Gattin, die ebenfalls Stadtverordnete<br />

ist, aus dem Knäuel der sich balgenden<br />

Menschenleiber“ – so berichtet der „General-<br />

Anzeiger“. 161<br />

Die parteipolitischen Auseinandersetzungen<br />

drangen bis in die Familien. So stand Franz<br />

Landé, der jüngste Sohn der Familie Landé,<br />

der als einziges Kind im Hause der Eltern wohnen<br />

blieb, in engem Kontakt zu linkssozialistisch-kommunistisch<br />

orientierten Künstlerkreisen<br />

in Düsseldorf. 162 Auch die Söhne von<br />

Oskar Hoffmann sympathisierten nun – durch<br />

die Erfahrung der Weltwirtschaftskrise radikalisiert<br />

– mit der KPD.<br />

Ein verzweifeltes Ende<br />

Bei der letzten freien Kommunalwahl im<br />

März 1933 war Hugo Landé von seiner Partei<br />

nicht mehr aufgestellt worden. Seit der Ernennung<br />

Hitlers zum Reichkanzler am 30. Januar<br />

herrschte offener Terror der Nationalsozialisten.<br />

Ob diese Entscheidung der freie Wille<br />

Landés oder eine würdelose Konzession an die<br />

rassistische Propaganda <strong>und</strong> die Repressalien<br />

der NSDAP war, ist ungeklärt. Möglicherweise<br />

87


haben auch der Tod seiner Frau im Jahr zuvor<br />

oder das Alter den 73jährigen zu diesem Entschluss<br />

bewogen.<br />

Wenige Wochen später, noch vor dem Verbot<br />

der SPD im Juni 1933, erfolgte ein Parteibeschluss,<br />

alle jüdischen Parteimitglieder aus<br />

dem Parteivorstand zu entfernen. 163 So hoffte<br />

man, dem drohenden Verbot zu entgehen. Als<br />

dieser beschämende Beschluss gefasst wurde,<br />

war Landé schon im Exil. Am 5. März 1933,<br />

dem Tag der letzten Reichstagswahl <strong>und</strong> einen<br />

Tag vor seinem 74. Geburtstag, war er Hals<br />

über Kopf aus seinem Haus geflüchtet. Nachbarn<br />

hatten ihm berichtet, SA-Männer hätten<br />

in der Nacht versucht, die Gartenmauer zu<br />

übersteigen. Zwei Tage später wurde sein Parteigenosse,<br />

der Jude <strong>und</strong> Reichsbannermann<br />

Oswald Laufer auf offener Straße erschossen.<br />

Wie recht Hugo Landé mit dieser Entscheidung,<br />

das Land zu verlassen, hatte, zeigt das<br />

Schicksal seines Nachbarn Samuel Zuckermann.<br />

Samuel Zuckermann besaß gleich gegenüber<br />

dem Haus Landé ein Wohn- <strong>und</strong> Geschäftshaus<br />

<strong>und</strong> betrieb einen Handel mit Nähmaschinen.<br />

Seine beiden Söhne waren wie die<br />

Kinder der Landés auf Seiten der politischen<br />

Linken aktiv. Sie flüchteten im März 1933<br />

nach Frankreich <strong>und</strong> holten später ihre Mutter<br />

nach. Der Vater Samuel konnte sich nicht entschließen,<br />

in Elberfeld alles aufzugeben <strong>und</strong><br />

blieb. 1939 wurde er nach Lodz deportiert.<br />

Dort verlor sich seine Spur. 164<br />

Hugo Landé flieht in die Schweiz <strong>und</strong><br />

wohnt in dem kleinen Ort Montreux am Genfer<br />

See. Zwei Monate später, im Mai 1933, folgt<br />

ihm sein Sohn Franz nach, der als einziges der<br />

Kinder bis zuletzt im Hause des Vaters wohnte.<br />

Im August 1933 gibt es in Finhaut, einem<br />

Schweizer Ort an der französischen Grenze,<br />

ein letztes Familientreffen. Auch die Töchter<br />

Charlotte <strong>und</strong> Eva sind mittlerweile aus<br />

Deutschland geflüchtet. Die Wintermonate<br />

verbringt Hugo Landé in St. Remo an der italienischen<br />

Riviera. „Aber die Entwicklung in<br />

seinem Heimatland, der scheinbar unaufhaltsame<br />

Aufstieg des Faschismus in Europa, hat den<br />

alten Mann <strong>und</strong> Kämpfer gebrochen.“ 165 Sein<br />

Sohn Franz geht nach Paris, um dort am poli-<br />

88<br />

tisch-kulturellen Leben <strong>und</strong> dem Widerstand<br />

der deutschen Emigranten teilzuhaben. 166 Auch<br />

die Töchter mit ihren Familien suchen anderswo<br />

ihren Platz im Exil. Dem ältesten Sohn Alfred<br />

war die Auswanderung in die USA gelungen,<br />

<strong>und</strong> er bemühte sich dort um Einreisepässe<br />

für weitere Familienangehörige.<br />

Am 14. September 1936 rudert Hugo Landé<br />

allein mit einem kleinen Boot auf den Genfer<br />

See <strong>und</strong> kehrt nicht wieder zurück. Vermutlich<br />

hat der 77jährige seinem Leben ein Ende<br />

gesetzt. Sein Grab findet er in Nyon bei Genf,<br />

das erst vor wenigen Jahren, 1996, nach zwei<br />

gesetzlichen Verlängerungen, eingeebnet wurde.<br />

167 Während an den einen oder anderen Zeitgenossen<br />

<strong>und</strong> politischen Gegner Hugo Landés<br />

heute noch Straßennamen erinnern – u.a. die<br />

„Funckstraße“ im Briller Viertel an den Oberbürgermeister<br />

aus der Kaiserzeit oder die „Lettow-Vorbeck-Straße“<br />

an den Kapp-Putsch General<br />

von 1920 – kamen der Sozialist <strong>und</strong> Demokrat<br />

Landé <strong>und</strong> seine Familie bisher nicht<br />

zu solchen Ehren. Eine Erinnerungstafel an<br />

dem noch erhaltenen Wohnhaus auf der Luisenstraße<br />

wäre eine Geste des Gedenkens <strong>und</strong><br />

der Anerkennung.<br />

Anmerkungen:<br />

1 Herberts, Hermann: Zur Geschichte der SPD in<br />

Wuppertal, Wuppertal 1963, S. 6, Vorwort Alfred<br />

Dobbert.<br />

2 In: Osterroth, Franz: Biographisches Lexikon<br />

des Sozialismus, Bd. I, Hannover 1960, S. 154.<br />

3 Mayer, Gustav: Friedrich Engels – Eine Biographie,<br />

Bd. I, Frankfurt/M – Berlin – Wien 1975,<br />

S. 102.<br />

4 Charlotte Czempin, geb. Landé hat kurz vor<br />

ihrem Tod im Sommer 1977 Tonbänder mit<br />

ihren Lebenserinnerungen besprochen, im Folgenden:<br />

Czempin: Tonbandaufzeichnungen<br />

1977.<br />

5 Czempin: Tonbandaufzeichnungen 1977.<br />

6 Romeyk, Horst: Hugo Landé – ein führender<br />

Elberfelder Sozialdemokrat, in: Mitteilungen<br />

des Stadtarchivs, des Historischen Zentrums<br />

<strong>und</strong> der Bergischen Geschichtsvereins – Abteilung<br />

Wuppertal, Wuppertal 1982, Heft 2, S. 6.<br />

7 Täglicher Anzeiger, Elberfeld, 26.5.1886.


8 Huttel, Klaus-Peter: Wuppertaler Bilddokumente<br />

– Ein Geschichtsbuch zum 19. Jahrh<strong>und</strong>ert,<br />

Bd. 1, Wuppertal 1985, S. 48<br />

9 Romeyk, H.: Landé, S. 6.<br />

10 Bergmann, Günther: Das Sozialistengesetz im<br />

rechtsrheinischen Industriegebiet – Ein Beitrag<br />

zur Auseinandersetzung zwischen Staat <strong>und</strong><br />

Sozialdemokratie im Wuppertal <strong>und</strong> im Bergischen<br />

Land 1878–1890, Schriftenreihe des Forschungsinstituts<br />

der Friedrich-Ebert-Stiftung,<br />

Bd. 77, Hannover 1970, S. 41 ff.<br />

11 Bartels, Horst, Wolfgang Schröder, Gustav Seeber:<br />

Das Sozialistengesetz 1878–1890, Berlin<br />

1980, S. 294.<br />

12 Romeyk, H.: Landé, S. 6.<br />

13 Keil, Wilhelm: Erlebnisse eines Sozialdemokraten,<br />

Stuttgart 1947, S. 85.<br />

14 Brief vom 2.1.1890, in: Herrmann, Ursula<br />

(Hg.): August <strong>und</strong> Julie Bebel, Briefe einer<br />

Ehe, Bonn 1997, S. 555.<br />

15 Freie Presse, Elberfeld, 10.3.1890.<br />

16 Romeyk, H.: Landé, S. 6.<br />

17 Keil, W.: Erlebnisse, S. 80.<br />

18 Am 29.4.1890 mit dem Vortrag „Der vorgeschichtliche<br />

Mensch“; Anzeige Freie Presse<br />

28.4.1890. Ludwig Büchner war Arzt, Teilnehmer<br />

der Revolution von 1848 <strong>und</strong> Autor mehrerer<br />

philosophisch-naturwissenschaftlicher Bücher.<br />

Er gründete 1881 den „Freidenkerverband“<br />

<strong>und</strong> war sein langjähriger Vorsitzender.<br />

19 Ihr Leichnam wurde im November 1932 im<br />

Krematorium Hagen, dem ersten in Preußen,<br />

verbrannt <strong>und</strong> auf dem (konfessionsfreien)<br />

kommunalen Friedhof in Ronsdorf beigesetzt.<br />

Der Sozialdemokrat <strong>und</strong> Redner der Barmer<br />

Freidenker Rudolf Bamberger hielt hierbei die<br />

Trauerrede.<br />

20 Hierzu gehörte die Lektüre der Bibel <strong>und</strong> der<br />

Besuch des christlichen Religionsunterricht,<br />

mit der die humanistische <strong>und</strong> ethische Bildung<br />

<strong>und</strong> Erziehung der Kinder gefördert wurde.<br />

Vgl. Czempin: Tonbandaufzeichnungen 1977.<br />

21 Czempin: Tonbandaufzeichnungen 1977. S. 2.<br />

22 Im Brief von August Bebel vom 21.11.1889 aus<br />

Elberfeld an seine Frau heißt es: „Es war spät,<br />

12 Uhr durch. Grillo <strong>und</strong> ich waren zu einem<br />

unserer Verteidiger zu Gaste geladen <strong>und</strong> trafen<br />

dort eine kleine Gesellschaft von Herren <strong>und</strong><br />

Damen.“ Möglicherweise war auch Hugo Landé<br />

darunter, in: Herrmann, Ursula: S. 554.<br />

23 In Gotha hatten sich die konkurrierenden Parteien<br />

der Arbeiterbewegung, die „Eisenacher“<br />

<strong>und</strong> die „Lassallianer“, vereinigt <strong>und</strong> auf ein<br />

gemeinsames Programm verständigt.<br />

24 Braun, Bernd: Hermann Molkenbuhr (1851–<br />

1927). Eine politische Biographie, Düsseldorf<br />

1999, S. 135.<br />

25 Der Webermeister Emil Müller zählt in diesen<br />

Jahren zu den wichtigen Parteifunktionären. Im<br />

Oktober 1887 vertrat er die Elberfelder Sozialdemokraten<br />

auf dem illegalen Parteitag in St.<br />

Gallen. 1891 war er Vertreter der Orte Haan, Elberfeld<br />

<strong>und</strong> Mettmann auf dem Gründungskongreß<br />

der Textilarbeitergewerkschaft in Pößnek.<br />

26 Mayer, Gustav: Friedrich Engels – eine Biographie,<br />

Bd. II, Frankfurt/F – Berlin – Wien 1975,<br />

S. 488.<br />

27 Mayer, G.: Engels, Bd. II, S. 488.<br />

28 Die „Neue Zeit“ ist das theoretische Organ der<br />

SPD.<br />

29 Entwurf von J. Stern aus Stuttgart <strong>und</strong> von Auerbach/Kampfmeyer/Lux<br />

aus Magdeburg, In:<br />

Dowe, Dieter (Hg.): Protokoll des SPD-Parteitages<br />

Erfurt 1891, Berlin 1891, Reprint, Berlin,<br />

Bonn 1978, S. 19–25.<br />

30 Diese Kritik aus dem Jahre 1875 anlässlich des<br />

Gothaer Parteitages war lange unterdrückt worden<br />

<strong>und</strong> nun endlich der Öffentlichkeit zugänglich.<br />

In: Dowe, Dieter, Kurt Klotzbach (Hg.):<br />

Programmatische Dokumente der deutschen<br />

Sozialdemokratie, Bonn 1990, S. 185.<br />

31 Dowe, Dieter. (Hg.) Prokokoll 1891, S. 28 f.<br />

32 Der ADAV ist die wichtigste Vorläuferorganisation<br />

der SPD, gegründet 1863 in Leipzig.<br />

33 Rhefus, Reiner: Hugo Hillmann (1823–1898)<br />

Die Anfänge der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung<br />

im Wuppertal, in: Geschichte im<br />

Wuppertal 1998, S. 25.<br />

34 Damals wurden Wissenschaft <strong>und</strong> religiöse<br />

Auffassungen als Gegensätze betrachtet.<br />

35 zitiert nach: Köllmann, Wolfgang: Sozialgeschichte<br />

der Stadt Barmen im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert,<br />

Tübingen 1960, S. 151.<br />

36 Gründungserklärung vom 6.5.1890; in: Freie<br />

Presse 7.5.1890.<br />

37 Köllmann, W.: Sozialgeschichte, S. 151 f.<br />

38 So beispielsweise am 25.11.1895 ein Vortrag<br />

des Reichstagsabgeordneten <strong>und</strong> Redakteurs<br />

der Freien Presse, Dr. August Erdmann im Parteilokal<br />

„Wilhelmshöhe“ zu diesem Thema<br />

statt. Stadtarchiv Wuppertal: TII 6 BI. 78 f.<br />

39 Dowe, D.(Hg.): Protokoll 1891, S. 142 <strong>und</strong> 150.<br />

40 Vgl. Stadtarchiv Wuppertal, Akte T II (10)<br />

(Diskutier-Klub unabhängiger Sozialisten).<br />

41 Stadtarchiv Wuppertal Akte T II (43) („Anarchisten<br />

1895 – 1910“).<br />

42 Freie Presse 14.10.1891 zu einer Versammlung<br />

im Volkshaus.<br />

89


43 Flugblatt der Opposition der „Jungen“ 1891, in:<br />

Weber, Hermann: Das Prinzip Links – Beiträge<br />

zur Diskussion des demokratischen Sozialismus<br />

in Deutschland 1848 – 1990, Berlin 1991, S. 66.<br />

44 Stadtarchiv Wuppertal, Akte T II (8), Polizeibericht<br />

vom 25.10.1892; in: Kaminski, Andrej:<br />

Vom Polizei zum Bürgerstaat, Wuppertal 1976,<br />

S. 137 f.<br />

45 Osterroth, F.: Lexikon, S. 267.<br />

46 Briefe <strong>und</strong> Antworten Friedrich Engels 1890<br />

<strong>und</strong> 1894 in: Marx, Karl, Engels, Friedrich:<br />

Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Bd. VI,<br />

Berlin 1972, S. 548 ff, 558 ff, 623 ff.<br />

47 Neue Zeit, 11. Jg. Nr. 3 <strong>und</strong> 4.<br />

48 Neue Zeit, 11. Jg., Nr. 19, 20, 32, 33 <strong>und</strong> 37.<br />

49 Neue Zeit, 14. Jg. 1895/96 Nr. 1 <strong>und</strong> 2, in:<br />

Marx K., Engels, F.: AW , B. VI, S. 474.<br />

50 Firemann war ein weiterer Ökonom, der sich an<br />

dieser Debatte beteiligte.<br />

51 Engels an Conrad Schmidt 12.3.1895 in: Marx,<br />

K., Engels, F.: A W, Bd. VI, S. 623.<br />

52 Engels an Conrad Schmidt 12.3.1895 in: Marx,<br />

K.; Engels, F.: A W, Bd. VI, S. 624.<br />

53 vgl. Owetschkin, Dimitrij: Conrad Schmidt, der<br />

Revisionismus <strong>und</strong> die sozialdemokratische<br />

Theorie. Zur theoretischen Entwicklung der<br />

Sozialdemokratie vor 1914, Essen 2003.<br />

54 Osterroth, Franz, Dieter Schuster: Chronik der<br />

deutschen Sozialdemokratie, Hannover 1963,<br />

S. 90.<br />

55 Bei den Kommunalwahlen im Jahr 1893 erreichte<br />

die Partei mehr Stimmen als die SPD.<br />

56 Stadtarchiv Wuppertal (Elberfeld) Acta spezialia<br />

betreffend: Zensur <strong>und</strong> Beaufsichtigung der<br />

Presse, 1. 2.1884-31. 5.1891, zitiert nach: Kaminski,<br />

A.: Bürgerstaat, S. 339.<br />

57 Anzeige Rheinische Wacht 1.4.1893: Vortrag<br />

am 5.4.1893 „Juden <strong>und</strong> Sozialdemokraten haben<br />

keinen Zutritt”.<br />

58 Das Adressbuch Elberfeld 1897 verzeichnet<br />

Hugo Landé als Eigentümer <strong>und</strong> Bewohner des<br />

Hauses Luisenstraße 85.<br />

59 Czempin: Tonbandaufzeichnungen 1977.<br />

60 Freie Presse 7.7.1894.<br />

61 Czempin: Tonbandaufzeichnungen 1977.<br />

62 Gemkow, Heinrich: Familie <strong>und</strong> Heimat in<br />

Friedrich Engels Schriften <strong>und</strong> Briefen, in: Geschichte<br />

im Wuppertal 1994, S. 112. Nach:<br />

Marx Engels Werke (MEW), Bd. 39, Berlin<br />

1968, S. 110.<br />

63 Der Anwalt Ferdinand Lassalle setzte hier erstmals<br />

das Scheidungsbegehren einer Frau durch.<br />

64 Czempin: Tonbandaufzeichnungen 1977.<br />

90<br />

65 vgl.: Speer, Florian: Sophies heilende Hände –<br />

Von einer frühen Naturheilklinik in Elberfeld;<br />

in: Geschichte in Wuppertal 2000, S. 59.<br />

66 von schwer Erkrankten, die bei Frau Garschagen<br />

Hilfe erhofft hatten.<br />

67 Speer, F.: Sophies Hände, S. 61 ff.<br />

68 Speer, F.: Sophies Hände, S. 69.<br />

69 Der Hauptförderer war der Fabrikant Richard<br />

Dunkelnberg.<br />

70 nach verschiedenen anderen Nutzungen wurde<br />

das Gebäude 1972 zu Gunsten der Schule für<br />

Bahnbeamte abgerissen. Vgl. Speer, F.: Sophies<br />

Hände, S. 71.<br />

71 Köllmann, W.: Sozialgeschichte, S. 262 f.<br />

72 Bis dahin gab es nur ein Wahlbüro, das nur eine<br />

kurze Zeit geöffnet war.<br />

73 Barmer Zeitung: 22.10. 1893. Zitiert nach<br />

Köllmann, W.: Sozialgeschichte, S. 262 f.<br />

74 Freie Presse Elberfeld 14.10 1893. Zitiert nach<br />

Köllmann, W.: Sozialgeschichte, S. 262.<br />

75 Kurt Koszyk nimmt irrtümlicherweise an, dass<br />

die Sozialdemokraten von Rheinland-Westfalen<br />

in Dortm<strong>und</strong> erstmals für ein Stadtparlament<br />

kandidierten. In: Koszyk, Kurt: Die sozialdemokratische<br />

Arbeiterbewegung 1890 bis<br />

1914, in: Reulecke, Jürgen (Hg.) Arbeiterbewegung<br />

an Rhein <strong>und</strong> Ruhr, Beiträge zur Geschichte<br />

der Arbeiterbewegung in Rheinland-<br />

Westfalen, Wuppertal 1974, S. 160 f.<br />

76 Koszyk, K., Arbeiterbewegung, S. 160 f.<br />

77 Damit ist vermutlich die Einrichtung von städtischen<br />

Werkstätten zur Ausführung öffentlicher<br />

Arbeiten gemeint.<br />

78 Koszyk, K.: Arbeiterbewegung, S. 160 f.<br />

79 Romeyk, H.: Landé, S. 10 f.<br />

80 Romeyk, H.: Landé, S. 7.<br />

81 Romeyk, H.: Landé, S. 7.<br />

82 Offiziell hatte er geschäftliche Gründe angegeben,<br />

tatsächlich hatten wohl parteiinterne Streitigkeiten<br />

zu seinem Entschluss geführt; in:<br />

Braun, B.: Molkenbuhr, S. 206 f.<br />

83 Braun, B.: Molkenbuhr, S. 207.<br />

84 Romeyk, H.: Landé, S. 8.<br />

85 aus Protest gegen das Dreiklassenwahlrecht.<br />

86 Maaß, Dr. L.: Das neue Elberfeld, Verfassung<br />

<strong>und</strong> Verwaltung, in: Die Stadt Elberfeld, Festschrift<br />

zur Dreih<strong>und</strong>ert-Feier 1910, Elberfeld<br />

1910, S. 251.<br />

87 Ca. 170.000 Einwohner hatte die Stadt Elberfeld.<br />

88 Maaß, L.: Elberfeld, S. 251.<br />

89 General-Anzeiger Elberfeld-Barmen, 27.10.<br />

1909.


90 Beyer, Heinz: Arbeit steht auf unserer Fahne<br />

<strong>und</strong> das Evangelium – Sozialer Protestantismus<br />

<strong>und</strong> bürgerlicher Antisozialismus im Wuppertal<br />

1880 – 1914, Reinbeck 1985, S. 123.<br />

91 Wülfrath, August: Mit Karl Liebknecht in der<br />

Stadt der Wupper, in: Deutschlands junge Garde<br />

– Erlebnisse aus der Geschichte der deutschen<br />

Arbeiterjugendbewegung von den Anfängen<br />

bis zum Jahr 1945, Berlin 1959, S. 60 ff.<br />

92 Übernachtet hat Karl Liebknecht allerdings im<br />

Hotel Kaiserhof. Liebknecht war zu einer Veranstaltung<br />

der örtlichen Arbeiterjugend geladen<br />

worden, die als Gegenveranstaltung zum<br />

Treffen des Weltkongresses der christlichen<br />

Jünglingsvereine im Juli 1909 in Elberfeld gedacht<br />

war.<br />

93 General-Anzeiger 27.10.1909. Das Elberfelder<br />

Volkshaus befand sich in der Nordstadt, Hombüchel<br />

8 -10.<br />

94 Es wurden vornehmlich Konzerte gefördert,<br />

die fast ausschließlich von Wohlhabenden besucht<br />

wurden.<br />

95 Neben Hugo Landé <strong>und</strong> Oskar Hoffmann wurden<br />

die Sozialdemokraten Aloys Groll <strong>und</strong> Paul<br />

Kösser gewählt.<br />

96 General-Anzeiger 30.11.1909.<br />

97 Koszyk, K: Arbeiterbewegung, S. 170 f.<br />

98 Die Lebensgeschichte <strong>und</strong> das politische Wirken<br />

Thekla Landés als sozialdemokratische<br />

Frauenpolitikerin kann <strong>und</strong> soll im Rahmen<br />

dieses Aussatzes nicht behandelt werden. Die<br />

einzelnen, von den politischen Ereignissen der<br />

Zeit gezeichneten Biographien der Kinder werden<br />

im Rahmen einer Buchpublikation zusammengetragen.<br />

In der Zeitschrift „Geschichte im<br />

Wuppertal“ erschienen Artikel zu Franz Landé<br />

(1993 S. 102) <strong>und</strong> Charlotte Landé (2001,<br />

S. 107).<br />

99 Eckardt, Uwe: Franz Landé (1893-1942) in:<br />

Geschichte im Wuppertal 1993, S. 102.<br />

100 Martin Niemöller war im ersten Weltkrieg U-<br />

Bootkommandant, wurde Pfarrer <strong>und</strong> war 1934<br />

einer der führenden Köpfe der „Bekennenden<br />

Kirche“. In der späteren B<strong>und</strong>esrepublik trat er<br />

mit antifaschistischem <strong>und</strong> friedenspolitischem<br />

Engagement hervor.<br />

101 Niemöller, Martin: Christ <strong>und</strong> Welt, in Dirx,<br />

Ruth: Von Engels bis Böll – Respektlose Stimmen<br />

aus dem Wuppertal, Oberhausen 1988, S.<br />

123 f.<br />

102 Böhm, Kristina: Kinderärztin <strong>und</strong> Sozialpolitikerin:<br />

Charlotte (Lotte) Landé, verh. Czempin:<br />

in: Geschichte im Wuppertal 2001, S. 107.<br />

103 Czempin: Tonbandaufzeichnungen 1977.<br />

104 Czempin: Tonbandaufzeichnungen 1977.<br />

105 Czempin: Tonbandaufzeichnungen 1977.<br />

106 Czempin: Tonbandaufzeichnungen 1977.<br />

107 Otto Ibanez war Buchdrucker. Er gründete<br />

während der „Sozialistengesetze“ den Arbeitergesangverein<br />

Gutenberg als sozialdemokratische<br />

Tarnorganisation. 1917 schloss er sich der<br />

USPD an <strong>und</strong> war bis zu ihrer Auflösung 1922<br />

einer der wichtigen lokalen Funktionäre. Von<br />

1922 bis 1929 gehörte er der SPD-Fraktion in<br />

der Elberfelder Stadtverordnetenversammlung<br />

an.<br />

108 Otto Ibanez wurde 1919 Vorsitzender des Arbeiterrates<br />

Elberfeld; Oskar Hoffmann wurde<br />

wegen einer Flugblattaffäre verhaftet, beim<br />

Reichsgericht Leipzig angeklagt <strong>und</strong> an die<br />

russische Front geschickt.<br />

109 Im Jahr 1916 betrug die Kindersterberate<br />

14,3%; im Jahr 1918 wegen der grassierenden<br />

Unterernährung schon 37%.<br />

110 Rhefus, Reiner: Spurensicherung 1920 – Der<br />

Arbeiteraufstand gegen den Kapp-Putsch <strong>und</strong><br />

die damalige Arbeiterkultur im Bergischen<br />

Land, Essen 2000, S. 256.<br />

111 Vgl. Herbers, Winfried: Jagd auf Flugblätter,<br />

in: Geschichte im Wuppertal 1999, S. 97 ff.<br />

112 Knies, Hans-Ulrich: Arbeiterbewegung <strong>und</strong><br />

Revolution im Wuppertal. Entwicklung <strong>und</strong><br />

Tätigkeit der Arbeiter- <strong>und</strong> Soldatenräte in<br />

Elberfeld <strong>und</strong> Barmen, in: Rürup, Reinhard<br />

(Hg.): Arbeiter- <strong>und</strong> Soldatenräte im rheinisch-westfälischen<br />

Industriegebiet, Wuppertal<br />

1975, S. 93.<br />

113 Knies, H.-U.: Arbeiterbewegung, S. 100 f.<br />

114 Knies, H.-U.: Arbeiterbewegung, S. 98 f. Die<br />

Einrichtung eines Arbeitsamtes <strong>und</strong> die unentgeltliche<br />

Arbeitsvermittlung in öffentlicher<br />

Hand war schon eine Forderung des „Erfurter<br />

Programms“.<br />

115 Ernst Dröner war Leiter der sozialdemokratischen<br />

Konsumgenossenschaft <strong>und</strong> wurde im<br />

Januar 1919 für die MSPD in die Nationalversammlung<br />

gewählt. 1919–1933 war er Beigeordneter<br />

in Elberfeld.<br />

116 Knies, H.-U.: Arbeiterbewegung, S. 122.<br />

117 Rede am 21.11.1918 in: Knies, H.-U.: Arbeiterbewegung,<br />

S. 109.<br />

118 Die USPD- Führung mit einer Abordnung von<br />

Soldaten übernahmen für eine Nacht das Verlagsgebäude.<br />

In: Knies, H.-U.: Arbeiterbewegung,<br />

S. 110.<br />

119 Freie Presse 6.1.1919.<br />

91


120 Heinrich Drewes war vor dem Krieg Mitglied<br />

einer anarchistischen Organisation <strong>und</strong> im November<br />

1918 für kurze Zeit Vertreter der USPD<br />

im Arbeiter- <strong>und</strong> Soldatenrat.<br />

121 Schneider, Jochen: Das Leben, politische Wirken<br />

<strong>und</strong> der Tod des Wuppertaler Rechtsanwaltes<br />

Bernhard Lamp im zeitgeschichtlichen<br />

Kontext des 1. Weltkrieges, der Weimarer Republik<br />

<strong>und</strong> des Kapp-Putsches, Hausarbeit Magister<br />

Artium, GHS Wuppertal, Wuppertal<br />

1995, S. 129.<br />

122 Knies, , H.-U.: Arbeiterbewegung, S. 129. Freie<br />

Presse 6.1.1919.<br />

123 Heinrich Drewes wurde wegen Nötigung im<br />

März 1919 zu einem Monat Haft verurteilt<br />

(Freie Presse 22.3.1919).Er trat später der KPD<br />

<strong>und</strong> der anarchistischen FAUD bei. In: Schneider,<br />

J.: Lamp, S. 129 f.<br />

124 u. a. Hugo Landé, Ernst Dröner <strong>und</strong> Wilhelm<br />

Ullenbaum.<br />

125 Volkstribüne, Elberfeld, 14.1.1919.<br />

126 Knies, H.-U.: Arbeiterbewegung, S. 135.<br />

127 Freie Presse 3.5.1919.<br />

128 Walter Stoecker (1891–1939) Chefredakteur<br />

der „Volkstribüne“ (USPD), später Fraktionssprecher<br />

der KPD-Reichstagsfraktion, 1939 in<br />

Buchenwald ermordet.<br />

129 Freie Presse 7.5.1919.<br />

130 Freie Presse 12.5.1919.<br />

131 Freie Presse 2.6.1919.<br />

132 Müller, Wolfgang: Sechs Jahrzehnte Zeitgeschichte<br />

im Spiegel der Heimatzeitung General-Anzeiger<br />

der Stadt Wuppertal 1887 – 1945,<br />

Wuppertal 1954, S. 220 f.<br />

133 Romeyk, H.: Landé, S. 9.<br />

134 Romeyk, H.: Landé, S. 9.<br />

135 Osterroth, F: Lexikon, S. 121.<br />

136 Romeyk, H.: Landé, S. 9.<br />

137 Romeyk, H.: Landé, S. 9 f.<br />

138 Romeyk, H.: Landé, S. 9 f.<br />

139 Romeyk, H.: Landé, S. 10<br />

140 Romeyk, H.: Die leitenden staatlichen <strong>und</strong><br />

kommunalen Verwaltungsbeamten der Rheinprovinz<br />

1816 – 1945, Düsseldorf 1994, S. 102.<br />

141 Romeyk, H.: Die leitenden staatlichen <strong>und</strong><br />

kommunalen Verwaltungsbeamten der Rheinprovinz<br />

1816 – 1945, Düsseldorf 1994, S. 92.<br />

142 Vergleichbar dem Regierungspräsidenten.<br />

143 Lucas, Erhard: Märzrevolution 1920, Bd. 1,<br />

Freiburg 1974, S. 125.<br />

144 Lucas. E.: Märzrevolution 1920, Bd. 1, S. 125.<br />

145 Lucas. E.: Märzrevolution 1920, Bd. 1, S. 127.<br />

146 Lucas. E.: Märzrevolution 1920, Bd. 1, S. 124.<br />

92<br />

147 Hotel Hegelich war ein traditionsreiches Hotel<br />

an der Allee in Unterbarmen, heute Friedrich<br />

Engels Allee 163.<br />

148 Freie Presse, 25.3.20.<br />

149 Bei der anschließenden Besetzung des Ruhrgebietes<br />

kam es zu Racheakten der Militärs, die<br />

mehr als 1000 Tote forderten.<br />

150 Freie Presse, 25.3.20.<br />

151 Freie Presse, 25.3.20.<br />

152 Ergebnisse: 1919 – 32,2%, 1924 – 18,7%, 1929<br />

– 22,7%, 1933 – 13,9%; Herberts, H.: SPD, S.<br />

166.<br />

153 Auf den Nord- <strong>und</strong> Südhöhen, am Zoo <strong>und</strong> am<br />

Ostersbaum entstanden Siedlungen unterschiedlicher<br />

Wohnungsbaugenossenschaften.<br />

154 Das Stadion Elberfeld, fertiggestellt 1926, galt<br />

seinerzeit als die beste Radrennbahn Europas,<br />

auf der viele Rekorde gefahren wurden.<br />

155 Hofkamp 187, vgl.: Novy, Klaus, Arno Mersmann,<br />

Bodo Hombach: Reformführer NRW,<br />

Köln 1984, S. 88.<br />

156 Stadtarchiv Wuppertal, D V 466,8.4.1924 in:<br />

Gupta, Milon: Die städtische Wohlfahrtspflege<br />

in Elberfeld – Zwänge <strong>und</strong> Möglichkeiten in<br />

den Jahren 1924 bis 1929, In: Geschichte im<br />

Wuppertal 1993, S. 49.<br />

157 Gupta, M.: Wohlfahrtspflege, S. 53.<br />

158 Gupta, M.: Wohlfahrtspflege, S. 58.<br />

159 Prof. Ernst Hoffmann, Jg. 1912, im Telefonat<br />

am 4.1.2002.<br />

160 Nellessen, schon 1920 ein bekannter Kommunist,<br />

vertrat die Stadt Elberfeld bei den Verhandlungen<br />

in Münster am 31.März 1920: in<br />

Lucas, E.: Märzrevolution 1920, Bd. 3, S. 243.<br />

161 Zitiert nach: Müller, W.: Sechs Jahrzehnte, S.<br />

314.<br />

162 Franz Landé arbeitete als Musiker in Düsseldorf<br />

<strong>und</strong> gehörte gemeinsam mit dem KP-O<br />

Führer Dagobert Lubinski, in Auschwitz ermordet,<br />

zu den führenden Köpfen des „Weltbühnenkreis“.<br />

Vgl.: Schabrod, Karl: Widerstand<br />

gegen Flick <strong>und</strong> Florian – Düsseldorfer<br />

Antifaschisten über ihren Widerstand<br />

1933–1945, Frankfurt 1978, S. 132; Bergmann,<br />

Theodor: Gegen den Strom – Die Geschichte<br />

der Kommunistischen Partei-Opposition, Hamburg<br />

1987, S. 403.<br />

163 Den Beschluss traf eine sozialdemokratische<br />

Funktionärversammlung unter Leitung von<br />

Paul Löbe. Alle jüdischen Parteimitglieder sollten<br />

ihre Vorstandspositionen niederlegen. In:<br />

Deutsche Geschichte, Bd. 3, VEB Verlag der<br />

Wissenschaften, Berlin 1968, S. 180.


164 Kießling, Wolfgang: Absturz in den kalten<br />

Krieg – Rudolf <strong>und</strong> Leo Zuckermanns Leben<br />

zwischen nazistischer Verfolgung, Emigration<br />

<strong>und</strong> stalinistischer Maßregelung, Heft zur<br />

DDR-Geschichte, Berlin 1999, S.18.<br />

Ulrike Schrader<br />

165 Romeyk, H.: Landé, S. 11.<br />

166 Er wurde im September 1942 nach Auschwitz<br />

deportiert <strong>und</strong> ermordet.<br />

167 Aufzeichnungen von Bettina Lande Tergeist,<br />

Ermont, Juli 2000.<br />

„Dem ältesten aber bin ich ein fremdes Kind geblieben …“<br />

Neuigkeiten über den Maler Alfred Jacob Schüler,<br />

den Bruder der Dichterin Else Lasker-Schüler<br />

Bekannt ist, dass die Dichterin Else Lasker-<br />

Schüler (1869–1945), das „Nesthäkchen“ der<br />

Elberfelder jüdischen Familie Schüler, ihre<br />

Eltern über alles liebte. Den Vater Aron<br />

(1825–1897) verklärte sie vor allem in ihrer<br />

Prosa zum ewig streichespielenden <strong>und</strong> junggebliebenen,<br />

weißhaarigen Schelm, die melancholische<br />

Mutter Jeanette, geb. Kissing<br />

(1838–1890) darüber hinaus in zahlreichen<br />

Gedichten zum eigentlichen dichterischen Genie<br />

der Familie. Unter ihren fünf älteren Geschwistern<br />

waren es vor allem der jüngste der<br />

drei Brüder, Paul Carl (1861–1882) <strong>und</strong> die<br />

zweite der Schwestern, die fünf Jahre ältere<br />

Anna (1863–1912), zu denen sie ein besonders<br />

inniges Verhältnis hatte. Paul widmete sie z.B.<br />

die beiden mit Bew<strong>und</strong>erung <strong>und</strong> Zuneigung<br />

gezeichneten Prosaskizzen „Die Eisenbahn“<br />

<strong>und</strong> „Die Eichhörnchen“ sowie das Gedicht<br />

„Du, mein.“, das einem Gebet gleichkommt.<br />

Der frühe Tod Paul Schülers, der eine geplante<br />

Konversion zum Katholizismus verhinderte, 1<br />

hat für die damals Dreizehnjährige vermutlich<br />

einen ersten lebensgeschichtlichen Bruch bedeutet<br />

– sie sollte ihr 1899 geborenes Kind<br />

später nach dem Bruder nennen <strong>und</strong> diesem<br />

über alles geliebten, ebenfalls früh, 1927 gestorbenen<br />

Sohn ein Grabmal setzen, das dem<br />

ihres Bruders auf dem Elberfelder jüdischen<br />

Friedhof an der Weißenburgstraße fast zum<br />

Verwechseln ähnlich ist. 2<br />

Zu ihrer Schwester Anna, die wie sie in Berlin<br />

lebte, pflegte Else Lasker-Schüler ein<br />

schwesterlich-vertrautes Verhältnis. Die beiden<br />

jungen Ehefrauen <strong>und</strong> Mütter halfen sich gegenseitig,<br />

wenn die Kinder beaufsichtigt werden<br />

mussten, bei Umzügen, in Krankheitsfällen<br />

<strong>und</strong> bei akuten finanziellen Problemen. 3 Auch<br />

nach Annas Tod 1912 fühlte sich Else dem<br />

Schwager, dem Opernsänger Franz Lindwurm-<br />

Alfred Schüler (1858-1938). – Foto: Stadtbibliothek<br />

Wuppertal.<br />

93


„Zwei Segelboote“, Aquarell <strong>und</strong> Guache von Alfred Schüler, 1920. – Hamburger Kunsthalle, Bildarchiv<br />

Preußischer Kulturbesitz. – Foto: Elke Walford.<br />

Lindner (1857–1937) eng verb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> versuchte,<br />

ihn zu unterstützen, wo sie konnte.<br />

Die Beziehungen zum zweitältesten Bruder<br />

Maximilian Moritz (1859–1907) 4 <strong>und</strong> zu Martha<br />

Theresia (1862–1920), die nach 1902 mit<br />

ihrer Tochter Alice nach Chicago auswanderte<br />

<strong>und</strong> dort auch starb, waren vermutlich nicht<br />

sehr intensiv, aber doch nicht so schlecht, dass<br />

Lasker-Schüler sich darüber kritisch geäußert<br />

hätte. Im Gegenteil: Alle diese vier Geschwister<br />

<strong>und</strong> dazu die geliebten Eltern bildeten für<br />

Else Lasker-Schülers zahlreiche poetische<br />

Kindheitserinnerungen den personellen Rahmen,<br />

gleichsam die Wächter ihres Paradieses. 5<br />

Darin stört – zu ihrem Kummer – nur eine Figur:<br />

die des ältesten Bruders. So schreibt sie:<br />

Dem ältesten aber bin ich ein fremdes Kind<br />

geblieben, er war viel älter als ich, <strong>und</strong> da er<br />

sich selten im Elternhause aufhielt, gelang es<br />

mir nicht, ihn zwischen uns auf eine Schnur zu<br />

94<br />

reihen. Ich phantasierte mit Hilfe meines Märchenbuchs<br />

vom verirrten Königssohn, denn seine<br />

Bruderschaft gestaltete sich mir in jedem<br />

Jahr schleierhafter <strong>und</strong> mysteriöser. Bis er mich<br />

einmal bei seiner Ankunft zu Hause zwischen<br />

Portieren hervorzog, hinter denen ich mich, von<br />

seinem faszinierenden Wesen behext, versteckt<br />

hatte <strong>und</strong> mir einen Schlag wegen meiner Unhöflichkeit<br />

ins Gesicht gab. „Zum Andenken“.<br />

Die Ursache gänzlicher Entfremdung zwischen<br />

ihm <strong>und</strong> mir, zwischen Schwester <strong>und</strong> Bruder,<br />

der Eltern gleichgeliebten Kindern. 6<br />

Mit welcher Leidenschaft <strong>und</strong> Selbstlosigkeit<br />

allerdings die Schwester Jahrzehnte später<br />

für ihren verarmten, in Hamburg lebenden<br />

Bruder Fürsprache bei der Hamburger Stadtprominenz<br />

leisten sollte, bezeugen die Briefe,<br />

die sich im Hamburger Staatsarchiv fanden. 7<br />

Im Mai 1930 traf sie ihn sogar persönlich in<br />

Hamburg <strong>und</strong> schrieb am 25.11.1930 an Baro-


nin Selma von der Heydt über diese Begegnung:<br />

Auch traf ich vor ungefähr einem halben<br />

Jahr meinen ältesten noch einzig lebenden<br />

Bruder Alfred in Hamburg – den Maler. Ich<br />

hatte ihn seit Kind nicht gesehen. Es ging ihm<br />

bitter schlecht. Das Museum in Hamburg hat<br />

ihm nun einige große Aquarelle abgekauft, das<br />

erhebt ihn wieder. 8 Diese Hilfeleistung für Alfred<br />

Schüler durch den Kauf der Bilder war auf<br />

die dringende Bitte Else Lasker-Schülers hin<br />

geschehen. In den Hamburger Senatsakten,<br />

„betreffend Maler Alfred Schüler 1930“, befindet<br />

sich ein Brief von Edgar von Schmidt-<br />

Pauli, Berlin, an den Hamburger Bürgermeister<br />

Dr. Petersen vom 30.8.1930: Die Dichterin<br />

Else Lasker-Schüler, zurzeit in Kolberg/ Pommern,<br />

hat sich hilfeflehend für ihren 71 Jahre<br />

alten Bruder, den Maler Alfred Schüler-Kissing,<br />

Hamburg, Andreasstraße 20, an mich gewandt.<br />

Er lebt schon, wie sie mir schreibt, seit<br />

einem halben Leben in Hamburg <strong>und</strong> sie fand<br />

ihn einsam <strong>und</strong> fast verhungert vor. Er soll die<br />

goldene Medaille des Pariser Salons erhalten<br />

haben <strong>und</strong> im goldenen Buch von Berlin stehen.<br />

Sein Sohn ist im Krieg gestorben, von seiner<br />

Frau ist er geschieden. Er soll auch chemische<br />

Erfindungen gemacht haben, über die die<br />

Hamburger Presse geschrieben hat. 9 Und in<br />

einer weiteren Notiz, einer Zusammenfassung<br />

eines Briefes des Direktors der Hamburger<br />

Kunsthalle, Professor Dr. Pauli, vom 8.11.1930<br />

steht: Herr Alfred Schüler, der Bruder der<br />

Schriftstellerin Else Lasker-Schüler, wohnhaft<br />

Hamburg 39, Andreasstraße 20 V, ist ein begabter,<br />

intelligenter <strong>und</strong> sympathischer alter Herr<br />

von 72 Jahren. Er lebt in äußerster Armut <strong>und</strong><br />

wurde in den letzten zwei Jahrzehnten von vielem<br />

Unglück verfolgt. Eine interessante <strong>und</strong><br />

sehr wertvolle Erfindung von elastischem<br />

Email ist für ihn ohne Frucht geblieben, da er<br />

inzwischen total verarmte <strong>und</strong> in die Hände<br />

eines ungetreuen Geschäftsmannes geriet. 10<br />

Im Zusammenhang mit den Recherchen für<br />

das Buch „Niemand hat mich wiedererkannt<br />

…“ 11 konnten nach <strong>und</strong> nach mehr Details über<br />

diesen Bruder herausgef<strong>und</strong>en werden, der für<br />

Kenner <strong>und</strong> Kennerinnen Else Lasker-Schülers<br />

vor allem deshalb mysteriös ist, weil seine Biografie<br />

weitgehend unerschlossen ist – bis jetzt<br />

noch nicht einmal sein Todesdatum bekannt<br />

war, 12 obwohl er als Kunstmaler einige Werke<br />

hinterlassen hat <strong>und</strong> in Paris 1898 sogar mit der<br />

„Mention honorable“ ausgezeichnet wurde. 13<br />

Auch über die Zeit seines Studiums, vor allem<br />

an der Münchener Akademie, müsste noch<br />

mehr herauszufinden sein. Einen kleinen Hinweis<br />

auf die Münchener Zeit gibt ein Brief<br />

Else Lasker-Schülers vom 17.5.1911 aus München<br />

an Karl Kraus: Lieber Dalai-Lama, hier<br />

ist eine Baronesse kernges<strong>und</strong> im Irrenhaus,<br />

die frühere Braut meines Bruders. Ich muß sie<br />

erst erlösen. Ihr Vorm<strong>und</strong> glaubt es selbst<br />

nicht, daß sie irr sei. 14<br />

Im „Täglichen Anzeiger für Berg <strong>und</strong><br />

Mark“ vom 24.9.1886 wird ein Ölbild („altes<br />

Mütterchen in der bekannten bergischen<br />

Tracht“) von Alfred Schüler beschrieben, das<br />

in der Kunsthandlung Löwenstein an der Wallstraße<br />

ausgestellt war, <strong>und</strong> der Elberfelder<br />

Dichter Otto Hausmann (1837-1916) würdigte<br />

den Maler in der Monatsschrift des Bergischen<br />

Geschichtsvereins <strong>und</strong> erwähnt darin einen<br />

„Studienkopf einer alten Frau“, der sich damals<br />

im Besitz des Bergischen Geschichtsvereins<br />

bef<strong>und</strong>en habe. 15 In den im Hamburger<br />

Staatsarchiv befindlichen Senatsakten für die<br />

Kunstpflege existiert ein Brief Else Lasker-<br />

Schülers, der Portraits des kleinen Sohn(es) des<br />

ehem. Botschafters von Richthofen <strong>und</strong> des<br />

ehemaligen Vizepräsidenten der Bürgerschaft:<br />

Johannes Halben erwähnt. 16 Das Lexikon von<br />

Singer erwähnt einen Besuch bei den Ursulinerinnen.<br />

17 Keines dieser namentlich nachgewiesenen<br />

Bilder konnte bislang gef<strong>und</strong>en werden,<br />

nur zwei Aquarelle, beides Motive mit Segelschiffen,<br />

sind im Bestand der Hamburger<br />

Kunsthalle erhalten. 18<br />

Mit großer, fre<strong>und</strong>licher Hilfe von Herrn<br />

Jürgen Sielemann, Mitarbeiter des Hamburger<br />

Staatsarchivs <strong>und</strong> aktives Mitglied des Hamburgischen<br />

Vereins für jüdische Genealogie,<br />

konnten einige Informationen zusammengetragen<br />

werden, die über das hinausgehen, was in<br />

dem oben genannten neueren Buch über Else-<br />

Lasker-Schüler bereits publiziert ist.<br />

Zum ersten Mal meldete sich Alfred<br />

Schüler am 26.7.1899 in Neuengamme Nr. 87<br />

bei Herm. Stahlbecheck zum vorübergehenden<br />

95


Aufenthalt an. 19 Ein zweiter Vermerk vom<br />

28.2.1900 besagt, dass der p. Schüler (…) anfangs<br />

October 1899 ohne Abmeldung verzogen<br />

sei. Weitere Eintragungen auf dieser Meldekarte,<br />

deren Kartei bis 1925 geführt wurde, gibt es<br />

nicht. 20 Im Hamburger Adressbuch von 1902<br />

ist der „Kunstmaler“ Alfred Schüler zum ersten<br />

Mal erwähnt, <strong>und</strong> zwar mit der Adresse<br />

Rothenbaumchaussee 1. 1903 <strong>und</strong> 1904 ist dieselbe<br />

Adresse angegeben, zusätzlich aber noch<br />

eine „Wohnung“ in der Hudtwalckerstraße 22.<br />

In späteren Jahrgängen tauchen auch die<br />

Adressen Andreasstraße 20 (1926, 1927, 1931)<br />

auf, die Adresse, die auch Else Lasker-Schüler<br />

in ihrem Brief von 1930 nennt <strong>und</strong> die offensichtlich<br />

die Firmen- bzw. Atelieradresse war.<br />

Die zweite, 1932 von der Schwester angegebene<br />

Adresse, Sierichstraße 168 bei Friedrichson,<br />

konnte in den entsprechenden Adressbüchern<br />

nicht verifiziert werden.<br />

Am 1.6.1897 hatte Alfred Schüler die am<br />

27.9.1859 in Hamburg geborene Jüdin Louise<br />

Goldzieher geheiratet. 21 Ob er mit seiner Frau<br />

auch Kinder hatte, kann anhand der Dokumente<br />

im Hamburger Archiv ebensowenig nachgewiesen<br />

werden wie eine Scheidung. Allenfalls lässt<br />

sich feststellen – wiederum anhand der Adressbücher<br />

– dass Louise Schüler, „Frau A.<br />

Schüler“, zuweilen als Haushaltsvorstand (Sierichstraße<br />

40) <strong>und</strong> ihr Mann mit anderen Adressen<br />

eingetragen sind (1929 bis 1931: Frau A.<br />

Schüler: Sierichstraße 40, Alfred Schüler,<br />

Kunstmaler, Andreasstraße 20, Wohnung: Hudtwalckerstraße<br />

22). Denkbar ist, dass das Ehepaar<br />

zumindest zeitweise getrennt gelebt hat.<br />

Am 26.1.1917 meldete Schüler unter dem<br />

Namen „Alfred Jacques Schüler“ ein Gewerbe<br />

als „Fabrikant“ an – womöglich ist damit seine<br />

Tätigkeit als „Erfinder“ gemeint, denn in<br />

den Bemerkungen des „Gewerbeanmeldungsscheins“<br />

ist notiert: Inhaber eines Emaillierwerkes.<br />

Noch am 2.5.1929 (Schüler war bereits<br />

70 Jahre alt!) meldete er nochmals ein Gewerbe<br />

an, offensichtlich getrieben durch akute Geldnot:<br />

Eingetragen wurde das Gewerbe: Beurteilung<br />

des Charakters auf Gr<strong>und</strong> von Handschriften<br />

sowie der Kopf- <strong>und</strong> Gesichtsformen. 22<br />

Das zumindest vorläufig letzte gef<strong>und</strong>ene<br />

Dokument zur Biografie des ältesten Bruders<br />

96<br />

Else Laskers-Schülers ist seine Todesbescheinigung.<br />

Aus ihr geht hervor, dass der „Kunstmaler“<br />

Alfred Schüler, wohnhaft Hudtwalckerstraße<br />

22, im Universitäts-Krankenhaus Eppendorf<br />

am 3. Juli 1938 um 23.30 Uhr an Anämie,<br />

Greisentum <strong>und</strong> Herzschwäche im Alter<br />

von fast 80 Jahren gestorben ist. 23 Da es keinen<br />

Hinweis auf die Zugehörigkeit zu einer jüdischen<br />

Gemeinde gibt, Alfred Schüler also entweder<br />

konvertiert, aus der jüdischen Gemeinschaft<br />

ausgetreten ist oder sich einfach gar<br />

nicht bei der Gemeinde angemeldet hat, ist es<br />

unwahrscheinlich, dass er auf einem jüdischen<br />

Friedhof in Hamburg beerdigt wurde <strong>und</strong> deshalb<br />

womöglich noch ein Grab zu finden wäre.<br />

Louise Schüler, geb. Goldzieher, die spätestens<br />

seit Alfreds Tod in der Hudtwalckerstraße<br />

22 lebte, wurde, obwohl irgendwann zum Protestantismus<br />

übergetreten, mit Schreiben vom<br />

17. Mai 1940 Zwangsmitglied der „Reichsvereinigung<br />

der Juden in Deutschland“, hatte die<br />

entsprechenden Sonderabgaben zu entrichten<br />

<strong>und</strong> alle anderen judenfeindlichen Diskriminie-<br />

Die Zeichnung Alfred Schülers stellt die Pflegerin<br />

seiner Schwester Anna Lindwurm-Lindner<br />

dar, 1912 – Foto: Stadtbibliothek Wuppertal.


ungen zu ertragen, die das nationalsozialistische<br />

Regime für die ihm verhasste Minderheit<br />

erfand. Zwei mit zittriger Hand geschriebene<br />

Briefe von ihr mit der Bitte um Erlassung der<br />

zusätzlichen Zahlungen sind im Hamburger Archiv<br />

erhalten. Am 24. März 1943 wurde sie aus<br />

dem „Judenhaus“ Beneckestraße 6 nach Theresienstadt<br />

deportiert <strong>und</strong> ist dort oder in einem<br />

Vernichtungslager, 84jährig, umgekommen.<br />

Von den sechs Geschwistern der Familie<br />

Schüler haben der älteste Bruder <strong>und</strong> die<br />

jüngste Schwester am längsten gelebt – Alfred<br />

wurde fast 80 Jahre alt, Else fast 76. Seit 1920,<br />

nachdem die Schwester Martha Theresia gestorben<br />

war, waren sie die einzigen noch lebenden<br />

<strong>und</strong> auch die einzigen, die die Zeit des Nationalsozialismus<br />

noch erlebten. Beide waren<br />

künstlerisch begabt – wobei die Schwester sich<br />

vermutlich kaum auf ein künstlerisches Gespräch<br />

eingelassen hätte – zu sehr unterschied<br />

sich ihre Auffassung von der eher traditionellen<br />

akademischen Landschafts- <strong>und</strong> Portraitmalerei<br />

des Bruders. Was aber auch immer<br />

zwischen Schwester <strong>und</strong> Bruder gestanden haben<br />

mag: Dass die Dichterin auch nicht den ältesten<br />

vergessen hat, beweist nicht nur ihre<br />

Großherzigkeit in den Jahren 1930 <strong>und</strong> 1932,<br />

sondern durchaus auch ihre Dichtung. Melancholisch<br />

erinnert sich Else Lasker-Schüler in<br />

dem 1942 erschienenen Gedicht Ueber glitzernden<br />

Kies: 24<br />

Könnt ich nach Haus …<br />

Die Lichte gehen aus,<br />

Erlischt ihr letzter Gruss.<br />

Wo soll ich hin?<br />

O Mutter mein, weißt du’s?<br />

Auch unser Garten ist gestorben.<br />

Es liegt ein grauer Nelkenstrauss<br />

Im Winkel wo im Elternhaus –<br />

Er hatte grosse Sorgfalt sich erworben.<br />

Umkraenzte das Willkommen an den Toren<br />

Und gab sich ganz in seiner Farbe aus.<br />

O liebe Mutter! …<br />

Versprühte Abendrot,<br />

Am Morgen weiche Sehnsucht aus _<br />

Bevor die Welt in Schmach <strong>und</strong> Not.<br />

Ich habe keine Schwestern mehr;<br />

Und keine Brüder.<br />

Der Winter spielte mit dem Tode in den Nestern –<br />

Und Reif erstarrte alle Liebeslieder.<br />

Anmerkungen:<br />

1 Bauschinger, Sigrid: Else Lasker-Schüler. Ihr<br />

Werk <strong>und</strong> ihre Zeit, Heidelberg 1980, S. 25.<br />

2 Auch der zweite Sohn der Familie Schüler, Maximilian<br />

Moritz, hatte seinen Sohn „Paul“ genannt.<br />

Vielfach wurde das Foto aus dem Bestand<br />

der Stadtbibliothek Wuppertal, das Moritz mit<br />

seinem Sohn zeigt, als Moritz mit seinem Neffen<br />

Paul Lasker-Schüler identifiziert, z.B. in:<br />

Klüsener Erika/Pfäfflin, Friedrich: Else Lasker-<br />

Schüler 1869–1945. Marbacher Magazin 71/<br />

1995 (Doppelheft), Marbach 1995, Abb. Nr. 13.<br />

Das Kind auf dem 1897 gemachten Bild ist aber<br />

etwa zwei Jahre alt <strong>und</strong> kann daher nicht Paul<br />

Lasker-Schüler sein, der erst 1899 geboren<br />

wurde.<br />

3 Vgl. dazu die Briefe an Anna Lindwurm-Linder<br />

aus der Berliner Zeit vor allem bis 1907.<br />

4 Mit fre<strong>und</strong>licher Hilfe von Herrn Peter Elsner,<br />

Stadtarchiv Wuppertal, konnte herausgef<strong>und</strong>en<br />

werden, dass Moritz in Godesberg gestorben<br />

<strong>und</strong> auf dem jüdischen Friedhof in Köln-Deutz<br />

beerdigt worden ist (Täglicher Anzeiger vom<br />

14.1.1907, StAW). Der Grabstein existiert noch<br />

<strong>und</strong> ist gut erhalten. Vgl. Schrader, Ulrike: „Niemand<br />

hat mich wiedererkannt“. Else Lasker-<br />

Schüler in Wuppertal, hrsg. vom Trägerverein<br />

Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal<br />

e.V., Wuppertal 2003, hier: S. 109.<br />

5 Moritz kommt sogar einmal an entscheidender<br />

Stelle vor – wenn auch nur in Gestalt des typisch<br />

schwesterlichen Wunsches nach einem „großen<br />

Bruder“. Lasker-Schüler schreibt in einem Brief<br />

vom 6.10.1900 an Ludwig Jacobowski: Ich bin<br />

so schändlich <strong>und</strong> zwar öffentlich von Herrn<br />

Houben beleidigt worden, daß ich nur im Moment<br />

gewünscht habe, daß mein Bruder dagewesen<br />

wäre, der hätte ihn sicherlich geohrfeigt.<br />

(Lasker-Schüler, Else: Werke <strong>und</strong> Briefe. Kritische<br />

Ausgabe, hg. von Norbert Oellers, Heinz<br />

Rölleke <strong>und</strong> Itta Shedletzky, (hier: KA) Band 5,<br />

S. 21). Problematisch war wohl das Verhältnis<br />

zur Familie von Moritz Frau Anna, geb. Philipp.<br />

Am 5.1.1907, wenige Tage vor Moritz Tod,<br />

schrieb Lasker-Schüler an ihre Schwester, offensichtlich<br />

besorgt auch wegen finanzieller An-<br />

97


gelegenheiten: Liebe Anna. Unter strengster<br />

Discretion – Du weißt also nichts davon: Ich<br />

schrieb heute an Anna Ph. Zunächst nach Elberfeld.<br />

Adressiert. Wenn nicht dort nachzusenden<br />

oder zurück. Herrlicher ruhiger, liebenswürdiger<br />

Brief. Es muß Jemand in die Hand nehmen.<br />

Pass mal auf. – Dein Glück so. (…) Wie geht es<br />

Moritz bitte genau schreiben. (KA 5, S. 75f).<br />

6 aus: der Versöhnungstag (1925), in: KA 4.1.,<br />

S. 100f.<br />

7 Sie sind vollständig erstmals abgedruckt in:<br />

„Niemand hat mich wiedererkannt …“, s. Anm. 4,<br />

S. 38f.<br />

8 Zitiert nach: Marbacher Magazin, a.a.O., S. 215.<br />

9 Staatsarchiv Hamburg (hier: StAH), Senatskommission<br />

für die Kunstpflege, Eb. 305.<br />

10 Ebd.<br />

11 s. Anm. 4.<br />

12 So auch nicht in einer der jüngeren Publikationen:<br />

Garweg, Udo: Wuppertaler Künstlerverzeichnis,<br />

hg. vom Von der Heydt-Museum Wuppertal,<br />

Wuppertal 2000 (S. 361).<br />

13 Dresslers Kunstjahrbuch, hg. von Oskar Dressler,<br />

7. Jg., Rostock 1913, S. 870. Andere Erwähnungen<br />

finden sich in: Allgemeines Lexikon der<br />

Bildenden Künstler, begr. von Ulrich Thieme<br />

<strong>und</strong> Felix Becker, 30. Bd., Leipzig 1936; Allgemeines<br />

Künstler-Lexicon. Leben <strong>und</strong> Werke der<br />

berühmtesten Bildenden Künstler, hg. von Hans<br />

Wolfgang Singer, 4. Band, Frankfurt am Main<br />

1920.<br />

Sigrid Lekebusch<br />

98<br />

14 KA 5, S. 196.<br />

15 Jahrgang 13 (1906), S. 87f. Beide Texte sind abgedruckt<br />

in: „Niemand hat mich wiedererkannt<br />

…“, a.a.O., S. 37. Ob es sich bei dem Bild um<br />

die Zeichnung handelt, die sich heute in der<br />

Stadtbibliothek befindet, ist wohl nicht zu<br />

klären.<br />

16 Brief Else Lasker-Schülers vom 22.10.1930, abgedruckt<br />

in: „Niemand hat mich wiedererkannt<br />

…“, a.a.O., S. 38.<br />

17 S. Anm. 13.<br />

18 Abgedruckt in: „Niemand hat mich wiedererkannt<br />

…“, a.a.O., S. 36f.<br />

19 StAH: 332–8 Meldewesen, A 30, Einwohnermeldekartei<br />

1892–1925.<br />

20 Das ist eigentlich ein Hinweis darauf, dass<br />

Schüler bis 1925 nicht mehr nach Hamburg<br />

zurückgekommen ist. Das ist aber nicht der Fall,<br />

wie Einsichten in die Hamburger Adressbücher<br />

ergeben.<br />

21 StAH: Meldekarte der Mutter Marianne Goldzieher,<br />

geb. Meyer (4.2.1831 in Svendborg, Dänemark<br />

– 25.10.1907 in Hamburg), 332–9 Meldewesen,<br />

A 30, Einwohnermeldekartei 1892–<br />

1925.<br />

22 StAH: 376–4, Zentralgewerbekartei VIII Cc1.<br />

23 StAH: 352–7 Ges<strong>und</strong>heitsbehörde, Todesbescheinigungen,<br />

1938 3c, Nr. 914.<br />

24 KA 1.1., Nr. 370.<br />

Reformierte Stimmen aus dem Wuppertal<br />

zu den staatlichen <strong>und</strong> kirchlichen Neuordnungen 1918/19<br />

Vor 75 Jahren etablierte sich das erste demokratische<br />

System in Deutschland. Die Ziele<br />

der jungen Republik, Bollwerk gegen die Revolution<br />

zu sein, zur Überwindung des Militarismus<br />

beizutragen, mit dem gleichen Wahlrecht<br />

den Abstand zwischen den sozialen<br />

Schichten zu verringern, hatten keine Chance,<br />

sie gingen in den mächtigen, immer lauter artikulierten<br />

Gruppeninteressen unter. Der ‚Rufmord‘,<br />

der sich in den Schlagworten „Verrat“,<br />

„Dolchstoßlegende“, „Versailles“ manifestierte,<br />

wurde von fast allen gesellschaftlichen<br />

Gruppen mitgetragen. Die evangelische Kirche,<br />

deren Glieder dem national-konservativen<br />

Bürgertum zugerechnet werden müssen, teilte<br />

diese Einstellung weitgehend. Doch für sie verschärfte<br />

sich die Situation insoweit, als die Kirche<br />

mit dem Untergang der Monarchie obendrein<br />

ihre kirchliche Spitze verloren hatte,<br />

denn das Kaiserhaus <strong>und</strong> die Landesfürsten<br />

hatten bis 1918 außerdem die oberste Kirchengewalt<br />

(Summepiskopat) inne. Die historisch<br />

bedingte enge Verflechtung zwischen evangelischer<br />

Kirche <strong>und</strong> Staat zwang nun die Kirche,


sich um eine Neuordnung zu bemühen. Emotional<br />

<strong>und</strong> engagiert wurden die Diskussionen<br />

auch in den Wuppertaler Gemeinden geführt.<br />

Mit einigen Nuancen können die reformierten<br />

Stimmen des Wuppertals, die Reaktionen aus<br />

den beiden größten reformierten Gemeinden<br />

Deutschlands, als pars pro toto gelten.<br />

Die Weimarer Republik<br />

Am 27.1.1919, dem 60. Geburtstag Wilhelms<br />

II., klagte Karl Dick, reformierter Pfarrer<br />

in Barmen-Gemarke, im Barmer Sonntagsblatt:<br />

„Mit wehem w<strong>und</strong>em Herzen werden Unzählige<br />

in Deutschland diesen Tag verleben. Es<br />

wird ihnen sein, als ständen sie an einem frischen<br />

Grabe. Ja mehr, sie werden im Geist aus<br />

diesem Grabe eine Hand sich emporstrecken<br />

sehen, […]. Es ist schon so: der Zusammenbruch<br />

der Kaisertreue <strong>und</strong> der Monarchie<br />

bleibt ein dunkelster Schatten auf dem dunklen<br />

Bilde der deutschen Revolution.“ 1<br />

Solche u.ä. Äußerungen, die den Verlust<br />

des evangelischen Kaiserhauses beklagten <strong>und</strong><br />

die Revolution brandmarkten, beschreiben generell<br />

die Stimmung der Kirche nach dem verlorenen<br />

Krieg. Auch die Gemeinden im Wuppertal<br />

gehörten zu dem Teil des Volkes, die an<br />

dem „Leiden <strong>und</strong> Ringen unseres Volkes“ 2<br />

ebenso Anteil nahmen <strong>und</strong> in dem neuen politischen<br />

System eine Katastrophe sahen. Es war<br />

für die Kirche unstrittig, nicht das hoch gerüstete<br />

Deutsche Reich, nicht Kaiser Wilhelm II.,<br />

der sich in den Krieg hatte hineinziehen lassen,<br />

zeichneten verantwortlich für die unseligen<br />

Folgen, sondern die Revolution, die ‚linke‘ Regierung<br />

<strong>und</strong> die Alliierten mit dem Versailler<br />

Diktat. Diese ideologisch-politische Blockierung<br />

bestimmte das Handeln der Kirche in der<br />

Zeit bis 1933.<br />

In diesen Punkten unterschied sich die Einstellung<br />

der Reformierten im Wuppertal nicht<br />

von der Mehrheit des kirchlichen Protestantismus.<br />

Dennoch sind auch differenziertere Töne<br />

zu hören. Karl Dick sprach in dem obigen Artikel<br />

auch von einer Schuld, da schließlich „ohne<br />

erstes Wehren von einer handvoll Menschen<br />

das Reich zerschlagen“ worden sei. Gleichzeitig<br />

rief er zur Besinnung auf: „Dennoch haben<br />

wir als Christen die Pflicht zu fragen: wie kam<br />

es doch? Es muß doch tiefere Ursachen haben,<br />

unser Unglück! Wird der Schaden erkannt,<br />

kann man auf Heilung denken.“ 3<br />

Nach einer kurzen Replik auf das mit<br />

Deutschland fest verwachsene Kaisertum, dem<br />

neben der langen Vergangenheit auch eine<br />

glückliche Zukunft hätte beschieden sein können,<br />

stellte Dick vorsichtig die kritische Frage,<br />

ob nicht das System an sich eine problematische<br />

Entwicklung hervorgerufen habe, da den Menschen<br />

in diesem Obrigkeitsstaat zu wenig Verantwortungsbewusstsein<br />

zugetraut worden sei 4 .<br />

Auch Hermann Albert Hesse, Pfarrer in der<br />

reformierten Gemeinde Elberfeld <strong>und</strong> Schriftleiter<br />

der RKZ (Reformierte Kirchenzeitung),<br />

rief angesichts des verlorenen Krieges eher zur<br />

Buße auf, als in die allgemeine Klage über die<br />

untergegangene Monarchie <strong>und</strong> dem damit<br />

verb<strong>und</strong>enen verlorenen Summepiskopat einzustimmen<br />

5 . Theologisch eingebettet wurde<br />

dieses politische Urteil in eine heilsgeschichtliche<br />

Konzeption, die von der Überzeugung getragen<br />

war, Gottes Heilsplan erfülle sich auch<br />

durch die Sünden der Menschen. Hinzu kam,<br />

dass die reformierte Tradition mit den demokratieähnlichen<br />

Gremien der Presbyterien <strong>und</strong><br />

Synoden schon immer im weltlichen Kirchenregiment<br />

ein verzichtbares Instrument sah, die<br />

nun angesichts der Veränderungen einen neuen<br />

Wert gewann.<br />

„Daß die äußere Form der Kirche durch den<br />

Wegfall des landesherrlichen Kirchenregimentes<br />

ins Schwanken geraten, macht uns Reformierten<br />

weniger Sorge. Wir erinnern uns mit<br />

Stolz, daß unsere synodalen Überlieferungen<br />

älter sind als das Kirchenregiment. Diese Überlieferungen<br />

gilt es jetzt hochzuhalten <strong>und</strong> sich<br />

um sie zusammenzuschließen.“ 6<br />

Doch dem Verdacht, dass hier eine Gleichsetzung<br />

mit den politischen demokratischen<br />

Strukturen vorliege, wollten sich die reformierten<br />

Theologen nicht aussetzen. Sie lehnten dies<br />

als vehementes Missverständnis ab: „Der altreformierte<br />

Presbyterianismus war nicht demokratisch,<br />

sondern rein aristokratisch seinem<br />

Wesen nach.“ 7<br />

99


Maßgeblich blieb – die Reformierten hatten<br />

sich mit der evangelischen Monarchie arrangiert,<br />

<strong>und</strong> nun waren sie ebenso bereit, in den<br />

neuen Verhältnissen ihren Platz zu suchen <strong>und</strong><br />

zu behaupten.<br />

Trennung von Staat <strong>und</strong> Kirche<br />

Am 16. November 1918 trat der Leiter des<br />

Kultusministeriums, Adolf Hoffmann, mit den<br />

ersten Erlassen an die Öffentlichkeit. Er war<br />

bisher als Atheist <strong>und</strong> Propagandist für eine<br />

umfassende Kirchenaustrittsbewegung aus der<br />

Freidenkerszene bekannt <strong>und</strong> nun verfügte er<br />

die radikale Trennung von Staat <strong>und</strong> Kirche sowie<br />

die Einstellung aller Staatszuschüsse für<br />

die Kirche zum 1. April 1919 8 . Damit initiierte<br />

er eine hektische Betriebsamkeit in den kirchlichen<br />

Gremien. Zehn Tage später, am 26.11.<br />

1918 tagte in Barmen-Gemarke eine neuernannte<br />

Kommission zur Kirchenfrage, die<br />

sich ausschließlich mit der Frage der Neuordnung<br />

der kirchlichen Verhältnisse <strong>und</strong> anfangs<br />

vor allem mit der Trennung von Staat <strong>und</strong> Kirche<br />

beschäftigte 9 . Bis zum 9.5.1919 tagte das<br />

Gremium insgesamt 13 mal, im Dezember sogar<br />

wöchentlich.<br />

Das erste Protokoll weist in einer willkürlichen<br />

Aneinanderreihung drei Punkte auf:<br />

„Aufklärung“, „nichts übereilen“ <strong>und</strong> „Zusammenschluss<br />

mit den Elberfelder Gemeinden“.<br />

Ein propagandistischer Feldzug schien den Gemarkern<br />

das geeignete Mittel zu sein, den ersten<br />

Punkt in Angriff zu nehmen. In Gemeindeversammlungen<br />

wurde aufgeklärt <strong>und</strong> für eine<br />

Kampagne geworben, um sich in breiter Front<br />

gegen eine Trennung von Staat <strong>und</strong> Kirche auszusprechen.<br />

„Kirchlich interessierte Persönlichkeiten“<br />

wurden aufgefordert, mit ihrer Unterschrift<br />

der Kirche ihre Loyalität <strong>und</strong> ihre<br />

Unterstützung zu erklären 10 . In den Pfarrhäusern,<br />

in den Bezirksvereinen <strong>und</strong> Kirchen lagen<br />

Listen aus: „Alle erwachsenen Gemeindeglieder,<br />

ohne Unterschied des Geschlechts,<br />

werden herzlich <strong>und</strong> dringend um das Zeugnis<br />

der Treue gebeten“ 11 . Die Diskussionen endeten<br />

überall mit dem einhelligen Ergebnis, eine<br />

100<br />

einseitige Trennung von Staat <strong>und</strong> Kirche<br />

müsse abgelehnt werden.<br />

Gestärkt durch diese Voten versuchte Gemarke<br />

mit Eingaben an den Vertrauensrat in<br />

Berlin, der die Kirchenordnung vorbereitete,<br />

Einfluss auf die Entwicklung zu gewinnen.<br />

Doch wie bei jeder kirchlichen Neuordnung<br />

befürchteten die Reformierten, dass dem reformierten<br />

„Sondergepräge“ nicht der entsprechende<br />

Raum gewährt würde 12 . Die Gefahr,<br />

dass die reformierte Stimme nicht ausreichend<br />

gewürdigt würde, wurde so hoch eingeschätzt,<br />

dass es immer wieder zu verschiedenen Gedankenspielen<br />

kam <strong>und</strong> Alternativen diskutiert<br />

wurden 13 bis hin zu der Überlegung, sich aus<br />

dem synodalen <strong>und</strong> landeskirchlichen Verband<br />

zu lösen <strong>und</strong> den Weg in eine Freikirche zu suchen<br />

14 .<br />

Die Widerstände im ganzen Deutschen<br />

Reich gegen Hoffmanns antikirchliche Politik<br />

führten zu dessen Absetzung. Damit war die<br />

Trennung von Staat <strong>und</strong> Kirche obsolet. Nun<br />

wandten sich die kirchlichen Gremien den Detailproblemen<br />

einer kirchlichen Neuordnung<br />

zu. In der Weimarer Verfassung waren zwei<br />

gravierende Neuerungen verankert, die in die<br />

Kirchenordnung übernommen werden müssten,<br />

das Mehrheits- <strong>und</strong> das Frauenwahlrecht.<br />

Die Frage des Mehrheitswahlrechts wurde<br />

nicht als brennend empf<strong>und</strong>en. Die Diskussion<br />

darüber begann in der RKZ erst, nachdem die<br />

Meinungsbildung über das staatliche <strong>und</strong><br />

kirchliche Frauenwahlrecht abgeschlossen war.<br />

Das staatliche Frauenwahlrecht<br />

Die Auseinandersetzung um eine Beteiligung<br />

der Frauen in Staat <strong>und</strong> Kirche war nicht<br />

neu. Bis 1918 lehnte der weitaus größte Teil der<br />

Kirche jede Form der Mitbestimmung von<br />

Frauen in Gesellschaft <strong>und</strong> Kirche definitiv ab.<br />

Eine Mitarbeit in politischen Gremien war<br />

r<strong>und</strong>weg <strong>und</strong>enkbar <strong>und</strong> für die Mitarbeit der<br />

Frauen in der Kirche galt, evangelische Frauen<br />

<strong>und</strong> Jungfrauen für alle die Arbeiten zu sammeln,<br />

„welche weibliche Hände <strong>und</strong> Herzen<br />

zum Wohle der evangelischen Gemeinde in<br />

Angriff zu nehmen berufen sein können“ 15 .


Derartige Ziele vertrugen sich nicht mit der<br />

‚männlichen‘ Wahrnehmung einer wie immer<br />

gearteten Mitsprache.<br />

Doch nun, mit der politischen Neuordnung<br />

der Weimarer Republik wurde auch das in der<br />

Vorkriegszeit heißumkämpfte Thema, das abgelehnte<br />

Frauenwahlrecht, Realität. Es wurden<br />

zwar weiterhin die früheren ablehnenden Argumente<br />

gegen eine Mitbestimmung der Frau<br />

geäußert, dennoch wuchs auch bei den Männern<br />

die Erkenntnis, dass mit dem politischen<br />

Wahlrecht 16 neue Möglichkeiten der Beteiligung<br />

<strong>und</strong> Einflussnahme mit Hilfe der Frauen<br />

gegeben waren. Wahlrecht wurde nunmehr als<br />

Wahlpflicht deklariert. Auch Hermann Albert<br />

Hesses reformierte Stimme äußerte sich dazu:<br />

„Die Frauen sind berufen, über diejenigen<br />

mitzubestimmen, die über Deutschlands Wohl<br />

<strong>und</strong> Wehe entscheiden, die unser <strong>und</strong> unserer<br />

Kinder Los in der Hand haben. Darum evangelische<br />

Frauen <strong>und</strong> Mädchen, rüstet euch, sucht<br />

euch zu unterrichten über die Lage, lernt die<br />

Programme der politischen Parteien kennen.<br />

[…] Ob ihr das Stimmrecht gewünscht habt<br />

oder nicht, ob es euch Glück bedeutet oder<br />

Last, jetzt ist es eure Pflicht, es auszuüben,<br />

wenn ihr euer Vaterland liebt, wenn euch eurer<br />

Kinder Zukunft am Herzen liegt.“ 17<br />

Zu diesem Zeitpunkt – im Januar 1919 –<br />

bestanden in bezug auf das politische Wahlrecht<br />

zwischen den einzelnen kirchlichen<br />

Richtungen kaum Meinungsdifferenzen. Die<br />

Mobilisierung der Frauen mit dem Ziel, die Bestandssicherung<br />

der Kirche <strong>und</strong> die Verteidigung<br />

der christlichen Werte durch eine Stärkung<br />

der christlich-konservativen Parteien zu<br />

erreichen, hatte insoweit Erfolg, als die Wahlen<br />

zur Nationalversammlung <strong>und</strong> zur preußischen<br />

Landesversammlung den Parteien DNVP <strong>und</strong><br />

DVP sowie dem Zentrum einen Überschuss an<br />

Frauenstimmen bescherte im Gegensatz zu den<br />

sozialdemokratischen Parteien 18 . Doch mit der<br />

Einführung des staatlichen <strong>und</strong> kommunalen<br />

Wahlrechts für Frauen <strong>und</strong> Männer 19 kam die<br />

Kirche in Zugzwang. Wie sollte sie den Frauen<br />

im kirchlichen Bereich etwas verweigern, was<br />

der Staat ihnen zugebilligt hatte?<br />

Kirchliches Frauenwahlrecht<br />

Die Debatte um das kirchliche Frauenwahlrecht<br />

wurde auf allen Ebenen geführt, in den<br />

kirchlichen Gremien ebenso wie in der kirchlichen<br />

Presse. Dabei stand die Interpretation des<br />

paulinischen Zitats: „Das Weib schweige in der<br />

Gemeinde“ (mulier taceat in ecclesia) 20 im<br />

Mittelpunkt.<br />

Den konservativen Gegnern, die ein Katastrophenszenarium<br />

mit dem Untergang der<br />

Kirche entwarfen, standen moderate Befürworter<br />

gegenüber, die in einer Differenzierung von<br />

aktivem <strong>und</strong> passivem Wahlrecht einen Kompromiss<br />

sahen. Ein Stimmzettel in Frauenhand<br />

war an sich schon eine problematische Aktion<br />

ohne paulinische Rechtfertigung, doch die weitere<br />

Vorstellung, mit dem passiven Wahlrecht<br />

Frauen in den Gemeindegremien als gewählte<br />

Mitglieder beteiligen zu müssen, löste bei vielen<br />

Männern Ängste aus, wie auch Frauen dies<br />

als „Danaergeschenk“ ablehnten. Uneingeschränkt<br />

befürwortende Stimmen wie im<br />

Deutsch-Evangelischen Frauenb<strong>und</strong>, der schon<br />

seit Jahren für eine politische <strong>und</strong> kirchliche<br />

Beteiligung der Frauen kämpfte 21 , waren einsame<br />

Rufer in der Wuppertaler Szene. Doch<br />

die Atmosphäre veränderte sich, die Frauen<br />

wurden nun gehört. Sie erhielten Raum für ihre<br />

Meinung. So ist es nicht erstaunlich, dass sich<br />

gerade Emma Frowein 22 , Mitglied im Deutsch-<br />

Evangelischen Frauenb<strong>und</strong>, mit „Gedanken<br />

über Frauenstimmrecht <strong>und</strong> Frauenmitarbeit in<br />

der Gemeinde“ zu Wort meldete. Dieser viel<br />

beachtete Artikel löste in den folgenden Wochen<br />

vielschichtige Reaktionen in der RKZ<br />

aus:<br />

Für die theologische Interpretation der<br />

Textstelle – „mulier taceat in ecclesia“ – führte<br />

Emma Frowein als Kronzeugen die beiden<br />

größten Reformatoren, Johannes Calvin <strong>und</strong><br />

Martin Luther, auf, die beide das Schweigen<br />

der Frau nur auf das Predigtamt beschränkt hätten.<br />

Für ein Eintreten der Frau in der Gemeindevertretung<br />

<strong>und</strong> dem Presbyterium finde sich<br />

nirgendwo in der Bibel ein entsprechendes Verbot<br />

23 .<br />

Ganz pragmatisch wies sie im folgenden<br />

auf alle von den Frauen schon wahrgenomme-<br />

101


nen Aufgaben in der Gemeinde hin. Als Konsequenz<br />

dieses realistischen Bildes – Gemeindearbeit<br />

werde fast ausschließlich von den Frauen<br />

geleistet, wohingegen die Entscheidungsbefugnis<br />

in den Händen der Männer liege – forderte<br />

sie eine Mitarbeit bzw. eine Wählbarkeit der<br />

Frauen in die entscheidenden Gremien der Kirche,<br />

denn die Frauen seien als Stützen der Gemeinde<br />

besonders berechtigt, auch die volle<br />

Verantwortung mitzutragen 24 . Ahnend, dass bei<br />

einer Wahl wenige Frauen die Hürde in einen<br />

kirchlichen Ausschuss schaffen würden, schlug<br />

sie vor, man möge „dem Presbyterium sofort<br />

eine Anzahl Frauen beiordnen zur Mitleitung<br />

der kirchlichen Einrichtungen“ 25 .<br />

In Gegendarstellungen mit Titeln wie:<br />

„Frauendienst in der Gemeinde“, „Gedanken<br />

über Frauenstimmrecht <strong>und</strong> Frauenmitarbeit in<br />

der Gemeinde“ 26 , „Ein Wort gegen das Frauenwahlrecht“<br />

27 , „Das kirchliche Frauenwahlrecht<br />

<strong>und</strong> die Frauen“ 28 , „Des Mannes Gehilfin“ 29<br />

setzten sich die männlichen Autoren mit Emma<br />

Froweins Artikel auseinander. Beide, die theologische<br />

sowie auch die faktische Argumentationsebene<br />

wurden kritisiert: Paulus habe an Timotheus<br />

(1, 2, 12–14) geschrieben, er erlaube<br />

einer Frau nicht zu lehren <strong>und</strong> auch nicht den<br />

Mann zu regieren; aus der Rangfolge – Adam<br />

sei schließlich vor Eva gebildet worden – resultiere<br />

eine primäre Position; große Theologen<br />

wie Adolf Schlatter wurden bemüht; Calvin interpretiert,<br />

die Interpretation der Textstellen sei<br />

eindeutig zu kurz gegriffen usw. Der praktischen<br />

Auslegung, denjenigen, die die Arbeit erledigen,<br />

auch Mitsprache einzuräumen, wurde<br />

die Andersartigkeit der Frau entgegengehalten 30 .<br />

Dass die Natur Frauen andere Aufgaben zuweise,<br />

war ein Argument, dem sich auch viele<br />

Frauen anschlossen <strong>und</strong> somit in das Konzert<br />

der Gegner einstimmten. Eine der ersten Kirchen,<br />

die den Frauen uneingeschränktes Wahlrecht<br />

einräumte, war die württembergische<br />

Landeskirche. Psychologisch geschickt brachte<br />

D. Hermann Albert Hesse die Erklärung einer<br />

„einfachen Frau“, wie die Schreiberin sich untertreibend<br />

selbst nannte, die in einem ausführlichen<br />

Artikel „Das kirchliche Wahlrecht ein<br />

Geschenk für die Frau?“ diese Gabe der Männer<br />

dankend ablehnte, <strong>und</strong> damit schloss, dass<br />

102<br />

sie „denjenigen Vertretern der Kirche in der<br />

Landessynode warmen herzlichen Dank<br />

[sage], die in ritterlicher Weise unsere Eigenart<br />

erkannt <strong>und</strong> versucht haben, uns zu schützen,<br />

indem sie uns unter das Apostelwort stellten:<br />

das Weib schweige in der Gemeinde.“ 31<br />

Neben diesen breit diskutierten Erklärungsversuchen<br />

tauchte immer wieder die Warnung<br />

auf, dass mit der Übernahme des demokratischen<br />

Wahlrechts die Revolution in die Kirche<br />

getragen werde 32 .<br />

Mit einem solch teilweise kontroversen Erkenntnisstand<br />

diskutierten im Juni 1919 die<br />

Männer auf den Kreissynoden in Elberfeld <strong>und</strong><br />

Barmen den Entwurf der Rheinischen Kirchenordnung.<br />

Noch einmal wurde die Ablehnung<br />

einer Mitbestimmung der Frauen <strong>und</strong> die große<br />

Skepsis gegenüber dem Verhältniswahlrecht<br />

geäußert. In Barmen lieferte Gemarke das<br />

Konzept, dem sich die Synode insgesamt anschloss:<br />

Sie waren bereit, die Mitwirkung der<br />

Frauen in der größeren Gemeindevertretung zu<br />

dulden, desgleichen wurde eine Mitarbeit der<br />

Frauen in den verschiedenen vom Presbyterium<br />

eingesetzten Arbeitsausschüssen als sinnvoll<br />

angesehen 33 , aber im „Presbyterium <strong>und</strong><br />

auch in den höheren Verwaltungskörpern<br />

möchte Gemarke die Frauen als Mitglieder<br />

nicht sehen“ 34 . Außerdem forderten die Gemeindevertreter,<br />

die Entscheidung über Annahme<br />

oder Ablehnung des neuen Wahlrechts<br />

müsse der einzelnen Gemeinde überlassen<br />

bleiben, denn – nun folgte eine unmissverständliche<br />

Drohung – Gemarke lege Wert darauf,<br />

„im Zusammenhang der Landeskirche zu<br />

bleiben“ 35 , d.h. im anderen Fall überlege sich<br />

die Gemeinde den Austritt aus der Landeskirche.<br />

In Elberfeld führte der scharfe Protest der<br />

reformierten Gemeinde Cronenberg – „Die<br />

Annahme des Frauenstimmrechts gehe schnurstracks<br />

gegen das klare Wort Gottes“ – zu<br />

einem Verweis durch den Superintendenten 36 .<br />

Auch die reformierte Gemeinde Elberfeld versuchte<br />

mit einem Antrag – die Einführung<br />

müsse freigestellt werden – den Neuerungen zu<br />

entkommen 37 .<br />

Trotz aller Widerstände wurde das Frauenwahlrecht<br />

auf der Rheinischen Provinzial-


synode im Oktober 1919 mit 90 gegen 34 Stimmen<br />

angenommen 38 , womit die Frauen schon<br />

für die 1921 anstehende Wahl zur außerordentlichen<br />

Kirchenversammlung das allgemeine<br />

Wahlrecht ausüben konnten, das in der am<br />

1.9.1923 in Kraft tretenden Kirchenordnung<br />

dann endgültig verankert wurde 39 . Trotz der<br />

Drohungen blieben die Gemeinden, die mit<br />

Austritt gedroht hatten, in der Landeskirche.<br />

Kirchliche Wahl 1921<br />

Die Zulassung zur Wahl beschränkte sich<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich auf diejenigen, die in der Wählerliste<br />

ihrer Gemeinde eingetragen waren oder<br />

sich die Mühe machten, sich eintragen zu<br />

lassen. In die Wahlliste wurden die Personen<br />

aufgenommen, die sich nach einer Zuverlässigkeitsprüfung<br />

durch einen Presbyter als kirchen<strong>und</strong><br />

gemeindetreu erwiesen hatten.<br />

Trotz dieser Barriere gingen am 7.2.1921 in<br />

Gemarke 19,12 % der 25.000 Gemeindeglieder<br />

zur Wahl, mit einer deutlich höheren Beteiligung<br />

der Frauen. In die Liste hatten sich 2.902<br />

Männer <strong>und</strong> 3.579 Frauen eintragen lassen.<br />

Davon hatten 1.900 Männer ihr Wahlrecht<br />

wahrgenommen, aber 2.669 Frauen d.h.<br />

72,59% 40 .<br />

Die in vielen Gemeinden üblichen Einheitslisten,<br />

die den verschiedenen Richtungen<br />

Rechnung trugen, lehnte Gemarke ab, stattdessen<br />

wurde hier eine „Charakterliste“ aufgestellt,<br />

die „keine irgendwie gegnerischen Kandidaten“<br />

<strong>und</strong> auch „keine Frauen“ enthielt 41 .<br />

So sind weder bei dieser noch bei den folgenden<br />

Wahlen bis 1968 in Gemarke Frauen<br />

ins Presbyterium gerufen worden. In der größeren<br />

Gemeindevertretung, von den jeweils 60<br />

Gemeindeverordneten, fehlte in den zwanziger<br />

Jahren in Gemarke die Weiblichkeit vollständig<br />

42 . Noch 1929 erklärte Karl Immer auf der<br />

Kreissynode von Barmen, dass die Beteiligung<br />

der Frauen an der Leitung der Gemeinde eine<br />

Krankheit der Zeit sei.<br />

„Die Aufgaben der Frauen liegen auf anderem<br />

Gebiet. Solange Gott unserer Gemeinde<br />

Männer nach seinem Herzen erweckt, liegt<br />

kein Gr<strong>und</strong> vor, die Frau nach Art der Welt an<br />

die Öffentlichkeit dieser Welt zu zerren.“ 43<br />

Der Weg war lang <strong>und</strong> steinig, bis 1968 in<br />

Gemarke die erste Frau in das Presbyterium<br />

einziehen konnte.<br />

Anmerkungen:<br />

1 Barmer Sonntagsblatt vom 27.1.1919.<br />

2 Werth, Adolf; Lauffs, Adolf: Geschichte der<br />

Evangelisch-Reformierten Gemeinde Barmen –<br />

Gemarke 1702–1927. Barmen – Gemarke o.J.<br />

[1927], S. 496.<br />

3 Barmer Sonntagsblatt vom 27.1.1919.<br />

4 Ebd.<br />

5 RKZ Nr. 43 vom 20.10.1918, S. 179.<br />

6 RKZ Nr. 2 vom 12.1.1919, S. 12.<br />

7 RKZ Nr. 32 vom 7.8.1921, S. 189. Auch im<br />

April 1933 begrüßte der reformierte Theologe<br />

Otto Weber (1928–1933 Dozent der Theologischen<br />

Schule in Elberfeld) freudig die nationale<br />

Revolution <strong>und</strong> distanzierte sich gleichzeitig<br />

von einer möglichen Parallele zwischen dem<br />

presbyterialen System <strong>und</strong> den demokratischen<br />

Strukturen. Vgl. dazu Lekebusch, Sigrid: Die<br />

Reformierten im Kirchenkampf. Das Ringen<br />

des Reformierten B<strong>und</strong>es, des Coetus reformierter<br />

Prediger <strong>und</strong> der reformierten Landeskirche<br />

Hannover um den reformierten Weg in<br />

der Reichskirche. SVRKG 113, Köln 1994,<br />

S. 35 f.; zu Otto Weber: Bülow, Vicco von: Otto<br />

Weber (1902–1966). Reformierter Theologe<br />

<strong>und</strong> Kirchenpolitiker. AKZ Reihe B, Bd. 34.<br />

Göttingen 1999.<br />

8 Vgl. dazu u.a. Nowak, Kurt, Evangelische Kirche<br />

<strong>und</strong> Weimarer Republik. Zum politischen<br />

Weg des deutschen Protestantismus zwischen<br />

1918 <strong>und</strong> 1932. Göttingen 1981, S. 23.<br />

9 Protokolle der „Verhandlungen der Kommission<br />

zur Kirchenfrage in der Gemarker Gemeinde“,<br />

KKA Barmen.<br />

10 Verhandlungen der Kommission zur Kirchenfrage<br />

in der Gemarker Gemeinde, Protokoll vom<br />

6.12.1918, KKA Barmen; RKZ Nr. 6, vom<br />

9.2.1919, S.33.<br />

11 RKZ Nr. 6 vom 9.2.1919, S. 33.<br />

12 In den zwanziger <strong>und</strong> dreißiger Jahren standen<br />

den 40.200.000 Lutheranern <strong>und</strong> Unierten<br />

380.000 Reformierte in der reformierten Landeskirche<br />

Hannover <strong>und</strong> der reformierten lippischen<br />

Landeskirche gegenüber. Hinzu kamen<br />

noch 26 reformierte Gemeinden in den konfes-<br />

103


sionell gemischten bzw. unierten Kirchengebieten<br />

wie dem Rheinland <strong>und</strong> Westfalen u.a. Der<br />

Anteil der Reformierten im Deutschen Reich<br />

betrug somit etwa 1%. (Vgl. dazu Bekenntnisstand<br />

nach einer Umfrage, EZA 50/13; Umlageberechnung<br />

für die Jahre 1931–1933, ebd.<br />

7/4091). Im Laufe der Jahrh<strong>und</strong>erte hatten die<br />

Reformierten immer wieder vehement ihren Bekenntnisstand<br />

gegen diese Übermacht verteidigt.<br />

13 Verhandlungen der Kommission zur Kirchenfrage<br />

in der Gemarker Gemeinde, Protokoll vom<br />

12.12.1918, KKA Barmen.<br />

14 Ebd. Protokoll vom 7.2.1919.<br />

15 Frauenhülfe 1 (1912), abgedr. bei Kaiser, Jochen-Christoph:<br />

Frauen in der Kirche. Evangelische<br />

Frauenverbände im Spannungsfeld von<br />

Kirche <strong>und</strong> Gesellschaft 1890–1945. Quellen<br />

<strong>und</strong> Materialien. hg.v. Annette Kuhn. Düsseldorf<br />

1985 (Geschichtsdidaktik: Studien Materialien<br />

Bd. 27) S. 55 ff.<br />

16 Zum politischen Frauenwahlrecht vgl. Baumann,<br />

Ursula: Protestantismus <strong>und</strong> Frauenemanzipation<br />

in Deutschland. 1850 bis 1920.<br />

Reihe: Geschichte <strong>und</strong> Geschlechter. Hg. v. Gisela<br />

Bock, Karin Hausen <strong>und</strong> Heide W<strong>und</strong>er,<br />

Bd. 2. Frankfurt/New York 1992, S. 195 ff;<br />

Bremme, Gabriele: Die politische Rolle der Frau<br />

in Deutschland. Eine Untersuchung über den<br />

Einfluss der Frauen bei Wahlen <strong>und</strong> ihre Teilnahme<br />

in Partei <strong>und</strong> Parlament. Göttingen 1956.<br />

17 RKZ Nr. 1, 5.1.1919, S. 6 f.<br />

18 Vgl. dazu die Wahlanalyse bei Bockermann,<br />

Dirk: „Wir haben in der Kirche keine Revolution<br />

erlebt“. Der kirchliche Protestantismus in<br />

Rheinland <strong>und</strong> Westfalen 1918/1919. SVRKG<br />

129, Köln 1998, S. 127.<br />

19 Am 11.8.1919 wurde die Verfassung des Deutschen<br />

Reiches verabschiedet.<br />

20 Die entsprechende Textstelle 1. Kor. 14, 34–35<br />

lautet: „Wie in allen Gemeinden der Heiligen<br />

lasset die Frauen schweigen in der Gemeinde;<br />

denn es soll ihnen nicht zugelassen werden, daß<br />

sie reden, sondern sie sollen sich unterordnen,<br />

wie auch das Gesetz sagt. Wollen sie etwas lernen,<br />

so lasset sie daheim ihre Männer fragen. Es<br />

steht der Frau übel an, in der Gemeinde zu<br />

reden.“<br />

21 Vgl. dazu u.a. Lekebusch, Sigrid, Die Evangelische<br />

Frauenhilfe im Rheinland <strong>und</strong> der Deutsch-<br />

Evangelische Frauenb<strong>und</strong>. Ein Vergleich von<br />

Aufbau, Zielvorstellung <strong>und</strong> Frauenbild in der<br />

Weimarer Republik. In: Monatshefte für Evan-<br />

104<br />

gelische Kirchengeschichte des Rheinlandes<br />

2001. Köln. S. 141–174.<br />

22 Emma Frowein (21.7.1874–16.3.1936), verheiratet<br />

mit Rudolf Frowein, Kirchmeister der reformierten<br />

Gemeinde Elberfeld, wurde später in<br />

das Presbyterium der reformierten Gemeinde<br />

gewählt. Das Datum war leider nicht rekonstruierbar.<br />

Diese Hinweise verdanke ich Dr. Uwe<br />

Eckardt, Leiter des Stadtarchivs,<br />

23 RKZ Nr. 8, 23.2.1919, S. 48.<br />

24 Ebd.<br />

25 Ebd., S. 49.<br />

26 RKZ Nr. 9 vom 2.3.1919.<br />

27 RKZ Nr. 13 vom 30.3.1919.<br />

28 RKZ Nr. 16 vom 20.4.1919.<br />

29 RKZ Nr. 20 vom 18.5.1919.<br />

30 Vgl. dazu die obigen Textstellen.<br />

31 RKZ Nr. 9, 2.3.1919, S. 57 f.<br />

32 Diesen ‚Geburtsfehler‘ ist das Frauenwahlrecht<br />

nicht wieder losgeworden. Als 1945 wieder über<br />

eine neue Kirchenordnung beraten wurde, sollte<br />

das passive Frauenwahlrecht nicht mehr verankert<br />

werden, da es 1918 auf den unbiblischen<br />

Einbruch demokratischen Gedankenguts zurückzuführen<br />

sei. Die Aufnahme des entsprechenden<br />

Passus scheiterte an dem Protest der<br />

drei weiblichen Synodalen, unterstützt von Otto<br />

Ohl, dem Leiter der Inneren Mission., vgl. dazu<br />

Norden, Günther van; Faulenbach, Heiner: Die<br />

Entstehung der Evangelischen Kirche im Rheinland<br />

in der Nachkriegszeit. Köln 1998 (SVRKG<br />

134) S. 67.<br />

33 Verhandlungen der Kreissynode Barmen vom<br />

26. Juni 1919, S. 33.<br />

34 Verhandlungen der Kreissynode Barmen vom<br />

26. Juni 1919, S, 32. Gemarke stand mit dieser<br />

Drohung nicht allein da. Mit einem Schreiben<br />

des „B<strong>und</strong>es bekenntnistreuer Gemeinden“ wird<br />

1920 die 16. rheinische Provinzialsynode auf<br />

den möglichen Austritt dieser Gemeinden hingewiesen,<br />

vgl. Kordula Schlösser-Kost: Evangelische<br />

Kirche <strong>und</strong> soziale Fragen 1918–1933.<br />

Die Wahrnehmung sozialer Verantwortung<br />

durch die rheinische Provinzialkirche. Köln<br />

1996, SVRKG 120, S. 278.<br />

35 Verhandlungen der Kreissynode Barmen vom<br />

26. Juni 1919, S. 32.<br />

36 Verhandlungen der Kreissynode Elberfeld vom<br />

22. Juni 1919, 33.<br />

37 Ebd.<br />

38 Verhandlungen der Kreissynode Elberfeld vom<br />

29.6.1920, S. 23.<br />

39 Die Verfassungsurk<strong>und</strong>e für die altpreußische


Union vom 29. September 1923 wurde am<br />

2. Mai 1924 durch den Landeskirchenrat verkündet<br />

<strong>und</strong> die neue Kirchenordnung für das<br />

Rheinland <strong>und</strong> Westfalen am 1.10.1924 verabschiedet.<br />

40 Wahlergebnisse abgedr. in: Verhandlungen der<br />

Kreissynode Barmen vom 23. Juni 1921, S. 3.<br />

Von der Kreissynode Elberfeld liegen keine Ergebnisse<br />

vor.<br />

Renate Jäckle<br />

41 Werth, Adolf; Lauffs, Adolf: Geschichte der<br />

Evangelisch-Reformierten Gemeinde Barmen –<br />

Gemarke 1702–1927. Barmen – Gemarke o.J.<br />

[1927], S. 496.<br />

42 Verhandlungen der Kreissynode Barmen von<br />

1926, S. 18 f.<br />

43 Verhandlungen der Kreissynode von Barmen<br />

1929.<br />

In dubio pro libertate!<br />

Mosaiksteinchen aus dem Leben des Barmer Beigeordneten <strong>und</strong><br />

Wuppertaler Stadtkämmerers Dr. Wilhelm Bragard (1887–1963) *<br />

Wilhelm Bragard 1 wurde am 25. Juni 1887<br />

in Raeren (Kreis Eupen) geboren. 2 Sein Vater<br />

war der 1852 ebenfalls in Raeren geborene<br />

Bauunternehmer Johann Bragard; auch seine<br />

Dr. Wilhelm Bragard, ca. 1960 – Foto: Verfasserin<br />

1853 geborene Mutter Anna Maria Bragard,<br />

geb. Kalff stammte von dort. Die Großeltern<br />

väterlicher- <strong>und</strong> mütterlicherseits waren Landwirte<br />

in Raeren. Wilhelm Bragard wuchs in einer<br />

wahrlich kinderreichen Familie auf. Seine<br />

Eltern hatten 1881 geheiratet <strong>und</strong> zogen Ende<br />

der 80er Jahre nach Aachen. Anna Maria Bragard<br />

brachte zwischen 1882 <strong>und</strong> 1899 dreizehn<br />

Kinder zur Welt. Zwei davon, ein 1891 <strong>und</strong> ein<br />

1895 geborenes Töchterchen, starben bereits<br />

im ersten Jahr nach der Geburt. Das Ehepaar<br />

Bragard hatte also im wilhelminischen Kaiserreich<br />

elf Kinder großzuziehen, sieben Söhne<br />

<strong>und</strong> vier Töchter.<br />

Studium, Erster Weltkrieg<br />

Wilhelm Bragard besuchte das Kaiser-<br />

Karls-Gymnasium in Aachen <strong>und</strong> erhielt dort<br />

1907 das Reifezeugnis. Von 1907 bis 1910 studierte<br />

er Rechts- <strong>und</strong> Staatswissenschaften an<br />

den Universitäten Straßburg, München <strong>und</strong><br />

Berlin. Am 16. Juli 1910 bestand er die Referendarprüfung<br />

am Kammergericht in Berlin<br />

(mit Prädikat Gut). Anschließend war er bis<br />

1914 Referendar im Oberlandesgerichtsbezirk<br />

Köln. Durch Patent vom 16. März 1915 wurde<br />

er nach großer (in Berlin ebenfalls mit Prädikat<br />

Gut bestandener) Staatsprüfung zum Gerichtsassessor<br />

ernannt. 3<br />

105


Etwa gleichzeitig erlangte Wilhelm Bragard<br />

den juristischen Doktortitel. Das Thema<br />

seiner in dunkelgrünem Leinenumschlag fest<br />

geb<strong>und</strong>enen Dissertation 4 lautete: Darf die Polizei<br />

Auskunft verlangen? Als Motto stellte der<br />

28jährige Gerichtsassessor seinen Ausführungen<br />

voran: In dubio pro libertate! Im Zweifel<br />

für die Freiheit! Fettgedruckt, mit Ausrufezeichen,<br />

auf einer ansonsten völlig leeren Seite.<br />

Mitten im Ersten Weltkrieg. In einer Zeit, in<br />

der Deutschland noch einen Kaiser hatte – <strong>und</strong><br />

Bürger Untertanen waren.<br />

Die Doktorarbeit umfasste 93 Seiten <strong>und</strong><br />

19 (mit kleinen „§“ versehene) Kapitel. § 2 war<br />

überschrieben: Gesetzliche Gr<strong>und</strong>lagen der<br />

Polizeigewalt <strong>und</strong> begann so: Der moderne<br />

Staat ist ein Rechtsstaat. Die Befugnisse der<br />

Verwaltung gegenüber dem Untertan sind<br />

durch das Gesetz fest begrenzt. Ein Eingriff in<br />

die Freiheit des Untertanen darf im Rechtsstaat<br />

nicht deshalb geschehen, weil die Erfüllung<br />

der Staatsaufgaben ihn fordert, sondern nur,<br />

weil <strong>und</strong> soweit das Gesetz den Eingriff gestattet;<br />

die Befugnis des Staates, von jemand ein<br />

Tun oder Unterlassen zu fordern, muß durch einen<br />

Rechtssatz anerkannt sein. Dadurch ist<br />

dem Untertan eine Sphäre gesichert, in welche<br />

die Verwaltung nicht eingreifen darf.<br />

Auf der letzten Seite resümierte Wilhelm<br />

Bragard seine Arbeit knapp in drei Thesen. Die<br />

erste These lautete: Der Bürger ist nicht verpflichtet,<br />

sich einer staatlichen Maßnahme zu<br />

unterwerfen, weil diese durch das Staatsinteresse<br />

geboten ist, sondern nur, weil <strong>und</strong> insoweit<br />

das Gesetz sie zuläßt. Die zweite These stellte<br />

in etwas gew<strong>und</strong>enem Juristendeutsch fest,<br />

dass der Polizei kein Recht auf Erteilung von<br />

Auskunft gegenüber jedermann zustehe, sondern<br />

dass nur der, der polizeilich haftbar wäre,<br />

ihr gegenüber auskunftspflichtig sei. Dies aber<br />

betreffe nur den Störer. Die dritte These besagte,<br />

dass der Kriminalpolizei gegenüber weder<br />

eine Aussage- noch eine Erscheinungspflicht<br />

bestehe, weder nach Reichs- noch nach<br />

Landesrecht, weder von Seiten des Beschuldigten,<br />

noch von Seiten des Zeugen.<br />

Mit dieser Arbeit wurde Wilhelm Bragard<br />

cum laude Doktor. Nach seinem Prädikatsexamen<br />

wurde er sogleich als Assessor ins<br />

106<br />

Preußische Justizministerium berufen 5 , unmittelbar<br />

anschließend aber, im April 1915, zum<br />

Feld-Artillerie-Regiment Prinz August v.<br />

Preußen Nr. 1 in Königsberg eingezogen. Bis<br />

1918 musste er nun am ersten mörderischen<br />

Krieg in seinem Leben teilnehmen, zunächst<br />

als Kanonier, zuletzt als Leutnant d. R. <strong>und</strong><br />

Batteriechef. Als Kriegsauszeichnungen erhielt<br />

er das Eiserne Kreuz 1. <strong>und</strong> 2. Klasse sowie das<br />

Württembergische Friedrichskreuz 2. Kl. m.<br />

Schw. Darauf jedenfalls wies Wilhelm Bragard<br />

1944, im zweiten Weltkrieg des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />

an dem er teilnehmen musste, in einem<br />

Lebenslauf hin. 6<br />

Jener kategorische Imperativ<br />

der Pflichterfüllung<br />

Im November 1918 war der Erste Weltkrieg<br />

zu Ende. Kaiser Wilhelm II. verzichtete auf den<br />

Thron <strong>und</strong> ging ins holländische Exil; Philipp<br />

Scheidemann rief die Republik aus; der Waffenstillstand<br />

wurde verkündet. Im Dezember<br />

1918 fragte der Leutnant d. R. <strong>und</strong> Gerichtsassessor<br />

Dr. jur. Wilhelm Bragard unangemeldet<br />

im Barmer Rathaus an, ob dort vielleicht ein<br />

Jurist benötigt werde. Oberbürgermeister Dr.<br />

Hartmann schilderte seine erste Begegnung<br />

mit dem Stellensuchenden ein knappes Jahr<br />

später in einer Barmer Stadtverordnetenversammlung:<br />

Ich erinnere mich noch, wie Sie eines<br />

Sonnabends im Dezember 1918 als ein<br />

gänzlich Unbekannter ins Rathaus hineingeschneit<br />

kamen <strong>und</strong> bei mir um Arbeit anfragten,<br />

wie Sie dann bereits am Montag darauf hier an<br />

der Arbeit saßen <strong>und</strong> immer mehr in die Verwaltungsarbeit<br />

hineingezogen wurden. 7<br />

Eigentlich war Wilhelm Bragard zu diesem<br />

Zeitpunkt immer noch Assessor im Preußischen<br />

Justizministerium. Nach Barmen hatte es<br />

ihn geführt, weil dort seine zukünftige Frau<br />

lebte. Am 30. Mai 1919 ließen sich der katholische<br />

Dr. jur. Wilhelm Bragard <strong>und</strong> die evangelisch-lutherische,<br />

am 1. Juni 1896 in Ruppichteroth<br />

geborene Elfriede Willach standesamtlich<br />

in Barmen trauen (obwohl der streng katholische<br />

Vater Wilhelm Bragards die Heirat<br />

seines Sohnes mit einer evangelischen Frau


wohl heftig mißbilligt hatte. Die kirchliche katholische<br />

Trauung fand erst am 14. August<br />

1924 statt, ebenfalls in Barmen, in der Kirche<br />

St. Antonius 8 ).<br />

Wilhelm Bragard hatte in der Barmer Stadtverwaltung<br />

im Dezember 1918 zunächst als<br />

unbesoldeter Hilfsarbeiter begonnen, dann<br />

wurde er besoldeter Stadtassessor. 9 Am 30. August<br />

1919 bat er den Barmer Oberbürgermeister<br />

in einem Brief, mich als Beigeordneten zur<br />

Wahl zu stellen. (…) Seit Januar führe ich ununterbrochen<br />

die Geschäfte eines Beigeordneten,<br />

<strong>und</strong> zwar mit wechselndem Dezernat. Als<br />

Assessor kann ich die Dienstinteressen, besonders<br />

nach außen <strong>und</strong> gegenüber amtlichen<br />

Stellen, nicht wirksam genug vertreten. (…) Ich<br />

war dreieinhalb Jahre an der Front, erst Kanonier,<br />

zuletzt Batterieführer. Ich bin viereinhalb<br />

Jahre Assessor. Meine Frau wohnt seit 14 Jahren<br />

in Barmen. Wir wohnen jetzt noch bei den<br />

Schwiegereltern. Ich stamme aus dem Aachener<br />

Bezirk <strong>und</strong> bin im 33 Lebensjahr; ich bin<br />

ges<strong>und</strong>. 10<br />

Der Bitte wurde entsprochen <strong>und</strong> am 9.<br />

September 1919 wählte die Barmer Stadtverordnetenversammlung<br />

Wilhelm Bragard zum<br />

besoldeten Beigeordneten. Das Protokoll 11 vermerkte<br />

vor der Wahl eine kurze Erklärung des<br />

Stadtverordneten Paul Sauerbrey: Wir können<br />

Herrn Dr. Bragard unsere Stimme nicht geben,<br />

<strong>und</strong> zwar aus gr<strong>und</strong>sätzlichen Erwägungen<br />

heraus. Wir sind der Überzeugung, daß das<br />

bürgerliche Element in der Stadtverwaltung<br />

viel zu stark vertreten ist, <strong>und</strong> daß die Stadtverwaltung,<br />

der Zeit entsprechend, durch Vertreter<br />

aus der Arbeiterklasse verstärkt werden muß.<br />

Darauf ergriff der Oberbürgermeister das Wort<br />

<strong>und</strong> schilderte kurz <strong>und</strong> prägnant den bisherigen<br />

Lebenslauf Wilhelm Bragards <strong>und</strong> die Verdienste,<br />

die sich dieser bereits in der Barmer<br />

Stadtverwaltung erworben habe. Nun erwiderte<br />

Paul Sauerbrey: Ich will nur noch erklären, daß<br />

ich gegen die Person des Herrn Dr. Bragard<br />

natürlich nichts einzuwenden <strong>und</strong> vor seinen<br />

geistigen Kenntnissen alle Achtung habe. Bei<br />

der direkt anschließenden Wahl wurden 51<br />

Stimmzettel abgegeben; 44 Stimmen für Herrn<br />

Dr. Bragard, 6 weiße Zettel <strong>und</strong>, so das Protokoll,<br />

eine Stimme zersplittert [? RJ].<br />

Anläßlich seiner Amtseinführung am 28.<br />

Oktober 1919 sprach der neugewählte Beigeordnete<br />

Dr. Wilhelm Bragard der Barmer<br />

Stadtverordnetenversammlung seinen Dank<br />

aus: Das tue ich mit um so wärmerem Gefühl,<br />

weil Ihre Wahl schon nach kurzer Lehrlingszeit<br />

auf mich gefallen ist. Im Dezember vorigen<br />

Jahres kehrte ich aus dem Felde zurück <strong>und</strong><br />

kam nach Barmen. Wie sagt der Dichter?<br />

„Errötend folgt er ihren Spuren“. Seitdem habe<br />

ich in dieser Stadt eine Heimat gef<strong>und</strong>en, nämlich<br />

ein Heim <strong>und</strong> einen Beruf. Den Beruf<br />

werde ich, das verspreche ich Ihnen allen,<br />

meine Damen <strong>und</strong> Herren, stets so ausüben,<br />

wie es die Gr<strong>und</strong>sätze der Billigkeit, des Rechtes<br />

<strong>und</strong> der Menschlichkeit verlangen. Vor allem<br />

aber will ich stets bemüht sein, die Unparteilichkeit<br />

zu wahren. Ich weiß, diese Ansicht<br />

gilt heute hie <strong>und</strong> da als etwas hausbacken.<br />

Aber ich mache sie mir bewußt zu eigen. Und<br />

zweitens verspreche ich Ihnen Herr Oberbürgermeister,<br />

<strong>und</strong> Ihnen, meine sehr verehrten<br />

Damen <strong>und</strong> Herren, daß ich stets meine Pflicht<br />

<strong>und</strong> Schuldigkeit tun werde, mit jenem kategorischen<br />

Imperativ der Pflichterfüllung, der<br />

auch in Zukunft die Gr<strong>und</strong>lage der deutschen<br />

Verwaltung bilden muß (das Protokoll vermerkt<br />

an dieser Stelle: Bravo!). Und mögen Sie<br />

dermaleinst, so viele von Ihnen dann noch dieser<br />

hohen Versammlung angehören, mir das<br />

Zeugnis nicht versagen, daß ich mein Wort gehalten<br />

<strong>und</strong> es in die Tat umgesetzt habe (ein<br />

neuerliches, protokollarisch festgehaltenes<br />

Bravo!). 12<br />

Der nach Barmen zugereiste Beigeordnete<br />

Bragard scheint sich an seinem neuen Wirkungskreis<br />

wohl gefühlt zu haben. Als im März<br />

1921 das neue Barmer Rathaus feierlich eingeweiht<br />

wurde, verfasste er für diesen Ehrentag<br />

ein Lied Senatus Populus-Que Barmensis 13 mit<br />

elf Strophen, zu singen nach der Melodie O<br />

alte Burschenherrlichkeit – <strong>und</strong> sämtliche Festtagsteilnehmer<br />

sangen begeistert 14 :<br />

Hoch ragt das Haus der Bürgerschaft,<br />

Des Tales schöne Zierde,<br />

ein echtes Zeichen deutscher Kraft<br />

in schwerer Zeiten Bürde.<br />

Wem danken wir die grosse Tat?<br />

107


Senat <strong>und</strong> dem wohlweisen Rat.<br />

Ihr Loblied will ich singen.<br />

Ihr Loblied will ich singen.<br />

Es folgten neun Strophen, <strong>und</strong> dann der<br />

Schluss:<br />

Sagt Eueren Bänckchen nun Lebwohl,<br />

Stadtmütter <strong>und</strong> Stadtväter,<br />

bringt Meister Roth des Dankes Zoll,<br />

denn seine Kunst versteht er:<br />

der hohe Saal gibt goldnen Schein,<br />

Senat <strong>und</strong> Volk schauen fre<strong>und</strong>lich drein:<br />

Stadt Barmen, sie soll leben,<br />

Stadt Barmen, sie soll leben!<br />

Nach der Städtevereinigung im Jahre 1929<br />

wurde Wilhelm Bragard am 17. Januar 1930<br />

auch von der Stadtverordnetenversammlung<br />

der neuen Großstadt Wuppertal zum besoldeten<br />

Beigeordneten gewählt, daselbst auf die gesetzliche<br />

Amtsdauer von 12 Jahren, wie es ihm<br />

am 27. Januar 1930 durch eine Urk<strong>und</strong>e des<br />

Preußischen Staatsministeriums des Innern bestätigt<br />

wurde. 15 Handschriftlich fügte Wilhelm<br />

Bragard ganz unten am Rand der Urk<strong>und</strong>e mit<br />

Bleistift ein kleines Kästchen hinzu. Darin notierte<br />

er: Einführung: 28.1.30. Ablauf der Wahlperiode<br />

= Ablauf des – 28.1.42.<br />

Die Anstellungsurk<strong>und</strong>e der Stadt Wuppertal<br />

nahm etwas Zeit in Anspruch; sie wurde am<br />

10. Januar 1931 vom Oberbürgermeister unterzeichnet.<br />

Auch darin wurde die gesetzliche<br />

Amtsdauer von 12 Jahren festgehalten <strong>und</strong> des<br />

weiteren Ausführungen zu Gr<strong>und</strong>gehalt, Ruhegehalts-<br />

<strong>und</strong> Hinterbliebenenversorgung gemacht.<br />

16<br />

Bis zum Frühjahr 1933 leitete der Wuppertaler<br />

Beigeordnete Dr. jur. Wilhelm Bragard<br />

unterschiedliche Dezernate. Summa summarum<br />

konnte er bis zu diesem Zeitpunkt, so der<br />

Wuppertaler General-Anzeiger 20 Jahre <strong>und</strong><br />

ein tausendjähriges Reich später 17 , reiche Erfahrung<br />

in beinahe allen kommunalpolitischen<br />

Ressorts der früheren Stadt Barmen wie der<br />

späteren Großgemeinde Wuppertal erwerben.<br />

So als juristischer Sachbearbeiter für das Bauwesen<br />

wie arbeitsrechtlicher Fragen [wörtlich<br />

zitiert, RJ], als Dezernent für die Polizei, Berufsfeuerwehr,<br />

Verkehrs- <strong>und</strong> Straßenwesen,<br />

108<br />

Badeanstalten <strong>und</strong> Personalfragen – um seine<br />

Hauptaufgaben zu nennen. Auch in der heftigen<br />

Auseinandersetzung um die Städtezusammenlegung<br />

fehlt er mit einer klugen Denkschrift<br />

nicht.<br />

In der Schlussphase der Weimarer Republik<br />

war Wilhelm Bragard zudem, so der General-<br />

Anzeiger weiter, Vorsitzender des staatlichen<br />

Schlichtungsausschusses für das gesamte Bergische<br />

Land (…). Nach den Gr<strong>und</strong>sätzen, zu<br />

denen er sich bei seiner Einführung als Beigeordneter<br />

bekannt hatte, übte er auch dieses<br />

nicht weniger verantwortungsreiche als gefährliche<br />

Amt aus, ohne nach rechts oder links<br />

zu sehen. Selbst ein Attentat, bei dem in den<br />

turbulenten Jahren der Massenarbeitslosigkeit<br />

zwei Dutzend Schüsse auf seine Wohnung abgegeben<br />

wurden, konnte ihn in dieser Haltung<br />

nicht irre machen, obwohl damals der Tod hart<br />

an ihm vorbeiging.<br />

Tausendjähriger Ruhestand<br />

Anfang 1933 lebte das Ehepaar Bragard<br />

mit seinen drei Kindern, der 1920 geborenen<br />

Tochter Annemarie, dem 1926 geborenen Sohn<br />

Karl <strong>und</strong> der 1928 geborenen Tochter Eva in einem<br />

gediegen-gutbürgerlichen Haus, das nach<br />

den Vorstellungen des Paares 1927 in der Hebbelstraße<br />

gebaut worden war. Die Kinder liebten<br />

insbesondere den Garten, der sich über drei<br />

Etagen am Hang hinzog. Die Gesamtkosten für<br />

Gr<strong>und</strong>stück <strong>und</strong> Bau hatten 84.500 Reichsmark<br />

betragen, die Finanzierung war 1927 mit<br />

Hypotheken von Stadtsparkasse <strong>und</strong> Stadt <strong>und</strong><br />

einer Hauszinssteuerhypothek möglich gewesen<br />

(1937 betrug die Belastung noch 46.500<br />

Reichsmark). 18<br />

Die Bragards hatten viele Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Bekannte<br />

in, wie man so schön sagt, besseren<br />

Wuppertaler Kreisen, für die sie gerne Feste in<br />

ihrem Haus gaben. Auch sie selbst wurden häufig<br />

eingeladen. Sie gingen oft <strong>und</strong> gerne ins<br />

Konzert, ins Theater, in die Oper. Die älteste<br />

Tochter besuchte bereits die Schule, der kleine<br />

Sohn stand kurz vor der Einschulung. Kurzum,<br />

die Familie fühlte sich wohl in Wuppertal, der<br />

Stadt zugehörig.


Das alles änderte sich schlagartig nach der<br />

nationalsozialistischen Machtübernahme. Am<br />

12. März 1933 fanden in Wuppertal Kommunalwahlen<br />

statt. Unmittelbar danach begannen<br />

auch im Wuppertaler Rathaus, wie überall im<br />

Deutschen Reich, bereits vielfach angekündigte<br />

Säuberungen. Im Amtsblatt (<strong>und</strong> auch in<br />

der Wuppertaler Presse) wurden am 28. März<br />

1933 die Namen von 23 beurlaubten Beamten<br />

<strong>und</strong> Angestellten veröffentlicht. An der Spitze<br />

der Namensliste standen die Beigeordneten Dr.<br />

Bragard <strong>und</strong> Prof. Geßler. Dr. Bragard, der wegen<br />

seiner engen Beziehungen zum Zentrum<br />

von den Nationalsozialisten immer wieder angegriffen<br />

wurde, verwaltete seit 1930 das Personaldezernat;<br />

ferner unterstanden ihm das<br />

Organisationsamt <strong>und</strong> die Verkehrsbetriebe. 19<br />

In den ersten Wochen seiner Zwangsbeurlaubung<br />

renovierte der Ex-Beigeordnete Bragard<br />

zusammen mit seinem Nachbarn Hanns<br />

Krusenotto, einem von den Nationalsozialisten<br />

sofort entlassenen staatlichen Polizeihauptmann,<br />

die Häuser der beiden Familien. Zum<br />

krönenden Abschluss strichen die beiden Männer<br />

partnerschaftlich vom Dach bis zum Keller<br />

alles neu. Für die jeweiligen Waschküchen<br />

wählten sie die Farbe grasgrün. Decke, Wände,<br />

Regale, Waschzuber, alles wurde Grasgrün gestrichen.<br />

Der Polizeihauptmann Krusenotto<br />

war aus dem Amt entfernt worden, weil er, vor<br />

der Machtübernahme, eine turbulente Versammlung<br />

der Nationalsozialisten in einem<br />

Wuppertaler Lokal mit Polizeiknüppeln hatte<br />

auflösen lassen. Eine Tat, die ihm nicht vergessen<br />

worden war. Seine Frau erhielt dennoch<br />

vom Führer das goldene Mutterkreuz, für immerhin<br />

sieben Söhne <strong>und</strong> eine Tochter. 20<br />

Am 5. September 1933 veröffentlichte die<br />

Barmer Zeitung unter der zweispaltigen Überschrift<br />

Beig. Dr. Bragard wieder im Amt einen<br />

Artikel. Neben einem Photo Wilhelm Bragards<br />

war zu lesen, dass die Zwangsbeurlaubung des<br />

Beigeordneten Dr. Bragard vom 1. September<br />

ab aufgehoben worden sei. In dem kurzen Artikel<br />

folgte eine Art Fleckerlteppich an Zuständigkeiten,<br />

die der wieder eingesetzte Beigeordnete<br />

zukünftig zu übernehmen habe: Städtische<br />

Polizei mit Ausnahme der Bau-, Wege- <strong>und</strong> Wasserpolizei,<br />

ferner das Meldeamt, Eichwesen<br />

<strong>und</strong> das Chemische Untersuchungsamt, Handwerker,<br />

gewerbliche <strong>und</strong> landwirtschaftliche<br />

Angelegenheiten, Verwaltungsbücherei <strong>und</strong> die<br />

Schlacht- <strong>und</strong> Viehhöfe einschl. Fleischversorgung.<br />

Aus seinem alten Dezernat behält Dr.<br />

Bragard sämtliche Straßenbahn- <strong>und</strong> Autobusangelegenheiten.<br />

Er bleibt schließlich Vorstandsmitglied<br />

der Barmer Bergbahn A.G. Sein<br />

Amtszimmer befindet sich in Elberfeld. Die<br />

hier nicht genannten früheren Ressorts Dr.<br />

Bragards sind an den Oberbürgermeister bzw.<br />

an Beig. Dr. Beitzen gefallen. 21<br />

Diese Wiedereinsetzung beziehungsweise<br />

Abschiebung aus dem (in dem Artikel nicht genannten)<br />

Personaldezernat in politisch weniger<br />

brisante Aufgabenbereiche hatte allerdings nur<br />

kurzzeitig aufschiebende Wirkung. Am 18.<br />

Mai 1934 wurde dem Stadtrat Herrn Dr. Wilhelm<br />

Bragard in Wuppertal-Oberbarmen, Hebbelstr.<br />

9, ein Schreiben mit dem Briefkopf des<br />

Preußischen Ministers des Inneren zugestellt.<br />

Datum des Schreibens: Berlin, den 8. Mai<br />

1934. Der Inhalt war kurz <strong>und</strong> bündig: Auf<br />

Gr<strong>und</strong> des § 6 des Gesetzes zur Wiederherstellung<br />

des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933<br />

(RGBl. I S.175) in der Fassung des Gesetzes<br />

vom 23. Juni 1933(RGBl. I S.389) versetze ich<br />

Sie in den Ruhestand. In Vertretung (Unterschrift).<br />

22<br />

Das war’s! Wie mag es wohl in Wilhelm<br />

Bragard ausgesehen haben, als er diesen Bescheid<br />

in Händen hielt? Wie reagierte Elfriede<br />

Bragard, als ihr Mann ihr den Brief aus Berlin<br />

zeigte? Ein Schreiben, wie es so oder ähnlich<br />

lautend, damals zigtausendfach im Deutschen<br />

Reich verschickt worden war. Das berüchtigte,<br />

nicht zuletzt Intrigen <strong>und</strong> Denunziationen Tür<br />

<strong>und</strong> Tor öffnende Gesetz zur Wiederherstellung<br />

des Berufsbeamtentums ermöglichte nämlich<br />

den nationalsozialistisch gewordenen Behörden<br />

fließbandartig die fristlose Entlassung,<br />

umgehende Versetzung oder sofortige Pensionierung<br />

von politisch mißliebigen <strong>und</strong> nichtarischen<br />

Beamten <strong>und</strong> Angestellten im öffentlichen<br />

Dienst; also in Ämtern, Universitäten,<br />

Krankenhäusern, Justizbehörden usw.<br />

Zu seinen Kindern sagte der 46jährige Wilhelm<br />

Bragard: Ich gehe nun für tausend Jahre<br />

in den Ruhestand. 23 Hinter ihm dürfte ein ner-<br />

109


venaufreibendes, zermürbendes Jahr gelegen<br />

haben. Nach der Beurlaubung im März 1933<br />

bis zur endgültigen Amtsenthebung im Mai<br />

1934 war ihm von verschiedensten Seiten nahegelegt<br />

worden: Geh doch in die Partei! Sei<br />

doch nicht so stur. Mach doch dieses Zugeständnis.<br />

Denk doch an Deine Karriere, an<br />

Deine Frau, Deine Familie. Mach doch, wie so<br />

viele andere auch, nach außen, zum Schein wenigstens,<br />

Deinen Frieden mit den neuen Herren<br />

im Rathaus. Du vergibst Dir doch nicht viel damit.<br />

Aber er weigerte sich, in die Partei einzutreten.<br />

Das kam für ihn schlichtweg nicht in<br />

Frage.<br />

Viele Jahre später hat Wilhelm Bragard<br />

selbst die Gründe, die zu seiner zwangsweisen<br />

Pensionierung führten, so auf den Punkt gebracht:<br />

…wobei der Kreisleiter <strong>und</strong> der Gauleiter<br />

als Begründung ausdrücklich hervorhoben,<br />

dass der Beigeordnete Dr. Bragard nach<br />

der ganzen Art seiner Persönlichkeit keinerlei<br />

Gewähr für eine harmonische oder auch nur<br />

erträgliche Zusammenarbeit zwischen der<br />

Stadtverwaltung <strong>und</strong> der NSDAP verbürgt. 24<br />

Wilhelm Bragard dürfte, wenn man zu politischen<br />

Kategorisierungen greifen möchte,<br />

dem Zentrum nahegestanden haben. Ein Arrangement<br />

mit den neuen Machthabern im<br />

Wuppertaler Rathaus widersprach aber möglicherweise<br />

einfach seinem ausgeprägten Ehrgefühl,<br />

an das sich seine beiden Töchter noch<br />

fast vierzig Jahre nach dem Tod ihres Vaters<br />

eindringlich erinnerten. Dieser habe sich auch<br />

nie davor gescheut, seine Meinung laut <strong>und</strong><br />

deutlich zu sagen. Ob sein Gegenüber nun politisch<br />

rechts oder links gestanden sei. Ob es<br />

sich um einen Vorgesetzten oder sonst eine<br />

wichtige Persönlichkeit gehandelt habe.<br />

Wilhelm Bragard dürfte 1933 auch das<br />

Motto In dubio pro libertate! seiner Promotion<br />

von 1915 nicht vergessen haben. Und es war<br />

ihm offensichtlich mit jenem kategorischen Imperativ<br />

der Pflichterfüllung, den er 1919 vor<br />

der Barmer Stadtverordnetenversammlung als<br />

Maßstab seiner Arbeit genannt hatte, bitter<br />

ernst gewesen. Allerdings rief in Wuppertal<br />

jetzt niemand mehr laut Bravo!<br />

Im Gegenteil. Nachdem endgültig feststand,<br />

dass zwischen dem Beigeordneten Bra-<br />

110<br />

gard <strong>und</strong> den neuen Herren im Rathaus offenbar<br />

keine gütliche Einigung möglich war,<br />

wurde es für die Bragards in Wuppertal von<br />

Tag zu Tag schwieriger. Alte Bekannte <strong>und</strong><br />

gute Fre<strong>und</strong>e der Familie wechselten plötzlich<br />

auf die andere Straßenseite, damit sie den geschassten<br />

Beigeordneten ohne Parteibuch 25<br />

<strong>und</strong>/oder seine Frau nicht mehr grüßen mussten.<br />

Die Einladungen blieben aus. Die Fre<strong>und</strong>e<br />

der Kinder zogen sich zurück. Allerdings gab<br />

es wenige Ausnahmen. Lisa von Einern gehörte<br />

dazu. Die hochgebildete Fabrikantenehefrau<br />

mit Berliner Schnauze, so die Erinnerung<br />

der jüngsten Tochter Bragard Jahrzehnte später,<br />

hätte sich durch nichts davon abbringen<br />

lassen, weiter Kontakt zu den Bragards zu halten.<br />

Sie hätte immer zu der Familie gestanden.<br />

Die Situation wurde rasch so unerträglich,<br />

dass die Bragards im Herbst 1934 ihr Haus in<br />

der Hebbelstraße vermieteten <strong>und</strong> nach Aachen,<br />

der Heimatstadt Wilhelm Bragards, umzogen.<br />

In sehr viel kleinere Verhältnisse. Ihre<br />

Mutter sei an der Situation fast zerbrochen, erinnerten<br />

sich beide Töchter fast siebzig Jahre<br />

später.<br />

Wilhelm Bragard verbrachte den ihm aufgezwungenen<br />

Ruhestand bis Kriegsbeginn<br />

1939 mit dem Lesen der Schriften griechischer<br />

<strong>und</strong> lateinischer Autoren im Original: Homer,<br />

Epikur, Cicero. Er ging regelmäßig ins<br />

Schwimmbad <strong>und</strong> brachte seinem kleinen<br />

Sohn <strong>und</strong> seiner jüngsten Tochter das Schwimmen<br />

bei. Er überwachte kontinuierlich <strong>und</strong><br />

strikt die Schularbeiten seiner Kinder. Er besuchte<br />

regelmäßig seine in Aachen lebenden<br />

Geschwister <strong>und</strong> traf sich mit ihnen zu<br />

wöchentlichen Bridge-Abenden. Er las viel<br />

<strong>und</strong> zitierte oft Heinrich Heine, dessen gelegentlich<br />

beißender Humor dem seinen verwandt<br />

gewesen sein dürfte. Auch sonst dürfte<br />

ihn einiges mit dem ab 1933 in Deutschland<br />

verfemten Dichter verb<strong>und</strong>en haben, der lebenslang<br />

an Deutschland, ein Wintermärchen<br />

gelitten <strong>und</strong> bereits 1820 geschrieben hatte:<br />

Das war ein Vorspiel nur, dort, wo man Bücher<br />

verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.<br />

Wilhelm Bragard sprach nach 1945 kaum<br />

noch über die Zeit zwischen 1933 <strong>und</strong> 1945.


Auch diesbezügliche schriftliche Äußerungen<br />

fehlen weitgehend. Eine der wenigen Ausnahmen<br />

war wohl ein Brief an seine Schwester<br />

Inge Wollny vom 12. April 1947:<br />

In diesem Jahre werde ich 60 Jahre. Mit 45<br />

wurde ich von den Nazis aus Amt <strong>und</strong> Brot geworfen.<br />

Als ich nach Aachen kam, wollte ich<br />

Rechtsanwalt werden, weil ich ja die Befähigung<br />

zum Richteramt habe, die dazu erforderlich<br />

ist. Aber ich wurde zur Gestapo geladen.<br />

Dort fragte man mich, warum ich so nahe an<br />

die Reichsgrenze ziehe, <strong>und</strong> was ich in Aachen<br />

wollte. Dann sagte man mir, man würde mir<br />

von der Gestapo alle Schwierigkeiten machen,<br />

damit ich nicht die Rechtsanwaltspraxis ausüben<br />

könnte. Was nützten mir da meine Vorbildung<br />

<strong>und</strong> meine Befähigung? Was nützten mir<br />

Gesetz <strong>und</strong> Recht? Hermann Göring hatte befohlen:<br />

„Recht ist, was dem Staate nützt.“ In all<br />

den Jahren in Aachen habe ich versucht, eine<br />

Beschäftigung zu bekommen, als Gr<strong>und</strong>stücksverwalter<br />

oder irgend eine andere Beschäftigung,<br />

die in normalen Fällen für mich als Jurist<br />

leicht zu finden gewesen wäre. Die Verhandlungen<br />

mit den Firmen gelangen immer<br />

bis zu dem Punkte, wo mein Verhältnis zu den<br />

Nazis zur Sprache kam. Dann zog man sich mit<br />

Bedauern von mir zurück. Auf diese Weise bin<br />

ich die ganzen Jahre arbeitslos gewesen. Ich<br />

hatte nur die kleine Pension für mich <strong>und</strong><br />

meine Familie. Außerdem zogen sich alle meine<br />

Bekannten von mir zurück. Es hätte ihnen geschadet,<br />

wenn sie mit mir verkehrt hätten. 26<br />

1945 lag Deutschland in Trümmern <strong>und</strong> der<br />

grauenvolle Krieg war zu Ende, zu dem Wilhelm<br />

Bragard, inzwischen 52 Jahre alt, am 28.<br />

August 1939 einberufen worden war. Zuerst als<br />

Hauptmann der Reserve in Idar-Oberstein,<br />

schließlich als Verbindungsoffizier für Luftschutz<br />

des Luftgaukommandos Westfrankreich<br />

bei der Einheit Feldpost Nr. 0661. Im Felde<br />

schrieb er im Juni 1944 einen Lebenslauf, in<br />

dessen Briefkopf er Stadtrat a. D. – Major<br />

setzte, in dieser Reihenfolge. 27<br />

In den allerletzten Kriegswochen verschlug<br />

es Wilhelm Bragard ins Bayerische, wo er in<br />

den allerletzten Tagen des Krieges, 57jährig,<br />

beinahe noch als Volkssturmmann am Endkampf<br />

hätte teilnehmen müssen. 28 Am 5. April<br />

1945 wurde der Major d. R. Stadtrat a. D. Dr.<br />

Wilhelm Bragard dann aber im Luftwaffenlazarett<br />

in München-Oberföhring begutachtet. 29<br />

Der dortige Oberstabsarzt attestierte ihm<br />

(möglicherweise durch Vermittlung des jüngeren<br />

Bruders Prof. Karl Bragard 30 ): Eine geregelte<br />

normale Dienstleistung ohne besondere<br />

Anstrengung ist möglich. Zusätzliche Belastungen<br />

sind kontraindiziert. 31<br />

Wann <strong>und</strong> wie erfuhren Wilhelm Bragard<br />

<strong>und</strong> seine Frau, weit voneinander entfernt, in<br />

den Turbulenzen der letzten Kriegszeit von der<br />

schweren Verw<strong>und</strong>ung ihres einzigen Sohnes?<br />

32 Der am 21. Juni 1926 geborene Schüler<br />

Karl Eugenius Servas Bragard war Kanonier in<br />

einer Flak-Sturmabteilung, als er am 23. Januar<br />

1945 bei Blankenheim in der Eifel durch<br />

Kreuzbein- <strong>und</strong> Bauchschuß schwer verw<strong>und</strong>et<br />

wurde. Die letzten Monate seines Lebens verbrachte<br />

er in einem Lazarett in Bad Königstein<br />

im Taunus <strong>und</strong> wartete auf seinen Vater. Dieser<br />

setzte in den Wochen nach Kriegsende Himmel<br />

<strong>und</strong> Hölle in Bewegung, um zu seinem Sohn zu<br />

gelangen. Aber einfach so irgendwo hin fahren<br />

war im Frühsommer 1945 in Deutschland nicht<br />

möglich. Die Infrastruktur des Landes war<br />

vollkommen zerstört. Man benötigte Genehmigungen<br />

der Militärregierungen <strong>und</strong> Passierscheine<br />

für Sektorengrenzen, man brauchte<br />

Mitfahrgelegenheiten <strong>und</strong> Organisationstalent.<br />

Wilhelm Bragard schaffte es schließlich irgendwie,<br />

nach Bad Königstein zu kommen. In<br />

der gleichen Nacht noch starb sein Sohn, im<br />

Beisein des Vaters, am 5. August 1945. Karl<br />

Bragard wurde auf einem Soldatenfriedhof bei<br />

Bad Königstein bestattet. Ein schlichtes Kreuz<br />

in endlosen Reihen weiterer Kreuze.<br />

Stadtkämmerer in Wuppertal<br />

Ende August 1945 nahm Wilhelm Bragard,<br />

inzwischen 58 Jahre alt geworden, seine Arbeit<br />

in der Wuppertaler Stadtverwaltung wieder<br />

auf. Der von der amerikanischen Militärregierung<br />

bestellte Wuppertaler Oberbürgermeister<br />

Eugen Thomas beauftragte ihn als Stadtkämmerer<br />

mit der Verwaltung des Geldwesens der<br />

Stadt Wuppertal <strong>und</strong> übertrug ihm zusätzlich<br />

111


das Dezernat für das Bildungswesen. 33 Am 21.<br />

Juli 1947 erhielt Wilhelm Bragard eine von<br />

Oberbürgermeister Robert Daum <strong>und</strong> Bürgermeister<br />

Dr. Klaus Brauda unterzeichnete Anstellungsurk<strong>und</strong>e<br />

der Stadt Wuppertal, nachdem<br />

ihn die Stadtvertretung am 16. Juli 1947<br />

zum Beigeordneten <strong>und</strong> Stadtkämmerer für die<br />

in der Satzung für den Stadtkreis Wuppertal<br />

festgesetzte Amtsdauer von 12 Jahren gewählt<br />

hatte. 34 Wieder einmal, wie 1930 schon, kurz<br />

vor Beginn des schließlich 12 Jahre dauernden<br />

Tausendjährigen Reiches.<br />

Zu den ersten Aufgaben des Stadtkämmerers<br />

gehörte ein Vorbericht zum Haushaltsplan<br />

1947, in dem er die Bestandsaufnahmen verschiedener<br />

Referate über das Ausmaß der Zerstörung<br />

Wuppertals zusammenstellte, unter anderem<br />

in den Bereichen Fürsorge-, Ges<strong>und</strong>heits-<br />

<strong>und</strong> Kulturwesen oder Wiederaufbau. 35<br />

Die Bilanzen sahen so aus:<br />

6. Wiederaufbau, 671 Trümmerbeseitigung:<br />

Die Trümmerbeseitigung hat im Rechnungsjahr<br />

1946 weitere Fortschritte gemacht.<br />

In der Zeit vom 1. April bis 31. Dezember 1946<br />

wurden 65000 cbm Trümmermassen bewältigt.<br />

Hiervon sind 1 000 cbm durch Brecheranlagen,<br />

die an sechs Stellen der Stadt aufgestellt sind,<br />

verarbeitet worden. An wiederverwendungsfähigen<br />

Baustoffen wurden hierbei gewonnen:<br />

Ziegelsteinen r<strong>und</strong> 4 Millionen Stück, Sand <strong>und</strong><br />

Splitt r<strong>und</strong> 13000 cbm, Schrott r<strong>und</strong> 530 Tonnen,<br />

Nutzeisen r<strong>und</strong> 200 Tonnen.<br />

672 Instandsetzung von Wohnhäusern:<br />

Von den im Jahre 1938 vorhanden gewesenen<br />

29600 privaten Wohngebäuden mit 133000<br />

Wohnungen wurden 19338 Gebäude durch<br />

Kriegseinwirkung teils zerstört, teils beschädigt.<br />

In diesen Gebäuden befanden sich 86545<br />

Wohnungen. Bis Ende Dezember 1946 konnten<br />

31683 größtenteils leicht beschädigte Wohnungen<br />

wieder instandgesetzt werden. Hiervon<br />

entfallen auf winterfest gemachte Wohnungen<br />

im Kalenderjahr 1946 7602.<br />

Das Bragardsche Haus hatte den Krieg einigermaßen<br />

überstanden <strong>und</strong> Wilhelm Bragard<br />

konnte am 2. August 1947 seinem Bruder Hans<br />

mitteilen: Das Haus Hebbelstr. 9 ist erhalten<br />

geblieben. Mein Bestreben ist es gewesen, es<br />

wieder instand zu setzen. R<strong>und</strong>herum ist fast<br />

112<br />

ganz Oberbarmen zerstört. Die Straße zum Tölleturm<br />

mit den zahlreichen schönen Villen ist<br />

gänzlich zerstört. Man sieht sie gar nicht, die<br />

Trümmer, wenn man nicht selbst drin wohnt.<br />

Aber unser Haus ist wieder in Ordnung. Der<br />

Garten ist 20 Jahre alt <strong>und</strong> sieht w<strong>und</strong>erbar<br />

aus. Effi hat ihn jetzt zum großen Teil mit<br />

Gemüse angepflanzt. Das ist uns eine große<br />

Hilfe. Ich habe noch im unteren Garten ein<br />

Stück dazu erworben, um den Garten zu vergrößern.<br />

36<br />

Ende 1947 veröffentlichte die Wuppertaler<br />

Stadtverwaltung ein 167 Seiten umfassendes<br />

Buch: Wuppertal im Kampf gegen die Not. 37<br />

Der vorletzte Beitrag Gemeindefinanzen in der<br />

Krisenzeit stammte vom Stadtkämmerer Beigeordneten<br />

Dr. Bragard <strong>und</strong> begann:<br />

Deutschland ist arm <strong>und</strong> ruiniert aus dem<br />

Krieg herausgegangen. Es laboriert an den<br />

Schlüsselpositionen Ernährung <strong>und</strong> Kohle.<br />

(…) Die Zerstörungen materieller <strong>und</strong> ideeller<br />

Art sind grauenvoll. Konstruktive Gedanken<br />

sind in den Nachkriegstrümmern noch nicht zu<br />

entdecken. In Deutschland ist die Stimmung<br />

verzweifelter als alles, was man in den<br />

schlimmsten Zeiten des Krieges hörte <strong>und</strong> flüsterte.<br />

Die ganze Ruhr ist ein Inferno, <strong>und</strong> seine<br />

Teufel heißen: Hunger, Trümmer, Schwindsucht<br />

<strong>und</strong> Kummer.<br />

Es folgte ein Gedicht von Heinrich Heine:<br />

Im hungrigen Magen Eingang finden<br />

Nur Suppenlogik mit Knödelgründen,<br />

Nur Argumente von Rinderbraten,<br />

Begleitet mit schweinernen Wurst-Zitaten<br />

Ein schweigender Stockfisch, in Butter gesotten,<br />

Behagt den darbenden Rotten<br />

Viel besser als ein Mirabeau<br />

Und alle Redner seit Cicero.<br />

Dann fuhr der Stadtkämmerer fort:<br />

In Wuppertal waren im Mai 1947 aufgerufen<br />

täglich nur 215 Gramm Brot <strong>und</strong> 14 Gramm<br />

Zucker. Keine Nährmittel, kein Fett, kein<br />

Fleisch, kein Fisch, keine Kartoffeln, kein<br />

Gemüse. Nichts. Hingegen bedroht ein neues<br />

Gesetz jeden Austausch von bewirtschafteten<br />

Gütern mit Zuchthaus. Kann man aber den<br />

heutigen Notstand mit einer kalten juristischen


Formel erfassen? Moralisch jedenfalls nicht:<br />

Was lehrt uns die Schrift? Das fünfte Gebot<br />

Gottes lautet: Du sollst nicht töten. Das siebente<br />

Gebot lautet: Du sollst nicht stehlen. Wer<br />

zusieht, wie seine Kinder Hungers sterben, tötet.<br />

Wer sich Lebensmittel verschafft, entgegen<br />

den Bewirtschaftungsgesetzen, stiehlt. Beide<br />

Gebote Gottes streiten miteinander. Das stärkere<br />

Gebot aber ist das Gebot: Du sollst nicht<br />

töten!<br />

Dass auch die Bragards nach Kriegsende<br />

zunächst hungerten, geht aus dem bereits weiter<br />

oben zitierten Brief hervor, den Wilhelm<br />

Bragard im April 1947 an seine Schwester Inge<br />

Wollny schrieb: Kein Fleisch, kein Fett, keine<br />

Nährmittel, kein Zucker, keine Marmelade,<br />

kein Gemüse, garnichts. Hier in den Großstädten<br />

ist es am schlimmsten. Wenn man dazu noch<br />

Beamter ist, dann hat man auch nichts zu kompensieren<br />

(wie ein Geschäftsmann). Deswegen<br />

hungert meine Familie nun schon seit über 1<br />

Jahr, das heißt, seitdem sie aus Aachen hierher<br />

gezogen ist. In Aachen war es damals, wie<br />

meine Frau mir erzählte, nicht so schlimm.<br />

Mittlerweile wird es ja wohl auch schlimmer<br />

geworden sein. 38<br />

Das Schlußwort in der Publikation Wuppertal<br />

im Kampf gegen die Not von 1947 hatte<br />

Oberbürgermeister Robert Daum. Er endete<br />

mit den Worten: Not <strong>und</strong> Elend füllen die Seiten<br />

dieses Buches. Not <strong>und</strong> Elend als Folge von<br />

beispiellosen Verbrechen einer Volksführung.<br />

Die nachfolgende Generation soll die Seiten<br />

dieses Buches weiterschreiben <strong>und</strong> berichten<br />

von den Lehren, die die heutige Jugend aus dieser<br />

Zeit gezogen hat. Die nachfolgende Generation<br />

soll berichten über Humanität <strong>und</strong> Toleranz,<br />

soll berichten über die neue Eroberung<br />

des Ansehens Wuppertals in der ganzen Welt.<br />

An der Schwelle der neuen Zeit, des neuen Anfangs,<br />

grüßen wir die kommende Generation.<br />

Zweiter Ruhestand<br />

Am 30. Juni 1951 schrieb Wilhelm Bragard<br />

an den Oberstadtdirektor von Wuppertal:<br />

Gemäß Artikel 131 des B<strong>und</strong>es-Gr<strong>und</strong>gesetzes<br />

<strong>und</strong> dem B<strong>und</strong>esgesetz zur Regelung der Wie-<br />

dergutmachung nationalsozialistischen Unrechts<br />

für Angehörige des öffentlichen Dienstes<br />

vom 11. Mai 1951 melde ich vorsorglich meinen<br />

Wiedergutmachungsanspruch an, weil ich<br />

als Beamter vorzeitig in den Ruhestand versetzt<br />

wurde. Im März 1933 wurde ich aus dem<br />

Amt entfernt <strong>und</strong> im Mai 1934 nach § 6 des Gesetzes<br />

„zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“<br />

in den Ruhestand versetzt. 39<br />

Die Wiedergutmachung schien sich hingezogen<br />

zu haben. Am 28. November 1958 erhielt<br />

Wilhelm Bragard dann einen abschließenden<br />

Bescheid des Regierungspräsidenten aus<br />

Düsseldorf. 40 Demzufolge bekam er aufgr<strong>und</strong><br />

mehrseitiger, hochkomplizierter Berechnungen<br />

eine Kapitalentschädigung von 391,38<br />

DM, in Worten: Dreih<strong>und</strong>ertein<strong>und</strong>neunzig<br />

Deutsche Mark 38 Pfg. Die Entscheidung ergeht<br />

auslagen- <strong>und</strong> gebührenfrei. Gegen den<br />

Bescheid hätte man innerhalb einer Frist von<br />

drei Monaten vom Tage der Zustellung an<br />

Klage gegen das Land Nordrhein-Westfalen erheben<br />

können. Wilhelm Bragard schickte aber<br />

am 18. Dezember 1958 nur eine schlichte Postkarte:<br />

An den Herrn Regierungspräsidenten<br />

Düsseldorf. 14 A (13) Z K 236 043, Bescheid v.<br />

28.11.58. Bitte überweisen Sie den Betrag von<br />

391,38 DM auf mein Postscheckkonto Köln.<br />

Hochachtungsvoll! Wilhelm Bragard. 41<br />

Zwanzig Jahre nach dem Frühjahr 1933<br />

ging der Stadtkämmerer Dr. Bragard am 30.<br />

September 1953 zum zweiten Mal in den Ruhestand.<br />

Diesmal aus Altersgründen <strong>und</strong> ehrenvoll<br />

von der Stadt Wuppertal verabschiedet.<br />

Seine Mitarbeiter überreichten ihm eine Urk<strong>und</strong>e,<br />

in der es in zierlicher Sütterlinschrift<br />

hieß: Wir werden aber eingedenk bleiben unseres<br />

allerbesten langjährigen Chefs, der nicht<br />

nur Vorgesetzter war, sondern als Mensch uns<br />

nahestand, der in echter väterlicher Weise stets<br />

besorgt war um das Wohlergehen <strong>und</strong> das Weiterkommen<br />

seiner Beamten <strong>und</strong> Angestellten;<br />

der nicht anders konnte als zu helfen, wo immer<br />

auch nur der Schein einer Notlage ihm erkennbar<br />

wurde. 192 Frauen <strong>und</strong> Männer, Beamte<br />

<strong>und</strong> Angestellte, hatten handschriftlich<br />

unterzeichnet <strong>und</strong> ihren Abschiedsgruß mit<br />

dem Wunsch verb<strong>und</strong>en, dass dem hochverehrten<br />

Stadtkämmerer noch viele Jahre bei bester<br />

113


Ges<strong>und</strong>heit in geistiger <strong>und</strong> körperlicher Frische<br />

beschieden sein mögen. 42<br />

Am 8. Mai 1956 veröffentlichte die Neue<br />

Rhein Zeitung ein mit –ve unterzeichnetes Interview<br />

43 :<br />

„Alles im Leben ist Eitelkeit, nur nicht die<br />

Heiterkeit“, dieses Zitat schwebt über dem Gespräch<br />

des Chronisten mit Dr. Wilhelm Bragard,<br />

„abgestandener Stadtkämmerer“, wie er<br />

selbst schmunzelnd seinen Ruhestand umschreibt.<br />

Und der Ruhestand bekommt dem<br />

68jährigen, der eine anziehende <strong>und</strong> menschlich<br />

immer noch wachsende Kultiviertheit in<br />

den Lebensstil eines Mannes der Muße zu bringen<br />

weiß, besonders gut.<br />

„Seit ich meinen Leichenwagen los bin,<br />

habe ich ohne Pillen zehn Kilo abgenommen<br />

<strong>und</strong> fühle mich ausgezeichnet“, plaudert der<br />

weißhaarige Pensionär, <strong>und</strong> mit dem „Leichenwagen“<br />

meint er seinen Dienstwagen, einen<br />

schwarzen Mercedes. Ohne ihn auch nur<br />

einmal zurückzuwünschen, steigt der zitatenbeschlagene<br />

Anhänger humanistischer Bildung,<br />

wie er selbst berichtet, nach einem Besuch in<br />

den „Thermen der Caracalla“ (Städtische Badeanstalt,<br />

Kleine Flurstraße) über Barmens<br />

„Kurfürstendamm“ (Höhne) zur Höhe der Barmer<br />

Anlagen herauf. An der Talstraße überkommen<br />

den früheren Wächter über Wuppertals<br />

Finanzen wonnige Ruhestandsgefühle,<br />

denn „ich freue mich, daß die teure Straße so<br />

weit vorangebracht worden ist, ich bin aber<br />

auch ebenso froh, daß ich es nicht bin, der sich<br />

um weitere Millionen für dieses Projekt sorgen<br />

muß.“<br />

Die D-Mark verschlingenden Leistungen<br />

der Architekten wertet Dr. Bragard im großen<br />

<strong>und</strong> ganzen als „entweder aufrecht stehende<br />

oder liegende Zigarrenkisten“. Vorbei an zwei<br />

solcher Zigarrenkisten führt ihn sein regelmäßiger<br />

Spazierweg auf die Höhe des Toelleturmes.<br />

„Auf diesem 180-Meter-Gipfel blicke<br />

ich mich in dem Bewußtsein um, daß ich jetzt<br />

immerhin 30 Meter höher hinaufgeklettert bin,<br />

als die Turmspitze des Kölner Domes reicht.“<br />

Vom Stadtgetöse dagegen wendet Wilhelm Bragard<br />

sich mit Grausen. Er liebt die Landschaft,<br />

die dem Menschen Stille gewährt. Stille zur inneren<br />

Sammlung, zur Ruhe nach Hast <strong>und</strong><br />

114<br />

Lärm <strong>und</strong> Anregung zu einem nicht außenbedingten<br />

Denken.<br />

„Wofür ich mich alles interessiere ist<br />

schwer aufzuzählen“, nimmt Dr. Bragard eine<br />

Frage des Chronisten vorweg, „wenn man es<br />

genau feststellen wollte, wäre es methodisch<br />

leichter zu fragen, wofür ich mich nicht interessiere.“<br />

Aber den rüstigen 68jährigen mit den<br />

hellen Augen interessiert gr<strong>und</strong>sätzlich alles.<br />

Und seine Klassiker liebt er ganz besonders.<br />

Aus ihnen schöpft er einen Teil jener gelassenen<br />

Heiterkeit, die seinem Ruhestand einen so<br />

sinnvollen <strong>und</strong> menschlich so sympathischen<br />

Zug gibt.<br />

Seinen 70. Geburtstag verbrachte Wilhelm<br />

Bragard mit seiner Frau im autofreien, weltabgeschiedenen<br />

Braunwald in der Schweiz <strong>und</strong><br />

entging damit jeglichem Jubiläumstrubel in<br />

Wuppertal. An Pfingsten 1959 stiftete er (sich)<br />

eine Bank für die Barmer Anlagen, durch die<br />

ihn sein täglicher Spaziergang führte. Die Stiftung<br />

enthielt eine Auflage, die er dem Barmer<br />

Verschönerungs-Verein machte: Hierdurch<br />

stifte ich die Bank neben der Bank von Robert<br />

Daum am Carl-Neumann-Weg 44 , mit der Auflage,<br />

daß beide Bänke nebeneinander bleiben<br />

müssen <strong>und</strong> höchstens zusammen verrückt werden<br />

dürfen. Bitte schreiben Sie auf das<br />

Schildchen: Gestiftet von Dr. Bragard – <strong>und</strong><br />

schicken Sie mir bitte die Rechnung.<br />

Am 29. Mai 1959 informierte der Verschönerungs-Verein<br />

den sehr geehrten Herrn Dr.<br />

Bragard: Dieser Brief wird Ihnen sicherlich in<br />

den Urlaub nachgesandt. Daher wünschen wir<br />

Ihnen <strong>und</strong> Ihrer Gattin recht gute Erholung<br />

<strong>und</strong> vom Guten das Beste in der bunten, fernen<br />

Welt. Heute haben wir „Ihre“ Bank, neben derjenigen<br />

von Herrn Daum, beschildert <strong>und</strong> wünschen<br />

Ihnen, dass Sie noch manche Jahre in<br />

Ges<strong>und</strong>heit dieses schöne Fleckchen Erde, am<br />

Paul-Neumann-Weg 45 , besuchen können.<br />

Wilhelm Bragard konnte seine Bank in den<br />

Barmer Anlagen noch vier Jahre lang genießen.<br />

Vielleicht las er dort im September<br />

1962 in seiner Zeitung einen kleinen Artikel<br />

mit der Überschrift: Keine Aussagepflicht vor<br />

der Polizei. Der Artikel lautete:<br />

Der B<strong>und</strong>esgerichtshof hat sich vor kurzem<br />

mit einer Frage befaßt, die alle Staatsbürger


angeht: Darf die Polizei auch dann einen Beschuldigten<br />

oder Zeugen zur polizeilichen Vernehmung<br />

vorführen, wenn keine Gründe für<br />

eine vorläufige Festnahme vorliegen? Da jeder<br />

einmal in diese Lage kommen kann, ist es wichtig,<br />

die Antwort der Richter zu kennen.<br />

Nach der Strafprozeßordnung, so stellte der<br />

B<strong>und</strong>esgerichtshof in Karlsruhe fest, ist niemand<br />

verpflichtet, vor der Polizei auszusagen.<br />

Deshalb hat auch die Polizei kein Recht, einen<br />

Verdächtigen oder Zeugen zwangsweise zur<br />

polizeilichen Vernehmung vorzuführen. Wenn<br />

auch bisweilen die Ansicht vertreten werde,<br />

meinte der B<strong>und</strong>esgerichtshof, die zwangsweise<br />

Vorführung sei erlaubt, solange es der<br />

Beschuldigte oder Zeuge nicht ausdrücklich<br />

abgelehnt habe, vor der Polizei auszusagen, so<br />

werde verkannt, daß die Weigerung zur Vernehmung<br />

zu kommen, gewöhnlich die Erklärung<br />

enthalte, vor der Polizei nicht aussagen zu wollen.<br />

Eine dennoch vorgenommene Vorführung<br />

sei gesetzwidrig. Nur ein Richter sei dann zur<br />

Vernehmung berechtigt (Aktz.: IV STR 511/61).<br />

Wo auch immer Wilhelm Bragard diesen<br />

Artikel gelesen haben mag, er schnitt ihn jedenfalls<br />

aus <strong>und</strong> klebte ihn, sorgfältig mit der<br />

Quellenangabe Generalanzeiger 15.9.62 versehen,<br />

auf Seite 75 in seine Doktorarbeit Darf die<br />

Polizei Auskunft verlangen? In das Exemplar,<br />

das er 45 Jahre zuvor seiner damals noch<br />

zukünftigen Frau mit Widmung überreicht<br />

hatte: Fräulein Elfriede Willach gewidmet,<br />

Flandern, im Dezember 1917. Wilhelm Bragard,<br />

Leutnant d. R.<br />

„Ich habe es doch gleich gesagt“, mag sich<br />

Wilhelm Bragard im September 1962 in den<br />

Barmer Anlagen über der Stadt gedacht haben.<br />

Und vielleicht philosophierte er auf seiner<br />

Bank neben der Bank von Rob Daum ein bisschen<br />

darüber, wie wenig sich doch in mancher<br />

Hinsicht Zeiten respektive Fragestellungen zu<br />

ändern scheinen. Er konnte das ja beurteilen,<br />

nachdem er ein Kaiserreich, den Ersten Weltkrieg,<br />

die Weimarer Republik, ein zwölf lange<br />

Jahre dauerndes, auf tausend Jahre angelegtes<br />

Drittes Reich sowie einen zweiten, noch mörderischeren<br />

Weltkrieg durch- <strong>und</strong> überlebt<br />

hatte <strong>und</strong> in der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland<br />

angekommen war.<br />

Dr. Wilhelm Bragard starb am 1. Juli 1963<br />

im Freudenstädter Kreiskrankenhaus. Er wurde<br />

wenige Tage später auf dem Evangelischen<br />

Friedhof in Wuppertal-Barmen bestattet. In unmittelbarer<br />

Nähe seines Hauses in der Hebbelstraße.<br />

Seine Frau Elfriede Bragard, geb. Willach,<br />

mit der er 44 Jahre lang verheiratet gewesen<br />

war, folgte ihm am 18. Dezember 1965.<br />

Postskriptum<br />

Lieber Herr Bragard! Dieser Tage fand ich<br />

zufällig das niedliche Lied, das anlässlich der<br />

Einweihung des Barmer Rathauses im März<br />

1921 von allen Festteilnehmern so begeistert<br />

mitgesungen worden ist, als dessen Verfasser<br />

Sie wohl in Frage kommen. Für den Fall, dass<br />

Sie den Text nicht mehr besitzen sollten, habe<br />

ich Ihnen diese Abschrift zugedacht; sie ist<br />

auch dem Herrn Landtagspräsidenten Dr.<br />

Neinhaus zugegangen, der mich vor einigen<br />

Monaten daraufhin angesprochen hat. Ich<br />

hoffe, Ihnen eine Freude gemacht zu haben.<br />

Diesen Brief46 schrieb Alfred Dobbert, Direktor<br />

bei den Provinzial-Versicherungsanstalten<br />

der Rheinprovinz Düsseldorf, am 14. April<br />

1959 an den Beigeordneten i. R. Wilhelm Bragard.<br />

Bevor dieser das Schreiben <strong>und</strong> das<br />

elfstrophige Lied auf vier Seiten dünnem<br />

Durchschlagpapier in seinem Aktenordner unter<br />

Stadtverwaltung einsortierte, antwortete er<br />

am 16. April 1959 dem Vizepräsidenten des<br />

Landtags (<strong>und</strong> tippte den Durchschlag seines<br />

Schreibens auf die Rückseite des vierten Liedblattes):<br />

Lieber Herr Dobbert! Mit Ihrer fre<strong>und</strong>lichen<br />

Übersendung meines Gedichts von 1921<br />

bereiteten Sie mir eine große Freude; denn ich<br />

habe es nicht mehr. Es klang mir nun gleich<br />

einer halbverklungenen alten Sage, <strong>und</strong> ich<br />

kann beinahe dem diesjährigen Jubilar Schiller<br />

kongenial auf die Schulter klopfen <strong>und</strong><br />

wenn demnächst mein letztes Stündlein schlägt,<br />

mit Nero ausrufen:<br />

„Welch ein Künstler geht mit mir zugr<strong>und</strong>e“<br />

„Qualis poeta pereo!“<br />

Mit herzlichen Grüßen von Haus zu Haus.<br />

Ihr Ihnen ganz ergebener Wilhelm Bragard.<br />

115


Anmerkungen:<br />

* Meiner Schwester Dr. Irene Kappler, geb. Jäckle<br />

gewidmet. Sie starb am 7. Juni 1996 gerade 50jährig<br />

in Freudenstadt-Baiersbronn. Seit 1977<br />

hatte sie am Starnberger See gelebt <strong>und</strong> als Ärztin<br />

zunächst in der Klinik Höhenried <strong>und</strong> dann in<br />

eigener Praxis in München gearbeitet. Vor ihrem<br />

Tod wünschte sie, dass ihre Urne nach Wuppertal<br />

überführt <strong>und</strong> im großelterlichen Grab auf<br />

dem Evangelischen Friedhof in Wuppertal-Barmen<br />

beigesetzt werde. Ihr Mann <strong>und</strong> ihre drei<br />

Kinder entsprachen diesem Wunsch.<br />

1 Die Verfasserin ist die Enkelin von Dr. Wilhelm<br />

Bragard (<strong>und</strong> gebürtige Wuppertalerin).<br />

2 Die biographischen Angaben zu Herkunft <strong>und</strong><br />

Studium Wilhelm Bragards sind weitgehend einer<br />

Stammtafel der Familie Bragard <strong>und</strong> einem<br />

Lebenslauf entnommen, den Dr. Wilhelm Bragard<br />

am 28.6.1944 geschrieben hat.<br />

3 Bescheinigung (XV.B.116.20) vom 13.2.1918,<br />

unterzeichnet vom Oberlandesgerichtspräsident<br />

des Koen. Preuss. Oberlandesgerichts Cöln.<br />

Diese Bescheinigung war notwendig geworden,<br />

da Dr. Wilhelm Bragard seine Originalurk<strong>und</strong>en<br />

im Ersten Weltkrieg verloren hatte.<br />

4 W. Bragard: Darf die Polizei Auskunft verlangen?<br />

Inaugural-Dissertation zur Erlangung der<br />

Doktorwürde der Hohen Juristischen Fakultät<br />

der Königlich Preußischen Friedrich-Wilhelms-<br />

Universität in Berlin. Borna-Leipzig, Großbetrieb<br />

für Dissertationsdruck 1915.<br />

5 Brief von Dr. Wilhelm Bragard vom 30.8.1919<br />

an den Barmer Oberbürgermeister Dr. Hartmann.<br />

6 Lebenslauf von Dr. Wilhelm Bragard vom<br />

28.6.1944.<br />

7 Protokoll der Barmer Stadtverordnetenversammlung<br />

vom 28.10.1919.<br />

8 Familien-Stammbuch für die Familie Bragard<br />

Willach; mündliche Mitteilung von Eva Löher,<br />

geb. Bragard.<br />

9 Protokoll der Barmer Stadtverordnetenversammlung<br />

vom 9.9.1919.<br />

10 Wie Anm. 5.<br />

11 Wie Anm. 9.<br />

12 Wie Anm. 7.<br />

13 Die vier Blätter Durchschlagpapier, auf denen<br />

dieses Lied steht, fanden sich im Aktenordner<br />

von Dr. Wilhelm Bragard unter Stadtverwaltung.<br />

14 Erinnerung von Alfred Dobbert, Direktor bei<br />

den Provinzial-Versicherungsanstalten der<br />

Rheinprovinz Düsseldorf in einem Brief vom<br />

14.4.1959 an Dr. Wilhelm Bragard.<br />

116<br />

15 Bestätigungsurk<strong>und</strong>e des Preussischen Ministeriums<br />

des Innern vom 27.1.1930 (Original).<br />

16 Anstellungsurk<strong>und</strong>e der Stadt Wuppertal für Dr.<br />

Wilhelm Bragard als besoldeter Beigeordneter<br />

der Stadt Wuppertal vom 10.1.1931 (Original).<br />

17 General-Anzeiger der Stadt Wuppertal vom 26.<br />

9. 1953.<br />

18 Unterlagen in Familienbesitz.<br />

19 Bei der Schilderung der Situation im Wuppertaler<br />

Rathaus nach der Machtübernahme durch die<br />

Nationalsozialisten bezieht sich die Verfasserin<br />

auf den Aufsatz von Uwe Eckardt: „Der Bonzentraum<br />

ist ausgeträumt, im Rathaus wird nun aufgeräumt!“<br />

Zur Verwaltungsgeschichte 1933 bis<br />

1937. In: Klaus Goebel (Hrsg.): Wuppertal in<br />

der Zeit des Nationalsozialismus. Peter Hammer<br />

Verlag, Wuppertal 1984.<br />

20 Der Abschnitt basiert auf Erinnerungen von Eva<br />

Löher, geb. Bragard <strong>und</strong> einem Brief von Dr.<br />

Wilhelm Bragard vom 17.12.1962 an das B<strong>und</strong>esamt<br />

für Wehrtechnik <strong>und</strong> Beschaffung.<br />

21 Barmer Zeitung vom 5.9.1933.<br />

22 Schreiben des Preußischen Ministers des Innern<br />

vom 8.5.1934 an Dr. Wilhelm Bragard (Original).<br />

23 Dieses Zitat <strong>und</strong> die folgenden Schilderungen<br />

der familiären Situation der Bragards 1933/34<br />

beruhen auf Erinnerungen von Dr. Annemarie<br />

Jäckle <strong>und</strong> Eva Löher, beide geb. Bragard.<br />

24 Kopie einer beglaubigten Abschrift des Briefes<br />

von Dr. Wilhelm Bragard an den Oberstadtdirektor<br />

von Wuppertal vom 30.6.1951 (Wuppertaler<br />

Stadtarchiv).<br />

25 vgl. Anm. 23.<br />

26 Brief von Dr. Wilhelm Bragard an seine Schwester<br />

Inge Wollny vom 12. 4. 1947 (Kopie von<br />

Eckhard Bragard).<br />

27 Lebenslauf von Dr. Wilhelm Bragard vom<br />

28.6.1944.<br />

28 Brief von Prof. Karl Bragard vom 24.4.1948 an<br />

den Kassationshof München (Staaatsarchiv<br />

München SpKA Karton 182, Prof. Dr. Bragard).<br />

29 Gutachten des Luftwaffenlazaretts Abteilung I<br />

Nr. 80177 in München-Oberföhring vom<br />

5.4.1945.<br />

30 Der unter Anm. 28 zitierte Brief legt nahe, dass<br />

Dr. Wilhelm Bragard durch Vermittlung seines<br />

Bruders Prof. Karl Bragard dieses Attest erhalten<br />

hat, nennt das Gutachten aus dem Luftwaffenlazarett<br />

München-Oberföhring aber nicht.<br />

Der 1890 in Aachen geborene Orthopäde Prof.<br />

Dr. med. Karl Bragard war im April 1945 noch<br />

Klinikchef an der Orthopädischen Universitäts-


poliklinik <strong>und</strong> Staatlichen Orthopädischen Klinik<br />

in München.<br />

31 Wie Anm. 29.<br />

32 Erinnerungen von Dr. Annemarie Jäckle <strong>und</strong><br />

Eva Löher, beide geb. Bragard.<br />

33 Brief des Oberbürgermeisters der Stadt Wuppertal<br />

an Herrn Stadtrat Dr. Bragard vom 11.10.<br />

1945; unterzeichnet: Thomas.<br />

34 Anstellungsurk<strong>und</strong>e der Stadt Wuppertal für<br />

Herrn Dr. Wilhelm Bragard als Beigeordneter<br />

<strong>und</strong> Stadtkämmerer der Stadt Wuppertal. Unterzeichnet<br />

am 21.7.1947 für den Rat der Gemeinde<br />

von Oberbürgermeister Robert Daum<br />

<strong>und</strong> Bürgermeister Dr. Klaus Brauda.<br />

35 Vorbericht zum Haushaltsplan 1947. Unterzeichnet<br />

vom Oberstadtdirektor i.V.: Dr. Bragard,<br />

Stadtkämmerer <strong>und</strong> Beigeordneter (in Familienbesitz).<br />

36 Brief von Dr. Wilhelm Bragard an seinen Bruder<br />

Hans Bragard vom 2.8.1947.<br />

37 Wuppertal im Kampf gegen die Not. Herausgegeben<br />

im Auftrage der Stadtverwaltung von<br />

Oberverwaltungsrat Stephan Schön. Hans Putty<br />

Verlag Wuppertal, 1947.<br />

38 Brief von Dr. Wilhelm Bragard an seine Schwester<br />

Inge Wollny vom 12.4.47 (wie Anm. 26).<br />

39 Vgl. Anm. 24.<br />

Siegfried Kley<br />

Briefe aus Wuppertal-Barmen im Mai 1943<br />

Im Mai 1943, also vor 60 Jahren, fand der<br />

verheerende Brandbombenangriff auf Barmen<br />

statt. Die hier wiedergegebene Korrespondenz<br />

aus dem Mai des Jahres kann nachempfinden<br />

lassen, wie dieses furchtbare Geschehen unvermittelt<br />

tief in das Leben der Menschen eingegriffen<br />

hat.<br />

Die im Auszug wiedergegebenen Briefe<br />

von Emil Garschagen sind an seine Tochter<br />

Elisabeth in Schötmar gerichtet, in gewissen<br />

Passagen auch an seinen Schwiegersohn Karl<br />

Thiele, der dort als Pfarrer wirkte. Die Tochter<br />

besuchte den Vater in den letzten Tagen des<br />

Mai 1943. Auf Postkarten an ihre Familie beschreibt<br />

sie ihre Fahrt mit der Bahn nach Wuppertal<br />

<strong>und</strong> grüßt gemeinsam mit ihren zwei<br />

40 Bescheid des Regierungspräsidenten von Nordrhein-Westfalen<br />

(14 A 13 ZK 236043) vom<br />

28.11.1958.<br />

41 Durchschlag der Postkarte von Dr. Wilhelm Bragard<br />

vom 18.12.1958.<br />

42 Original der Abschiedsurk<strong>und</strong>e mit 192 Unterschriften.<br />

43 Neue Rhein Zeitung vom 8.5.1956.<br />

44 Kopie des Schreibens von Dr. Wilhelm Bragard<br />

an den Barmer Verschönerungs-Verein mit Datum<br />

Pfingsten 1959; bezüglich des Wege-Namens<br />

siehe Anm. 45.<br />

45 Schreiben des Barmer Verschönerungs-Vereins<br />

vom 29.5.1959 an Dr. Wilhelm Bragard. Im Juni<br />

2003 versuchte Dr. Uwe Eckardt vom Wuppertaler<br />

Stadtarchiv, das Schicksal der beiden Bänke<br />

zu klären. In diesem Zusammenhang schrieb er<br />

der Verfasserin am 12.6.2003: Der Name „Paul-<br />

Neumann-Weg“ ist richtig. Der Namengeber<br />

war in den dreißiger Jahren Vorsitzender des<br />

Barmer Verschönerungsvereins. Carl Neumann<br />

war ein anderer Fabrikant, der ebenfalls eine<br />

wichtige Rolle im Wuppertal spielte.<br />

46 Brief von Alfred Dobbert, Direktor bei den Provinzial-Versicherungsanstalten<br />

der Rheinprovinz<br />

Düsseldorf vom 14.4.1959 an Dr. Wilhelm<br />

Bragard (wie Anm. 14).<br />

Schwestern von einem Ausflug. Diese Briefe<br />

sind Emil Garschagens letzte überlieferte<br />

Äußerungen, ebenso die seiner Tochter Bertha,<br />

denn in der Nacht zum 30. Mai kam er zusammen<br />

mit ihr <strong>und</strong> seinem Sohn Emil durch den<br />

Bombenangriff zu Tode. Seine Töchter Elisabeth<br />

<strong>und</strong> Grete überlebten, weil sie den Luftschutzkeller<br />

in seinem Hause in der Krautstraße<br />

während des Angriffes verließen; Grete<br />

war Luftschutzwart <strong>und</strong> wollte das Haus mit<br />

Hilfe der Schwester auf Brandbomben überprüfen.<br />

Die Schwestern gerieten in ein Inferno,<br />

dem sie nur durch schnelle Flucht entrinnen<br />

konnten. Der Weg zurück in den Keller, um die<br />

dort Verbliebenen zu warnen, war durch Flammen<br />

versperrt. Sie überlebten im Schutze einer<br />

117


Friedhofsmauer. Die Korrespondenz endet mit<br />

dem Telegramm, in dem Elisabeth ihrem Mann<br />

den Tod ihres Vaters <strong>und</strong> ihrer Geschwister<br />

mitteilt.<br />

Im ersten Brief beschreibt Emil Garschagen<br />

Abschied <strong>und</strong> Heimkehr seiner Tochter<br />

Elisabeth, die ihrem 1923 in die USA ausgewanderten<br />

Bräutigam folgte. Der Bräutigam<br />

war in Wuppertal zum Missionar ausgebildet<br />

worden, aber nach dem Ersten Weltkrieg war<br />

für ihn keine Missionsarbeit möglich, weil<br />

Deutschland seine Kolonien abgeben mußte;<br />

die Übernahme einer Pfarrstelle in den USA<br />

bot sich als Ausweg an. Anfang der 30er Jahre<br />

kehrte Karl Thiele mit seiner Familie nach<br />

Deutschland zurück. Er wurde Pfarrer in<br />

Schötmar bei Bad Salzuflen.<br />

Emil Garschagen lebte nach dem Tode seiner<br />

Frau im Jahre 1931 mit zwei Töchtern zusammen<br />

in seinem Haus in Barmen. Bertha<br />

war Lehrerin, Grete führte den Haushalt. Seine<br />

Tochter Martha war zu der Zeit an eine Schule<br />

in der Nähe von Danzig versetzt, der Sohn<br />

Emil, ungewöhnlich musikalisch begabt, aber<br />

vom Vater in einen „bürgerlichen“ Beruf gezwungen,<br />

hatte zum Vater ein gespanntes Verhältnis,<br />

hielt sich aber in jenen Tagen ebenfalls<br />

in dessen Haus auf – der Bombenkrieg hatte<br />

den Konflikt zwischen Vater <strong>und</strong> Sohn offensichtlich<br />

entschärft.<br />

Die Briefe vermitteln in üblicher familiärer<br />

Art ein Bild von den Lebensverhältnissen, den<br />

Einschränkungen, den Ansichten <strong>und</strong> Auffassungen<br />

von Menschen in Wuppertal während<br />

des Krieges. So ist etwa die Wertschätzung des<br />

Muttertages als eines „Ehrentages der deutschen<br />

Mutter“ zu erkennen, wobei der Briefschreiber<br />

unkritisch den Jargon des Nationalsozialismus<br />

übernimmt. Die Frau ist danach<br />

Dienende, die durch die Erziehung der Kinder<br />

schwere Mutterpflichten erfüllt. Die Tochter<br />

Grete ist wegen ihres Parteiamtes – vermutlich<br />

Ortsgruppenleiterin der Reichsfrauenhilfe – an<br />

der Ehrung von Frauen mit dem Mutterkreuz<br />

beteiligt. In diesem Amt hatte sie auch Bombenschäden<br />

zu prüfen, um Ansprüche auf Entschädigung<br />

feststellen zu können. 1<br />

Die Ideen des Nationalsozialismus zeigten<br />

bei Emil Garschagen <strong>und</strong> seiner Familie schon<br />

118<br />

früh Wirkung. Auch die Urteile über die<br />

Kriegsgegner Deutschlands lassen diese Wirkung<br />

<strong>und</strong> den Einfluß der deutschen Propaganda<br />

erkennen. Dabei war die Familie Garschagen<br />

„gut christlich“ <strong>und</strong> fromm. Von der<br />

Tochter Bertha Garschagen ist eine handschriftliche<br />

Sammlung von Gedichten vorwiegend<br />

religiösen Inhalts überliefert, in die sie<br />

gleichfalls eigene Gedichte aufnahm, die sie<br />

sensibel <strong>und</strong> feinfühlig vornehmlich zu kirchlichen<br />

Feiertagen verfaßte. Gelegentlich reflektierte<br />

sie in ihren Gedichten das Zeitgeschehen,<br />

<strong>und</strong> dabei ließ sie sich von nationalen Motiven<br />

besonders inspirieren. Zwei Gedichte aus ihrer<br />

Feder zeigen dies beispielhaft:<br />

Am Totensonntag 1918<br />

Heut’ neid’ ich euch das Sterben,<br />

ihr Kameraden mein,<br />

die ihr so früh gesunken<br />

ins dunkle Grab hinein.<br />

Begeist’rung, rein <strong>und</strong> lodernd,<br />

ging mit euch in den Tod,<br />

<strong>und</strong> sterbend saht ihr leuchten<br />

des Sieges Morgenrot.<br />

Wir haben ausgehalten<br />

vier Jahre, blutig, schwer,<br />

sind euer wert gewesen<br />

im Kampf um Deutschlands Ehr’.<br />

Nun ist das Ende kommen,<br />

die Ehre liegt im Staub,<br />

die stolzen Siegesträume<br />

sind ganz des Windes Raub.<br />

Deutschland, das freie, starke,<br />

vier Jahre siegreich rang,<br />

der Feind im eignen Lande<br />

es jählings niederzwang.<br />

Die ihr so früh gesunken<br />

ins dunkle Grab hinein,<br />

heut neid ich euch das Sterben,<br />

ihr Kameraden mein!<br />

Zum Totensonntag 1933 war der Ton ein<br />

anderer:<br />

Die ihr so früh gesunken<br />

ins dunkle Grab hinein,


heut weiß ich, euer Sterben<br />

wird nicht vergeblich sein.<br />

Denn was in stillen Träumen<br />

ihr ahnend nicht geschaut:<br />

ein starkes, freies Deutschland –<br />

heut ist es aufgebaut.<br />

Gebaut durch einen Führer,<br />

den Gottes Hand uns gab.<br />

Und heut, am Tag der Toten<br />

stehn wir an eurem Grab.<br />

Und rufen euch in Liebe<br />

<strong>und</strong> stolzer Freude zu:<br />

„Ihr halft den Gr<strong>und</strong> mit legen,<br />

die ihr nun schlaft in Ruh’.“<br />

Es sollte euer Sterben<br />

Deutschland zum Leben sein,<br />

im dritten deutschen Reiche<br />

steht ihr in unsern Reih’n.<br />

Die ihr so früh gesunken<br />

ins dunkle Grab hinein,<br />

heut weiß ich, euer Sterben<br />

wird nicht vergeblich sein!<br />

Brief Emil Garschagens an seine Tochter<br />

Elisabeth, mit Zusätzen ihrer beiden Schwestern:<br />

W.-Barmen, den 12. Mai 1943<br />

Meine liebe Lisbeth!<br />

Kommender Sonntag ist wieder der Ehrentag<br />

der deutschen Mutter, der wohl verdient, in<br />

unserem deutschen Vaterland gefeiert zu werden,<br />

auch in dieser so ernsten Kriegszeit. Da<br />

gehen unsere Gedanken zunächst zurück zu unserer<br />

längst heimgegangenen, so treuen Mutter.<br />

In 17 Tagen sind schon 12 Jahre vergangen,<br />

daß sie ihre lieben Augen schloß, daß sie für<br />

immer von uns schied: Wie lang <strong>und</strong> schwer<br />

waren die Leidensjahre, die sie so tapfer, so<br />

klaglos getragen hat! Wie schön war es für sie,<br />

daß sie Dich, unsere liebes Kind <strong>und</strong> ihre Enkelkinder<br />

nach 10 Jahren wenn auch nicht<br />

mehr sehend schauen, aber noch sprechen<br />

hören durfte. Immer noch gedenken wir in<br />

Liebe ihrer Treue, ihres nimmermüden Fleißes,<br />

ich der Vater ganz besonders, um dessen Wohl<br />

sie immer besorgt war. Aber doch ist es gut,<br />

daß sie diese neue, schwere Kriegszeit nicht<br />

mehr miterlebt, ihre schwache Kraft wäre diesen<br />

Jahren nicht mehr gewachsen gewesen,<br />

auch nicht den Sorgen der letzten Zeit, eines<br />

ganzen Jahres durch den (Sohn) Emil, der sie<br />

gar nicht wert ist. Dann gedenken wir auch<br />

Deiner, mein liebes Kind, der Du auch eine so<br />

treue, fleißige Mutter Deiner fünf Kinder bist,<br />

die Du auch im fernen Land so manch Schweres<br />

hast ertragen müssen, so oft Heimweh nach<br />

dem lieben deutschen Vaterland getragen hast.<br />

Um so mehr haben wir uns Eurer Heimkehr vor<br />

nunmehr 10 Jahren von Herzen gefreut. Gott<br />

hat alles so fre<strong>und</strong>lich geführt, daß Ihr hier<br />

sein dürft, daß Ihr nicht noch im fernen Lande<br />

seid, das nun in Gier <strong>und</strong> Haß die ganze Welt<br />

mit Krieg überzogen hat. Nun sind auch Deine<br />

Haare schon weiß geworden, es war auch gar<br />

viel, was Du erlebt hast seit dem 17. Oktober<br />

1923, als Du aus dem Elternhause schiedst.<br />

Noch oft weilen meine Gedanken an diesen Tagen<br />

in Bremen, an die Abfahrt des Schiffes von<br />

Bremerhaven, wo ich meiner Tränen nicht wehren<br />

konnte. Gott segne Dich weiter, meine liebe<br />

Lisbeth, er schenke Dir weiter Kraft zur Erfüllung<br />

Deiner schweren Mutterpflichten, zur Erziehung<br />

Deiner Kinder <strong>und</strong> zum Besten Deines<br />

lieben Mannes, dem Du doch so viel warst in<br />

dem langen Zeitraum von 20 Jahren. Wie gerne<br />

möchte ich noch den Tag Eurer Silberhochzeit<br />

erleben! Wenn auch meine Kraft immer mehr<br />

scheidet, besonders nach den Sorgen der letzten<br />

Monate. Vielleicht schenkt unser Gott doch<br />

noch diese wenigen Jahre. Wie schnell eilt doch<br />

immer die Zeit dahin! So freue ich mich schon<br />

von Herzen auf Deinen Besuch, sobald es Dir<br />

möglich sein wird, für ein paar Wochen aus<br />

dem Haushalt zu scheiden.<br />

Sonntag erhielten wir Deine lieben Zeilen.<br />

Es ist immer noch kühl, im Wohnzimmer sind es<br />

nur 13° R, was an sich zu wenig ist für mich,<br />

wenn ich still sitze <strong>und</strong> schreibe oder male.<br />

Wohl haben wir in den letzten Tagen st<strong>und</strong>enlang<br />

den Gasofen angemacht, da ich doch nicht<br />

mehr Innenwärme habe. Aber man soll ja an<br />

Gas <strong>und</strong> Strom sparen, täglich wird darauf hingewiesen.<br />

Und der elektr. Ofen kann nur im<br />

Luftschutzkeller angemacht werden, er ist ja<br />

nur als Notdurft gedacht, kann nicht in anderen<br />

Zimmern gebraucht werden.<br />

119


Möge Dir das mitfolgende Buch „Frau <strong>und</strong><br />

Mutter“ zu Deinem Ehrentage eine kleine<br />

Freude machen. Du weißt ja, wie es immer<br />

schwerer wird, irgend etwas zu erlangen.<br />

Nun sende ich Dir <strong>und</strong> allen Deinen Lieben<br />

die herzlichsten Grüße zum Muttertage, an<br />

dem auch die Kinder Dir gewiß irgend eine bescheidene<br />

Freude machen werden.<br />

In treuer Liebe Dein Vater.<br />

Liebes Lisalein! Nun bin ich mit Bügeln fertig<br />

u. grüße Dich nun zum Muttertag recht<br />

herzlich. Möchtest Du den deinen noch recht<br />

lange in Frische u. Kraft erhalten bleiben! Gott<br />

der Herr, der Euch bisher sichtlich leitete,<br />

schenke es Dir. (Gerade schrillen die Sirenen<br />

um 1 /4 n. 6) (...)<br />

Wie wird sich Dor(othea) über Euer Kommen<br />

gefreut haben! Wir denken viel an sie. Die<br />

Zeit bei dem Bauern Droste war sicher für sie<br />

eine gute Vorübung für den Arbeitsdienst. –<br />

Nun Dir, Karl <strong>und</strong> allen Kindern recht herzliche<br />

Grüße. Deine Bertha.<br />

Liebes Lisalein! Zum Muttertag auch von<br />

mir herzliche Grüße <strong>und</strong> gute Wünsche. Für die<br />

gesandten Milchtütchen danke ich Dir herzlich,<br />

sie kamen vorgestern an. Du darfst es<br />

aber nicht wieder tun. Wir bekommen ja auch<br />

alle 2 T(age) 1 1 /2 Liter u. jetzt, gegen Abtrennung<br />

von 100 gr. Fleischmarken wöchentlich<br />

für Vater täglich 1 /2 Ltr. Vollmilch für 8 Wochen<br />

Dauer. Du weißt ja nicht, wie lange Du selber<br />

noch Milch bekommst. Wir haben Sonntag 28<br />

Mütter zu ehren mit dem Mutterkreuz. Euch allen<br />

herzliche Grüße. Deine Grete<br />

Brief Emil Garschagens an die Familie seiner<br />

Tochter Elisabeth, mit Zusatz der beiden<br />

Schwestern:<br />

W.-Barmen, den 20. Mai 1943<br />

Ihr Lieben allesamt!<br />

Habt herzlichen Dank für Eure l(ieben) Zeilen<br />

vom 15. zum Muttertage. Ja, wir haben<br />

recht bedauert, daß Eure Reise nach Bramsche<br />

von so schlechtem, bösem Regenwetter begleitet<br />

war. (...)<br />

Wir konnten unseren „Mein Kampf“ nicht<br />

gut entbehren, da war es gut, daß ich noch den<br />

120<br />

guten Band kaufen konnte. In den meisten<br />

Buchläden war er vergriffen. Wie ich hörte, sollen<br />

vor Oktober überhaupt Bücher nicht mehr<br />

verkauft werden. (...)<br />

Ja, wir Alten müssen dankbar sein für jeden<br />

guten Tag, den Gott uns schenkt. Bei mir liegt<br />

vieles an der oft schlechten Nachtruhe. Wie ich<br />

des nachts schlafe, so ist dann mein Tagesbefinden.<br />

Wir hatten ja mehrfach sehr böse<br />

Nächte, obgleich die beiden letzten Nächte<br />

ganz still waren. In der Nacht des so schweren<br />

Angriffs auf besonders Dortm<strong>und</strong> schwirrten<br />

1 /2 St<strong>und</strong>en lang die Flugzeuge immerfort unheimlich<br />

über Wuppertal. 2 Es zeigt eine so niederträchtige<br />

Gesinnung der angloamerikanischen<br />

Feindstaaten in dieser Kriegführung, wie<br />

sie die Weltgeschichte noch nicht sah! Und das<br />

Vernichtungswerk wird noch schlimmer, da der<br />

Haß <strong>und</strong> die Gier nach der Weltherrschaft gar<br />

zu groß ist. Hat sich doch die Ruchlosigkeit<br />

wieder gezeigt in dem so schweren Angriff auf<br />

unsere beiden größten Talsperren. Aber die<br />

Verluste sind doch nicht so hoch, als Gerüchte<br />

wahrhaben wollen, sie sind aber doch recht<br />

schwer. Und wieder ein Jude ist der Antreiber<br />

zu dieser Tat gewesen, wie die Engländer sich<br />

selbst rühmen! Die Vergeltung wird <strong>und</strong> darf<br />

nicht ausbleiben!<br />

Dir, lieber Karl, danke ich für Deine<br />

fre<strong>und</strong>liche Einladung, Euch in diesen schönen<br />

Sommertagen zu besuchen. Hier ist die Blütezeit<br />

schon dahin, nur Weißdorn <strong>und</strong> Ziersträucher<br />

stehen noch in voller Pracht. So reich war<br />

die Blüte wohl schon lange nicht wie in diesem<br />

Jahr. Auch Euer Garten steht nun in seiner<br />

Herrlichkeit, hoffentlich bringt er auch nach<br />

aller Arbeit <strong>und</strong> Mühe, die er von Euch, besonders<br />

von Dir erfordert, demnächst reiche<br />

Ernte. Aber so dankbar ich Dir für die liebe<br />

Einladung bin, so ist es doch für mich alten<br />

Mann, dessen Kräfte doch nicht wiederkommen<br />

werden, wohl besser, daheim zu bleiben.<br />

Hier fahre ich am Nachmittag oft zur Höhe,<br />

sitze dann lange in stiller Waldesluft <strong>und</strong> gehe<br />

dann langsam wieder heimwärts. (...) Aber<br />

herzlich freuen würde ich mich, wenn mein liebes<br />

Kind einmal wieder bei uns im Elternhause<br />

in der alten lieben Heimat sein würde, so lange<br />

es ihr möglich ist, von dort fortzukommen. (...)


Heute ist unserer treuen Mutter Todestag.<br />

Schon 12 Jahre sind dahin, daß sie von uns<br />

schied. Und doch ist es gut, daß sie diese<br />

schweren Kriegsjahre nicht mehr erlebt, sie<br />

wäre in ihrer schwachen Kraft solchen Zeiten<br />

nicht gewachsen. Wir können wohl ahnen, daß<br />

sie nochweit schwerer sein werden, wir wollen<br />

aber starken Mutes bleiben <strong>und</strong> der Zuversicht<br />

eines guten Endes unserer gerechten Sache.<br />

Nehmt Alle in treuer Liebe herzliche Grüße<br />

Euer Vater <strong>und</strong> Großvater<br />

Ihr Lieben in Schötmar!<br />

(...)<br />

Für Deine Wünsche zum Muttertag danke<br />

ich Dir auch noch herzlich, lieber Karl! Ich<br />

kann das nur nicht mehr für mich allein beanspruchen,<br />

denn Bertha macht ebenso viel wie<br />

ich, weil ich doch so oft ausgehen muß. Augenblicklich<br />

habe ich viel mit der Prüfung von<br />

Bombenschäden vom vorigen Jahre zu tun <strong>und</strong><br />

muß darum manchen Weg machen, da die Leute<br />

ja nicht mehr alle in unserer Ortsgruppe wohnen.<br />

(...)<br />

Euch allen viele herzliche Grüße, auch von<br />

Bertha, <strong>und</strong> Eurer Grete.<br />

(An die Ränder geschrieben):<br />

Vater hatte für Tante Else in Ch. ein Bild gemalt,<br />

weil sie damals den Wunsch geäußert<br />

hatte, nun schickte sie als Dank ein Säckchen<br />

Mehl, Fett-, Fleisch- <strong>und</strong> Käsemarken <strong>und</strong> 10,für<br />

Vaters Auslagen. Das Geld geht natürlich<br />

zurück, über alles andere haben wir uns sehr<br />

gefreut u. werden beim Kuchenessen an T. Else<br />

denken.<br />

Postkarte von Elisabeth Thiele geb. Garschagen<br />

an ihre Familie in Schötmar<br />

Barmen, 28.5.43<br />

Ihr Lieben alle! Nun hab ich schon die erste<br />

Nacht hinter mir. Zwischen den Schlafst<strong>und</strong>en<br />

saßen wir etwa 2 Std. im Keller. Gestern ist<br />

Martin wohl wieder gut heimgekommen. Er hat<br />

Euch gewiß von der drangvollen Enge des D-<br />

Zuges berichtet. Ich bin ja so eben nur reingekommen<br />

u. hab Martin nicht mal „Lebewohl“<br />

sagen können. In den andern Zügen war’s nicht<br />

so voll. In Hagen kam Alarm <strong>und</strong> alles mußte in<br />

die Unterführung. Nach einiger Zeit wurde gerufen,<br />

daß ein Zug nach W.-Barmen einliefe.<br />

Die Reisenden, die nach dort wollten, könnten<br />

einsteigen. So bin ich schnell eingestiegen,<br />

mußte dann aber in Rittershausen durchsausen,<br />

wo Grete <strong>und</strong> Bertha u. Vater vergeblich<br />

warteten. So bin ich dann mit Hilfe der<br />

Straßenbahn allein in d. Krautstraße angekommen<br />

u. habe dann noch die beiden in Oberbarmen<br />

abgeholt. Wie habt Ihr die Nacht verbracht?<br />

Was mag Friedrich heute machen?<br />

Nun seid von uns allen herzlich gegrüßt,<br />

besonders von Eurer Mutti (...)<br />

Ansichtskarte vom „Terrassen-Restaurant<br />

Jagdhaus Mollenkotten“ von Elisabeth Thiele<br />

geb. Garschagen an ihre Familie, mit Zusätzen<br />

ihrer Schwestern<br />

Wupp.Barmen, 29.5.43<br />

Ihr Lieben! Von einem kl. Ausflug in die<br />

schöne Umgebung unserer Wupperstadt sende<br />

ich Euch allen herzliche Grüße. Wir schauen<br />

über Wälder u. Felder über Berge u. Täler hinweg.<br />

Auf dem Rückweg gehen Bertha <strong>und</strong> ich<br />

ins Kränzchen. Großv. blieb daheim, weil er<br />

am Morgen schon einen Weg machte. – Frdr.<br />

hat nun wohl auch bald 2 Tage hinter sich. –<br />

Geht alles gut daheim in Sch.?<br />

In herzl. Gedenken! Eure Mutti<br />

Euch allen viele Grüße! Eure Bertha<br />

Von mir auch herzliche Grüße. Eure Grete<br />

Telegramm von Elisabeth Thiele geb. Garschagen<br />

an Pfarrer Karl Thiele in Schötmar,<br />

30. Mai 43, aufgegeben 20.20<br />

Vater, Bertha, Emil diese Nacht verschieden.<br />

Meine Abreise unmöglich<br />

Lisbeth<br />

Anmerkungen:<br />

1 vgl. Herbert Pogt (Hg.): Vor fünfzig Jahren.<br />

Bomben auf Wuppertal. Aufsätze <strong>und</strong> Zeitzeugenberichte.<br />

Wuppertal 1993 (Beiträge zur Geschichte<br />

<strong>und</strong> Heimatk<strong>und</strong>e des Wuppertals, Bd.<br />

36).<br />

121


2 vgl. Norbert Krüger: Die Großangriffe der<br />

Royal Air Force von März bis Juli 1943. In: Pogt<br />

(wie Anm. 1), S. 21 ff.; Dortm<strong>und</strong> war in der<br />

Hinrich Heyken<br />

Das große Wohnungsbauprojekt Nächstebreck 1971.<br />

Wendepunkt für Stadtplanung <strong>und</strong> Stadtentwicklung<br />

Das Projekt Nächstebreck, konkret die Entscheidung,<br />

diesen über Jahre geplanten neuen<br />

Stadtteil im Nordosten der Stadt nicht zu<br />

bauen, war ein Wendepunkt der Wuppertaler<br />

Stadtentwicklungspolitik der Nachkriegszeit.<br />

Sie beendete in Wuppertal die Zeit der städtebaulichen<br />

Großprojekte <strong>und</strong> der expansiven<br />

122<br />

Nacht vom 4. auf den 5. Mai <strong>und</strong> vom 23. auf<br />

den 24. Mai 1943 das Ziel britischer Fliegerangriffe.<br />

Siedlungsentwicklung <strong>und</strong> kostete die Stadt<br />

einen Oberstadtdirektor. Das Projekt ist zudem<br />

typisch für kommunale Planungs- <strong>und</strong> Entscheidungsprozesse.<br />

Auch deshalb ist es durchaus<br />

interessant, den Planungsverlauf nochmals<br />

nachzuvollziehen.<br />

Modell des Neubauprojektes Nächstebreck mit der geplanten Streckenführung der Schwebebahn.<br />

Blickrichtung: von der Beule nach Norden. – Foto: Verfasser.


I. Vorgeschichte<br />

1. Prof. Friedrich Hetzelt – der Initiator<br />

Die meist relativ flach geneigten, der Sonne<br />

zugewandten Hänge des Höhenrückens, der<br />

das Tal der Wupper nach Norden abschließt,<br />

die sog. „Sonnenterrasse“ des Tales, war in den<br />

Augen der Planer des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts, als<br />

den Städten Elberfeld <strong>und</strong> Barmen angesichts<br />

des ständigen Bevölkerungszuzugs allmählich<br />

das Tal zu eng wurde, das bevorzugte Stadterweiterungsgebiet.<br />

Die Stadt Elberfeld plante<br />

hier bereits in den 20er Jahren große neue<br />

Wohngebiete. Der große städtebauliche Wettbewerb<br />

von 1939 der neuen Stadt Wuppertal<br />

sah hier einen Kranz von „nationalsozialistischen<br />

Gemeinschaftssiedlungen“ vor. Der nach<br />

dem 2. Weltkrieg aufgestellte Leitplan von<br />

1952 enthielt den Bereich Uellendahl als<br />

großes neues Wohngebiet 1 . Im 10 Jahre später<br />

erarbeiteten <strong>und</strong> aufgestellten Flächennutzungsplan<br />

der Stadt werden die bestehenden<br />

Siedlungsansätze <strong>und</strong> Planungen aufgegriffen<br />

<strong>und</strong> zu einem Siedlungsband von Katernberg<br />

über Uellendahl <strong>und</strong> Stahlsberg/Schraberg/<br />

Sternenberg bis hin nach Nächstebreck weiter<br />

entwickelt. In Nächstebreck sind im Plan beiderseits<br />

des Bachtales Mählersbeck um Haarhausen<br />

<strong>und</strong> am Nächstebrecker Berg drei neue<br />

Siedlungsflächen dargestellt. Es handelt sich<br />

um insgesamt rd. 60 ha, die hier als mögliche<br />

Wohnbaufläche für etwa 1700 Wohnungen<br />

oder ca. 5.100 Bewohner vorgesehen werden 2 .<br />

Der Flächennutzungsplan von 1963 markiert<br />

die Zeit der Expansion der Stadt nach dem<br />

Jahrzehnt des Wiederaufbaus. Ab Ende der<br />

50er Jahre wird die Erschließung <strong>und</strong> Besiedlung<br />

des Uellendahls in Angriff genommen.<br />

Als erste größere Neubausiedlung entsteht hier<br />

ab 1959 der Domagkweg. Die Stadt boomte:<br />

Die Wirtschaft wächst <strong>und</strong> klagt schon bald<br />

über fehlende Arbeitskräfte; die ersten „Gastarbeiter“<br />

werden 1960 mit großem Empfang am<br />

Bahnhof Elberfeld begrüßt 3 . Die Einwohnerzahl<br />

wächst von Jahr zu Jahr, 1963 wird mit<br />

423.450 Einwohnern der geschichtlich höchste<br />

Bevölkerungsstand in der Stadt gezählt. Die<br />

Nachfrage nach Wohnungen kann bei weitem<br />

nicht befriedigt werden, obwohl Anfang der<br />

60er Jahre noch über 3.000 Wohnungen jährlich<br />

fertiggestellt wurden. Das Statistische Amt<br />

veröffentlicht 1968 eine Analyse der Wanderungsmotive<br />

<strong>und</strong> kommt darin zu dem Ergebnis,<br />

dass die steigende Zahl der Fortzüge in erster<br />

Linie durch die schlechte Wohnungsversorgung<br />

verursacht wird <strong>und</strong> dass der Anteil junger<br />

qualifizierter Familien dabei besonders<br />

groß ist. Zugleich wird darauf hingewiesen,<br />

dass die Wohnungsbauleistung geringer ist als<br />

in vergleichbaren Großstädten 4 . Der Drang der<br />

Wohnungsbaugesellschaften nach neuem Bauland<br />

ist dementsprechend groß.<br />

Prof. Friedrich Hetzelt, seit 1953 Baudezernent<br />

der Stadt, ist immer bemüht, neue Projekte<br />

anzustoßen. Da die Stadt kaum Bodenvorratspolitik<br />

betreibt, müssen Wohnungsbaugesellschaften<br />

interessiert werden. Dies gelingt<br />

ihm auch für Nächstebreck. Nach Vorgesprächen<br />

findet am 15. Juli 1966 ein Gespräch<br />

bei OStD Werner Stelly mit Vertretern einer<br />

Trägergemeinschaft von mehreren Wohnungsbaugesellschaften<br />

statt, die auf privater Gr<strong>und</strong>lage<br />

Gr<strong>und</strong>stückserwerb, Erschließung <strong>und</strong><br />

Bebauung in Nächstebreck übernehmen will.<br />

OStD Stelly begrüßt zwar das Vorhaben, ist allerdings<br />

zurückhaltend beim Angebot konkreter<br />

Unterstützung. Die Stadt sei angesichts ihres<br />

Engagements in Uellendahl <strong>und</strong> Gennebreck<br />

zu keiner finanziellen Förderung oder zu<br />

Gr<strong>und</strong>stückskäufen in der Lage. Möglich sei<br />

allenfalls die alsbaldige Aufstellung eines BebauungspIanes.<br />

Vorab müsse aber dafür ein<br />

städtebaulicher Wettbewerb durchgeführt werden,<br />

um ein städtebaulich gutes Konzept zu<br />

entwickeln. 5 .<br />

Daraus werden zahlreiche weitere Gespräche.<br />

Im Mai 1967 werden dann auch die<br />

Fraktionen von Prof. Hetzelt auf das Konturen<br />

gewinnende Projekt eingestimmt. Er veranstaltet<br />

mit Ratsmitgliedern eine R<strong>und</strong>fahrt durch<br />

den Nordosten der Stadt <strong>und</strong> skizziert bei dieser<br />

Gelegenheit das Bild einer in Nächstebreck<br />

möglichen neuen Siedlung für 7.000 Einwohner<br />

6 . Im November 1967 beantragt dann<br />

die SPD im Bauausschuss im Rahmen der<br />

Haushaltsplanberatungen die Aufnahme von<br />

150.000 DM in den Haushalt für die Vergabe<br />

123


von Gutachten für das Nächstebreck-Projekt.<br />

Damit ist nun das Projekt „eingestielt“.<br />

2. Städtebauliches Gutachten 1968<br />

Noch im Dezember 1967 werden die Professoren<br />

Angerer (München), Kühn (Aachen)<br />

<strong>und</strong> Spengelin (Hannover) mit der Erarbeitung<br />

städtebaulicher Gutachten beauftragt. Für ein<br />

Honorar von jeweils 22.000 DM soll für das<br />

Gebiet zwischen der im Bau befindlichen<br />

B 326 (heute A 46) 7 , Mählersbeck <strong>und</strong> DB-<br />

Strecke nach Hattingen mit ca. 85 ha Wohnbauland<br />

<strong>und</strong> – östlich der DB – ca. 60 ha Gewerbegebiete<br />

eine geschlossene Gesamtkonzeption<br />

entwickelt werden.<br />

Eine Obergutachterkommission unter Vorsitz<br />

von Prof. Machtemes (Düsseldorf) beurteilt<br />

im Januar 1969 die eingegangenen Vorschläge<br />

8 . Sie kommt zu dem Ergebnis, dass das<br />

vorgesehene Baugebiet, „insbesondere das<br />

Wohngebiet, eines der wenigen großen zusammenhängenden<br />

Gebiete (ist), das die Stadt<br />

Wuppertal noch zur Verfügung hat. Darin liegt<br />

eine Chance, etwas Besonderes zu schaffen“. 9<br />

Die Konzeption von Prof. Spengelin wird<br />

trotz einiger Einwände hinsichtlich der als zu<br />

aufwendig angesehenen Verkehrserschließung<br />

vor allem wegen der von ihm entwickelten besonderen<br />

Wohnformen (Terrassenbau) als<br />

Gr<strong>und</strong>lage für die weitere Planung empfohlen.<br />

Die Wohnbaufläche ist nun inzwischen auf 160<br />

ha gewachsen, auf denen Wohnungen für<br />

22.000 Einwohner vorgesehen sind mit einem<br />

eigenen Geschäftszentrum. Östlich der Bahn<br />

sollen in den geplanten Gewerbegebieten neue<br />

Arbeitsplätze für 4.000 bis 7.000 Beschäftigte<br />

entstehen 10 . Die Anbindung an den ÖPNV soll<br />

entweder über die DB-Strecke (S-Bahn-Ausbau)<br />

oder über eine Verlängerung der Schwebebahn<br />

erfolgen. Die Obergutachter bezweifeln<br />

allerdings die Leistungsfähigkeit der DB<br />

angesichts der Eingleisigkeit, der besonderen<br />

Trassenführung <strong>und</strong> dem Industrieverkehr. Sie<br />

schlagen eine Untersuchung der Möglichkeiten<br />

vor, die Schwebebahn nach Nächstebreck bis<br />

in die vorgesehenen Gewerbegebiete hinein zu<br />

verlängern.<br />

124<br />

Diese Empfehlung wird am 24. März 1969<br />

dem Rat vorgelegt. Norbert Jensen, der neue<br />

Baudezernent 11 <strong>und</strong> Nachfolger des zum 31.<br />

Juli 1968 in den Ruhestand getretenen Prof.<br />

Friedrich Hetzelt, erläutert auf der Ratssitzung<br />

am 24. März 1969 die Planung <strong>und</strong> verkündet,<br />

dass „Prof. Spengelin, der Entwerfer von<br />

Nächstebreck, sich bereit erklärt (hat), gemeinsam<br />

mit der Wuppertaler Stadtverwaltung den<br />

Gesamtbebauungsplan für den neuen Stadtteil<br />

Nächstebreck zu entwickeln“ 12 . Sprecher aller<br />

Fraktionen, Walter Jahnke für die SPD, Kurt<br />

Drees für die CDU <strong>und</strong> Karl-Otto Dehnert für<br />

die FDP, befürworten das Planungskonzept <strong>und</strong><br />

erwarten eine schnelle Realisierung sowohl der<br />

Gewerbegebiete als auch der neuen Wohngebiete.<br />

Es bestand allseits die Hoffnung, die<br />

Wohnungsprobleme der Stadt mit einem<br />

Schlage weitestgehend zu lösen. Kurt Drees<br />

insbesondere moniert, dass seit sechs Jahren,<br />

seit der Vorlage des Flächennutzungsplans, geplant<br />

<strong>und</strong> geplant werde <strong>und</strong> – außer dem jetzt<br />

vorgelegten Gutachten – immer noch keine<br />

konkreten Ergebnisse vorlägen. Es geht ihm alles<br />

viel zu langsam 13 .<br />

Am 19. Mai 1969 beschließt der Rat die<br />

Aufstellung eines Gesamtbebauungsplanes sowie<br />

die Wahrnehmung des Vorkaufsrechts in<br />

diesem Gebiet. Damit ist nunmehr die Stadt<br />

nach anfangs vorsichtiger Zurückhaltung voll<br />

in das Projekt eingestiegen, das zudem in dem<br />

bisherigen Planungsprozess eine Dimension<br />

erhalten hat, die alle bisherigen Projekte der<br />

Stadt weit hinter sich lässt.<br />

Auch die Trägergemeinschaft gewinnt<br />

Konturen. Als Sprecherin fungiert die Treufinanz.<br />

Sie erwartet eine Beteiligung an der Planung<br />

von Prof. Spengelin, „um die Wirtschaftlichkeit<br />

zu garantieren“ 14 . Die Wohnungsbaugesellschaften<br />

haben bis zu diesem Zeitpunkt<br />

in Nächstebreck nach einer Zusammenstellung<br />

des Liegenschaftsamtes Gr<strong>und</strong>stücke im Umfang<br />

von 65 ha zu Preisen zwischen 20,–/qm<br />

<strong>und</strong> 25,–/qm <strong>und</strong> einem Gesamtaufwand von<br />

über 15 Mio. DM erworben. Auch die Stadt<br />

Wuppertal einschließlich der GWG ist mit rd.<br />

10 ha dabei. 15<br />

Zum 1. 1. 1970 tritt zudem die erste Gebietsreform<br />

in Kraft. Dreigrenzen, der nord-


östliche Zipfel des Stadtgebietes mit der kleinen<br />

Siedlung Erlenrode, wird eingemeindet.<br />

Nächstebreck wird damit bis zum Autobahnkreuz<br />

Wuppertal-Nord erweitert.<br />

II. Das Projekt<br />

1. Spengelin-Planung 1969-1970<br />

Das Planungsbüro von Prof. Spengelin erhält<br />

am 20. Oktober 1969 vom Rat den Planungsauftrag<br />

für das Projekt Nächstebreck.<br />

Spengelin erhält ein Büro im Verwaltungsgebäude<br />

Elberfeld, in dem damals noch das Baudezernat<br />

untergebracht ist, <strong>und</strong> beginnt zu planen.<br />

Bis Ende 1970 soll die Planung stehen.<br />

Zunächst einmal wird das Planungsgebiet<br />

erweitert. Es reicht jetzt von der A 1 im Osten<br />

<strong>und</strong> der B 326 (A46) im Norden einschließlich<br />

des gerade eingemeindeten Gebietes Dreigrenzen/Erlenrode<br />

bis zur Märkischen Straße im<br />

Westen. Sodann werden Gutachten vergeben<br />

an Frau Prof. Dr. Spiegel (Dortm<strong>und</strong>) zur Behandlung<br />

der soziologischen Aspekte; an Prof.<br />

Dr. Tietz (Saarbrücken) zu Fragen des Geschäftszentrums<br />

<strong>und</strong> an Prof. Dr. Mäcke (Aachen)<br />

zur Planung der Verkehrserschließung.<br />

In vielen Arbeitssitzungen <strong>und</strong> Abstimmungsgesprächen<br />

im großen Raum 200 des Elberfelder<br />

Verwaltungsgebäudes wird dann im Laufe<br />

des Jahres 1970 der Entwurf eines Gesamtbebauungsplanes,<br />

wie es im Auftrag heißt, oder<br />

eines Strukturkonzeptes, wie diese Stufe der<br />

Planung von den Planern bezeichnet wird, entwickelt<br />

16 .<br />

Es wird schließlich ein neues Wohngebiet<br />

für 28.000 Einwohner konzipiert, wobei der<br />

gesamte unbebaute Bereich südlich der A 46<br />

zwischen Eisenbahn im Osten <strong>und</strong> Haarhausen/Gennebrecker<br />

Str. im Westen in die Planung<br />

einbezogen ist. Die Gesamtplanung erstreckt<br />

sich nun über eine Fläche von 173 ha.<br />

Die Wohnbebauung konzentriert sich auf die<br />

Bereiche Nächstebrecker Berg <strong>und</strong> Haarhausen<br />

um das von Prof. Tietz geplante Geschäftszentrum<br />

herum, das nun seinen Standort im oberen<br />

Mählersbecktal findet. Die Größe des konzipierten<br />

Zentrums erfordert allerdings nun rd.<br />

40.000 Einwohner im Einzugsbereich, um ausreichend<br />

Kaufkraft für das Zentrum zu gewährleisten.<br />

Dabei wird davon ausgegangen, dass in<br />

den zukünftigen Randbereichen des neuen<br />

Stadtteils bereits 10.000 Einwohner leben, so<br />

dass die Planung für den neuen Stadtteil auf<br />

28.000 Einwohner ausgelegt wird. Der Bereich<br />

Haarhausen wird daher nochmals stärker in die<br />

Wohnbebauung einbezogen. Die nach Süden<br />

orientierten Hänge werden für eine Terrassenbebauung<br />

genutzt, die trotz einer dichten Bebauung<br />

eine gute Besonnung <strong>und</strong> Aussichtslage<br />

ermöglichen. Eine verdichtete, sprich<br />

Hochhausbebauung ist insbesondere im Umfeld<br />

des vorgesehenen Zentrums <strong>und</strong> entlang<br />

der ÖPNV-Erschließung geplant. Die Bebauung<br />

ist gr<strong>und</strong>sätzlich – mit Ausnahme des Zentrums<br />

– auf den Höhenrücken angeordnet,<br />

während die Talzüge der Mählersbeck <strong>und</strong> Junkersbeck<br />

als Grünzonen gedacht sind. Im unteren<br />

Mählersbecktal oberhalb des Freibades soll<br />

ein See aufgestaut werden, der zugleich die<br />

Funktion eines großen Regenrückhaltebeckens<br />

für den Gesamtbereich haben würde.<br />

Die Verkehrserschließung soll über eine<br />

vierspurig ausgebaute Straßenachse von der<br />

Märkischen Str. über Haarhausen <strong>und</strong> das<br />

Mählersbeck-Tal zur Wittener Straße mit Einmündung<br />

im Bereich Uhlenbruch erfolgen. Als<br />

ÖPNV-Anbindung wird eine S-Bahn geplant,<br />

wobei die Trasse der Eisenbahn in einem Bogen<br />

nach Westen in den Bereich der Mählersbeck<br />

verlegt <strong>und</strong> von dort wieder zum vorhandenen<br />

Tunnel geführt werden soll. Die B<strong>und</strong>esbahn<br />

erklärt sich zu einem zweigleisigen S-<br />

Bahn-Ausbau der Strecke mit 10-Minuten-Takt<br />

als Teil der geplanten S 9 Mönchengladbach –<br />

Hagen bereit. Die Kosten des Ausbaus werden<br />

auf 70 Mio. DM geschätzt. Alternativ wird<br />

auch eine Verlängerung der Schwebebahn<br />

geplant, die von Oberbarmen, Hilgershöhe,<br />

Beule, Mählersbeck über den Nächstebrecker<br />

Berg bis in das geplante Gewerbegebiet an der<br />

Wittener Straße führen könnte. Die Kosten der<br />

Schwebebahnverlängerung werden in der gleichen<br />

Größenordnung geschätzt. Die Planer bevorzugen<br />

allerdings die Schwebebahn, weil sie<br />

eine kürzere Taktfolge, eine direkte Anbindung<br />

an das städtische Verkehrsnetz <strong>und</strong> eine siche-<br />

125


ere Zukunftsperspektive bietet. Im neuen Stadtteilzentrum<br />

würde die Haupterschließungsstraße<br />

ebenso wie die neue S-Bahn bzw. die<br />

Schwebebahn eine Ebene oberhalb der Fußgängerachse<br />

verlaufen, so dass das Zentrum<br />

sowohl über den ÖPNV als auch für das Auto<br />

gut erreichbar ist.<br />

In Zuordnung zu den Wohngebieten sind<br />

sieben Kindergärten <strong>und</strong> zwei Kindertagesstätten,<br />

fünf Gr<strong>und</strong>schulen <strong>und</strong> zwei Gesamtschulen<br />

mit insgesamt 24 Zügen sowie drei Standorte<br />

für Freizeiteinrichtungen <strong>und</strong> ein Bürgerhaus<br />

vorgesehen. Schwerpunkt im Freizeitbereich<br />

ist dabei die Ausgestaltung des Bereichs<br />

Reppkotten mit 18 ha Fläche. Daneben ist eine<br />

Sport- <strong>und</strong> Freizeitanlage im Zusammenhang<br />

mit der vorgesehenen Gesamtschule geplant<br />

sowie eine dritte Anlage im Mählersbecktal/<br />

Schrubburg.<br />

Es entsteht, soweit man das anhand der Modellphotos<br />

<strong>und</strong> Planerprotokolle beurteilen<br />

kann, eine städtebaulich ansprechende Planung,<br />

die die topografischen Gegebenheiten<br />

konsequent nutzt <strong>und</strong> auf einer f<strong>und</strong>ierten<br />

Versorgungsplanung aufbaut. Die ersten, teilweise<br />

negativen Erfahrungen anderer Städte<br />

mit den großen Neubausiedlungen der 60er<br />

Jahre sind diskutiert <strong>und</strong> im Planungskonzept<br />

berücksichtigt. Planerisch erfassbare <strong>und</strong> darstellbare<br />

Bedürfnisse <strong>und</strong> Bedarfe sind integriert.<br />

Das Nächstebreck-Projekt dokumentiert<br />

damit auch den Stand der Städtebauplanung.<br />

Diese Planung geht nun zu Beginn des Jahres<br />

1970 in die politische <strong>und</strong> öffentliche Diskussion.<br />

Ein Vertrag mit den möglichen Maßnahmeträgem<br />

zur Übernahme der weiteren Planung<br />

der Wohnungen <strong>und</strong> der Erschließung<br />

war ebenfalls vorbereitet. Nun muss der Rat<br />

verbindlich entscheiden, ob dieses Projekt so<br />

realisiert werden soll. Die Wohnungsbaugesellschaften<br />

warten praktisch mit dem Spaten in<br />

der Hand.<br />

2. Kritische Diskussion<br />

Die kommunalpolitische Wetterlage hatte<br />

sich nun allerdings nach der Kommunalwahl<br />

vom 9. Nov. 1969, die eine Reihe neuer Stadt-<br />

126<br />

verordneter in den Rat brachte, verändert.<br />

Noch bis 1970 war die Planung, über deren<br />

Fortgang die Verwaltung regelmäßig in den<br />

Ausschüssen berichtet hatte, zumindest in den<br />

Gremien immer auf eine einvernehmliche Zustimmung<br />

bei den Ratsfraktionen gestoßen 17 .<br />

Kritische Anmerkungen richteten sich allenfalls<br />

gegen die lange Dauer des Planungsprozesses.<br />

Inzwischen allerdings ist mit der wachsenden<br />

Dimension der Planung auch die Kritik<br />

an dem Projekt gewachsen – zunächst offenbar<br />

innerhalb der Verwaltung, dann aber auch in<br />

der Presse <strong>und</strong> in der Politik.<br />

In der Verwaltung entwickelt sich Joachim<br />

Ahlemann, Stadtentwicklungsdezernent seit<br />

dem 1.1.1969, zum Wortführer der Kritiker.<br />

Ahlemann, Jurist, war 1960 zunächst als Referent<br />

von OStD Werner Stelly <strong>und</strong> später Friedrich<br />

Hetzelt in den Dienst der Stadt getreten,<br />

wurde dann 1966 Leiter der Wirtschaftsförderung<br />

sowie der neu eingerichteten Stadtentwicklung<br />

<strong>und</strong> am 25. Nov. 1968 zum Beigeordneten<br />

gewählt 18 . In seine Zuständigkeit fielen<br />

das neue Amt für Stadtentwicklung, das Statistische<br />

Amt sowie das Liegenschaftsamt. Aus<br />

der gesamtstädtischen Perspektive kamen denn<br />

auch die kritischen Fragestellungen zu möglichen<br />

Auswirkungen <strong>und</strong> Konsequenzen einer<br />

Realisierung dieses Großprojektes.<br />

Denn Ende der 60er Jahre zeichneten sich<br />

entscheidende Veränderungen für die bisher<br />

auf kontinuierliches Wachstum eingerichtete<br />

Stadt ab. Seit 1963 begann die Einwohnerzahl<br />

zu sinken. Prognosen zeigten, dass die Abnahmen<br />

anhalten würden; der gerade einsetzende<br />

„Pillenknick“, die Abnahme der Geburtenzahlen<br />

nach Einführung der Antibabypille, ließ<br />

eher einen stärkeren Bevölkerungsrückgang<br />

für die nächsten Jahrzehnte erwarten. Jedenfalls<br />

wurde eine Entwicklung in Richtung auf<br />

die noch im Flächennutzungsplan angenommenen<br />

450.000 Einwohner mehr als unwahrscheinlich.<br />

Und 1966/67 hatte es die erste Rezession<br />

gegeben, die Wuppertal besonders gebeutelt<br />

hatte. Dies wies erstmals auf die besonderen<br />

Probleme der Wuppertaler Wirtschaft<br />

hin. In späteren Analysen <strong>und</strong> Untersuchungen<br />

wurde die erkennbare Wachstumsschwäche<br />

<strong>und</strong> Konjunkturanfälligkeit meist auf einen


einfachen Nenner gebracht: klein- <strong>und</strong> mittelständische<br />

Betriebsstruktur, Gemengelagen,<br />

Flächenknappheit, die mit dem Wiederaufbau<br />

aus der Vergangenheit als alter Industriestadt<br />

übernommen worden waren. Aus dem Eindruck<br />

der Rezession waren Stadtentwicklung<br />

<strong>und</strong> Wirtschaftsförderung zunächst als Stab<br />

beim Oberstadtdirektor, dann ab 1970 als zwei<br />

neue Ämter eingerichtet worden.<br />

Wo würden denn nun bei einer insgesamt<br />

sinkenden Bevölkerung die 28.000 Bewohner<br />

der neuen Wohnungen in Nächstebreck herkommen?<br />

Es konnten doch überwiegend nur<br />

Wuppertaler sein, die hier eine neue Wohnung<br />

beziehen würden. Als Folge würde sich die Talsohle<br />

mit ihren beengten <strong>und</strong> umweltbelasteten<br />

Wohngebieten <strong>und</strong> alten Wohnungen drastisch<br />

entleeren. Die dort vorhandene Infrastruktur<br />

würde nicht mehr ausgelastet sein, während<br />

mit erheblichem Kostenaufwand in Nächstebreck<br />

neue Infrastruktureinrichtungen entstehen<br />

müssten. Es müsse deshalb vielmehr<br />

Schwerpunkt der Wohnungspolitik sein, das<br />

Wohnumfeld <strong>und</strong> die Wohnungsqualität in den<br />

alten Wohngebieten zu verbessern, um die<br />

Randwanderung in Grenzen zu halten. Das<br />

Nächstebreck-Projekt könne aber nur durchgezogen<br />

werden, wenn auch die zu erwartenden<br />

Fördermittel hier konzentriert eingesetzt würden.<br />

Damit bliebe aber für die übrigen Stadtgebiete<br />

<strong>und</strong> insbesondere für die erforderlichen<br />

Sanierungsmaßnahmen kein finanzieller Spielraum<br />

mehr. Wegen der fehlenden Nachfrage<br />

nach den alten Wohnungen würde in den alten<br />

Wohngebieten zudem auch die private Investitionstätigkeit<br />

eher sinken. Dies würde zugespitzt<br />

darauf hinauslaufen, dass ein neuer<br />

Stadtteil von der Größenordnung Cronenbergs<br />

oder Ronsdorfs gebaut werde, während gleichzeitig<br />

die Kerngebiete der alten Stadt herunterkommen<br />

<strong>und</strong> verslummen würden.<br />

Die Kosten des Projektes wurden insgesamt<br />

auf eine Größenordnung von weit über<br />

eine Milliarde DM geschätzt. Der Kostenanteil<br />

der Stadt sollte sich nach diesen Schätzungen<br />

auf etwa 310 Mio. DM belaufen 19 , wobei die<br />

Förderung durch das Land eine weitgehend unbekannte<br />

<strong>und</strong> strittige Größe blieb, da es feste<br />

Zusagen natürlich zu diesem Zeitpunkt nicht<br />

gab 20 . Dieses im Raume stehende Finanzvolumen<br />

brachte auch den Kämmerer Dr. Elmar<br />

Schulze 21 auf die Seite der Kritiker, der eine finanzielle<br />

Überforderung der Stadt befürchten<br />

musste.<br />

Die Alternative der Gegner des Projektes<br />

heißt: dezentrale Deckung des Wohnungsbedarfs<br />

stadtnah <strong>und</strong> in allen Stadtteilen unter<br />

Ausnutzung der vorhandenen Infrastruktur.<br />

Auch in einem solchen Konzept gäbe es genügend<br />

Wohnungsbaumöglichkeiten in Wuppertal.<br />

Mitte 1970 erteilt OStD Stelly seinen Dezernenten<br />

den Auftrag, diese Wohnungsbaumöglichkeiten<br />

in der Stadt zusammenzustellen<br />

<strong>und</strong> zu prüfen, ob sie denn unter Abschätzung<br />

der Realisierungsmöglichkeiten<br />

ausreichend sein können. Die von der Bauverwaltung<br />

in einer ersten „Rangfolge der Bebauungspläne“<br />

zusammengestellten Baumöglichkeiten<br />

führen allerdings zunächst zu dem Ergebnis,<br />

dass daneben eben auch das Projekt<br />

Nächstebreck realisiert werden müsse, um die<br />

für erforderlich gehaltenen 3.200 Wohnungen<br />

jährlich bauen zu können 22 .<br />

Befürworter des Nächstebreck-Projektes<br />

waren neben OStD Werner Stelly vor allem<br />

Baudezement Norbert Jensen, der das Projekt<br />

bei seinem Amtsantritt von seinem Vorgänger<br />

Prof. Friedrich Hetzelt übernommen hatte, <strong>und</strong><br />

Beig. Günther Reichardt. Er war Rechtsanwalt<br />

<strong>und</strong> Fraktionsvorsitzender der FDP im Rat gewesen<br />

<strong>und</strong> zusammen mit Ahlemann am<br />

25. November 1969 gewählt worden. Ihm unterstanden<br />

das neue Amt für Wirtschaftsförderung<br />

sowie das Amt für Bauförderung. Die Argumente<br />

konzentrierten sich denn auch eher<br />

auf den Wohnungsbedarf, der damals auf über<br />

30.000 Wohnungen geschätzt wurde, die bis<br />

1980 gebaut werden müssten. Dies sei nur<br />

durch ein großes Projekt möglich <strong>und</strong> in Wuppertal<br />

sei solch ein Projekt nur in Nächstebreck<br />

möglich, wo die erforderlichen großen Flächen<br />

zur Verfügung <strong>und</strong> mögliche Träger bereit<br />

stünden. Das Projekt sei u.a. auch deshalb vorbildlich,<br />

weil in unmittelbarer Nähe in den geplanten<br />

Gewerbegebieten Tausende von neuen<br />

Arbeitsplätzen entstünden, eine hervorragende<br />

Verkehrsanbindung mit Schwebebahn oder<br />

S-Bahn vorgesehen sei <strong>und</strong> ein attraktiver<br />

127


Stadtteil mit modernen Wohnungen <strong>und</strong> der topographischen<br />

Situation entsprechenden interessanten<br />

Wohnformen entstehen würde. Die<br />

Wohnqualität werde mithin hervorragend sein<br />

<strong>und</strong> könne deshalb wieder neue Arbeitskräfte<br />

nach Wuppertal ziehen oder zumindest hier<br />

binden. Die Deckung eines Großteils des Wohnungsbedarfs<br />

am Stadtrand sei zudem eine<br />

Voraussetzung für eine wirksame Sanierung<br />

der dicht bebauten, engen alten <strong>und</strong> „übervölkerten“<br />

Wohngebiete in der Talsohle, weil hier<br />

ohne eine gewisse Auflockerung gar keine besseren<br />

Wohnverhältnisse geschaffen werden<br />

könnten. Größere Finanzierungsprobleme werden<br />

von den Befürwortern nicht gesehen, da<br />

beträchtliche Zuschüsse des Landes erwartet<br />

werden <strong>und</strong> sich deshalb der Finanzaufwand<br />

der Stadt auf etwa 120 Mio. DM belaufen<br />

würde, der sich zudem auf einen Zeitrahmen<br />

von etwa 10 Jahren verteilen würde. Dafür<br />

bekäme man aber über die Neubaugebiete hinaus<br />

die komplette neue Infrastruktur für ein<br />

großes Stadtgebiet, in dem mehr als 40.000<br />

Einwohner schließlich optimal versorgt würden.<br />

Aber auch in der breiteren Öffentlichkeit<br />

wird das Projekt nun mehr <strong>und</strong> mehr kontrovers<br />

diskutiert. Hier melden sich vor allem die<br />

Architekten zu Wort. Der „Kontaktkreis<br />

freischaffender Architekten“ <strong>und</strong> sein Vorsitzender<br />

Heinz Kisler mobilisieren die Berufskollegen<br />

<strong>und</strong> entwickeln die Gegenposition,<br />

dass zur Deckung des Wohnungsbedarf kein<br />

neuer Stadtteil erforderlich sei, sondern nur<br />

eine konsequente Ausschöpfung von stadtnah<br />

bestehenden Wohnungsbaumöglichkeiten. Die<br />

Bandstruktur der Stadt dürfe nicht durch eine<br />

Satellitenstadt zerstört, sie müsse vielmehr<br />

durch eine zentren- <strong>und</strong> infrastrukturorientierte<br />

Bebauung ausgebaut werden. Hier treffen sich<br />

die Überlegungen der Architektenschaft mit<br />

denen der Projektgegner in der Verwaltung.<br />

Der Kontaktkreis entwickelt ein konkretes<br />

Konzept, das eine Vielzahl von solchen Bebauungsmöglichkeiten<br />

aufzeigt. Im Februar 1971<br />

geht er damit in die Öffentlichkeit auf einem<br />

CDU-Forum, auf dem offiziell nicht über das<br />

Projekt Nächstebreck gesprochen werden soll<br />

<strong>und</strong> auf denen die geladenen Beigeordneten<br />

128<br />

Ahlemann <strong>und</strong> Jensen auf Anordnung von<br />

OStD Stelly nicht erscheinen dürfen 23 . Auf<br />

einer besonderen R<strong>und</strong>fahrt mit Journalisten<br />

werden viele dieser aus Sicht der Architekten<br />

potentiellen Wohnbauflächen mit durchschlagendem<br />

Erfolg plastisch vorgeführt, obwohl<br />

eine kritische Überprüfung der Vorschläge von<br />

Seiten der Verwaltung bereits sehr viele Abstriche<br />

<strong>und</strong> Probleme aufzeigt 24 . In der veröffentlichten<br />

Meinung beginnen nun aber die kritischen<br />

Fragen <strong>und</strong> die Ablehnung die Berichterstattung<br />

zu dominieren 25 .<br />

In der Verwaltung versucht OStD Werner<br />

Stelly vergeblich, eine „einheitliche Verwaltungsmeinung“<br />

herzustellen. In vielen der<br />

montäglichen Dezernentensitzungen kommt<br />

das Thema Nächstebreck kontrovers zur Sprache.<br />

Die von Stelly von den Kontrahenten zur<br />

Entscheidungsfindung geforderte Gegenüberstellung<br />

des Für <strong>und</strong> Wider bringt für diese<br />

Gr<strong>und</strong>satzproblematik der zukünftigen Stadtentwicklung<br />

keine Lösung, sie sind nicht unter<br />

einen Hut zu bringen.<br />

Das im Juni 1969 vorgelegte Gutachten der<br />

Prognos -AG zu den „Entwicklungsmöglichkeiten<br />

der Stadt Wuppertal“ 26 liefert auch<br />

keine Entscheidungshilfen. Zwar wird ein<br />

noch höherer Wohnungsbedarf prognostiziert:<br />

44.000 Wohnungen müssten hiernach bis 1980<br />

gebaut werden, 3.700 jährlich! Zur Standortfrage<br />

wird allerdings ein „sowohl als auch“<br />

vorgeschlagen: große Projekte, aber auch kleinere<br />

Vorhaben im Stadtgebiet <strong>und</strong> die Sanierung<br />

von alten Wohngebieten. Mehr Bodenvorratspolitik<br />

<strong>und</strong> eine stärkere finanzielle Förderung<br />

seien erforderlich, denn dies seien mit die<br />

Ursachen für die in der Vergangenheit nicht<br />

ausreichende Wohnbauleistung. Dies sind nun<br />

allerdings Forderungen, die die Finanzkraft der<br />

Stadt noch stärker in Anspruch nehmen würden.<br />

Die Fronten verhärten sich sowohl innerhalb<br />

der Verwaltung als auch in den Fraktionen<br />

des Rates. Für die einen ist der Bau der Satellitenstadt<br />

ein finanzieller Wahnsinn, der zudem<br />

die gewachsenen Stadtstrukturen zerstört, für<br />

die anderen eine grandiose städtebauliche<br />

Chance. Ein einvernehmlicher Kompromiss ist<br />

bei diesen Positionen kaum mehr möglich. Ver-


waltung <strong>und</strong> Politik verharren schließlich wie<br />

gelähmt.<br />

III. Die Entscheidung<br />

1. Ratssitzung am 22.3.1971 –<br />

Ergebnis: Denkpause<br />

Anfang 1971 drängt aber andererseits alles<br />

auf eine Lösung. Die Planung ist fertig. Im Januar<br />

wird sie den Spitzen der Stadt in einer<br />

Vortragsveranstaltung im Glanzstoff-Kasino<br />

von Baudezernent Jensen <strong>und</strong> Prof. Spengelin<br />

vorgestellt. Und die Wohnungsbaugesellschaften,<br />

die inzwischen in beträchtlichem Umfang<br />

Gr<strong>und</strong>stücke in Nächstebreck gekauft haben,<br />

drängen auf eine Entscheidung des Rates. Viel<br />

Geld, von der Stadt <strong>und</strong> von privaten Investoren,<br />

ist bereits geflossen, bisher immer getragen<br />

von einer breiten Zustimmung von Rat <strong>und</strong><br />

Verwaltung. Aus der Diskussion ist den Beteiligten<br />

klar, dass es um eine Gr<strong>und</strong>satzentscheidung<br />

zur zukünftigen Stadtentwicklung geht,<br />

<strong>und</strong> dass Nächstebreck entweder komplett als<br />

geschlossenes Projekt realisiert werden muss<br />

oder eben gar nicht. Teillösungen, die so beliebten<br />

politischen Konfliktlösungen, scheinen<br />

hier nicht möglich zu sein. Das alles erleichtert<br />

nicht unbedingt die Entscheidung.<br />

Die entscheidende Ratssitzung ist für den<br />

22. März 1971 angesetzt. Vorher werden in einer<br />

Sondersitzung des Hauptausschusses am<br />

20. Februar nochmals die Positionen geklärt. In<br />

einer vierstündigen Sondersitzung wird das<br />

Projekt dann anschließend im Rat heftigst diskutiert<br />

27 . Erstmalig in der Nachkriegsgeschichte<br />

des Stadtrates (<strong>und</strong> bisher einmalig<br />

geblieben) werden, da keine einheitliche Verwaltungsmeinung<br />

hergestellt werden konnte,<br />

von der Verwaltungsführung unterschiedliche<br />

Positionen vorgetragen. Baudezement Norbert<br />

Jensen vertritt, unterstützt von OStD Werner<br />

Stelly <strong>und</strong> dem Wirtschaftsförderungsdezernenten<br />

Günther Reichardt, die Mehrheitsmeinung<br />

pro Nächstebreck, Beigeordneter Joachim<br />

Ahlemann die Ablehnung des Projektes.<br />

Die sehr kontrovers geführte Diskussion macht<br />

deutlich, dass ein Riss quer durch den Rat geht.<br />

Aus allen Fraktionen melden sich Befürworter<br />

<strong>und</strong> Gegner zu Wort. Walter Jahnke, Fraktionsvorsitzender<br />

der SPD, wägt ab, sieht sich aber<br />

wegen der nicht abgeschlossenen Meinungsbildung<br />

in der Verwaltung <strong>und</strong> der Differenzen in<br />

der Fraktion nicht zu einer Entscheidung in der<br />

Lage. Hans-Martin Rebensburg (SPD) lehnt<br />

Nächstebreck zum jetzigen Zeitpunkt ab <strong>und</strong><br />

möchte das Projekt nur als „Planungsreserve“<br />

sehen. Bürgermeister Dr. Heinz Frowein<br />

(CDU) sieht insbesondere noch ungelöste Verkehrsprobleme,<br />

sein Fraktionskollege Dr. Henning<br />

befürchtet eine Vernachlässigung der<br />

übrigen Stadtteile <strong>und</strong> der Stadtkerne. In der 3-<br />

Mann-Fraktion der FDP macht Karl-Otto Dehnert<br />

zwei Befürworter <strong>und</strong> einen Gegner, den<br />

Makler Heinz Ramjoué, aus. Die Argumente<br />

der insgesamt sehr sachbezogenen Debatte<br />

wiederholen sich. Die Befürworter glauben,<br />

dass nur mit einer geballten Kraftanstrengung<br />

die Wohnungsprobleme gelöst werden können<br />

<strong>und</strong> dies sei möglich ohne Benachteiligung der<br />

anderen Stadtteile <strong>und</strong> finanziell mit Hilfe der<br />

erwarteten hohen Förderung auch machbar.<br />

Die Gegner betonen die möglichen ausreichenden<br />

Alternativen bei der Deckung des Wohnungsbedarfs,<br />

sehen in dem Nächstebreck-Projekt<br />

eine Gefährdung der Stadtstruktur <strong>und</strong> bezweifeln<br />

im übrigen die Finanzierbarkeit des<br />

Vorhabens insbesondere auch wegen anderer<br />

Beschlüsse des Rates in der letzten Zeit mit hohen<br />

finanziellen Belastungen, wie sie z.B. auch<br />

aus dem Beschluss zum Bau der Universität zu<br />

erwarten seien 28 .<br />

Um 20.30 Uhr war die Rednerliste noch<br />

nicht abgearbeitet. Eine Lösung des Konflikts<br />

war nicht in Sicht. Die ablehnenden Meinungsäußerungen<br />

überwogen. Eine Abstimmung erschien<br />

bei diesen so kontroversen Meinungen<br />

in allen Fraktionen zumindest zum jetzigen<br />

Zeitpunkt aber nicht opportun. Niemand wollte<br />

eine Kampfabstimmung mit ungewissem Ausgang.<br />

Schließlich gingen die beiden Fraktionsvorsitzenden<br />

von SPD <strong>und</strong> CDU zu Oberbürgermeister<br />

Gottfried Gurland <strong>und</strong> beantragten<br />

Schluss der Debatte. Angesichts der vielen Unklarheiten<br />

solle jetzt zunächst eine „Denkpause“<br />

eingelegt werden. Niemand widersprach.<br />

Die Debatte war vertagt. „Die große<br />

129


Schlacht geht weiter“, überschrieb die Westdeutsche<br />

R<strong>und</strong>schau ihren Bericht über die<br />

Ratssitzung 29 .<br />

Die „Denkpause“ sollte zunächst nur bis<br />

Mai dauern. Dann aber warf OStD Werner<br />

Stelly kurz nach der Ratssitzung überraschend<br />

das Handtuch. Stelly (62) kündigte aus „ges<strong>und</strong>heitlichen<br />

Gründen“ seinen Rücktritt an,<br />

obwohl er erst im September 1968 in seinem<br />

Amt bestätigt worden war. Bereits in der Sitzung<br />

des Rates hatte der Oberstadtdirektor zu<br />

erkennen gegeben, dass er die Welt nicht mehr<br />

verstand: Er habe sich in den letzten Wochen<br />

oft gefragt, was denn eigentlich los sei, was<br />

sich denn an den Problemen des Mangels an<br />

Wohnungen <strong>und</strong> Gewerbeflächen seit 1969, als<br />

alle gemeinsam das Projekt Nächstebreck als<br />

die Problemlösung auf den Weg gebracht hätten,<br />

was sich denn seither geändert habe? Ob<br />

denn nun plötzlich genügend Gewerbeflächen<br />

<strong>und</strong> genügend Flächen für den Wohnungsbau<br />

da seien? 30 Die während der Ratssitzung erkennbare<br />

Tendenz der Ablehnung dieses von<br />

ihm so nachdrücklich unterstützten Projektes<br />

veranlasste ihn nun zum vorzeitigen Rückzug<br />

von seinem Amt. Am 31. September 1971<br />

scheidet er aus dem Dienst der Stadt Wuppertal<br />

31 .<br />

Die „Denkpause“ zieht sich hin, obwohl<br />

überraschend schnell ein Nachfolger gef<strong>und</strong>en<br />

wird. Bereits am 13. September wird Dr. Rolf<br />

Krumsiek, bisher Beigeordneter beim Deutschen<br />

Städtetag, zum Oberstadtdirektor gewählt.<br />

Er tritt gleich am 1. Oktober seinen<br />

Dienst an. Seine erste <strong>und</strong> wichtigste Aufgabe<br />

ist die Lösung des Nächstebreck-Problems.<br />

2. Ratssitzungen am 17.4. <strong>und</strong> 15.5.1972 –<br />

der Kompromiss.<br />

Die mögliche Linie für die Weiterbehandlung<br />

des Projektes hatte sich im Verlaufe der<br />

Diskussion schon angedeutet. Eine große<br />

Mehrheit für das Projekt scheint nicht mehr zustande<br />

zu bringen zu sein. So sind denn Alternativen<br />

gefragt. Und hier liegt ein Ansatzpunkt<br />

in den bereits von den Architekten aufgezeigten<br />

dezentralen Wohnungsbaumöglichkeiten,<br />

130<br />

die daraufhin zu überprüfen sind, ob sie ausreichenden<br />

Handlungsspielraum für die Deckung<br />

des Wohnungsbedarfs geben. Dann wäre<br />

die behauptete zwingende Notwendigkeit des<br />

Nächstebreck-Projekts vom Tisch <strong>und</strong> das Projekt<br />

könnte zur „Planungsreserve“ für etwaige<br />

spätere Bedarfe deklariert werden – <strong>und</strong> so<br />

könnten Befürworter <strong>und</strong> Gegner der Projekts<br />

wieder zusammenkommen.<br />

Dieser Linie folgt der neue OStD Rolf<br />

Krumsiek, der als Voraussetzung für eine erfolgreiche<br />

politische Problemlösung vor allem<br />

auch in der Verwaltung wieder Einvernehmen<br />

in der Beurteilung <strong>und</strong> Behandlung des Projekts<br />

herstellen muss. Um auf eine breitere Diskussion<br />

einzustimmen <strong>und</strong> die enge <strong>und</strong> polarisierende<br />

Fixierung auf Nächstebreck abzubauen,<br />

soll das Projekt Nächstebreck nur noch<br />

im Zusammenhang mit der Entwicklung des<br />

Wohnungsbaus in Wuppertal insgesamt betrachtet<br />

werden. Das Instrument hierzu ist die<br />

„Rangfolge der Bebauungspläne“, in der die<br />

von der Verwaltung gesehenen Wohnungsbaumöglichkeiten<br />

zusammengefasst <strong>und</strong> hinsichtlich<br />

ihrer Realisierungsmöglichkeiten mit<br />

Prioritäten für die Aufstellung der erforderlichen<br />

Bebauungspläne versehen sind. Diese Arbeiten<br />

waren zwar bereits unter Stelly begonnen<br />

worden <strong>und</strong> hatten in der ersten Ratssitzung<br />

noch die Notwendigkeit des Projektes<br />

Nächstebreck mit begründet, erhalten nun aber<br />

eine größere Bedeutung als klares Alternativkonzept.<br />

Zunächst werden die Bedarfsüberlegungen<br />

überprüft <strong>und</strong> aktualisiert. Die Zielsetzung, rd.<br />

3.200 Wohnungen jährlich bis 1980 zu bauen,<br />

bleibt bestehen. Da es nur mehr 8 Jahre bis<br />

1980 sind, bleibt ein Gesamtbedarf in Höhe<br />

von noch 29.000 neuen Wohnungen. Allerdings<br />

wird nun festgestellt, dass nicht in dieser<br />

Höhe neues Baurecht geschaffen werden muss.<br />

Berücksichtigt werden aus der anlaufenden Sanierungsplanung<br />

die dort konzipierte Neubauplanung<br />

sowie Neubautätigkeit, die ohne Bebauungspläne<br />

auf den vorhandenen Baulücken<br />

erfolgt. Daraus errechnet sich nun ein Restbedarf<br />

von etwa 15.500 Wohnungen, für die in<br />

den nächsten Jahren Baurecht zu schaffen ist.<br />

Die Überprüfung der „Rangfolge“ ergibt


des weiteren, dass für bereits rd. 4.600 Wohnungen<br />

Baurecht in vorhandenen Bebauungsplänen<br />

besteht <strong>und</strong> Baurecht für weitere 4.900<br />

Wohnungen kurzfristig geschaffen werden<br />

kann. Es werden zusätzlich zwei neue Schwerpunkte<br />

gesetzt: In Vohwinkel sollen zentrumsnah<br />

an der Gruitener Straße 2.500 Wohnungen<br />

<strong>und</strong> in Haarhausen/Gennebreck/Einern, dem<br />

westlichen Rand des bisherigen Nächstebreck-<br />

Projektes, nochmals 1.400 Wohnungen entstehen.<br />

Darüber hinaus sind eine Vielzahl von<br />

kleineren Wohnungsbaumöglichkeiten zusammengestellt,<br />

zu denen u.a. auch die Bebauung<br />

hinter dem Barmer Rathaus auf dem Gelände<br />

der ehemaligen Vorwerk-Fabrik (400 Wohnungen)<br />

<strong>und</strong> der Bereich Zanellastr. (300 Wohnungen)<br />

gehören. Insgesamt kommen so 13.400<br />

mögliche Wohnungen zusammen, für die bereits<br />

teilweise Baurecht besteht oder doch in<br />

den nächsten Jahren geschaffen werden soll.<br />

Damit stellt die Verwaltung dar, dass mindestens<br />

für die nächsten vier Jahre ausreichend<br />

Baumöglichkeiten bestehen bzw. geschaffen<br />

werden können <strong>und</strong> deshalb nicht die Notwendigkeit<br />

besteht, das umstrittene Projekt<br />

Nächstebreck kurzfristig in Angriff zu nehmen.<br />

Nach 1975 könne man weiter sehen.<br />

Auf dieser Basis ist nun plötzlich dem<br />

großen Projekt Nächstebreck der Boden weggezogen.<br />

Es gibt keine Begründung mehr für<br />

das Großprojekt, zumal sich auch die von der<br />

Stadt aufzubringenden Kosten für die einzelnen<br />

Projekte, wie in Vergleichsrechnungen<br />

nachgewiesen wird, wesentlich günstiger gestalten.<br />

Die Verwaltung verständigt sich einvernehmlich<br />

auf dieses Konzept, das dann am<br />

17. April 1972 dem Rat vorgelegt wird.<br />

Der Rat nimmt diese Entschärfung des<br />

Problems dankbar entgegen. Die Luft ist raus<br />

aus der Debatte über Nächstebreck. Dies dokumentiert<br />

sich auch darin, dass gleich zu Anfang<br />

der Ratssitzung 32 die von der Verwaltung vorgelegte<br />

Vorlage, die noch das Wort Nächstebreck<br />

enthält, einstimmig in „Erklärung der<br />

Fraktionen über den Wohnungsbau in Wuppertal“<br />

umbenannt wird. Einstimmig wird dann<br />

auch der „Rangfolge der Bebauungspläne“ sowie<br />

den damit verb<strong>und</strong>enen Bedarfsüberlegungen<br />

<strong>und</strong> Verfahrensvorschlägen zugestimmt.<br />

Das Projekt Nächstebreck ist ohne neue große<br />

Diskussion zur bloßen „Planungsreserve“ degradiert<br />

worden. Walter Jahnke betonte dies<br />

nochmals, wenn er darauf hinwies, dass zwar<br />

mit einer Realisierung des Spengelin-Planes<br />

auf absehbare Zeit nicht zu rechnen sei, doch<br />

dürfe das Gebiet nicht zersiedelt werden, sondern<br />

müsse für eine später mögliche Verwirklichung<br />

offen bleiben.<br />

Einen ausdrücklichen Beschluss, das Projekt<br />

Nächstebreck nicht mehr realisieren zu<br />

wollen, gibt es nicht. Man behält sich vor, das<br />

Projekt vielleicht später doch noch zu wollen.<br />

Diese Fiktion wird auch aufrechterhalten, als in<br />

der folgenden Sitzung des Rates am 15. Mai<br />

1972 die Vorlagen <strong>und</strong> Vorschläge der Verwaltung<br />

abschließend behandelt werden <strong>und</strong> die<br />

Verwaltung beauftragt wird, „nach Maßgabe<br />

dieses Berichtes die weiteren erforderlichen<br />

Verhandlungen zu führen“. 33 OStD Dr. Krumsiek<br />

betont dazu ausdrücklich, dass eine solche<br />

Ermächtigung einer endgültigen Beschlussfassung<br />

zum Projekt Nächstebreck nicht vorgreifen<br />

würde. Der Nächstebreck-Plan ist damit<br />

zwar faktisch „gestorben“, aber eben doch<br />

nicht endgültig abgelehnt, sondern eher „auf<br />

Eis gelegt“. Einen endgültigen Beschluss über<br />

das große Projekt Nächstebreck, das über mehrere<br />

Jahre die kommunalpolitische Diskussion<br />

bestimmt hat, wird es auch nicht geben. Es<br />

weiß nur jedermann, dass das Projekt nie mehr<br />

in Angriff genommen werden wird. Auch so<br />

wird das Gesicht gewahrt, auch für diejenigen,<br />

die so vehement für das Projekt gestritten haben.<br />

34<br />

An dem Projekt Nächstebreck bewahrheitet<br />

sich im übrigen auch beinahe exemplarisch<br />

eine Erkenntnis unter Planern über die Stufenleiter,<br />

nach der sich große Projekte häufig entwickeln:<br />

1. Stufe: Über die großartige Planung herrscht<br />

zunächst allseitige Begeisterung.<br />

2. Stufe: Ihr folgt die Ernüchterung bei der genauen<br />

Durchplanung.<br />

3. Stufe: Nach der Ernüchterung kommt die<br />

Bestürzung.<br />

4. Stufe: Es beginnt die Suche nach dem<br />

Schuldigen.<br />

131


5. Stufe: Die Bestrafung der Unschuldigen<br />

<strong>und</strong> Auszeichnung der Unbeteiligten.<br />

IV. Die Nachwehen<br />

1. Der Entwicklungsplan Nächstebreck beendet<br />

das große Wohnprojekt endgültig<br />

Am 29.10.1973 beschloss der Rat das<br />

Räumlich-Funktionale Entwicklungskonzept,<br />

das dem neuen planerischen Leitbild einer verstärkten<br />

Innenentwicklung folgte 35 . Auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage der darin festgelegten Ziele werden<br />

in den Folgejahren Entwicklungspläne für Teilräume<br />

der Stadt erarbeitet, in denen dann u.a.<br />

auch die angestrebte Flächennutzung dargestellt<br />

wird. Bereits am 29.11.1973 beschließt<br />

der Hauptausschuss wegen dieser unklaren<br />

Planungssituation vorrangig den Entwicklungsplan<br />

u.a. für Nächstebreck zu bearbeiten<br />

36 .<br />

Im Rahmen dieser Planung wurde nun im<br />

Hinblick auf die potentielle Wohnbebauung<br />

gründlich aufgeräumt. Nicht nur die Wohnbebauung<br />

des Kernprojektes auf <strong>und</strong> um den<br />

Nächstebrecker Berg wurde aufgegeben. Auch<br />

die in der „Rangfolge der Bebauungspläne“<br />

noch vorgesehene Bebauung im Bereich Haarhausen<br />

(BPlan Nr. 462 Haarhausen/Nächstebreck)<br />

wird aufgr<strong>und</strong> der peripheren Lage gestrichen.<br />

Vorrangiges Ziel wird vielmehr, den<br />

Landschaftsraum zwischen den Siedlungsbereichen<br />

als Erholungsraum für Oberbarmen<br />

<strong>und</strong> die Talzüge Mählersbeck <strong>und</strong> Junkersbeck<br />

als für die Belüftung der Talsohle wichtige<br />

Frischluftschneisen von einer weiteren Bebauung<br />

freizuhalten. Unter diesem Aspekt wird<br />

eine wesentliche Zunahme der Wohnbevölkerung<br />

in Nächstebreck nicht angestrebt. 37<br />

Der Entwicklungsplan Nächstebreck wird<br />

nach mehreren intensiven Diskussionsr<strong>und</strong>en<br />

auch mit den Bürgern am 2.5.1977 vom Rat der<br />

Stadt „als Gr<strong>und</strong>lage für das zukünftige Handeln<br />

von Rat <strong>und</strong> Verwaltung beschlossen“ 38 .<br />

Damit ist nun endlich das große Wohnungsbauprojekt<br />

auch offiziell endgültig zu den Akten<br />

gelegt.<br />

132<br />

2. Die Schwebebahn wird nicht verlängert<br />

Das Wohnbauprojekt Nächstebreck steht<br />

nun zwar nicht mehr zur Realisierung an, wohl<br />

aber noch die bisher mit geplante Verlängerung<br />

der Schwebebahn. Bei der Abstimmung des<br />

neuen Konzeptes hat sich die Verwaltung darauf<br />

festgelegt, dass eine Verlängerung der<br />

Schwebebahn bis zur Beule/Wittener Straße<br />

auch ohne das große Nächstebreck-Projekt bereits<br />

aufgr<strong>und</strong> der vorhandenen Bebauung im<br />

Bereich Schwarzbach <strong>und</strong> Klingholzberg sowie<br />

der geplanten Erschließung von neuen Gewerbegebieten<br />

sinnvoll <strong>und</strong> zweckmäßig sei.<br />

Der Rat beauftragt daher die Verwaltung am<br />

19. Juni 1972, die notwendigen Voraussetzungen<br />

für die Planung, Durchführung <strong>und</strong> Finanzierung<br />

zu klären 39 .<br />

Nach mehreren Jahren der Planung, Verhandlungen<br />

mit dem Zuschussgeber Land NW<br />

<strong>und</strong> teils heftiger Diskussionen beschließt der<br />

Rat am 15. Dezember 1975 einstimmig das<br />

Ende der Schwebebahnverlängerung, weil<br />

keine Zuschüsse zu erwarten sind, die Anwohner<br />

vehement gegen die vorgesehene Trasse<br />

protestieren <strong>und</strong> schließlich auch das Projekt<br />

Nächstebreck inzwischen endgültig „beerdigt“<br />

ist. Ersatzweise soll jetzt die geplante B 51 für<br />

Entlastung sorgen <strong>und</strong> eine bessere ÖPNV-Anbindung<br />

der Gebiete durch Ausbau der Busverbindungen<br />

erreicht werden.<br />

Gebaut wird letztendlich die neue B 51,<br />

heute Nächstebrecker Str. (1983–1988). Die<br />

Schwarzbach wird 1984/85 begrünt <strong>und</strong> zur<br />

Beruhigung des verbleibenden Verkehrs mit<br />

Verkehrsinseln bestückt.<br />

3. „Rangfolge der Bebauungspläne“ schafft<br />

viel weniger Baurecht als erwartet<br />

Mit der „Rangfolge der Bebauungspläne“<br />

sollte erreicht werden, dass auch ohne das Projekt<br />

Nächstebreck jährlich 3.200 Wohnungen<br />

zumindest von den planungsrechtlichen Voraussetzungen<br />

her gebaut werden könnten. Bis<br />

1980 sollte ein vermuteter Bedarf von 29.000<br />

Wohnungen abgedeckt werden.<br />

Diese Zielsetzung wird bei weitem nicht er-


eicht – <strong>und</strong> schon gar nicht im Rahmen des<br />

selbst gesteckten Zeithorizontes. Tatsächlich<br />

wurden von 1973–1980 rd. 16.000 Wohnungen<br />

gebaut – auch teilweise auf Standorten, die in<br />

der „Rangfolge der Bebauungspläne“ überhaupt<br />

nicht vorgesehen waren. Das größte Projekt<br />

war die Entwicklung des Wohngebietes<br />

„Gruitener Straße“ in Vohwinkel mit geplanten<br />

2.500 Wohnungen. Tatsächlich realisiert wurden<br />

hier zwischen 1980 <strong>und</strong> 2000 rd. 1.400<br />

Wohnungen.<br />

4. Der Standortübungsplatz Scharpenacken<br />

wird nicht verlegt<br />

Im alten Flächennutzungsplan von 1963<br />

waren auch Teile des Standortübungsplatzes<br />

Scharpenacken als mögliches Wohngebiet dargestellt<br />

in einer Größenordnung von etwa 100<br />

ha für rd. 10.000 Bewohner. Seit 1959 gab es<br />

diese Bemühungen einer Umnutzung. Intensiviert<br />

wurden diese ab 1969 in Form einer regelrechten<br />

Kampagne, in die Oberbürgermeister<br />

Johannes Rau als Vorsitzender der SPD-<br />

Landtagsfraktion Innenminister Willi Weyer<br />

<strong>und</strong> Ministerpräsident Heinz Kühn einbeziehen<br />

kann. Im April 1971 kann die Verwaltung<br />

dem Rat als Ergebnis der Verhandlungen mit<br />

der B<strong>und</strong>eswehr berichten, dass gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

die Bereitschaft zur Aufgabe des Übungsplatzes<br />

besteht, wenn die Stadt ein gleich großes<br />

Ersatzgelände zur Verfügung stellt. Dafür wird<br />

ein Gelände südlich Beyenburg vorgeschlagen,<br />

verb<strong>und</strong>en mit den Kasernen durch eine neue<br />

„Panzerstraße“.<br />

Die genauere Prüfung dieser Planung führt<br />

dann 1973 allerdings zu dem Ergebnis, dass die<br />

Kosten eines solchen Projektes durch die Stadt<br />

nicht finanziert werden könnten <strong>und</strong> zudem<br />

vor dem Hintergr<strong>und</strong> der Nächstebreckdebatte<br />

auch der Bedarf für ein neues Wohnbauprojekt<br />

dieser Größenordnung abseits der vorhandenen<br />

Siedlungsstrukturen kaum begründbar wäre.<br />

Zudem gibt es inzwischen bei den Beyenburgern<br />

heftige Proteste gegen diese Pläne.<br />

Ein entsprechender Bericht der Verwaltung<br />

wird dem Hauptausschuss vorgelegt 40 <strong>und</strong> von<br />

ihm am 13.9.1973 behandelt. Er beschließt ein-<br />

stimmig, „dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt –<br />

vor allem aus Kostengründen – die Verlegung<br />

des Standortübungsplatzes nicht weiter betrieben<br />

werden sollte. (Der Hauptausschuss) ist<br />

mit der Verwaltung der Meinung, dass langfristig<br />

unter günstigeren Voraussetzungen weiterhin<br />

die Verlegung des Standortübungsplatzes<br />

angestrebt werden sollte.“ 41 So wird auch<br />

ziemlich sang- <strong>und</strong> klanglos dieses Vorhaben<br />

der Stadt beerdigt, für das zuvor mit großem<br />

Einsatz der Spitzen von Rat <strong>und</strong> Verwaltung<br />

gekämpft worden war.<br />

V. Stadtentwicklung ohne das Projekt<br />

Nächstebreck<br />

Zunächst vor dem Versuch einer Beurteilung<br />

einige Fakten zur weiteren Entwicklung<br />

der Stadt. 1972 hatte Wuppertal knapp 415.000<br />

Einwohner. In den folgenden Jahren sank die<br />

Zahl der Einwohner fortlaufend vor allem aufgr<strong>und</strong><br />

des hohen Sterbefallüberschusses, teilweise<br />

auch durch Wanderungsverluste. 1982<br />

hatte die Stadt noch rd. 397.700 Einwohner,<br />

1994 sind es noch 386.600, 2000 nur noch<br />

370.000 mit weiter sinkender Tendenz.<br />

In dem Jahrzehnt bis 1972 wurden im<br />

Durchschnitt rd. 3.000 Wohnungen jährlich<br />

fertiggestellt, 1973 war noch einmal ein Rekordjahr<br />

mit 4.334 Wohnungen. Bis Anfang<br />

der 80er Jahre sank die Bautätigkeit nach<br />

einem tiefen Einbruch Mitte der 70er Jahre auf<br />

etwa 1.400 Wohnungen, die jährlich fertiggestellt<br />

wurden. In den ersten 90er Jahren sank<br />

die Bauleistung weiter auf etwa 800 Wohnungen<br />

pro Jahr. Die Entwicklung der Wohnungsversorgung<br />

verdeutlichen die folgenden Kennziffern.<br />

1972 gab es in Wuppertal rd. 160.000<br />

Wohnungen, d.h. durchschnittlich 1 Wohnung<br />

für 2,6 Einwohner. 1994 gibt es über 183.000<br />

Wohnungen, d.h. durchschnittlich teilen sich<br />

2,1 Einwohner eine Wohnung.<br />

Unter diesen Rahmenbedingungen wären<br />

wohl bei einer Realisierung des Projektes die<br />

Befürchtungen der Kritiker wahr geworden:<br />

Konzentration eines erheblichen Anteils der<br />

Wuppertaler Bevölkerung in einer neuen Satellitenstadt<br />

mit all den sozialen Problemen, die<br />

133


inzwischen aus vergleichbaren Anlagen in anderen<br />

Städten bekannt sind bei gleichzeitiger<br />

stärkerer Bevölkerungsabnahme in den alten<br />

gewachsenen Stadtteilen mit ihren Konsequenzen<br />

für Infrastruktur <strong>und</strong> Modernisierung des<br />

Wohnungsbestandes. Wahrscheinlicher ist aber,<br />

dass der Einbruch auf dem Wohnungsmarkt<br />

Mitte der 70er Jahre auch das Projekt Nächstebreck<br />

eingeholt <strong>und</strong> zu einem Abbruch des<br />

Baus in einem weitgehend unfertigen Stadium<br />

geführt hätte. So hätten auf Jahre oder auf<br />

Dauer einzelne Bauabschnitte oder Gebäudekomplexe<br />

als „Planungsruinen“ auf den verbleibenden<br />

grünen Wiesen gestanden, die Bewohner<br />

wären vermutlich lange Zeit ohne eine<br />

ausreichende Versorgung im Nahbereich geblieben,<br />

mit entsprechenden sozialen Problemen<br />

als Folge. Beide Perspektiven bestärken in<br />

der nachträglichen Beurteilung, dass die Entscheidung,<br />

Nächstebreck nicht zu bauen, die<br />

richtige war. Der Stadt sind damit eine Menge<br />

neuer Probleme erspart geblieben.<br />

Für die Wuppertaler Kommunalpolitik war<br />

es einerseits eine Richtung weisende Sternst<strong>und</strong>e.<br />

Neue Großprojekte am Stadtrand sind<br />

nicht mehr geplant worden. Die Förderung der<br />

Innenentwicklung <strong>und</strong> Stadterneuerung erhielt<br />

mehr <strong>und</strong> mehr Priorität. Gr<strong>und</strong>lage der weiteren<br />

Stadtentwicklungsplanung wurde das Räumlich-Funktionale<br />

Entwicklungskonzept, das im<br />

Oktober 1973 vom Rat beschlossen wurde. Im<br />

Mittelpunkt der Planung steht die Entwicklung<br />

der Stadtteile <strong>und</strong> ihrer Zentren mit ihren Versorgungsbedarfen<br />

<strong>und</strong> -ansprüchen sowie die<br />

Erhaltung einer funktionsfähigen Bandstruktur<br />

42 . Wesentliche Bestandteile dieser Innenentwicklung<br />

sind die Sanierung, die 1972<br />

mit der Festlegung des ersten Sanierungsabschnittes<br />

Wiesenstraße konkrete Formen annimmt,<br />

die später hinzukommenden Wohnumfeldverbesserungs-<br />

<strong>und</strong> Verkehrsberuhigungsmaßnahmen<br />

sowie Programme zum Ausbau<br />

von Grünanlagen <strong>und</strong> Stadtplätzen. Neue Siedlungsflächen<br />

entstehen i.d.R. am Stadtrand in<br />

Zuordnung <strong>und</strong> als Arrondierung vorhandener<br />

Siedlungsgebiete. Diese neue Planungspolitik<br />

wird im Mai 1973 organisatorisch unterstützt<br />

durch die Eingliederung des Stadtplanungsamtes<br />

in das Stadtentwicklungsdezernat von<br />

134<br />

Ahlemann, der damit zum Planungsdezernenten<br />

aufsteigt.<br />

Der Entscheidungsverlauf des Projektes<br />

Nächstebreck verdeutlicht auf der anderen<br />

Seite aber auch exemplarisch das Entscheidungsverhalten<br />

der Kommunalpolitiker. Meist<br />

gibt es eine einhellige Zustimmung zu wichtigen<br />

Vorhaben, wenn die Verwaltung einen klaren<br />

Beschlussvorschlag vorlegt <strong>und</strong> kein Protest<br />

von etwaigen Betroffenen zu hören ist. Bis<br />

1970 war dies beim Projekt Nächstebreck der<br />

Fall. Werden Proteste laut, so wird die Angelegenheit<br />

schon schwieriger, gibt es aber zudem<br />

auch unterschiedliche Meinungen aus der<br />

Verwaltung, dann wird meist auch im Rat keine<br />

Entscheidung mehr getroffen. Nach Herstellung<br />

der einheitlichen Verwaltungsmeinung<br />

auf der Basis eines zumindest scheinbar<br />

plausiblen Kompromisses gibt es 1972 wieder<br />

die einstimmige Zustimmung zur Aufgabe<br />

des Projektes Nächstebreck, nachdem OStD<br />

Krumsiek durch eine neue Interpretation der<br />

gegebenen Rahmenbedingungen für einen eindeutigen<br />

Verwaltungsvorschlag gesorgt hatte.<br />

Ebenso einstimmig beschließt der Rat 1972 die<br />

Fortführung der Planung für die Schwebebahnverlängerung<br />

bis zur Beule <strong>und</strong> 1975 den Verzicht<br />

auf die Schwebebahnverlängerung.<br />

Anmerkungen:<br />

1 Vgl. H. Heyken, Planungskonzeptionen für<br />

Wuppertal nach 1945, (unveröffentlichtes Manuskript,<br />

August 1995)<br />

2 Vgl. Flächennutzungsplan der Stadt Wuppertal<br />

<strong>und</strong> Erläuterungsbericht S. 55 ff.<br />

3 Auf dem Bahnhof Döppersberg trafen am<br />

12.7.1960 23 griechische Gastarbeiter ein, die<br />

bei Herberts arbeiten sollen. Sie werden vom<br />

Leiter des Arbeitsamtes Wuppertal <strong>und</strong> von Vertretern<br />

der Fa. Herberts begrüßt. Vgl. GA <strong>und</strong><br />

WR vom 13.7.1960 (Chronik Stadtarchiv).<br />

4 Vgl. Wuppertaler Statistik: Motive der Wanderungen.<br />

Informationen Nr. 4, Sept. 1968.<br />

5 Vgl. Vermerk vom 23.7.1966 über die am<br />

15.7.1968 bei OStD Stelly stattgef<strong>und</strong>ene Besprechung.<br />

6 Vgl. GA/NRZ vom 22.5.1967<br />

7 Der Bau der B 326 (heute A 46) hatte 1963 am<br />

Autobahnkreuz Wuppertal-Nord begonnen. Ab


28.11.1972 war die gesamte Strecke mit der<br />

Teilfreigabe des Sonnborner Kreuzes durchgehend<br />

befahrbar.<br />

8 U.a. wirken dabei mit sowohl der bisherige Baudezernent<br />

Prof. Hetzelt als auch sein Nachfolger<br />

Norbert Jensen.<br />

9 Vgl. Niederschrift über die Beratung der Obergutachter<br />

vom 21.1.1969, S.9, Drs. 129/69 zur<br />

Sitzung des Rates.<br />

10 Die Planung <strong>und</strong> Erschließung der neuen Gewerbegebiete<br />

in Nächstebreck hat zu diesem<br />

Zeitpunkt schon begonnen. Die Bebauungspläne<br />

Nr. 96 <strong>und</strong> 97 für den ersten großen Teilabschnitt<br />

südlich der Linderhauser Str. (Möddinghofe),<br />

wo die Stadt in den Jahren zuvor die<br />

Flächen erworben hatte, waren im Verfahren <strong>und</strong><br />

wurden 1970 rechtsverbindlich. Die Erschließung<br />

begann 1968/69, die ersten Betriebe wurden<br />

ab 1970 angesiedelt.<br />

11 Jensen, der keiner Partei angehörte, war in Lübeck<br />

Leit. Senatsbaudirektor (Fachlicher Leiter<br />

der Bauverwaltung) <strong>und</strong> wurde am 24.6.1968<br />

vom Rat zum Baudezernenten gewählt. Er trat<br />

seinen Dienst zum 1.8.1968 an. Bereits vor<br />

Dienstantritt wurde er von OStD Stelly mit einer<br />

Vielzahl der bei ihm üblichen Kurzschreiben mit<br />

Aufträgen, Anregungen <strong>und</strong> Vorschlägen auf die<br />

besondere Bedeutung des Projektes Nächstebreck<br />

eingestimmt.<br />

12 Vgl. General-Anzeiger vom 25.3.1969.<br />

13 Vgl. ebenda<br />

14 Vgl. Niederschrift über eine Besprechung, betreffend<br />

die Maßnahmeträgerschaft für das Planungsgebiet<br />

Nächstebreck vom 7. Jan. 1910, S. 7.<br />

15 Bis April 1971, als bereits eine mögliche Ablehnung<br />

des Projektes durch den Rat deutlich wird,<br />

werden insgesamt Gr<strong>und</strong>stücke im Umfang von<br />

über 82 ha erworben. Quelle. Zusammenstellung<br />

des Liegenschaftsamtes von 1971.<br />

16 Im Rathaus sind keine der vielen, damals angefertigten<br />

Pläne, Modelle oder Planungsbeschreibungen<br />

mehr vorhanden, die der Entscheidungsfindung<br />

zugr<strong>und</strong>egelegen haben. Sie sind offenbar<br />

bei den verschiedenen inzwischen erfolgten<br />

Umzügen vernichtet worden. Die folgende Darstellung<br />

der Planung fußt daher auf Debattenbeiträgen<br />

der damals Beteiligten, insbesondere<br />

zur Sitzung des Hauptausschuss vom 20.2.1971<br />

<strong>und</strong> zur Ratssitzung am 22.3.1971 sowie einigen<br />

noch vorhandenen Modellphotos.<br />

17 1970 wurde fast in jeder Sitzung des Planungsausschusses<br />

das Thema Nächstebreck angesprochen.<br />

Den Protokollen ist keine gr<strong>und</strong>sätzliche<br />

kritische Stellungnahme eines Stadtverordneten<br />

zu entnehmen.<br />

18 Am gleichen Tage wurde auch Günther Reichardt<br />

(F.D.P.) zum Beigeordneten gewählt (zuständig<br />

für Wirtschafts- <strong>und</strong> Bauförderung). Von<br />

den drei jungen Dezernenten für Bauen, Wirtschaftsförderung<br />

<strong>und</strong> Stadtentwicklung erwartete<br />

der Rat neue Anstöße, einen dynamischen<br />

Schub.<br />

19 Vgl. Stenografischer Bericht über die Sondersitzung<br />

des Hauptausschusses am 20.2.1971, S. 69<br />

20 Vgl. Artikel „Der Traum Nächstebreck“ in der<br />

NRZ vom 15.4.1972.<br />

21 Auch der Stadtkämmerer Dr. Schulze hatte gerade<br />

nach seiner Wahl am 16.7.1970 seinen<br />

Dienst angetreten.<br />

22 Vgl. Drs. Nr. 371/70: Rangfolge der Bebauungspläne.<br />

23 Vgl. Bericht in der NRZ vom 3.2.1971.<br />

24 So werden z.B. auch eine Reihe von Kleingärten<br />

zur Bebauung vorgeschlagen, was sofort den<br />

heftigen Protest aller Kleingärtner hervorruft.<br />

Der Vorschlag zur Überbauung des Steinbecker<br />

Bahnhofsgeländes scheitert bereits in der Vorprüfung<br />

an den zu erwartenden nicht finanzierbaren<br />

Kosten.<br />

25 Vgl. den Bericht von W. Freitag in der Westdeutschen<br />

R<strong>und</strong>schau <strong>und</strong> von W. Lust in der NRZ<br />

vom 19.2.1971.<br />

26 Vgl. Prognos AG: Entwicklungsmöglichkeiten<br />

der Stadt Wuppertal. Basel, Juni 1969.<br />

27 Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Rates<br />

der Stadt am 22.3.1971.<br />

28 Der Gr<strong>und</strong>satzbeschluss zum Bau der Universität<br />

war am 15.2.1971 gefasst worden. Der Rat<br />

verabschiedete damals eine Entschließung, in<br />

der er erklärt, Flächen am Grifflenberg für die<br />

geplante Universität zur Verfügung zu stellen<br />

<strong>und</strong> dass die erforderlichen städtischen Investitionen<br />

für die Universitätsgründung Priorität genießen<br />

sollten. Die von der Stadt zu tragenden<br />

Kosten werden damals auf rd. 50 Mio. DM geschätzt.<br />

29 Vgl. Westdeutsche R<strong>und</strong>schau vom 23.3.1971.<br />

30 Vgl. General-Anzeiger vom 23.3.1971 S. 10.<br />

31 Werner Stelly feiert bei bester Ges<strong>und</strong>heit am<br />

25.5.1989 seinen 80. Geburtstag in Hamburg.<br />

Die Stadt Wuppertal ehrt ihn mit einem Empfang.<br />

Er stirbt am 31.8.1997 im Alter von 88<br />

Jahren.<br />

32 Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Rates<br />

der Stadt am 15. Mai 1972.<br />

33 34 Vgl. Drs. Nr. 157/72.<br />

34 Innerhalb der Verwaltung erfolgt auch in Konsequenz<br />

der Nächstebreck-Planung im Mai 1973<br />

eine organisatorische bzw. personelle Änderung.<br />

Das Stadtplanungsamt wird aus dem Baudezer-<br />

135


nat (Jensen) heraus gelöst <strong>und</strong> dem Stadtentwicklungsdezernat<br />

(Ahlemann) zugeordnet,<br />

das damit zum Planungsdezernat wird.<br />

35 Vgl. H. Heyken, a.a.0.<br />

36 Vgl. Drs. Nr. 417/73.<br />

37 Vgl. Entwicklungsplan Nächstebreck, Stadtentwicklungsplanung<br />

Wuppertal, 1977.<br />

38 Vgl. Drs. Nr. 115/77<br />

Peter Elsner<br />

Wuppertaler Neuerscheinungen 2002/2003<br />

Im folgenden sind wichtige Wuppertaler<br />

Neuerscheinungen aufgelistet, die in den Jahren<br />

2002/2003 – einige „Nachzügler“ aus 2001<br />

sind auch dabei – erschienen sind. Diese Literaturliste<br />

erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.<br />

Außerdem sind nur selbständige Veröffentlichungen<br />

aufgenommen worden, die sich<br />

ausschließlich oder zum großen Teil mit Wuppertaler<br />

Themen oder Persönlichkeiten beschäftigen.<br />

Aufsätze <strong>und</strong> Abhandlungen aus<br />

Zeitschriften <strong>und</strong> Sammelwerken sind absichtlich<br />

nicht berücksichtigt worden. Wegen der<br />

oben gemachten Einschränkungen ist in der<br />

Überschrift auch bewusst das Wort „Bibliographie“<br />

vermieden worden.<br />

Die Uhrmacher- <strong>und</strong> Goldschmiedefamilie<br />

Abeler. Ihre Vorfahren <strong>und</strong> ihre Verwandten.<br />

Lebensläufe, Daten <strong>und</strong> Fakten, besondere Ereignisse<br />

(Teil 3), bearb. <strong>und</strong> hrsg. von Jürgen<br />

Abeler, Sprockhövel: Verlag Dr. Eike Pies<br />

2002, Teil 3 S. 1169-1718, zahlr. Abb. (= Familien-Chroniken,<br />

Bd. 10)<br />

Als der Bunker swingte – Kindheits- <strong>und</strong> Jugenderfahrungen<br />

im Stadtteil Ostersbaum.<br />

Dokumentation <strong>und</strong> Quellensammlung zur Geschichte<br />

des Bunkers am Platz der Republik<br />

1945-1960, hrsg. von der Geschichtswerkstatt<br />

Ostersbaum, Wuppertal: Wupperdruck 2002,<br />

46 S., zahlr. Abb. (= Themenhefte der Geschichtswerkstatt<br />

Ostersbaum, H. 1)<br />

136<br />

39 Vgl. Drs. Nr. 60/72<br />

40 Vgl. Drs. Nr. 342/73 Standortübungsplatz<br />

Scharpenacken.<br />

41 Vgl. Niederschrift des Hauptausschuss vom<br />

13.9.1973, TOP 1.<br />

42 Vgl. Stadt Wuppertal: Räumlich-Funktionales<br />

Entwicklungskonzept. Wuppertal 1974.<br />

Arndt, Markus: Das Zooviertel in Wuppertal<br />

als Beispiel für Planung <strong>und</strong> Bebauung eines<br />

gründerzeitlichen Villenviertels, Wuppertal:<br />

1999 (= Dissertation an der Bergischen Universität<br />

– Gesamthochschule Wuppertal, Fachbereich<br />

Design – Kunst – Musikpädagogik –<br />

Druck) / nur als elektronische Dissertation im<br />

Internet einsehbar<br />

Balzer, Friedrich-Martin/Bock, Hans Manfred/Schöler,<br />

Uli (Hrsg.): Wolfgang Abendroth.<br />

Wissenschaftlicher Politiker: Bio-bibliographische<br />

Beiträge, Opladen: Leske + Budrich<br />

Verlag 2001, 505 S.<br />

bella pittura. Meisterwerke italienischer<br />

Kunst im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert aus den Sammlungen<br />

der Stadt Mailand. Ausstellung im Von der<br />

Heydt-Museum vom 7. Juli – 15. September<br />

2002, Berlin. Reiter-Druck 2002, 287 S., zahlr.<br />

Abb. (= Ausstellungskatalog)<br />

Buslau, Oliver: Rott sieht rot, Köln: Emons<br />

Verlag 2002, 237 S.<br />

Capus, Alex: Fast ein bisschen Frühling, Salzburg:<br />

Residenz Verlag, 4. Aufl. 2002, 175 S.<br />

„Dies soll ein Haus des Gebets sein für alle<br />

Völker“. Festschrift zur Einweihung der neuen<br />

Bergischen Synagoge in Wuppertal, Essen:<br />

Woeste Druck 2002, 72 S., zahlr. Abb.


300 Jahre reformierte Diakonie in Elberfeld<br />

– Reformiertes Armenhaus / Gemeindestift<br />

1677–1977, neu hrsg. aus Anlass der 325-Jahr-<br />

Feier des Reformierten Gemeindestiftes, Wuppertal<br />

2002, 91 S., zahlr. Abb.<br />

100 Jahre Berufskolleg Elberfeld 1903–<br />

2003, Wuppertal: Heinz-Magazin Verlag 2003,<br />

43 S., zahlr. Abb.<br />

100 Jahre Fortuna-Apotheke. 26. Mai 1903–<br />

26. Mai 2003, hrsg. von der Fortuna-Apotheke,<br />

Wuppertal: Ley + Wiegandt 2003, o.S., zahlr.<br />

Abb.<br />

100 Jahre Gr<strong>und</strong>schule Liegnitzer Straße.<br />

Gemeinsam lernen für die Zukunft, hrsg. von<br />

der Städtischen Gemeinschaftsgr<strong>und</strong>schule<br />

Liegnitzer Straße, Wuppertal 2002, 67 S.,<br />

zahlr. Abb.<br />

100 Jahre Rotter Bürgerverein 1902 e.V.,<br />

Wuppertal: Druckhaus Ley + Wiegandt 2002,<br />

o.O., zahlr. Abb.<br />

100 Jahre Schule in der Donarstraße –<br />

1.Oktober 1902 bis 1.Oktober 2002, hrsg.<br />

von der Gemeinschaftsgr<strong>und</strong>schule Donarstraße,<br />

Wuppertal 2002, XXI S., Abb.<br />

110 Jahre <strong>Bergischer</strong> Turnverein 1982 e.V.<br />

Wuppertal-Ronsdorf-Graben: 100 Jahre<br />

Vereinsfahne / 90 Jahre Gesangabteilung / 25<br />

Jahre Seniorenabteilung / 10 Jahre Vereinsheim,<br />

hrsg. vom Bergischen Turnverein 1892<br />

e.V. Wuppertal-Ronsdorf-Graben, Wuppertal<br />

2002, o.S., zahlr. Abb.<br />

Eschmann, Jürgen / Killing, Wolfgang: Spitzensport<br />

in Wuppertal – von den Abendsportfesten<br />

zu den Sprintermeetings, Radevormwald:<br />

Killing 2002, 128 S., zahlr. Abb.<br />

75 Jahre Golf-Club Bergisch-Land Wuppertal.<br />

Geschichte eines Golf-Clubs, hrsg. vom<br />

Golfclub Bergisch Land Wuppertal, o.O.,<br />

[2003], 80 S., zahlr. Abb.<br />

Geschichte im Wuppertal, hrsg. vom Bergi-<br />

schen Geschichtsverein, Abt. Wuppertal e.V.,<br />

dem Historischen Zentrum, dem Stadtarchiv<br />

<strong>und</strong> der Stadtbibliothek, Jg. 11, 2002, 188 S.,<br />

zahlr. Abb.<br />

Goebel, Klaus/Voigt, Günther: Die kleine,<br />

mühselige Welt des jungen Hermann Enters.<br />

Erinnerungen eines Amerika-Auswanderes an<br />

das frühindustrielle Wuppertal, Wuppertal:<br />

Born Verlag, 5. Aufl. 2002, 148 S., 22 Abb.<br />

Günther, Herbert: Zeitsprünge Wuppertal,<br />

Erfurt: Sutton Verlag 2002, 96 S. (= Bildband)<br />

Heidermann, Horst: Seel. Johann Richard<br />

Seel, Maler im Wuppertal <strong>und</strong> Zeichner des<br />

Deutschen Michel, Essen: Thales Verlag 2003,<br />

368 S., zahlr. Abb. (= Beiträge zur Geschichte<br />

<strong>und</strong> Heimatk<strong>und</strong>e des Wuppertals, Bd. 40)<br />

Die Sammlung Holze. Schenkung Hildegard<br />

<strong>und</strong> Dr. Jürgen W. Holze, hrsg. von Sabine Fehlemann.<br />

Ausstellung im Von der Heydt-Museum<br />

vom 13. April–25. Mai 2003, Wuppertal:<br />

Hitzegrad-Druck 2003, 160 S., zahlr. Abb. (=<br />

Ausstellungskatalog)<br />

Im Land der Menschen. Der Missionar <strong>und</strong><br />

Maler Eduard Fries <strong>und</strong> die Insel Nias, hrsg.<br />

von Martin Humburg u.a., Bielefeld: Verlag für<br />

Regionalgeschichte 2003, 128 S., zahlr. Abb.<br />

In meinem Turm in den Wolken – ein Else-<br />

Lasker-Schüler-Almanach, hrsg. von Ulla<br />

Hahn u. Hajo Jahn, Wuppertal: Hammer Verlag<br />

2002, 236 S.<br />

Keller, Peter: Wuppertaler Stadien, Erfurt:<br />

Sutton Verlag 2003, 127 S., zahlr. Abb. (= Die<br />

Reihe „Sportarchiv“)<br />

Kleingärten in Wuppertal. Notizen <strong>und</strong> Ereignisse<br />

aus dem Kreisverband Wuppertal der<br />

Kleingärtner e.V. <strong>und</strong> der ihm angeschlossenen<br />

Vereine, bearb. von Werner Blott, Wuppertal<br />

2001, 62. S., zahlr. Abb.<br />

Konrad, Günter: Lebendige Vergangenheit.<br />

Geschichte <strong>und</strong> Geschichten um Ronsdorf,<br />

137


Neustadt/Aisch: VDS-Verlagsdruckerei Schmidt<br />

2002, 288 S., 99 Abb.<br />

Lo, Peter: Einfältiges Bekenntnis. Abendmahlstraktat<br />

an die Christen in Elberfeld von<br />

1556, als Faksimile hrsg. u. eingeleitet von<br />

Hermann-Peter Eberlein, Waltrop: Verlag Hartmut<br />

Spenner 2002, o.S.<br />

Magner, Michael: Wuppertal-Elberfeld – Briller<br />

Viertel <strong>und</strong> Nordstadt, Erfurt. Sutton Verlag<br />

2003, 127 S., zahlr. Abb. (= Die Reihe Archivbilder)<br />

Meis, Sabine: Historische Grabmäler der<br />

Wupperregion – dokumentiert <strong>und</strong> analysiert<br />

vor dem Hintergr<strong>und</strong> der Entwicklung der Sepulkralkultur,<br />

Wuppertal: 2002 (= Dissertation<br />

an der Bergischen Universität – Gesamthochschule<br />

Wuppertal, Fachbereich Design – Kunst<br />

– Musikpädagogik – Druck) / nur als elektronische<br />

Dissertation im Internet einsehbar<br />

Meyer-Kahrweg, Ruth: Architekten, Bauingenieure,<br />

Baumeister, Bauträger <strong>und</strong> ihre Bauten<br />

im Wuppertal, Sprockhövel: Pies Verlag<br />

2003, 674 S.<br />

Mintert, David Magnus: „Sturmtrupp der<br />

Deutschen Republik“ – Das Reichsbanner<br />

Schwarz-Rot-Gold im Wuppertal, o.O.: Edition<br />

Wahler 2002, 153 S., zahlr. Abb. (= Forschungsgruppe<br />

Wuppertaler Widerstand, Bd. 6)<br />

Mühl, Karl Otto: Siebenschläfer, Wuppertal:<br />

NordPark Verlag, unveränderte Neuausgabe<br />

2002, 177 S.<br />

Nacht über Deutschland. Berliner <strong>und</strong> Dresdener<br />

Kunst zwischen 1930 <strong>und</strong> 1960 aus der<br />

Nationalgalerie Berlin. Ausstellung im Von der<br />

Heydt-Museum vom 26. Januar – 30. März<br />

2003, Berlin: Allprint Media 2003, 79 S., zahlr.<br />

Abb. (=Ausstellungskatalog).<br />

„Niemand hat mich wiedererkannt …“ –<br />

Else Lasker-Schüler in Wuppertal, ausgewählt<br />

u. kommentiert von Ulrike Schrader, Essen:<br />

Woeste Druck 2003, 112 S., zahlr. Abb.<br />

138<br />

Oberbarmer Gemeindegeschichte. Gemarke<br />

– Wichlinghausen – Wupperfeld – Hatzfeld –<br />

Heidt – Heckinghausen, hrsg. von Fritz Mehnert,<br />

Wuppertal: Staats-Verlag 2002, 596 S.,<br />

zahlr. Abb.<br />

Rassek, Bernd-Dietrich: Eine Idee setzt sich<br />

durch – Barmen, die älteste Freiwillige Feuerwehr<br />

in Deutschland?! Die Geschichte des<br />

Brandschutzes in Barmen <strong>und</strong> Elberfeld anhand<br />

von Dokumenten, Wuppertal: Nacke<br />

Druck 2001, 155 S., zahlr. Abb.<br />

Richard Wagner Verband Wuppertal e.V.<br />

1953–2003, hrsg. vom Richard Wagner Verband<br />

Wuppertal, Wuppertal: Droste-Druck<br />

2003, 64 S., zahlr. Abb.<br />

Röhrig, Eberhard: Es ist dir gesagt, Mensch,<br />

was gut ist – Ein Rückblick, Sprockhövel: Eike<br />

Pies-Verlag 1. Aufl. 2002, 2. korrigierte Aufl.<br />

2003, 168 S., 1 Abb. (= Zeitzeugen, Bd. 2)<br />

Schmidt, Andreas: Das Schwebebahn-Komplott,<br />

Hillesheim: HBV-Verlags- <strong>und</strong> Mediengesellschaft<br />

2002, 248 S.<br />

Schnöring, Kurt: Beyenburg – ein bergisches<br />

Juwel, Horb am Neckar: Geiger Verlag 2001,<br />

72 S. (= Bildband)<br />

Schnöring, Kurt: Das war das 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

in Wuppertal, Gudensberg-Gleichen: Wartberg<br />

Verlag 2002, 103 S., zahlr. Abb. (= Bilder aus<br />

Wuppertal)<br />

Schug, Jürgen: Wuppertal – Die Stadt, das Tal<br />

<strong>und</strong> die Menschen, Köln: Emons Verlag 2002,<br />

162 S. (= Bildband)<br />

Speer, Florian: Ausländer im „Arbeitseinsatz“<br />

im Wuppertal. Zivile Arbeitskräfte, Zwangsarbeiter<br />

<strong>und</strong> Kriegsgefangene im zweiten Weltkrieg,<br />

Neustadt/Aisch: Verlagsdruckerei Schmidt<br />

2003, 636 S., zahlr. Abb.<br />

Stock, Wolfgang: Wuppertaler Straßennamen<br />

– ihre Herkunft <strong>und</strong> Bedeutung, Essen: Thales<br />

Verlag 2002, 448 S., zahlr. Abb.


Das Taufbuch der reformierten Gemeinde<br />

Elberfeld 1682-1718, Abschrift, bearb. von<br />

Ursula Ernestus, Wuppertal 2002, 640 S.<br />

(2 Teile)<br />

Tigges, Reinhold: Reisen ist Leben – Dr. Hubert<br />

Tigges <strong>und</strong> seine Welt, Wuppertal: Hammer<br />

Verlag 2001, 264 S., zahlr. Abb.<br />

Vierzig Jahre Nützenberger Turn- <strong>und</strong><br />

Spielverein 1962–2002, hrsg. vom Nützenberger<br />

TV, Wuppertal 2002, 52 S., zahlr. Abb.<br />

Wegner, Armin T.: Brief an Hitler, Wuppertal:<br />

Hammer Verlag 2002, 54 S.<br />

Peter Elsner<br />

Jubiläen <strong>und</strong> Gedenktage 2004<br />

■ 1304<br />

Erste urk<strong>und</strong>liche Erwähnung von Langerfeld.<br />

■ 1579<br />

31. August<br />

Gründung der Amtsschule in Barmen, eine der<br />

Vorgängerschulen des Wilhelm-Dörpfeld-<br />

Gymnasiums. Im Jahr 1865 erhielt man die Anerkennung<br />

als Gymnasium, seit 1931 führt<br />

man den Namen Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasium.<br />

■ 1754<br />

1. Oktober<br />

Eröffnung des Bankhauses von der Heydt,<br />

Kersten & Söhne in Elberfeld, das eine der ältesten<br />

Privatbanken in Deutschland gewesen<br />

ist. Im Jahr 1911 erfolgte die Umwandlung in<br />

eine Kommanditgesellschaft unter 100%iger<br />

Beteiligung des Barmer Bankvereins, der in<br />

Friedrich Werthmann Skulpturen. Werkverzeichnis<br />

1957–2002, hrsg. von Sabine Fehlemann.<br />

Ausstellung in der Kunsthalle Barmen<br />

im Haus der Jugend vom 9. März – 27. April<br />

2003, Wuppertal: Hitzegrad-Druck 2003, 270<br />

S., zahlr. Abb. (= Ausstellungskatalog)<br />

Wir feiern: 150 Jahre Köbners Kirche 2002,<br />

hrsg. von der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde<br />

Wuppertal-Barmen, Witten: Digital<br />

Print 2002, 152 S., zahlr. Abb.<br />

Zelger, Lotte: Eine große Arztfamilie – die<br />

Hoffas. Ihre Geschichte – ihre Schicksale<br />

1822–2002, Stans: Bücher von Matt-Verlag<br />

2002, 166 S., zahlr. Abb.<br />

den 30er Jahren in der Commerzbank aufgegangen<br />

ist.<br />

■ 1804<br />

20. Februar<br />

Johann Anton Friedrich Baudri, Kölner Weihbischof,<br />

wird in Elberfeld geboren. Obwohl die<br />

Domkapitel in Paderborn, Trier <strong>und</strong> Köln ihn<br />

für die Wahl zum Bischof vorschlugen, verhinderte<br />

die Regierung seine Wahl. Der Gr<strong>und</strong> für<br />

die Ablehnung war seine klare Haltung gegen<br />

jegliche Einmischung des Staates in kirchliche<br />

Angelegenheiten. Baudri, der zu den Mitbegründern<br />

des Kölner Diözesanmuseums <strong>und</strong><br />

des Borromäusvereins gehörte, starb 1893 in<br />

Köln.<br />

■ 1829<br />

16. März<br />

Der Textilfabrikant Abraham Frowein stirbt in<br />

seiner Geburtsstadt Elberfeld. Er war der letzte<br />

139


Elberfelder Bürgermeister (Mai bis Dezember<br />

1807), der noch nach der alten Magistratsverordnung<br />

aus dem Jahre 1610, überarbeitet<br />

1708, gewählt wurde.<br />

29. Juni<br />

Mit der Schlachtung eines Ochsen wurde am<br />

Brausenwerth der erste städtische Schlachthof<br />

in Elberfeld in Betrieb genommen. Dieser<br />

Schlachthof wurde von der Stadt Elberfeld auf<br />

freiwilliger Basis errichtet. Erst das Schlachthausgesetz<br />

aus dem Jahr 1868 verpflichtete die<br />

Städte, öffentliche Schlachthofanlagen zu<br />

bauen. In der zweiten Hälfte des Jahres 1829<br />

wurden im Schlachthof 739 Ochsen, 1025<br />

Kühe, 3205 Schafe, 919 Kälber <strong>und</strong> 458<br />

Schweine geschlachtet. Die Schlachtgebühr<br />

betrug für einen Ochsen 10 Sgr., für eine Kuh<br />

8 Sgr., für ein Schaf oder ein Kalb 2 Sgr. <strong>und</strong><br />

für ein Schwein 4 Sgr..<br />

25. August<br />

Gründung der Textilwerke Barthels & Feldhoff<br />

in Barmen.<br />

21. November<br />

Gründung der Barmer Gesellschaft „Union“.<br />

Die anfangs zweimal wöchentlich stattfindenden<br />

Zusammenkünfte dienten satzungsgemäß<br />

der geselligen Unterhaltung <strong>und</strong> Erholung der<br />

Mitglieder. Man verpflichtete sich zu politischer<br />

Neutralität <strong>und</strong> Toleranz gegenüber allen<br />

religiösen Gemeinschaften.<br />

■ 1854<br />

6. Januar<br />

Gründung des Barmer Kolpingvereins. Barmen<br />

war damit eine der letzten größeren Städte<br />

im Rheinland, in denen die Idee Kolpings, einen<br />

Gesellenverein zu gründen, verwirklicht<br />

wurde.<br />

1. Mai<br />

Einweihung des neuen Landgerichtsgebäudes<br />

auf dem Eiland, das zu den ältesten, noch bestehenden<br />

Justizgebäuden in Deutschland gehört.<br />

Um die Auswahl des Standortes wurde<br />

140<br />

damals heftig gestritten, im Nachhinein erwies<br />

sich aber die Lage an der Grenze zwischen<br />

Barmen <strong>und</strong> Elberfeld als positiv für das Zusammenwachsen<br />

der beiden Städte.<br />

22. November<br />

Gründung der Freien evangelischen Gemeinde<br />

Elberfeld-Barmen; es war die erste offizielle<br />

Gemeindegründung Freier evangelischer Gemeinden<br />

in Deutschland.<br />

10. Dezember<br />

Gründung der evangelischen Kirchengemeinde<br />

in Beyenburg. Seit 1679 gehörten die evangelischen<br />

Christen Beyenburgs zur Gemeinde<br />

Remlingrade.<br />

■ 1879<br />

Gründung des Männergesangsvereins Liederkranz,<br />

der im Jahr 1921 mit dem 1887 gegründeten<br />

Männergesangsverein Eintracht zum<br />

Männerchor Vohwinkel fusionierte.<br />

Gründung der privaten Wirtschaftsschule<br />

Förster in Elberfeld.<br />

15. Januar<br />

In Barmen wird Ernst Vesper geboren. Er<br />

gehörte zu den Pionieren der sozialen Sicherung<br />

für Angestellte in Deutschland. Die von<br />

ihm in Barmen mitgegründete „Krankenkasse<br />

für Handelsangestellte“ breitete sich unter dem<br />

Namen „Barmer Ersatzkasse“ rasch über ganz<br />

Deutschland aus <strong>und</strong> ist heute die größte Ersatzkasse.<br />

Vesper, der auch Mitglied der Barmer<br />

Stadtverordnetenversammlung gewesen ist<br />

<strong>und</strong> aktiv in verschiedenen Turn- <strong>und</strong> Gesangsvereinen<br />

mitgearbeitet hat, starb 1949 in Wuppertal.<br />

2. März<br />

Johann Victor Bredt wird in Barmen geboren.<br />

Der Jurist <strong>und</strong> Wirtschaftswissenschaftler<br />

lehrte seit 1910 als Professor der Rechtswissenschaften<br />

an der Universität in Marburg. Neben<br />

seiner wissenschaftlichen Tätigkeit war<br />

Bredt politisch sehr aktiv, hauptsächlich in Kir-


chen-, Steuer- <strong>und</strong> Finanzfragen. Er war Mitglied<br />

des Preußischen Abgeordnetenhauses<br />

(1911–1918), des Preußischen Landtages<br />

(1921–1924) <strong>und</strong> des Reichstages (1924–<br />

1933). Von März bis Dezember 1930 war der<br />

Mitbegründer der Reichspartei des Deutschen<br />

Mittelstandes (Wirtschaftspartei) Justizminister<br />

im Kabinett Brüning. Obwohl Bredt seine<br />

Geburtsstadt schon in jungen Jahren verlassen<br />

hatte, ließ er die (familiären) Verbindungen<br />

nach Barmen zeitlebens nicht abbrechen. Darüber<br />

hinaus befasste er sich in zahlreichen<br />

Veröffentlichungen mit der Wuppertaler Geschichte,<br />

so z.B. in den Geschichten der Familien<br />

Bredt, Siebel <strong>und</strong> Molineus sowie in seiner<br />

Dissertation „Die Lohnindustrie dargestellt am<br />

Beispiel der Garn- <strong>und</strong> Textilindustrie von Barmen.“<br />

Bredt starb 1940 in Marburg.<br />

1. April<br />

Gründung der Holz- <strong>und</strong> Eisenwarenhandlung<br />

Hermann Matthey in Barmen.<br />

Gründung der Holzgroßhandlung Kolk & Co.<br />

in Vohwinkel.<br />

18. April<br />

Im Alter von 63 Jahren stirbt in Elberfeld Wilhelm<br />

Meckel, der einer der erfolgreichsten<br />

Seidenfabrikanten der damaligen Zeit war.<br />

Großen Wert legte er auf die Ausdehnung des<br />

Exportgeschäftes, wobei ihn hauptsächlich der<br />

amerikanische Kontinent interessierte. Meckel,<br />

von 1871–1874 <strong>und</strong> von 1876–1879 Präsident<br />

der Elberfelder Handelskammer, war ein Gegner<br />

der Freihandelspolitik. Er setzte sich für<br />

eine konsequente Schutzzollpolitik besonders<br />

gegenüber England ein.<br />

21. April<br />

Der Luftfahrtpionier Oskar Erbslöh wird in Elberfeld<br />

geboren. Als Ballonfahrer siegte er bei<br />

zahlreichen nationalen <strong>und</strong> internationalen<br />

Wettbewerben. Im Jahre 1907 gewann er in den<br />

USA den begehrten Gordon-Bennet-Pokal,<br />

wobei er mit seinem Ballon in 28 St<strong>und</strong>en eine<br />

Strecke von rd. 875 Meilen zurücklegte. In der<br />

Folgezeit wandte er sich immer mehr der motorisierten<br />

Luftschifffahrt zu. So gründete Erbs-<br />

löh 1908 in Elberfeld die Rheinisch-Westfälische-Motorluftschifffahrt-Gesellschaft<br />

<strong>und</strong><br />

wurde auch deren Vorsitzender. Im Juli 1910<br />

verunglückte er beim Absturz des Luftschiffes<br />

„Erbslöh“ in der Nähe von Leichlingen tödlich.<br />

10. Mai<br />

Gründung der Stannol-Lötmittelfabrik Wilhelm<br />

Pfaff in Barmen.<br />

19. Mai<br />

Einweihung der evangelischen Volksschule<br />

Hesselnberg. Heute ist in dem Gebäude (Hesselnberg<br />

70) das Griechische Lyzeum untergebracht.<br />

16. August<br />

Der Mediziner <strong>und</strong> Bakteriologe Alois Pollender<br />

stirbt im Alter von 80 Jahren in Barmen. Er<br />

entdeckte im Jahr 1849 den Milzbranderreger<br />

<strong>und</strong> damit war der erste Schritt zur systematischen<br />

Seuchenbekämpfung getan.<br />

15. September<br />

Eröffnung der Strecke der Rheinischen Eisenbahn<br />

von Düsseldorf nach Hagen. Die neue Linie<br />

machte der Bergisch-Märkischen Eisenbahn<br />

Konkurrenz, da sie kürzer war sowie geringere<br />

Fahrzeiten <strong>und</strong> Fahrpreise hatte.<br />

22. September<br />

Gründung des Barmer Haus- <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>besitzervereins,<br />

ein Vorgänger des 1951 gegründeten<br />

Wuppertaler Haus- <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>besitzervereins.<br />

1. Oktober<br />

Eröffnung der städtischen Sparkasse in Ronsdorf.<br />

Dabei übernahm die Kasse den Bestand<br />

von 328 Sparkonten der vorher existierenden<br />

Privatsparkasse.<br />

15. Oktober<br />

Einweihung des Wasserwerkes in Düsseldorf-<br />

Benrath, das ausschließlich zur Trinkwasserversorgung<br />

der Stadt Elberfeld gebaut worden<br />

ist. Wegen zu starker Verschmutzung war die<br />

Wupper damals nicht als Trinkwasserreservoir<br />

geeignet, so dass man auf Rheinwasser zurück-<br />

141


greifen musste. Zum Transport des Trinkwassers<br />

wurde eine rd. 16 km lange Rohrleitung<br />

von Benrath nach Elberfeld verlegt.<br />

24. November<br />

Gründung des Kirchenchores der katholischen<br />

Gemeinde St. Remigius in Sonnborn.<br />

29. November<br />

Erste Ausgabe der Tageszeitung „Neueste<br />

<strong>Nachrichten</strong> für Elberfeld/Barmen <strong>und</strong> Umgegend“,<br />

die 1914 von der Bergisch-Märkischen<br />

Zeitung übernommen wurde. Von Oktober<br />

1885 an wurden die „Neuesten <strong>Nachrichten</strong>“<br />

als erste Zeitung des Bergischen Landes auf<br />

einer Rotationsmaschine gedruckt.<br />

1. Dezember<br />

Eröffnung der Landwirtschaftsschule für den<br />

Kreis Mettmann in Wülfrath; die Schule wurde<br />

1900 von Wülfrath nach Vohwinkel verlegt.<br />

17. Dezember<br />

Einweihung der Hottensteiner Kirche der evangelischen<br />

Gemeinde in Nächstebreck. Die in<br />

einer Holzkonstruktion erbaute Kirche blieb bis<br />

1953 in ihrer ursprünglichen Gestalt erhalten,<br />

erst dann erhielt sie einen steinernen Anbau.<br />

■ 1904<br />

Gründung der Schützengesellschaft Vohwinkel<br />

04.<br />

Gründung der Seidenfabrik Langensiepen &<br />

Müller in Ronsdorf.<br />

Gründung der Evangelisch-Freikirchlichen<br />

Gemeinde (Baptisten) in Cronenberg.<br />

6. Januar<br />

Patentierung des „Bayer-Kreuzes“. Dieses<br />

Emblem, das von einem Mitarbeiter im Elberfelder<br />

Stammwerk entworfen wurde, entwickelte<br />

sich sehr rasch zum Markenzeichen<br />

des Bayer-Werkes, ab 1910 wurde es auch auf<br />

Tabletten geprägt. Im Februar 1933 wurde dieses<br />

Symbol als damals größte Blinklichtanlage<br />

142<br />

der Welt im Werk Leverkusen in Betrieb genommen.<br />

Seitdem ist das Bayer-Kreuz als Markenzeichen<br />

auf allen Werken der Bayer AG installiert.<br />

19. Januar<br />

Der Bildhauer Fritz Bernuth wird in Elberfeld<br />

geboren. Seine bevorzugten Motive waren<br />

Tiere. Neben zahlreichen Plastiken <strong>und</strong> Denkmälern,<br />

u.a. schuf er die Bronzeplastik „Pythagoras“<br />

am Johannisberg unterhalb des Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasiums<br />

<strong>und</strong> den Berlin-<br />

Gedenkstein am Berliner Platz in Oberbarmen,<br />

entwarf er auch Grabdenkmäler. Bernuth<br />

wurde 1954 mit dem Von der Heydt-Preis der<br />

Stadt Wuppertal ausgezeichnet. Im Alter von<br />

75 Jahren starb er in Wuppertal.<br />

8. Februar<br />

Hans Rauhaus wird in Cronenberg geboren.<br />

Der engagierte Politiker hat sich um den demokratischen<br />

Neubeginn <strong>und</strong> den Wiederaufbau<br />

der Stadt Wuppertal nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

sehr verdient gemacht. Er gehörte von<br />

1948 bis 1975 dem Stadtrat an <strong>und</strong> war von<br />

1958 bis 1961 auch Bürgermeister; in den Jahren<br />

zwischen 1961 <strong>und</strong> 1965 war er außerdem<br />

Mitglied des Deutschen B<strong>und</strong>estages. Für Rauhaus,<br />

der 1998 in Wuppertal starb, stand stets<br />

der Mensch im Mittelpunkt seines politischen<br />

Handelns.<br />

10. März<br />

Gründung der Firma Arti, Holzlacke <strong>und</strong> Beizen,<br />

in Langerfeld.<br />

1. April<br />

Gründung der Fa. Bomoro (Bocklenberg &<br />

Motte) in Ronsdorf; der Spezialist für Autoschlösser<br />

gehört seit 2002 zum Unternehmen<br />

Brose-Schließsysteme.<br />

15. April<br />

Eröffnung des Katernberger Vereinshauses der<br />

evangelisch-reformierten Gemeinde Elberfeld.<br />

Das Haus entwickelte sich zu einem Mittelpunkt<br />

für Freizeitgestaltung <strong>und</strong> kirchliche<br />

Veranstaltungen verschiedenster Art, besonders<br />

für junge Menschen.


8. Mai<br />

Gründung des Heidter Bezirksvereins in der<br />

Gaststätte Wilhelm Klein in der Heckinghauser<br />

Straße. Zweck der Vereinsgründung war es „…<br />

die allgemeinen Interessen des Heidts zu vertreten<br />

<strong>und</strong> als Mittler zwischen der Bevölkerung<br />

<strong>und</strong> den amtlichen Stellen aufzutreten.“<br />

Ferner hatte es sich der Verein zum Ziel gesetzt,<br />

die Liebe zur Heimat <strong>und</strong> zur Natur zu<br />

pflegen <strong>und</strong> den Gemeinschaftssinn unter den<br />

Anwohnern zu fördern.<br />

1. Juli<br />

Offizielle Eröffnung der Niederlassung der<br />

Dominikanerinnen im St. Remigius-Haus in<br />

Sonnborn. Arbeitsbereiche der Ordensschwestern<br />

waren die ambulante Krankenpflege, eine<br />

Kinderbewahranstalt, eine Handarbeits- <strong>und</strong><br />

Haushaltungsschule sowie die Aufnahme pflegebedürftiger<br />

Frauen.<br />

10. Juli<br />

Gründung des katholischen Arbeitervereins St.<br />

Laurentius in Elberfeld. Hauptaufgabe des Vereins<br />

war es, die soziale Lage der Arbeiter zu<br />

verbessern. Darüber hinaus organisierte man<br />

zahlreiche kulturelle Veranstaltungen, um die<br />

Arbeiterschaft stärker am kulturellen Leben<br />

teilnehmen zu lassen.<br />

3. September<br />

Gründung des Musikvereins Uellendahl.<br />

15. September<br />

Einweihung der Volksschule in der Emilienstraße,<br />

heute Hauptschule. Im Ersten Weltkrieg<br />

wurde die Schule zum Lazarett umfunktioniert<br />

<strong>und</strong> von 1905–1910 sowie von 1918–1923 war<br />

in dem Gebäude auch das Barmer Lehrerinnenseminar<br />

untergebracht. Die Schule in der<br />

Emilienstraße war die einzige von 12 Volksschulen<br />

am Barmer Südhang, die den Bombenangriff<br />

1943 ohne größeren Schaden überstanden<br />

hat.<br />

3. Oktober<br />

Einweihung der evangelischen Volksschule in<br />

der Eichenstraße. Ursprünglich für sieben<br />

Klassen geplant, wurden schon bei der Er-<br />

öffnung neun Klassen mit insgesamt 476<br />

Schülern eingerichtet. Heute ist die Schule eine<br />

Gemeinschaftsgr<strong>und</strong>schule.<br />

4. Oktober<br />

Offizielle Eröffnung der Rheinischen Provinzial-Hebammen-Lehranstalt,<br />

der späteren Landesfrauenklinik,<br />

in der Vogelsangstraße in Elberfeld.<br />

Nach der Schließung der Hebammenlehranstalt<br />

in Köln im Jahre 1924 war die Elberfelder<br />

Einrichtung alleinige Aus- <strong>und</strong> Fortbildungsstätte<br />

für sämtliche Hebammen in der<br />

Rheinprovinz. Im Jahr 1985 ging das Krankenhaus<br />

in die Trägerschaft der katholischen St.<br />

Antonius-Kliniken über.<br />

28. Oktober<br />

Gründung der Freiwilligen Feuerwehr Cronenberg-Mitte;<br />

Anlass war ein Großbrand bei der<br />

Werkzeugfabrik Prinz <strong>und</strong> Kremer. Im Jahr<br />

1908 schloss man sich mit den Wehren Berghausen<br />

(gegr. 1896), Kuchhausen <strong>und</strong> Küllenhahn<br />

zur Freiwilligen Feuerwehr Cronenberg<br />

zusammen.<br />

5. November<br />

Der Maler <strong>und</strong> Grafiker Adolf Röder wird in<br />

Barmen geboren. Landschaften, Stillleben <strong>und</strong><br />

Figurenbilder waren seine bevorzugten Motive.<br />

Er war Mitbegründer des „Rings bergischer<br />

Künstler“ <strong>und</strong> von 1947 bis 1983 dessen Vorsitzender.<br />

Bis zu seinem Tod im Jahr 1983 war<br />

Röder als Galerist <strong>und</strong> Gastronom in der „Galerie<br />

Palette Röderhaus“ am Sedansberg aktiv.<br />

■ 1929<br />

Gründung der Barmer Billard-Fre<strong>und</strong>e 1929.<br />

Bis 1988 diente eine Gaststätte in der Haspeler<br />

Schulstraße als Spielstätte, danach spielte man<br />

in den Räumen des ehemaligen Arbeitsamtes in<br />

der Gronaustraße. Im Jahr 1999 eröffnete der<br />

Verein das neue Billardzentrum in der Neumarktstraße.<br />

Gründung der Kleingartenvereine „Westen“ in<br />

Elberfeld <strong>und</strong> „Kahlen Asten“ in Barmen.<br />

Gründung des Dönberger Schützenvereins.<br />

143


12. Januar<br />

Im Alter von 65 Jahren stirbt Karl Krall. Der<br />

Pferdeliebhaber war überzeugt davon, dass<br />

Pferde „denken <strong>und</strong> rechnen“ können. Seine<br />

Beobachtungen <strong>und</strong> Versuche veröffentlichte<br />

er 1912 in seinem Buch „Denkende Tiere“. Die<br />

Reaktion auf diese Publikation reichte von begeisternder<br />

Anerkennung bis zu schroffer Ablehnung.<br />

Zahlreiche Journalisten, Verhaltensforscher<br />

<strong>und</strong> Tierpsychologen beschäftigten<br />

sich mit den „denkenden“ Pferden – das bekannteste<br />

war der „kluge Hans“ – aus Elberfeld.<br />

Ob die Pferde des Karl Krall nun selbstständig<br />

denken <strong>und</strong> rechnen konnten oder nur<br />

gut dressiert waren, diese Frage konnte nie<br />

endgültig geklärt werden.<br />

7. März<br />

Heinrich Bammel stirbt im Alter von 73 Jahren.<br />

Am 1. Juli 1888 wurde er Bürgermeister<br />

der damals gerade selbständig gewordenen Gemeinde<br />

Vohwinkel <strong>und</strong> blieb es bis 1919. Er<br />

war bei den Bürgern äußerst beliebt <strong>und</strong> wurde<br />

auch von seinen politischen Gegnern geachtet,<br />

da er sein Amt stets zum Wohle der Gemeinde<br />

<strong>und</strong> ihrer Einwohner einsetzte.<br />

3. April<br />

Gründung des Wuppertaler Spar- <strong>und</strong> Bauvereins.<br />

Zweck der Vereinsgründung war es, preisgünstige<br />

Wohnungen für Bevölkerungsschichten<br />

mit niedrigem Einkommen zu bauen.<br />

19. April<br />

Inbetriebnahme des neuen Fernsprechmeldeamtes<br />

in der Briller Straße. Damit erfolgte für<br />

einen Teil der Elberfelder Fernsprechteilnehmer<br />

(ca. 4.200) die Umstellung vom Hand- auf<br />

den Wählbetrieb.<br />

23. Juni<br />

Einweihung der Waldkampfbahn in Vohwinkel.<br />

Die Fertigstellung war das letzte große<br />

Bauprojekt der selbständigen Stadt Vohwinkel.<br />

Noch heute wird die Anlage von Sportvereinen<br />

<strong>und</strong> Schulen genutzt.<br />

August<br />

Gründung der Rheingold-Reisen in Wuppertal.<br />

144<br />

Die ersten Ausflüge an den Rhein fanden noch<br />

in umgerüsteten Lastkraftwagen statt.<br />

1. August<br />

Gründung der Stadt Wuppertal durch Zusammenlegung<br />

der Stadtgemeinden Barmen, Elberfeld,<br />

Vohwinkel, Cronenberg <strong>und</strong> Ronsdorf,<br />

des Ortseiles Beyenburg aus der Stadtgemeinde<br />

Lüttringhausen sowie Teilen der Stadtgemeinden<br />

Haan, Wülfrath, Hardenberg-Neviges<br />

<strong>und</strong> Teilen der Landgemeinden Schöller,<br />

Gruiten <strong>und</strong> Gennebreck. Die neu entstandene<br />

Stadt hatte ein Gesamtfläche von ca. 15.000 ha<br />

<strong>und</strong> rd. 415.00 Einwohner. Gr<strong>und</strong>lage für diese<br />

„Stadtgründung“ war das „Gesetz über die<br />

kommunale Neugliederung des rheinischwestfälischen<br />

Industriegebietes“, das der<br />

Preußische Landtag am 29. Juli 1929 verabschiedet<br />

hatte.<br />

28. September<br />

August Freiherr von der Heydt, Teilhaber des<br />

Bankhauses Von der Heydt, Kersten <strong>und</strong><br />

Söhne, stirbt in Bad Godesberg. Geboren 1851<br />

in Elberfeld war er Ehrenbürger seiner Heimatstadt;<br />

seine Verdienste um die Stadt sind vielfältig.<br />

Er stiftetet mehrere Denkmäler, förderte<br />

den Bau des Stadttheaters <strong>und</strong> setzte sich für<br />

die Errichtung des Zoologischen Gartens ein.<br />

Ganz besonders trat er als Kunstmäzen hervor.<br />

Als Mitbegründer <strong>und</strong> langjähriger Vorsitzender<br />

des Museumsvereins hatte von der Heydt<br />

großen Anteil an der Einrichtung des städtischen<br />

Kunstmuseums <strong>und</strong> dem Aufbau der Abteilung<br />

der neueren Malerei. Seine umfangreiche<br />

Privatsammlung, vor allem Bilder zeitgenössischer<br />

Maler, ging vollständig in den<br />

Besitz des Museums über.<br />

15. November<br />

Eröffnung des Sportgeschäftes Weidenbach in<br />

Barmen<br />

18. November<br />

Gründung des „Ski-Club Cronenberg“. Die 14<br />

Gründungsmitglieder hatten sich „die gemeinsame<br />

Ausübung <strong>und</strong> Pflege des Ski-Sports ...<br />

die Organisation gemeinsamer Ski-Touren<br />

durch das Bergische Land sowie Fahrten zu


den Wintersportplätzen des Sauerlandes“ zum<br />

Ziel gesetzt. Von 1933 bis Ende der 50er Jahre<br />

unterhielt der Verein im Gelpetal eine Sprungschanze.<br />

Der Bau <strong>und</strong> die Unterhaltung dieser<br />

Anlage wurde ausschließlich von Vereinsmitglieder<br />

durchgeführt.<br />

28. November<br />

Einweihung des Bethesda-Krankenhauses in<br />

der Hainstraße in Elberfeld. Nach einer zweimonatigen<br />

Besetzung (Ende April bis Ende<br />

Juni 1945) des Krankenhauses durch die<br />

Amerikaner, wurde das gesamte Anwesen am<br />

16. Oktober 1945 von den Briten beschlagnahmt<br />

<strong>und</strong> als britisches Militär-Hospital genutzt.<br />

Erst Ende Oktober 1953 gaben die Besatzer<br />

das Krankenhausgelände mit allen dazugehörigen<br />

Gebäuden wieder frei. Die notwendigen<br />

Instandsetzungsarbeiten dauerten mehr<br />

als ein halbes Jahr <strong>und</strong> das Krankenhaus<br />

konnte erst am 6. Mai 1954 wieder eröffnet<br />

werden.<br />

■ 1954<br />

Januar<br />

Beginn der staubfreien Müllabfuhr in Wuppertal.<br />

Damit mussten die Mülltonnen nicht mehr<br />

von Hand entleert werden, sondern die Leerung<br />

erfolgte vollständig automatisch durch<br />

eine spezielle Vorrichtung an den Müllwagen.<br />

14. Januar<br />

Mit dem Film „Solange du da bist“ wird das<br />

neu erbaute Kino Lichtburg am Alten Markt<br />

(wieder)eröffnet.<br />

24. Januar<br />

In Wuppertal stirbt Helmut Weese, der seit<br />

1929 das pharmakologische Institut der Bayer-<br />

Werke in Elberfeld leitete <strong>und</strong> zahlreiche wissenschaftliche<br />

Entdeckungen machte. Er war<br />

u.a. maßgeblich an der Entwicklung des Narkosemittels<br />

„Evipan“ beteiligt <strong>und</strong> unter seiner<br />

Leitung wurde auch das künstliche Blutplasma<br />

„Periston“ erf<strong>und</strong>en, das im Zweiten Weltkrieg<br />

vielen Menschen das Leben rettete.<br />

5. Februar<br />

Eröffnung des „Studio-Lichtspieltheaters“ im<br />

Fita-Palast in Barmen. Wie der Name schon<br />

andeutet, hatte dieses Kino Studio-Charakter<br />

<strong>und</strong> mit 268 Plätzen auch deutlich weniger Zuschauersitze<br />

als die Lichtspielhäuser der damaligen<br />

Zeit.<br />

18. April<br />

Einweihung der evangelischen Auferstehungskirche<br />

in Elberfeld. Durch die Bevölkerungszunahme<br />

nach dem Zweiten Weltkrieg in Katernberg<br />

wurde der Bau einer neuen Gottesdienststätte<br />

erforderlich.<br />

23. Mai<br />

Der Chemiker Heinrich Hörnlein, der seit 1909<br />

für die Bayer-Werke gearbeitet hat, stirbt im<br />

Alter von71 Jahren in Wuppertal. Unter seiner<br />

Leitung wurde das Werk Elberfeld zu einer der<br />

führenden chemisch-medizinischen Forschungsstätten<br />

ausgebaut, in deren Labors zahlreiche<br />

weltweit vertriebene Medikamente (Schlafmittel,<br />

Narkotika, Malariamittel) entwickelt<br />

wurden.<br />

9. Juni<br />

Hugo Kaulen, Unternehmer <strong>und</strong> Ballonfahrer,<br />

stirbt im Alter von 84 Jahren. Ihm gelang es als<br />

erstem, Kunstseide einzufärben <strong>und</strong> mit der<br />

Vermarktung dieser Erfindung konnte er sein<br />

kostspieliges Hobby, die Freiballonfahrt, finanzieren.<br />

Mit 87 St<strong>und</strong>en Fahrzeit hielt er<br />

lange Zeit den Weltrekord im Dauerballonfahren.<br />

Zu dieser Weltrekordfahrt startete Kaulen<br />

am 13. Dezember 1913 in Bitterfeld <strong>und</strong> erst<br />

nach vier Tagen <strong>und</strong> fast 3.500 km endete diese<br />

Ballonfahrt bei Perm im Ural.<br />

8. Juli<br />

Durch die Fusion der Vereine SSV Wuppertal<br />

04 <strong>und</strong> TSG Vohwinkel kommt es vier Tage<br />

nach dem Gewinn der ersten Fußballweltmeisterschaft<br />

für Deutschland zur Gründung des<br />

Wuppertaler Sportvereins (WSV). Von 1972<br />

bis 1975 spielte der WSV in der 1. B<strong>und</strong>esliga.<br />

26. Juli<br />

In Solln bei München stirbt der Maler Julius<br />

145


Mermagen im Alter von 79 Jahren. Er war<br />

nicht nur ein bekannter Maler (Porträts, Landschaften,<br />

Stillleben), sondern auch ein erfolgreicher<br />

Lehrer. Von 1897 bis 1934 unterrichtete<br />

er zunächst an der Elberfelder Kunstgewerbeschule,<br />

später dann an der Wuppertaler Meisterschule<br />

für das gestaltende Handwerk. Mermagen<br />

gehörte auch zu den Gründern der Bergischen<br />

Kunstgenossenschaft.<br />

31. Juli<br />

Enthüllung der Bronzeplastik „Wanderer mit<br />

der Laute“ von Harald Schmahl in der Grünanlage<br />

am Sandhof. Diese Plastik spendete der<br />

Bürgerverein „Äußere Südstadt“ der Stadt<br />

Wuppertal anlässlich des 25jährigen Stadtjubiläums.<br />

August<br />

Steher-Weltmeisterschaften im Stadion „Am<br />

Zoo“. Die Weltmeisterschaft war der Höhepunkt,<br />

aber gleichzeitig auch das letzte bedeutende<br />

Radrennen auf dem Zementoval im Elberfelder<br />

Stadion.<br />

7. August<br />

Gründung des „Rollschuh-Club Cronenberg“;<br />

bis dahin waren die Rollsportler eine Abteilung<br />

des Cronenberger SC. Der RSC ist heute der<br />

erfolgreichste Rollhockey-Verein in Deutschland<br />

(8 Deutsche Meisterschaften, 6 Pokalsiege),<br />

wobei im Jahr 2003 die dritte Meisterschaft<br />

in Folge gewonnen wurde. Auch die Damen-<br />

<strong>und</strong> Nachwuchsmannschaften des Vereins<br />

holten auf nationaler Ebene zahlreiche<br />

Titel.<br />

28. September<br />

Enthüllung der Bronzeplastik „Knabe mit<br />

Taube“ von Kurt Lehmann am Klinkerteich in<br />

den Barmer Anlagen. Die Figur war eine<br />

Spende des „Barmer Verschönerungsvereins“<br />

zum 25jährigen Stadtjubiläum.<br />

Dezember<br />

An der Großen Flurstraße ist das erste Wohn-<br />

Hochhaus (12 Wohnetagen) in Barmen bezugsfertig.<br />

146<br />

■ 1979<br />

30. März<br />

Einweihung der Treppe Friedrichsberg. Diese<br />

Verbindung zwischen der Neviandtstraße <strong>und</strong><br />

dem Friedrichsberg war bei ihrer Freigabe mit<br />

350 m <strong>und</strong> 177 Stufen nach der Vogelsauer<br />

Treppe (241 Stufen) die zweitlängste Treppe<br />

im Wuppertal.<br />

7. Mai<br />

Im Alter von 78 Jahren stirbt in Wuppertal der<br />

Maler Kurt Nantke, der zu den Mitbegründern<br />

des Barmer Künstlerkreises „Die Wupper“<br />

(Wupperkreis) gehörte. Er malte in erster Linie<br />

Porträts sowie Natur- <strong>und</strong> Landschaftsbilder.<br />

15. Mai<br />

Uraufführung der Revue „… dann mal wieder<br />

rechts“ von Dirk Schortemeier (Musik) <strong>und</strong><br />

Felix Rexhausen (Text). Regie führte Helmut<br />

Baumann, verantwortlich für Bühne <strong>und</strong> Kostüme<br />

war Heidrun Schmelzer.<br />

16. Mai<br />

In Gauting bei München stirbt der Maler Alfred<br />

Leithäuser. Der gebürtige Barmer, der seit<br />

den 20er Jahren in Bayern ansässig war, galt als<br />

ein Vertreter der „Neuen Sachlichkeit“. Für<br />

sein Schaffen wurde er 1978 mit dem Von der<br />

Heydt-Preis der Stadt Wuppertal ausgezeichnet.<br />

Im Dritten Reich wurden die Arbeiten des<br />

Malers als „entartete“ Kunst eingestuft.<br />

22. Mai<br />

Fritz Bernuth, Bildhauer, stirbt in Wuppertal.<br />

(s. auch 19. Januar 1904)<br />

7. Juni<br />

Enthüllung der Bronzefigur der „Mina Knallenfalls“<br />

von Ulle Hees in der Elberfelder<br />

Fußgängerzone im Bereich Poststraße/Alte<br />

Freiheit. Bei der Figur aus Otto Hausmanns<br />

M<strong>und</strong>artdichtung soll es sich keineswegs nur<br />

um eine reine Erfindung handeln, sondern Maria<br />

Wilhelmina Hausmann, die Großmutter des<br />

M<strong>und</strong>artdichters, soll ihm dabei als Vorbild gedient<br />

haben.


1. August<br />

Offizielle Eröffnung der ersten Wuppertaler<br />

Gesamtschule in Ronsdorf. Seit 1997 heißt<br />

diese Schule „Erich-Fried-Gesamtschule“, benannt<br />

nach dem 1988 verstorbenen Schriftsteller,<br />

der besonders durch seine politisch kritischen<br />

Gedichte <strong>und</strong> Essays bekannt geworden<br />

ist.<br />

1. Oktober<br />

Offizielle Gründung des „Historischen Zentrums“.<br />

19. Oktober<br />

Offizielle Einweihung des Altenzentrums im<br />

Briller Schlösschen.<br />

20. Oktober<br />

Einweihung des Sportzentrums der Bereitschaftspolizei<br />

auf Lichtscheid.<br />

15. November<br />

In Wuppertal stirbt Heinrich Schmeißing. Der<br />

gebürtige Schwelmer hat in den Jahren nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg den Wiederaufbau<br />

Wuppertals als Mitglied des Rates <strong>und</strong> der Verwaltung<br />

entscheidend mitgestaltet <strong>und</strong> mitgeprägt.<br />

Von 1946 bis 1958 gehörte er dem Stadt-<br />

<strong>Nachrichten</strong><br />

Aloys Pollender (1799–1879)<br />

In der neueren medizingeschichtlichen<br />

Fachliteratur besteht Einmütigkeit in der Frage,<br />

daß der aus Barmen stammende Arzt Dr. Aloys<br />

Pollender 1849 in seiner Wipperfürther Praxis<br />

den Milzbranderreger (Bazillus anthracis) zum<br />

ersten Mal nachgewiesen <strong>und</strong> 1855 seine Forschungsergebnisse<br />

in der von Johann Ludwig<br />

Casper herausgegebenen „Vierteljahrsschrift<br />

für gerichtliche <strong>und</strong> öffentliche Medizin“ ver-<br />

rat an <strong>und</strong> von 1951 bis 1956 amtierte er als<br />

Oberbürgermeister. Das Amt des Stadtkämmerers<br />

übernahm er im Jahr 1958 <strong>und</strong> behielt es<br />

bis zu seinem Ausscheiden aus dem Dienst der<br />

Stadtverwaltung 1970; seit 1967 war er zusätzlich<br />

Stadtdirektor.<br />

21. November<br />

Enthüllung der lebensgroßen Bronzestatue<br />

„Der Frierende“ des Wuppertaler Bildhauers<br />

Ernst-Gerd Jentgens vor der Gemarker Kirche.<br />

Vom gleichen Künstler stammt auch die Plastik<br />

„Der Wartende“, die am 1. Dezember 1979 vor<br />

der Antonius-Kirche enthüllt wurde. Beide Figuren<br />

wurden im Rahmen des Wettbewerbs<br />

„Kunst an Stadtplätzen“ entworfen.<br />

19. Dezember<br />

Enthüllung der Bronzefigur des „Zuckerfritz“<br />

von Ulle Hees auf dem Kerstenplatz in Elberfeld.<br />

Der Name Zuckerfritz, mit bürgerlichem<br />

Namen hieß er Fritz Poth, ist auf seine Vorliebe<br />

für Zuckerstücke <strong>und</strong> „Klömpkes“ zurückzuführen.<br />

Seine dürre Gestalt, die dünne Stimme<br />

<strong>und</strong> seine bevorzugte Kleidung (Jacken mit zu<br />

kurzen Ärmeln <strong>und</strong> Hosen mit hochgeschlagenem<br />

Saum) reizten die Jugendlichen immer<br />

wieder dazu, ihn zu verspotten.<br />

öffentlicht hat. In den folgenden Jahren machten<br />

Dr. Friedrich A. Brauell in Dorpat <strong>und</strong> die<br />

Franzosen Henri Mamert O. Delafond <strong>und</strong> Casimir<br />

Joseph Davaine vergleichbare Beobachtungen.<br />

Aber erst 1876 gelang es Robert Koch,<br />

den Erreger in Reinkultur zu züchten <strong>und</strong> damit<br />

die wissenschaftliche Erklärung für die Ursache<br />

des Milzbrandes zu erbringen.<br />

Der Bergische Geschichtsverein hat in<br />

seinen Veröffentlichungen immer wieder auf<br />

Aloys Pollenders Pioniertat hingewiesen, den-<br />

147


noch ist er leider in der „Neuen Deutschen Biographie“,<br />

dem umfassendsten biographischen<br />

Nachschlagewerk zur deutschen Geschichte,<br />

nicht berücksichtigt worden. Immerhin widmet<br />

ihm die „Deutsche Biographische Enzyklopädie“<br />

(Bd. 8, 1998, S. 28) einen kurzen Artikel,<br />

bezeichnenderweise unter Angabe des mehrbändigen,<br />

von Charles C. Gillispie herausgegebenen<br />

Lexikons „Dictionary of Scientific Biography“<br />

(New York, 1970–78) als Quelle. Leider<br />

übernimmt auch die DBE aus der älteren<br />

Literatur, die sich auf die von Aloys Pollender<br />

selbst im Curriculum vitae seiner 1824 in Bonn<br />

vorgelegten Dissertation gemachte Angabe<br />

stützt, das Jahr 1800 als Geburtsjahr, obwohl<br />

Hans Kraus schon 1958 mit Hilfe des Kirchenbuches<br />

der katholischen Gemeinde Barmen<br />

zweifelsfrei nachgewiesen hat, daß der Arzt am<br />

26. Januar 1799 geboren bzw. getauft worden<br />

ist.<br />

Aloys Pollender hat auch sonst Ehrungen<br />

erfahren. In Wipperfürth, Lindlar <strong>und</strong> Neuss –<br />

von dort stammt seine Familie – sind Straßen<br />

nach ihm benannt. Am 28. Juli 1929 wurde in<br />

Wipperfürth am Hause in der Hochstraße 22<br />

eine Gedenktafel eingeweiht. Am 24. Mai 2002<br />

enthüllten nun auch in Neuss am Hause in der<br />

Pollenderstraße 3 die Heimatfre<strong>und</strong>e Neuss<br />

e.V. die von ihnen gestiftete <strong>und</strong> von dem<br />

Künstler Günter Happekotte geschaffene Erinnerungsplakette<br />

(vgl. Neuss-Grevenbroicher<br />

Zeitung vom 27.05.2002).<br />

Literaturhinweise:<br />

Müller, Reiner: Aloys Pollender 1800–1879, in:<br />

Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 53,<br />

1922, S.17–25.<br />

Kraus, Hans: Alois Pollender 1799–1879, in:<br />

Wuppertaler Biographien 1 (= Beiträge zur Geschichte<br />

<strong>und</strong> Heimatk<strong>und</strong>e des Wuppertal 4), Wuppertal,<br />

1958, S. 65–72.<br />

Hiddemann, Herbert: Aloys Pollender, ein Wegbereiter<br />

Robert Kochs, in: Romerike Berge 24,<br />

1974, S. 69–71.<br />

Hombrecher, Paul: Er entdeckte den Milzbrand-<br />

Erreger. Zum 100. Todestag des Bergischen Landarztes<br />

Dr. Aloys Pollender, in: Romerike Berge 29,<br />

1979, S. 106–110. U. E.<br />

148<br />

Friedrich Seyd, Textilgroßhandlung<br />

Vor 175 Jahren, am 1. Januar 1828, gründete<br />

Friedrich Seyd in der Hofaue eine Textilgroßhandlung.<br />

Die Firma trug dazu bei, dass<br />

sich die Hofaue im Laufe der Jahre weltweit zu<br />

einem der bedeutendsten Textilhandelszentren<br />

entwickelte. Beim Luftangriff auf Elberfeld<br />

1943 wurden die Geschäftsräume stark beschädigt.<br />

Aufgr<strong>und</strong> der Kriegsschäden <strong>und</strong> des allgemeinen<br />

wirtschaftlichen Niedergangs des<br />

Großhandels entschloss sich Joachim Seyd<br />

1958 dazu, die Fa. Seyd Söhne & Eisfeller, so<br />

hieß sie zuletzt, zu liquidieren. Heute befindet<br />

sich auf dem ehemaligen Firmengelände das<br />

Parkhaus der City-Arkaden. Peter Elsner<br />

Mitgliederversammlung 2003 des Bergischen<br />

Geschichtsvereins, Abt. Wuppertal<br />

Die vom Vereinsrecht vorgeschriebene Mitgliederversammlung<br />

unserer Abteilung fand<br />

am 6. März 2003 statt. Ungefähr 75 Mitglieder<br />

(von insgesamt knapp 900 Mitgliedern) waren<br />

der Einladung gefolgt. Die Versammlung gedachte<br />

zuerst der im vergangenen Jahr verstorbenen<br />

Mitglieder Herrn Albert Heider, Frau<br />

Gise Bartholomé, Herrn Götz Knappertsbusch,<br />

Herrn Theodor Langenbruch, Herrn Helmut<br />

Pfeil, Frau Wilhelmine Schultheiss, Herrn<br />

Günter Völker sowie Frau Barbara Wolff.<br />

Nachzutragen aus dem Jahre 2002 ist in dieser<br />

Aufzählung noch Herr Werner Schmitz, der am<br />

4. Januar 2001 mitsamt seiner Familie an den<br />

Folgen eines schweren Verkehrsunfalls verstarb.<br />

Der Verein wird den Verstorbenen, die oft<br />

eine langjährige Mitgliedschaft auszeichnete,<br />

ein ehrendes Andenken bewahren.<br />

Auch in der diesjährigen Versammlung waren<br />

erneut viele Jubilare zu ehren. Die Herren<br />

Gerhard Birker <strong>und</strong> Klaus Tesch sind seit 40<br />

Jahren Mitglied unseres Vereins, auf eine<br />

25jährige Mitgliedschaft können Klaus Dieter<br />

Becker, Elke Birk-Pahlen, Astrid Bolender,<br />

Walter Brincker, Ursula Buse, Prof. Dr. Gerhard<br />

Deimling, Marianne Drews, Ingeborg<br />

Ebert, Werner Elbracht, Gerd Fassbach, Emmi


Flügge, Arnd Friedrich, Brunhild Gravenhorst,<br />

Bernd Kleinschmidt, Ingeburg Lange, Hans-<br />

Otto Lehmbach, Erika Middelkamp, Jürgen<br />

Müchler, Frauke Muthmann, Eberhard <strong>und</strong> Ute<br />

Nicklisch, Kurt Oelemann, Dr. Fritz Paetzold,<br />

Harald Priebe, Nora Roehrig, Kurt Schulten,<br />

Klaus Schumann, Michael Schumann, Norbert<br />

Sdunzik, Margret Simon, Elisabeth Sohn,<br />

Charlotte Steinberg, Ilse Thiemann, Wolfgang<br />

Voes <strong>und</strong> Christel Weidenbach zurückblicken.<br />

Alle Jubilare wurden vom Vorsitzenden beglückwünscht<br />

<strong>und</strong> mit einem kleinen Geschenk<br />

bedacht.<br />

Der Bericht über die Tätigkeit des Vereins<br />

konnte ähnlich kurz wie in den vergangenen<br />

Jahren gehalten werden. Das Vortragsprogramm<br />

mit insgesamt sieben Vorträgen im Jahr<br />

wurde weiterhin von den Herren Prof. Dr.<br />

Heinrichs <strong>und</strong> Dr. Müller-Späth betreut, das<br />

Fahrtenprogramm von Frau Dr. Lekebusch <strong>und</strong><br />

Herrn Esser. Der Zuspruch zu den Fahrten, sowohl<br />

zu den eintägigen wie auch zu der mehrtägigen<br />

Fahrt, hat erfreulicherweise deutlich<br />

zugelegt.<br />

Die Abteilung Wuppertal konnte auch im<br />

vergangenen Jahr wieder eine Ausgabe der<br />

„Geschichte im Wuppertal“ herausbringen.<br />

Das Heft im Umfang von 188 Seiten war dem<br />

150jährigen Jubiläum der Stadtbibliothek<br />

Wuppertal – eigentlich Elberfeld – gewidmet.<br />

In seiner Publikationsreihe erschien als Band<br />

39 der „Beiträge zur Geschichte <strong>und</strong> Heimatk<strong>und</strong>e<br />

des Wuppertals“ eine Publikation von<br />

Florian Speer: „Ibach <strong>und</strong> die anderen. Rheinisch-<strong>Bergischer</strong><br />

Klavierbau im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert.“<br />

Unterstützt wurde dazu der Druck einer<br />

weiteren Dissertation über den Architekten<br />

Emil Fahrenkamp von Christoph Heuter.<br />

Die Abteilung Wuppertal veranstaltete weiter<br />

zum erstenmal einen „Tag der Wuppertaler<br />

Geschichte“, der am 1. Juni 2002 stattfand <strong>und</strong><br />

von der Arbeitsgemeinschaft „Geschichte vor<br />

Ort“ organisiert wurde. Die Beteiligung an den<br />

Vorträgen, Wanderungen <strong>und</strong> Diskussionen<br />

dieses Tages war mit etwa 100 Personen über<br />

Erwarten gut.<br />

Die „Geschichtswerkstatt“, für deren<br />

Durchführung die Abteilung Wuppertal einen<br />

Zuschuß der NRW-Stiftung beantragt hatte,<br />

wurde noch einmal kurz vorgestellt. Der Vorsitzende<br />

wies darauf hin, daß der Zuschuss bewilligt<br />

sei <strong>und</strong> die Werkstatt noch vor den Sommerferien<br />

beginnen könne. Inzwischen hat die<br />

Eröffnungsveranstaltung stattgef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Arbeitsgruppen<br />

für die einzelnen Stadtquartiere<br />

haben ihre Tätigkeit begonnen.<br />

Der Bericht des Schatzmeisters konnte ähnlich<br />

kurz wie in den vergangenen Jahren gehalten<br />

werden. Die Finanzlage des Vereins gab zu<br />

keinen Sorgen Anlaß, wenn auch sein Vermögen<br />

durch die hohen Druckkosten-Zuschüsse,<br />

die gewährt wurden, erheblich schmolz. Die<br />

Kassenprüfung durch Frau Weidenbach <strong>und</strong><br />

Herrn Camphausen erbrachte keinerlei Beanstandungen,<br />

der Bericht der Kassenprüfer enthielt<br />

ein ausdrückliches Lob über die Kassenführung<br />

<strong>und</strong> die geschickte <strong>und</strong> übersichtliche<br />

Anlage der Konten durch den Schatzmeister<br />

Herrn Dr. Wicht. Dem Vorstand wurde darauf<br />

einstimmig, mit Enthaltung der Betroffenen,<br />

Entlastung erteilt.<br />

Nach Ende der fünfjährigen Amtszeit des<br />

Vorstandes mußten Neuwahlen stattfinden. Da<br />

der Vorsitzende <strong>und</strong> der Schatzmeister nicht<br />

mehr kandidierten, der stellvertretende Vorsitzende<br />

<strong>und</strong> der Schriftführer sich aber weiterhin<br />

zur Verfügung stellten, erbrachten die Wahlen<br />

einen „teilerneuerten Vorstand“.<br />

Dieser besteht jetzt aus folgenden Personen:<br />

Vorsitzende Frau Dr. Sigrid Lekebusch,<br />

stellvertretender Vorsitzender Hans-Joachim<br />

de Bruyn-Ouboter, Schatzmeister Dr. Florian<br />

Speer, Schriftführer Gerhard Birker.<br />

Die neue Vorsitzende dankte den beiden<br />

ausscheidenden Vorstandsmitgliedern, den<br />

Herren Dr. Wicht <strong>und</strong> Prof. Dr. Wittmütz.<br />

Der Beirat der Abteilung umfaßt folgende<br />

Mitglieder: die Damen Ruth Meyer-Kahrweg<br />

<strong>und</strong> Ute Scharmann, die Herren Prof. Dr. Hermann<br />

de Buhr, Dr. Uwe Eckardt, Gerhard Esser,<br />

Prof. Dr. Wolfgang Heinrichs, Dr. Christoph<br />

Heuter, Dr. Michael Knieriem, Dr. Jürgen<br />

Müller-Späth, Carsten Pick, Reiner Rhefus,<br />

Jürgen Rottmann, Dr. Heinrich-Karl Schmitz,<br />

Kurt Schnöring, Dr. Wolfgang Wicht <strong>und</strong> Prof.<br />

Dr. Volkmar Wittmütz.<br />

Eine geplante Erhöhung des Mitgliedsbeitrags<br />

von bisher Euro 20 auf zukünftig (ab<br />

149


2004) Euro 25 im Jahr wurde von den Mitgliedern<br />

für notwendig erachtet <strong>und</strong> beschlossen.<br />

Für Studierende <strong>und</strong> Schüler bleibt es bei Euro<br />

10 im Jahr.<br />

Nach diesen Tagesordnungspunkten konnte<br />

gegen 20.30 der Vortrag über die „Evangelische<br />

Kirche unter dem Kreuz?“, über die Evangelischen<br />

im Rheinland im Reformationsjahrh<strong>und</strong>ert,<br />

beginnen. V. W.<br />

Klaus Goebel Ehrenbürger von Boitzenburg<br />

Im Mai dieses Jahres verlieh der Rat der<br />

Gemeinde Boitzenburg (Uckermark) dem<br />

Wuppertaler Historiker Prof. Dr. Klaus Goebel<br />

die Ehrenbürgerschaft. Goebel hatte in seiner<br />

<strong>Buchbesprechungen</strong><br />

Richard Kumpf: Alarmtauchen im<br />

Krieg. Untertauchen im Kalten Krieg. Ein<br />

Kommunist berichtet über sein Leben, Bonn:<br />

Pahl-Rugenstein, 2000, 272 S.<br />

Geschichte jeden Genres wird über alle<br />

Zeiten hinweg stets von Siegern geschrieben.<br />

Im vorliegenden autobiografischen Lebensbericht<br />

meldet sich ein mehrfacher Verlierer des<br />

Jahrgangs 1922 zu Wort: Richard Kumpf. Als<br />

junger U-Bootfahrer durchlebte er Krieg <strong>und</strong><br />

Gefangenschaft. Nach 1945 erstrebte er –<br />

als persönliche Konsequenz der globalen<br />

Schreckensbilanz – eine Gesellschaftsordnung<br />

ohne Dominanz des großen Geldes. Sein Aktivismus<br />

als Mitglied der Freien Deutschen<br />

Jugend <strong>und</strong> der Kommunistischen Partei<br />

Deutschlands sah ihn in der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

schon frühzeitig auf der Seite der Gegner. Die<br />

Verbote der FDJ (1951) sowie der KPD (1956)<br />

waren wiederum Niederlagen mit persönlichen<br />

Konsequenzen: er verlor sein heimatliches<br />

Umfeld in Niedersachsen <strong>und</strong> wirkte über<br />

Jahre illegal in verschiedenen B<strong>und</strong>esländern,<br />

gestützt auf Ausweichmöglichkeiten im „Hin-<br />

150<br />

Edition von Briefen des jungen Vikars Heinrich<br />

Seidel diese brandenburgische Gemeinde<br />

bekannt gemacht <strong>und</strong> dann mit viel Energie<br />

<strong>und</strong> Tatkraft die Restaurierung der im Stil der<br />

norddeutschen Backsteingotik erbauten Kirche<br />

St. Marien unterstützt. Unvergessen ist ein<br />

Konzert mit dem Tenor Peter Schreier, das<br />

Goebel in der Wuppertaler Stadthalle organisierte<br />

<strong>und</strong> dessen Erlös der Restaurierung zugute<br />

kam. Der Turm der Kirche konnte wieder<br />

hergestellt werden. Die Redaktion der „Geschichte<br />

im Wuppertal“ gratuliert dem neuen<br />

Ehrenbürger herzlich <strong>und</strong> wünscht ihm Erfolg<br />

für den Fortgang seiner Sammelaktion, die<br />

jetzt dem Kirchenschiff gilt. Dazu gibt es auch<br />

ein Spendenkonto: 356 100 1750, Sparkasse<br />

Uckermark, BLZ 170 560 60. V. W.<br />

terland“ DDR. Ein Studium in Moskau stockte<br />

den bislang praktischen politischen F<strong>und</strong>us<br />

theoretisch auf. „Westarbeit“ wurde vom Osten<br />

Deutschlands aus betrieben, bis mit der Zulassung<br />

der DKP im September 1968 eine öffentliche<br />

politische Tätigkeit von Kommunisten in<br />

der BRD wieder möglich wurde. Das „Untertauchen<br />

im Kalten Krieg“ endete für den inzwischen<br />

in der DDR Promovierten legal in<br />

Wuppertal – als Leiter der dort im November<br />

1970 zum 150. Geburtstag von Friedrich Engels<br />

eröffneten gleichnamigen Stiftung. Dieses<br />

gesellschaftspolitische Novum wurde bald Objekt<br />

auch juristischer Auseinandersetzungen<br />

mit einer argwöhnischen Staatsmacht – erst im<br />

Mai 1979 war die nunmehrige „Marx-Engels-<br />

Stiftung e. V.“ als verfassungskonform gerichtlich<br />

bestätigt. Wuppertal wurde damit um ein<br />

gesellschaftliches Zentrum bereichert, das<br />

Wissenschaftler wie Zuhörer aus zahlreichen<br />

Ländern anlockte. Befand sich der Autor nun<br />

endlich auf der Siegerstraße? Sichtlich gab es<br />

nun Befriedigung, denn der „Inhalt meines Lebens,<br />

aber auch der meiner Frau <strong>und</strong> der Kin-


der, wurde in den 70er <strong>und</strong> 80er Jahren vollkommen<br />

von unserer Arbeit in der Marx-Engels-Stiftung<br />

bestimmt.“ Dazu gehörte auch<br />

die Friedrich-Engels-Buchhandlung. Sie hatte,<br />

wie Kumpf beschreibt, in jenen Jahrzehnten<br />

„gewissermaßen ein Monopol auf DDR-Literatur.<br />

Es gab ein vielfältiges Angebot an Belletristik,<br />

naturwissenschaftlicher, gesellschaftspolitischer,<br />

historischer <strong>und</strong> Schulliteratur.<br />

Außerdem waren Nachschlagwerke, Literatur<br />

aus anderen sozialistischen Ländern <strong>und</strong> vieles<br />

andere vorhanden. Bei Lehrern war besonders<br />

die Qualität der DDR-Schulliteratur beliebt<br />

<strong>und</strong> gefragt.“<br />

Der Zusammenbruch eines Weltsystems<br />

war auch eine tiefe persönliche Niederlage für<br />

den überzeugten Marxisten, doch blieb für ihn<br />

Karl Liebknechts „Trotz alledem!“ Lebensmaxime.<br />

„Wir entschieden uns, in Zukunft ausschließlich<br />

wissenschaftliche Veranstaltungen<br />

durchzuführen ... das betraf nicht nur die Aufarbeitung<br />

der Ursachen des Scheiterns des realen<br />

Sozialismus, sondern auch die Analyse <strong>und</strong><br />

die Erarbeitung der Gr<strong>und</strong>tendenzen für die<br />

Weiterentwicklung der kommunistischen Bewegung<br />

<strong>und</strong> der marxistischen Theorie überhaupt.<br />

Wir standen also vor einer riesigen Aufgabe.“<br />

Das Buch aus der Hand legend kann der<br />

Rezensent sich dem skizzierenden Rücktitel<br />

uneingeschränkt bestätigend anschließen: Anschaulich,<br />

lebendig, selbstkritisch berichtet<br />

hier ein Zeitzeuge über seinen Anteil an 55 bewegten<br />

Jahren deutscher Geschichte aus einer<br />

Perspektive, wie sie in den gängigen Geschichtsbüchern<br />

nicht vorkommt.<br />

Norbert Podewin<br />

Herbert Günther: Zeitsprünge. Wuppertal,<br />

Erfurt: Sutton Verlag, 2002, 96 S., ca. 170<br />

Fotos, 17,90 a.<br />

Der Autor legt einen sehr persönlichen,<br />

aber gerade deshalb sympathischen <strong>und</strong> interessanten<br />

Bildband vor. Er stellt historischen<br />

Aufnahmen aus den verschiedenen Stadtteilen<br />

Bilder gegenüber, die möglichst von demselben<br />

Standpunkt aus neu aufgenommen hat. Da<br />

die historischen, bisher zumeist unveröffent-<br />

lichten Fotos nicht nur aus der Vorkriegszeit,<br />

sondern auch aus den 50er Jahren stammen,<br />

zeigen die Zeitsprünge, wie stark unsere Stadt<br />

sowohl durch die kriegsbedingten Zerstörungen,<br />

aber auch durch Baumaßnahmen <strong>und</strong> die<br />

Abrissbirne nach 1945 ihr Gesicht verändert<br />

hat. Dieser empfehlenswerte Bildband lädt<br />

zum intensiven Betrachten ein, die Texte liefern<br />

zuverlässige zusätzliche Informationen.<br />

U. E.<br />

David Magnus Mintert: „Sturmtrupp<br />

der Deutschen Republik“. Das Reichsbanner<br />

Schwarz-Rot-Gold im Wuppertal (= Verfolgung<br />

<strong>und</strong> Widerstand in Wuppertal 6. Hrsg.<br />

von der Forschungsgruppe Wuppertaler Widerstand),<br />

Wuppertal: edition wahler, 2002, 153<br />

S., zahlr. Abb.<br />

Das 1924 gegründete Reichsbanner Schwarz-<br />

Rot-Gold, das sich politisch vor allem an der<br />

SPD orientierte <strong>und</strong> sich in kurzer Zeit zum<br />

mitgliederstärksten Kampfverband der Weimarer<br />

Republik entwickelte, spielte besonders als<br />

Schutzwehr für die republikanische Ordnung<br />

in den von den militanten Auseinandersetzungen<br />

zwischen NSDAP <strong>und</strong> KPD gekennzeichneten<br />

Jahren vor der „Machtergreifung“ 1933<br />

eine wichtige Rolle.<br />

Der Verfasser schildert in der vorliegenden<br />

Untersuchung, die auf seiner von der Bergischen<br />

Universität angenommenen Magisterarbeit<br />

basiert, die Anfänge <strong>und</strong> den Aufbau des<br />

Reichsbanners im Wuppertal. Eine wichtige<br />

Quelle hierfür ist die sozialdemokratische<br />

„Freie Presse“. In einem weiteren Abschnitt<br />

behandelt D. M. Mintert die Aktivitäten des<br />

Wuppertaler Reichsbanners nach dem 30. Januar<br />

1933. Die Auflösung setzt mit dem „Barmer<br />

Blutsonntag“ (19. Februar 1933) ein, an<br />

dem SA-Männer, ohne daß die anwesende Polizei<br />

eingreift, auf den Demonstrationszug des<br />

Reichsbanners vor dem Rathaus das Feuer<br />

eröffnen <strong>und</strong> zehn Demonstranten schwer verletzen.<br />

Hier <strong>und</strong> im Schlußteil der Untersuchung<br />

mit Kurzbiographien von Mitgliedern<br />

des Reichsbanners, die für den Erhalt der Freiheit<br />

gelitten haben <strong>und</strong> zum Teil auch gestorben<br />

sind, stützt sich der Verfasser auf Gerichts-<br />

151


akten <strong>und</strong> vor allem „Wiedergutmachungsakten“,<br />

die auf ihre Schlüssigkeit <strong>und</strong> Glaubwürdigkeit<br />

– wie D. G: Mintert in seinem quellenkritischen<br />

Schlußwort zurecht bemerkt – ständig<br />

zu überprüfen sind.<br />

Eine Petitesse zum Schluß: Es ist schade,<br />

daß Lektoren <strong>und</strong> junge Historiker heute offenbar<br />

nicht mehr des Französischen mächtig sind.<br />

Dies würde erklären, weshalb der Name<br />

„Frère“, obwohl in dem faksimilierten Dokument<br />

auf S. 126 richtig wiedergegeben, konsequent<br />

mit dem falschen Akzent geschrieben<br />

worden ist. U. E.<br />

Klaus Goebel/Günther Voigt: Die kleine,<br />

mühselige Welt des jungen Hermann Enters.<br />

Erinnerungen eines Amerikaauswanderers an<br />

das frühindustrielle Wuppertal (= Beiträge zur<br />

Geschichte <strong>und</strong> Heimatk<strong>und</strong>e des Wuppertals<br />

18), Wuppertal: Born Verlag, 5. Aufl., 2002,<br />

144 S., 22 Abb.<br />

Der Barmer Arbeiter Hermann Enters<br />

(1846–1940) wanderte 1882 in die Vereinigten<br />

Staaten aus. Von dort schickte er einen 46seitigen<br />

Brief an seine Schwester, in dem er seine<br />

Erinnerungen an seine Zeit im Wuppertal festhielt<br />

– ein, wie sich sehr schnell nach der „Entdeckung“<br />

herausstellte, eminent wichtiges Dokument<br />

zur lokalen Sozial- <strong>und</strong> Wirtschaftsgeschichte,<br />

das seit seiner ersten Veröffentlichung<br />

1970 bei vielen Lehrern mit gutem<br />

Gr<strong>und</strong> Eingang in ihren Sozialk<strong>und</strong>e- <strong>und</strong> Geschichtsunterricht<br />

gef<strong>und</strong>en hat.<br />

1979 erschien als 3. Auflage eine gr<strong>und</strong>legende<br />

Überarbeitung, die 1985 als 4. Auflage<br />

unverändert nachgedruckt wurde <strong>und</strong> seit 1998<br />

vergriffen war. Nun liegen der Brieftext <strong>und</strong><br />

die Anmerkungen unverändert, aber in einer<br />

modernen Ausstattung vor. Klaus Goebel weist<br />

in seinem interessanten, gegenüber der 3. Auflage<br />

aktualisierten Nachwort auf ein weiteres,<br />

1996 bekannt gewordenes Manuskript aus Hermann<br />

Enters Feder hin, das er in Auszügen in<br />

Heft 11/2002 dieser Zeitschrift veröffentlicht<br />

hat.<br />

Es ist gut <strong>und</strong> begrüßenswert, daß dieser<br />

„heimliche Bestseller“ im Wuppertal nun end-<br />

152<br />

lich wieder greifbar ist – ein empfehlenswertes<br />

Geschenk für alle, die sich für die spannende<br />

Geschichte unserer Stadt in der Zeit der Industrialisierung<br />

interessieren. U. E.<br />

Günther van Norden: Politischer Kirchenkampf.<br />

Die rheinische Provinzialkirche<br />

1934–1939 (= Schriftenreihe des Vereins für<br />

Rheinische Kirchengeschichte, Bd. 159),<br />

Bonn: Dr. Rudolf Habelt, 2003, 284 S.<br />

Der Wuppertaler Emeritus hat seine Forschungen<br />

zur rheinischen Kirchengeschichte<br />

während des „Dritten Reiches“ <strong>und</strong> zur Entstehung<br />

einer selbständigen evangelischen Kirche<br />

im Rheinland nach dem Zweiten Weltkrieg –<br />

vorher war das Rheinland politisch wie kirchlich<br />

ein Teil Preußens – um einen wichtigen<br />

weiteren Band vermehrt. In ihm hat er die Entwicklung<br />

der rheinischen Kirchenprovinz zwischen<br />

1934 <strong>und</strong> 1939 ausgebreitet, eine Entwicklung,<br />

die nach der großen Synode der Bekennenden<br />

Kirche in Barmen im Mai 1934<br />

außerordentlich vielschichtig <strong>und</strong> komplex<br />

verlief <strong>und</strong> deren Zusammenhänge bisher nur<br />

<strong>und</strong>eutlich vor Augen standen. Zwar hatte die<br />

Bekennende Kirche mit der Barmer Theologischen<br />

Erklärung eine feste theologische<br />

Gr<strong>und</strong>lage in ihrem Kampf gegen die Deutschen<br />

Christen bekommen, die durch ihre Erfolge<br />

bei den Kirchenwahlen 1933 auch die<br />

Kirchenbehörden dominierten. Organisatorisch<br />

aber waren die Konturen der BK damals<br />

noch weitgehend ungefestigt. Van Norden hat<br />

ihren Ausbau verfolgt <strong>und</strong> kritisch festgestellt,<br />

daß bei der Besetzung leitender Ämter auch<br />

eine gehörige Portion Machtstreben <strong>und</strong> Eitelkeit<br />

der führenden Leute im Spiel war, die sich<br />

zum Beispiel gegen die Wahl Humburgs zum<br />

Präses der BK-Synode wehrten, weil dann „alles<br />

nach dem Wuppertal“ verlegt würde <strong>und</strong> alles<br />

unter den Einfluß von Pfarrer Immer <strong>und</strong><br />

Gemarke käme!<br />

Größere Spannungen gab es bei den Deutschen<br />

Christen, die sich im Sommer 1934 in<br />

einen gemäßigten <strong>und</strong> einen radikalen Flügel<br />

spalteten, letzterer angeschlossen an die<br />

„Thüringer Bewegung“ der DC mit ihrem Ideal


einer „Entjudung“ des Christentums. Die<br />

gemäßigten DC warben im Herbst 1934 mit<br />

dem Bild von den „falschen Fronten“ heftig,<br />

aber vergeblich um die Bekenner, in deren Reihen<br />

sie zu Recht viele national eingestellte,<br />

konservative Christen vermuteten, die politisch<br />

besser zu ihnen, den DC, passen würden.<br />

Schließlich gab es im Rheinland eine breite<br />

neutrale Mitte in den Gemeinden wie bei den<br />

Pfarrern, die sich aus dem Kirchenkampf heraushielt<br />

<strong>und</strong> im Sommer 1934 von dem Duisburger<br />

Superintendenten Horn organisiert<br />

wurde Auch ihr Programm <strong>und</strong> das Vorgehen<br />

ihres Leiters, der 1935 vom Evangelischen<br />

Oberkirchenrat in Berlin den Auftrag bekam,<br />

eine außerordentliche rheinische Provinzialsynode<br />

einzuberufen <strong>und</strong> von ihr einen letztlich<br />

einflußlosen „Provinzialkirchenrat“ wählen zu<br />

lassen, wird von van Norden analysiert. Deutlich<br />

wird, daß in jenen Jahren der entscheidende<br />

Unterschied zwischen all den kirchenpolitischen<br />

Gruppierungen ihr Kirchenverständnis<br />

war, d.h. welches Maß an Freiheit im<br />

NS-Staat sie der evangelischen Kirche einzuräumen<br />

bereit waren <strong>und</strong> wie sie den Führer<br />

<strong>und</strong> den Nationalsozialismus deuteten.<br />

1935 errichtete der NS-Staat ein Kirchenministerium.<br />

Minister Kerrl berief Kirchenausschüsse<br />

zur Leitung der evangelischen Kirche<br />

<strong>und</strong> gewann auch einige Vertreter der rheinischen<br />

BK – entgegen dem auf der Synode zu<br />

Berlin-Dahlem im Herbst 1934 getroffenen<br />

Beschluß, jeglichen Verkehr mit den „Irrgläubigen“<br />

abzubrechen – dafür. Andere BK-Pfarrer<br />

kritisierten dies heftig, die Bekennende Kirche<br />

war ebenfalls gespalten.<br />

Das war überhaupt ihr Dilemma: einerseits<br />

wollte sie die evangelische Kirche sein, auch in<br />

ihrer Eigenschaft als öffentlich-rechtliche Körperschaft,<br />

nicht nur eine kirchliche Gruppe wie<br />

die anderen Gruppen, mit denen sie deshalb,<br />

ebenso wie mit der Kirchenbehörde, den Kontakt<br />

mied. Andererseits war sie gezwungen, mit<br />

der Kirchenbehörde in Kontakt zu bleiben,<br />

denn wie hätte sie sonst Pfarrergehälter <strong>und</strong> andere<br />

finanzielle Leistungen für ihre Gemeinden<br />

erhalten können. Die ablehnende Haltung<br />

gegenüber Gesprächseinladungen von anderen<br />

Gruppen sowie von den Behörden ist der BK<br />

mit einigem Recht immer als „anmaßend, katholisch<br />

<strong>und</strong> päpstlich“ ausgelegt worden. Die<br />

BK verblieb gerade im Rheinland, wo sie stark<br />

war, in einer prinzipiellen Oppositionsstellung,<br />

aber sie zog daraus nicht die naheliegende<br />

Konsequenz, nämlich den Schritt in die Freikirche.<br />

Das wäre ihrer Glaubwürdigkeit bei<br />

vielen evangelischen Christen sicherlich förderlicher<br />

gewesen, es hätte aber wiederum<br />

ihren Anspruch, d i e <strong>und</strong> nicht nur e i n e<br />

evangelische Kirche in Deutschland zu sein,<br />

untergraben.<br />

Diese verwirrenden <strong>und</strong> vielschichtigen<br />

Zusammenhänge, auch die Diskussionen zwischen<br />

den <strong>und</strong> innerhalb der kirchlichen Gruppen,<br />

die Abspaltungen <strong>und</strong> neuen Gruppenbildungen,<br />

die „Frontbegradigungen“ <strong>und</strong> „Frontverbreiterungen“<br />

der verschiedenen Parteien –<br />

es ist erstaunlich, wie stark der militärische Jargon<br />

die damaligen Auseinandersetzungen in<br />

der Kirche beherrscht – werden in van Nordens<br />

Studie auch für den Laien verständlich geschildert.<br />

Die Analysen, Folgerungen <strong>und</strong> Urteile<br />

überzeugen auch den mit den theologischen<br />

<strong>und</strong> kirchlichen Problemen der damaligen Zeit<br />

wenig vertrauten Leser. Ein anregendes <strong>und</strong><br />

gelungenes Werk! V. W.<br />

Florian Speer,Ausländer im „Arbeitseinsatz“<br />

in Wuppertal. Zivile Arbeitskräfte,<br />

Zwangsarbeiter <strong>und</strong> Kriegsgefangene im<br />

Zweiten Weltkrieg, Wuppertal 2003. – 636 S.:<br />

Ill. – ISBN: 3-87707-609-2<br />

Im Auftrag der Stadt Wuppertal erforschte<br />

Florian Speer die Zwangsarbeit von Ausländern<br />

in Wuppertal während der Zeit des Nationalsozialismus.<br />

Als Ergebnis seiner Bemühungen<br />

legte der Autor eine immense Studie vor,<br />

die weit über das hinausgeht, was andere Städte<br />

oder Institutionen in jüngster Zeit zum Thema<br />

„NS-Zwangsarbeiter“ publiziert haben. Erfreulicherweise<br />

gelang es, die ausschließlich durch<br />

Spenden finanzierte Drucklegung des Werkes<br />

zu realisieren.<br />

Speer legt bei seinem formidablen Werk<br />

den entscheidenden Wert darauf, dass der Zusammenhang<br />

zwischen dem Einsatz ausländi-<br />

153


scher Arbeitskräfte <strong>und</strong> der Kriegsführung des<br />

nationalsozialistischen Deutschland deutlich<br />

bleibt <strong>und</strong> wird. Seine Studie handelt deshalb<br />

nicht nur über „Ausländer, Zwangsarbeiter,<br />

Kriegsgefangene <strong>und</strong> Häftlinge in Wuppertal“,<br />

sondern versteht sich auch als Beitrag zur Erforschung<br />

der Geschichte Rüstungsindustrie<br />

im Tal. Darüber hinaus bietet der Autor viele<br />

neue Forschungsergebnisse für die noch nicht<br />

geschriebene Geschichte Wuppertals im Nationalsozialismus.<br />

Speer hat für seine Studie eine<br />

erstaunliche Breite von Quellen herangezogen<br />

<strong>und</strong> ausgewertet, obwohl die Bestände des<br />

Stadtarchivs Wuppertal zum Thema „ausländische<br />

Zwangsarbeiter“ nur einen ausgesprochen<br />

geringen Umfang besitzen. Der Autor sah sich<br />

gezwungen, in deutschen <strong>und</strong> ausländischen<br />

Archiven nach relevanten Überlieferungen zu<br />

suchen, <strong>und</strong> er ist in einem hohen Maße fündig<br />

geworden. Wertvolle Hinweise gewann er in<br />

Deutschland in den staatlichen Archiven, im<br />

Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchiv zu<br />

Köln, wo die reichhaltigen Beständen der IHK<br />

Wuppertal aufbewahrt werden, <strong>und</strong> in einigen<br />

Firmenarchiven. An ausländischen Archivalien<br />

benutzte Speer das „Archives du Service des<br />

Victimes de la Guerre“ in Brüssel <strong>und</strong> Unterlagen<br />

aus dem Public Record Office in London.<br />

Ganz wesentliche Erkenntnisse gewann Speer<br />

aus der Befragung deutscher Zeitzeugen <strong>und</strong><br />

vor allem durch die Auskünfte ehemaliger<br />

Zwangsarbeiter. Behutsam <strong>und</strong> kritisch wägt<br />

der Autor diese Einsichten aber gegen die dabei<br />

auftretenden methodischen Probleme ab.<br />

Nicht nur an dieser Stelle der Studie erlebt der<br />

Leser Speers wohltuende Art, einfache<br />

schwarz-weiß Zeichnungen zu vermeiden <strong>und</strong><br />

sich immer wieder um relativierendere, komplexere<br />

Aussagen zu bemühen.<br />

Den Bogen seiner Darstellung beginnt<br />

Speer mit den Rahmenbedingungen des Einsatzes<br />

ziviler ausländischer Arbeitskräfte in<br />

Deutschland während des Zweiten Weltkrieges.<br />

Die Lage auf dem Arbeitsmarkt <strong>und</strong><br />

die Beschaffung der benötigten Arbeitskräfte<br />

im Osten werden von ihm ebenso beleuchtet,<br />

wie die Rolle der IHK analysiert <strong>und</strong> die staatlich<br />

vorgegebenen Lebens- <strong>und</strong> Arbeitsbedingungen<br />

für die Polen <strong>und</strong> „Ostarbeitern“ aus<br />

154<br />

der Sowjetunion differenziert <strong>und</strong> eingehend<br />

beschrieben werden.<br />

Die Zwangsarbeit kriegsgefangener Soldaten<br />

wurde vom Autor in die Studie einbezogen,<br />

obwohl sie aus völkerrechtlichen Gründen von<br />

der aktuellen Entschädigungsfrage ausgenommen<br />

ist, weil sie ein „tragendes Segment<br />

der nationalsozialistischen Rüstungswirtschaft“<br />

auch in Wuppertal war.<br />

Da die Arbeitsverwaltung auch für die Zuteilung<br />

von ausländischen zivilen Arbeitskräften<br />

zuständig war, widmet Speer dem Handeln<br />

des Arbeitsamtes ein eigenes Kapitel seiner<br />

Studie <strong>und</strong> bereichert die Analyse durch<br />

biographische Skizzen der führenden Beamten<br />

dieser Wuppertaler Behörde.<br />

Wie Zwangsarbeiter in Wuppertal untergebracht<br />

waren, wie der Lagerbau erfolgte, wie<br />

die Unterkünfte beschaffen waren, erfährt der<br />

Leser in einem Überblick <strong>und</strong> durch zehn Skizzen<br />

zu einzelnen Wuppertaler Lagern. Die Lebensmittelversorgung<br />

<strong>und</strong> die besondere Lage<br />

der Zwangsarbeiter im Bombenkrieg sind weitere<br />

Aspekte der Lebensverhältnisse der Ausländer<br />

im „Arbeitseinsatz“ für das nationalsozialistische<br />

Deutschland. Ausführlich <strong>und</strong><br />

unter vielfältigen Gesichtpunkten, gestützt auf<br />

zahlreiche Zeitzeugeninterviews, analysiert<br />

Speer das Verhältnis von deutscher Bevölkerung<br />

<strong>und</strong> ausländischen Zwangsarbeitern.<br />

Breiten Raum in seiner Darstellung gibt der<br />

Autor dem „Einsatz“ von Kriegsgefangenen<br />

<strong>und</strong> Zwangsarbeitern für die Stadtverwaltung<br />

<strong>und</strong> die stadteigenen Betriebe. Die Einsatzstellen<br />

vom Zoo über die Berufsfeuerwehr bis zum<br />

Verkehrsbetrieb Wuppertaler Bahnen AG zeigen<br />

deutlich, wie notwendig die ausländischen<br />

Arbeitskräfte zur Aufrechterhaltung der Versorgungssicherung<br />

in der Stadt waren, besonders<br />

nach den Bombenangriffen von 1943. In<br />

diesem Zusammenhang kam es auch zu Sondereinsätzen<br />

von Baubrigaden des KZ Buchenwald<br />

<strong>und</strong> beim Wiederaufbau von Produktionsanlagen<br />

zum Einsatz der Organisation<br />

Todt.<br />

Dass die staatlichen Institutionen Reichsbahn<br />

<strong>und</strong> Reichspost massiv auf die Arbeitskraft<br />

von Zwangsarbeitern zurückgegriffen haben,<br />

belegt Speer eindrucksvoll. Er vergisst


auch nicht, die Beschäftigung ausländischer<br />

Arbeitskräfte in der Landwirtschaft zu erwähnen,<br />

auch wenn sie für das Wuppertal nicht von<br />

so großer Bedeutung war, <strong>und</strong> weist – zu Recht<br />

– auf den meist übersehen Umstand von<br />

Zwangarbeit in privaten Haushalten hin.<br />

Von zentraler Bedeutung für die Studie ist<br />

die Darstellung des Einsatzes von Zwangsarbeitern<br />

in der Wuppertaler Kriegswirtschaft<br />

<strong>und</strong> Rüstungsproduktion. Speer beschreibt zunächst<br />

den allgemeinen Einfluß von Staat <strong>und</strong><br />

Partei auf die einzelnen Firmen, analysiert das<br />

Verhältnis von Deutschen <strong>und</strong> Ausländern im<br />

Betrieb <strong>und</strong> beleuchtet die Rolle des Unternehmers<br />

während des Krieges. Ihm geht es dabei<br />

besonders darum, die Gesamtverantwortung<br />

Deutschlands für den Einsatz von ausländischen<br />

Zwangsarbeitern zu betonen. Speer argumentiert<br />

entschieden gegen eine Sichtweise,<br />

die die „Verantwortung für Zwangsarbeit ausschließlich<br />

bei der deutschen Wirtschaft sucht“.<br />

In neun umfangreichen Firmenporträts,<br />

z.B. von der Lackfabrik Dr. Kurt Herberts &<br />

Co, den Homann-Werken, der Solinger Firma<br />

Rudolf Rautenbach, die in Wuppertal ein<br />

Zweitwerk betrieb, <strong>und</strong> vor allem von Vorwerk<br />

(über die Zwangsarbeiter dieser Firma hat<br />

Speer zusammen mit Beate Battenfeld schon<br />

früher eine Studie vorgelegt), versucht der Autor<br />

seine These zu belegen, dass die „Arbeit<br />

von Ausländern, Kriegsgefangenen <strong>und</strong><br />

Zwangsarbeitern nur vor dem Hintergr<strong>und</strong> einer<br />

Firma selbst <strong>und</strong> ihrer Tätigkeit während<br />

des Krieges wirklich deutlich“ gemacht werden<br />

könnte.<br />

Zwangsarbeiter als Arbeitskräfte im Wuppertaler<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen <strong>und</strong> ihre Situation<br />

als Patienten untersucht Speer ebenso, wie er<br />

der Frage nach Zwangs-Abtreibungen bei ausländischen<br />

Frauen auf Gr<strong>und</strong> der nationalsozialistischen<br />

Rasse-Ideologie nachgeht. Eingehend<br />

analysiert der Autor den Umfang von<br />

Todesfällen unter der Wuppertalern Zwangsarbeitern,<br />

bietet umfassende Angaben zur Altersstruktur<br />

, den Todesursachen, den Sterbeorten<br />

<strong>und</strong> den Bestattungen der Zwangsarbeiter.<br />

Geburten <strong>und</strong> Kindersterblichkeit der Ausländer<br />

im „Arbeitseinsatz“ in Wuppertal werden<br />

ebenfalls ausführlich erforscht.<br />

Welchen Repressionen <strong>und</strong> Verfolgungen<br />

Zwangsarbeiter ausgesetzt waren, welche Strafen<br />

<strong>und</strong> Schikanen sie erdulden mussten, erfährt<br />

der Leser in vielen Facetten. Speer wendet<br />

sich aber entschieden <strong>und</strong> nachvollziehbar<br />

gegen die These, dass Zwangsarbeiter unter<br />

„permanenter Todesdrohung gestanden“ hätten.<br />

Der Autor lässt dies in der Pauschalität nur<br />

für Bedrohung durch die, gleichermaßen für<br />

Deutsche wie für Ausländer, unkalkulierbareren<br />

Bombenangriffe der Alliierten gelten.<br />

Geriet ein Zwangsarbeiter aber in die Fänge<br />

der Gestapo, dann musste er durchaus mit dem<br />

Schlimmsten – der Hinrichtung – rechnen.<br />

Mit der Beschreibung des Schicksals der<br />

dann Displaced Persons genannten ehemaligen<br />

Zwangsarbeiter in Wuppertal endet die Darstellung.<br />

Im ausführlichen Anhang präsentiert Speer<br />

seine umfangreichen Forschungsergebnisse zu<br />

den verschiedenen Arbeitsstellen <strong>und</strong> Einsatzorten,<br />

den einzelnen Lagern <strong>und</strong> Unterkünften<br />

der Zwangsarbeiter in Wuppertal. Ein Katalog<br />

der Wuppertaler Rüstungsbetriebe weist noch<br />

einmal eindrücklich auf den Zusammenhang<br />

von Kriegswirtschaft <strong>und</strong> Zwangsarbeit hin.<br />

Einige ausgewählte Dokumente r<strong>und</strong>en die<br />

Übersicht ab.<br />

Basierend auf einer enormen, fast unglaublichen<br />

Recherche, die Maßstäbe setzt, die missliche<br />

lokale Quellenlage vergessen lassend, hat<br />

Florian Speer eine herausragende Studie erarbeitet,<br />

die als Gr<strong>und</strong>lagenwerk mit teilweise<br />

Handbuchcharakter gelten kann <strong>und</strong> weit mehr<br />

bietet, als Titel <strong>und</strong> Umfang erahnen lassen.<br />

Wuppertal hat damit nicht nur die „NS-<br />

Zwangsarbeit“ wissenschaftlich aufgearbeitet<br />

bekommen, es hat einen weit über das eigentliche<br />

Thema hinausgehenden Beitrag zur Erforschung<br />

der Geschichte des Nationalsozialismus<br />

im Tal der Wupper erhalten.<br />

Ralf Rogge<br />

155


Titelbild:<br />

Das Armenpflegedenkmal des Bildhauers Wilhelm Neumann-Torborg wurde 1903 aus Anlaß des<br />

50jährigen Bestehens des „Elberfelder Systems“ auf dem Platz neben der Alten reformierten Kirche<br />

errichtet. Die Bronzeteile sind sehr wahrscheinlich im Zweiten Weltkrieg eingeschmolzen worden.<br />

Vgl. den Aufsatz von Gerhard Deimling in diesem Heft. Foto: Stadtarchiv Wuppertal<br />

Rückumschlag:<br />

Elberfeld vom Kiesberg, 1836. Ausschnitt des Ölgemäldes von Friedrich Andriessen. Entnommen<br />

aus: Herbert Pogt: Historische Ansichten aus dem Wuppertal des 18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts, Wuppertal<br />

1989, 2. Aufl. 1998. Vgl. den Reisebericht von Wilhelmine Funke in diesem Heft.<br />

Druck:<br />

Verlagsdruckerei Schmidt GmbH, 91413 Neustadt an der Aisch<br />

Redaktionsanschrift:<br />

Stadtarchiv Wuppertal,<br />

Friedrich-Engels-Allee 89–91, 42285 Wuppertal-Barmen<br />

Tel. 02 02 / 5 63 66 23, Fax 02 02 / 5 63 80 25<br />

Preis:<br />

a 7,50 (Bei Zusendung zuzüglich Porto)<br />

Die Mitglieder der Abteilung Wuppertal des Bergischen Geschichtsvereins erhalten die Zeitschrift<br />

„Geschichte im Wuppertal“ kostenlos.<br />

Gedruckt mit Unterstützung des Landschaftsverbandes Rheinland, Köln.<br />

Blank, Albrecht, Dr.<br />

Zur Talsperre 6, 57250 Netphen<br />

Blindow, Martin, Prof. Dr.<br />

Heitbusch 5, 48163 Münster<br />

Deimling, Gerhard, Prof. Dr.<br />

Freiligrathstr. 99, 42289 Wuppertal<br />

Eckardt, Uwe, Dr.<br />

Stadtarchiv Wuppertal, Friedrich-Engels-Allee<br />

89-91, 42285 Wuppertal<br />

Elsner, Peter<br />

Stadtarchiv Wuppertal, Friedrich-Engels-Allee<br />

89-91, 42285 Wuppertal<br />

Jäckle, Renate, Dr.<br />

Am Isarkanal 24/5, 81379 München<br />

Kirchmann, Karlheinz<br />

Hütterbuschstr. 48, 42349 Wuppertal<br />

Kley, Siegfried<br />

Klippe 60, 42555 Velbert<br />

156<br />

Lekebusch, Sigrid, Dr.<br />

Lortzingstraße 11, 42289 Wuppertal<br />

Norden, Erika van,<br />

Rüdigerstr. 62, 53179 Bonn<br />

Podewin, Norbert, Dr.<br />

Gubener Str. 13 d, 10243 Berlin<br />

Rhefus, Reiner<br />

Wilhelm-Raabe-Weg 34, 42109 Wuppertal<br />

Rogge, Ralf,<br />

Stadtarchiv Solingen, Gasstr. 22 b,<br />

42657 Solingen<br />

Schrader, Ulrike, Dr.<br />

Begegnungsstätte Alte Synagoge,<br />

Genügsamkeitstraße, 42105 Wuppertal<br />

Wittmütz, Volkmar, Prof. Dr.<br />

Hopscheider Weg 46, 42555 Velbert<br />

Zesewitz, Sigbert<br />

Ortlerweg 29, 12207 Berlin

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