Nachrichten und Buchbesprechungen. - Bergischer ...
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Albrecht Blank<br />
Dionysius Eickel – Ein interessanter Buchf<strong>und</strong> im Internet <strong>und</strong> zugleich<br />
Erinnerung an einen fast vergessenen Prediger aus Elberfeld<br />
Früher stöberte man in verstaubten Antiquariaten<br />
nach interessanten Bücher, heute<br />
setzt man sich vor den Computer <strong>und</strong> sucht in<br />
Online-Katalogen der Antiquariate oder durchstöbert<br />
die Versteigerungen im Internet. Hier<br />
fand ich ein, im wirklichen Sinne, fast einmaliges<br />
Buch 1 über einen Prediger aus Elberfeld:<br />
Dionysius Eickel.<br />
Wer war er nun, dieser Dionysius Eickel,<br />
der neben den großen Wuppertaler Theologen,<br />
wie G. D. Krummacher, F. A. Krummacher,<br />
Nourney, Krafft, nichts Wesentliches geleistet<br />
oder hinterlassen zu haben scheint, obwohl er<br />
Zwischentitel aus der 1788 erschienenen Predigtsammlung.<br />
– Foto: Verfasser<br />
über 30 Jahre in seinem Amte in Elberfeld<br />
stand? Aber er hat mehr hinterlassen als viele<br />
andere, denn er war ein echter Seelsorger in<br />
schweren Zeiten. Berühmt <strong>und</strong> auch heute<br />
noch bekannt ist seine Predigt anlässlich des<br />
100. Jahrestages des großen Brandes in Elberfeld,<br />
welcher 1687 einen großen Teil der Stadt<br />
vernichtete.<br />
Geboren wurde Dionysius Eickel in Bremen<br />
am 30. Dezember 1723 als Sohn des Pfarrers<br />
Heinrich Eickel <strong>und</strong> seiner Frau Amalie<br />
Piron 2 . Die Familie Eickel stammte aus Duisburg.<br />
Dort kam Heinrich Eickel am 12. Januar<br />
1685 zur Welt. Nach dem Besuch der Universität<br />
Duisburg wurde er Pfarrer in Homberg<br />
(1712–1715), an der Marienkirche Duisburg<br />
(1715–1720), an Stephani in Bremen (1720–<br />
1739) <strong>und</strong> schließlich wieder in Homberg von<br />
1739 bis zu seinem Tode am 11. April 1743.<br />
Dionysius Eickel wuchs in Bremen auf <strong>und</strong><br />
besuchte die dortige Hohe Schule (Gymnasium<br />
illustre), die zusammen mit den calvinistisch<br />
orientierten Hohen Schulen <strong>und</strong> Universitäten<br />
in Duisburg, Hamm, Lingen, Herborn<br />
<strong>und</strong> Burgsteinfurt zu den reformierten Bollwerken<br />
gegen die katholischen Universitäten<br />
<strong>und</strong> Kollegien in Köln, Paderborn, Münster<br />
etc. gehörte. So bestanden natürlich enge Beziehungen<br />
zwischen den reformierten Universitäten<br />
<strong>und</strong> ein Wechsel von einer zur anderen<br />
Schule war häufig. Hier begann Dionysius<br />
seine Studien an der theologischen Fakultät.<br />
Ein entsprechender Eintrag findet sich in den<br />
Matrikeln des Gymnasiums Bremen 1739.<br />
Nach dem Tode seines Vaters wechselte er<br />
1744 zur Universität Duisburg, wo er sich am<br />
5. März unter dem Rektorat des H. T. Pagenstecher<br />
in die Matrikelliste einschrieb. Am<br />
14. April legte er sein Glaubenbekenntnis als<br />
Theologiestudent vor dem Konsistorium der reformierten<br />
Gemeinde Duisburgs ab <strong>und</strong> wurde<br />
offiziell in die Gemeinde aufgenommen. Hier<br />
studierte er unter den Professoren Christoph<br />
1
Raab, Johann ab Hamm <strong>und</strong> Peter Janssen.<br />
Christoph Raab war von 1709 bis 1748 Professor<br />
für Theologie <strong>und</strong> Kirchengeschichte in<br />
Duisburg. Wegen seines herrischen Wesens<br />
<strong>und</strong> seines Hangs, sich mit „Pietisten <strong>und</strong><br />
Schwärmern“ abzugeben, wurde er mehrfach<br />
suspendiert. Die Synode beschloß sogar, die<br />
unter ihm Studierenden nicht zum Examen zuzulassen.<br />
Die in der Duisburger Zeitung veröffentlichten<br />
schweren Angriffe gegen die katholische<br />
Religion führten zu jahrelangen Prozessen.<br />
Peter Janßen, 1744 bis 1770 Professor<br />
für systematische Theologie <strong>und</strong> Kirchengeschichte<br />
in Duisburg, kam im selben Jahr wie<br />
Eickel an die Universität nach Duisburg <strong>und</strong><br />
sicherlich ging ein großer Einfluss von ihm<br />
aus. Janssens „Betrachtungen über den Reichtum<br />
der Güte Gottes“ von 1732 wird Eickel<br />
wahrscheinlich bekannt gewesen sein. Pietismus<br />
war eigentlich nicht an der Universität<br />
Duisburg zu Hause, trotz der Nähe zu Tersteegen<br />
in Mülheim <strong>und</strong> Hasenkamp an dem Gymnasium<br />
in Duisburg, der sogar von der Synode<br />
für seine pietistische Gesinnung bestraft wurde.<br />
Trotzdem wurde Eickel durch diese Kreise<br />
berührt <strong>und</strong> später sind vielfältige Verbindungen<br />
zu dem Tersteegen-Kreis nachzuweisen, so<br />
z.B. ein Brief an Wilhelm Weck vom 25. Juli<br />
1765, in dem er sich für ein Geschenk bedankt.<br />
Auch der nächste Schritt in seinem Leben<br />
führt Dionysius Eickel in diese Richtung, dass<br />
heißt in eine Gemeinde, die dem pietistischen<br />
Gedankengut sehr offen stand. Zuerst als Hilfspfarrer<br />
wird er im März 1749 zum 2. Pfarrer<br />
der reformierten Gemeinde in Wülfrath gewählt<br />
<strong>und</strong> versieht dieses Amt bis zu seiner Berufung<br />
nach Elberfeld 1756. Auch hier wird er<br />
sich der Erweckungsbewegung in seinen<br />
frühen Anfängen genähert haben <strong>und</strong> bei seinem<br />
Wechsel nach Elberfeld steht in einem<br />
Brief an Wilhelm Weck: „O wie glücklich ist<br />
eine Gemeinde, wo solch treue Arbeiter in den<br />
Weinberg gesandt werden 3 “.<br />
Dionysius Eickel heiratet am 8. März 1751<br />
Anna Sophia Henrietta Kürten 4 , geb. 1733 in<br />
Schöller bei Elberfeld. Nachkommen hat es<br />
wohl keine gegeben. In der Erinnerungspredigt<br />
anlässlich der Beerdigung wird ausdrücklich<br />
nur die Ehefrau als Trauernde erwähnt.<br />
2<br />
Wülfrath diente einigen Pfarrern als<br />
Sprungbrett für eine Stelle in Elberfeld, eine<br />
der aufstrebendsten <strong>und</strong> reichsten Städte im<br />
Wuppertal. Auch Dionysius Eickel ging diesen<br />
Weg. Er wurde 1756 zum 2. Pfarrer der reformierten<br />
Gemeinde Elberfeld gewählt <strong>und</strong><br />
am 20. Dezember 1756 in sein neues Amt eingeführt.<br />
Er folgte dort dem Pfarrer J. R. Druschell,<br />
der 1755 verstorben war. Seine Kollegen<br />
in der reformierten Gemeinde waren J.<br />
Achenbach bis 1770, J. P. Weyermann als erster<br />
Dritter Pastor bis 1786, F. Merken von 1770<br />
bis 1801 <strong>und</strong> schließlich C. G. Wever von 1787<br />
an, der sich auch mit einer Ode in dem beschriebenen<br />
Buch von seinem Kollegen verabschiedete.<br />
Die Pfarrer der lutherischen Gemeinde<br />
zu dieser Zeit waren F. W. Gelshorn<br />
(1767–1776) <strong>und</strong> vor allem J. C. Böddinghaus<br />
(1777–1813) 5 . Es war eine schwere Zeit, in der<br />
Eickel nach Elberfeld wechselte, die Zeit des<br />
Siebenjährigen Krieges mit wiederholten Besetzungen<br />
Elberfelds durch französische Truppen,<br />
Geiselnahmen, Hunger <strong>und</strong> Elend. Auf<br />
Gr<strong>und</strong> der Kriegswirren konnten Sitzungen der<br />
Provinzialsynode 1757 <strong>und</strong> 1758 nicht abgehalten<br />
werden. Ebenso fanden keine Sitzungen<br />
der Generalsynode während des Siebenjährigen<br />
Krieges statt. Eickel wurde im Jahr seines<br />
Amtsantrittes in Elberfeld noch Inspektor der<br />
Elberfelder Klasse, hatte zeitlebens wiederholt<br />
Ämter inne <strong>und</strong> war zum Zeitpunkt seines Todes<br />
Präses der Generalsynode in Jülich, Cleve,<br />
Berg <strong>und</strong> Mark. 1774 war Eickel Präses der<br />
Bergischen Provinzialsynode. Er war damit<br />
Vorsitzender der mächtigsten <strong>und</strong> größten Synode<br />
neben Jülich, Cleve <strong>und</strong> Mark. Während<br />
seiner Amtszeit eskalierte der Streit um die<br />
Einführung eines neuen Liederbuches. 1772<br />
eingeführt, wurde es vor allem von den altreformierten<br />
Gemeinden der bergischen Provinzialsynode<br />
abgelehnt, so dass sich die Buchhändler<br />
<strong>und</strong> Drucker bei der Regierung in Cleve<br />
über den mangelnden Absatz beschwerten,<br />
zumal ein Festpreis von 10 Stübern festgesetzt<br />
worden war. Ein Gutachten nach dem anderen<br />
wurde erstellt <strong>und</strong> erst nach einer außerordentlichen<br />
Bergischen Synode vom 4. März 1775<br />
konnte Eickel mit einer Abordnung nach Cleve<br />
reisen <strong>und</strong> in einer dreitägigen Beratung den
Streit beilegen. In einer 2. Auflage des Liederwerkes<br />
wurden nun die vier beschlossenen Änderungen<br />
6 eingearbeitet 7 . 1778, Eickel war Assessor<br />
der Bergischen Synode, nahm er an der<br />
Generalsynode in Duisburg teil <strong>und</strong> wurde in<br />
das Collegium qualificatum entsandt. Auf der<br />
Generalsynode in Duisburg vom 12. bis 19. Juli<br />
1787 wird Eickel schließlich zum Präses gewählt.<br />
Den Höhepunkt seiner beruflichen<br />
Laufbahn hatte er erreicht, aber damit auch<br />
eine weitere Arbeitsbelastung, die seiner Ges<strong>und</strong>heit<br />
sicherlich abträglich war, denn neben<br />
seinen seelsorgerischen Aufgaben musste er<br />
sich in den folgenden Jahren um die synodalen<br />
Geschäfte kümmern. Er erhielt den Auftrag,<br />
sich an den König zu wenden wegen des Himmelfahrtstages,<br />
der durch den Preußischen König<br />
auf einen Sonntag verlegt worden war, um<br />
die Vielzahl der Feiertage zu begrenzen. Am<br />
Schluss der Synode hielt Eickel eine „sehr erweckende“<br />
Rede über Joh. 15, 4. 5.<br />
Er war ein Arbeitsmensch. Von morgens bis<br />
abends im Dienst, besuchte er Kranke <strong>und</strong><br />
Notleidende <strong>und</strong> versuchte zu helfen, wo er<br />
konnte. Er machte keinen Unterschied zwischen<br />
Armen <strong>und</strong> Reichen <strong>und</strong> war Tag <strong>und</strong><br />
Nacht für jeden erreichbar. Seine Persönlichkeit<br />
<strong>und</strong> Ausstrahlung machten ihn berühmt, so<br />
dass die Menschen von weit her zu seinen Predigten<br />
kamen. Im Vorwort des nachfolgend beschriebenen<br />
Buches wird er folgendermaßen<br />
charakterisiert: „Die Hauptzüge seines Charakters<br />
waren unverstellte Aufrichtigkeit,<br />
fre<strong>und</strong>schaftliche Mitteilung seiner von Gott<br />
erlangten Gaben, nachgebende Sanftmut, Ruhe<br />
<strong>und</strong> Heiterkeit des Gemüths, fre<strong>und</strong>licher<br />
Ernst, uneigennützige Gefälligkeit <strong>und</strong> unerschrockener<br />
Mut, die Wahrheit allenthalben zu<br />
sagen, wo ihn die Pflicht dazu aufforderte.“<br />
Ein besonderer Abschnitt in seinem Leben<br />
war wohl eine schwere Erkrankung in der<br />
zweiten Märzhälfte des Jahres 1764, von der<br />
Dionysius Eickel sich nur langsam erholte. In<br />
dieser Zeit muss wohl seine „Erweckung“ statt<br />
gef<strong>und</strong>en haben. In der Predigt anlässlich des<br />
Trauergottesdienstes für Eickel erwähnt Herminghaus:<br />
„Ihn, der vordem schon ein fleißiger,<br />
geschickter, beliebter Prediger war, hat der<br />
Herr vor stark 20 Jahren so kräftig erweckt, zu<br />
Frontispiz aus der Predigtsammlung mit der<br />
Silhouette des Dionysius Eikel von D. Engstfeld.<br />
– Foto: Verfasser.<br />
sich gezogen, <strong>und</strong> ausgerüstet, dass das Land<br />
davon zu sagen wusste, ich geschweige diese<br />
Gemeinde <strong>und</strong> ihre umliegende Nachbarschaft.“<br />
F. Strauß schreibt in seinen Lebenserinnerungen<br />
„Abend-Glocken-Töne“: „Es war<br />
die Zeit der Erweckung. Im Bergischen war<br />
früher eine solche gewesen zu Eickel’s <strong>und</strong><br />
Nourney’s Zeiten, wenn man eine solche benennen<br />
wollte mit dem Namen der Männer,<br />
von denen sie ausgegangen war.“ Weiter<br />
spricht Strauß, ein Lutheraner, von dem großen<br />
Segen, der von Eickel <strong>und</strong> Nourney ausgegangen<br />
sei.<br />
Im Gegensatz zu den pietistischen Kreisen<br />
mit ihren ganz unterschiedlichen Ausprägun-<br />
3
gen standen die Rationalisten. Beides waren<br />
religiöse Strömungen, auf der Aufklärung aufbauend<br />
<strong>und</strong> sowohl bei Reformierten wie Lutheranern<br />
vorhanden. J. Böddinghaus, ein Lutheraner,<br />
war Rationalist <strong>und</strong> Eickel stand nach<br />
Aussage von F. Strauß in einem schweren Bußkampf<br />
mit ihm 8 . Hausbesuche durch die Prediger<br />
war ein wichtiger Bestandteil reformierten<br />
Gemeindelebens <strong>und</strong> so wechselten sich die<br />
Pfarrer wöchentlich ab zwischen der reinen<br />
Amtstätigkeit mit Trauergottesdiensten, Taufen<br />
<strong>und</strong> Eheschließungen <strong>und</strong> der seelsorgerischen<br />
Tätigkeit mit Besuchen von Kranken <strong>und</strong> Sterbenden.<br />
Alle Gemeindemitglieder wurden<br />
jährlich einmal besucht <strong>und</strong> so entstand ein enger<br />
Kontakt in der Gemeinde <strong>und</strong> ein großes<br />
Wissen der Prediger um Leid <strong>und</strong> Nöte der<br />
Gläubigen. Hier lernte Eickel auch den Arzt<br />
<strong>und</strong> Dichter Jung-Stilling kennen. Dieser<br />
schätzte ihn sehr. „Ich war in dieser blühenden<br />
Handelsstadt sieben Jahre ausübender Arzt,<br />
<strong>und</strong> Eickel war mein wahrer Fre<strong>und</strong>; wir trafen<br />
uns gar oft am Krankenbette“ schreibt Johann<br />
Heinrich Jung im 2. Teil seines Buches „Szenen<br />
aus dem Geisterreiche“ 9 .<br />
So wird die große Erschütterung der Gemeinde<br />
über Dionysius Eickels plötzlichen Tod<br />
verständlich.<br />
Dionysius Eickel starb am 30. Mai 1788<br />
morgens um 1 Uhr nach einer kurzen Krankheit<br />
im Alter von 64 Jahren, 5 Monaten <strong>und</strong> 5<br />
Tagen. „Denn Dir war vergönnt zu sterben, ohne<br />
die gewöhnte Not.“ Er stand in seinem Amt<br />
in Elberfeld 31 Jahre, 5 Monate <strong>und</strong> 10 Tage.<br />
Die Beerdigung fand am 2. Juni 1788 statt <strong>und</strong><br />
sein Fre<strong>und</strong>, der Prediger Joh. Herminghaus,<br />
hielt die Gedächtnisrede. Sein Nachfolger im<br />
Amte war Daniel Kamp 10 . Seine Frau Anna Sophia<br />
Henrietta geb. Kürten überlebte ihn um 22<br />
Jahre <strong>und</strong> starb im Alter von 77 Jahren 1810 in<br />
Ronsdorf.<br />
Nun zum Buch: Sammlung einiger Predigten<br />
wegen ihrer Gründlichkeit <strong>und</strong> geistlichen<br />
Erfahrungen aufgeschrieben <strong>und</strong> zum Drucke<br />
befördert von ungenannten Fre<strong>und</strong>en; Zweite<br />
verbesserte Auflage. Elberfeld bei Christian<br />
Wilhelm Giesen, Buchhändler, 1788.<br />
Giesen war Verleger in Wülfrath <strong>und</strong> Elber-<br />
4<br />
feld <strong>und</strong> sympathisierte mit der Christentumsgesellschaft<br />
11 . Das Buch ist im Oktav-Format<br />
mit Pappeinband seiner Zeit <strong>und</strong> Lederrücken<br />
erschienen. Es enthält ein Frontispiz mit einer<br />
Silhouette des Dionysius Eickel von D. Engstfeld,<br />
die möglicherweise später eingeklebt<br />
wurde. Auf dem Vorsatzpapier befindet sich<br />
ein ganzseitiger Eintrag von Gottlieb Keydel<br />
vom 8. Mai 1794, wahrscheinlich einer der ersten<br />
Besitzer. Das Buch selbst besteht aus<br />
mehreren Abschnitten. Auf den Vorbericht des<br />
unbekannten Herausgebers von 20 Seiten, geschrieben<br />
am Todestag des Dionysius Eickel,<br />
folgen 28 Seiten mit Trauergedichten, Oden<br />
<strong>und</strong> Elegien auf den verstorbenen Prediger.<br />
Der Predigtteil mit Inhaltsverzeichnis umfasst<br />
450 Seiten, verteilt auf 11. Predigten, welche<br />
zwischen dem 11. September 1785 <strong>und</strong> dem<br />
22. Mai 1787 datiert sind. Im Anhang finden<br />
sich noch zwei Briefe Dionysius Eickels an eine<br />
Fre<strong>und</strong>in (10 Seiten), eine aus dem Jahre<br />
1740 stammende Grabinschrift (4 Seiten) <strong>und</strong><br />
schließlich die Gedächtnisrede (45 Seiten) des<br />
damaligen Inspektors der Elberfelder Klasse<br />
<strong>und</strong> Predigers zu Gemarke Joh. Herminghaus,<br />
gehalten am 2. Juni 1788, dem Begräbnistage<br />
Dionysius Eickels. Der Titel lautet: „Die Freudigkeit<br />
des Apostel Paulus bei dem Anblick<br />
seines nahen Todes“. Der Predigttext „Ich habe<br />
einen guten Kampf gekämpfet, ich habe den<br />
Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten.<br />
Hinfort ist mir beigelegt die Krone der Gerechtigkeit“<br />
wird dabei auf den verstorbenen Prediger<br />
bezogen, seine Glaubensstärke, seine<br />
Kämpfe, die ihn schließlich zur Erweckung geführt<br />
hatten.<br />
Kehren wir noch einmal an den Anfang des<br />
Buches zurück, zu den Trauergedichten, die in<br />
ihrer Art zu der damaligen Zeit nicht unüblich<br />
waren. Bemerkenswert ist jedoch, dass neben<br />
Angehörigen der eigenen Gemeinde <strong>und</strong> dem<br />
Kollegen Wever auch Mitglieder der lutherischen<br />
Gemeinde sich mit einem Trauergedicht<br />
verabschiedet haben. Man sieht, wie viel Ansehen<br />
er sich in den 31 Jahren seines Wirkens<br />
verschafft hatte durch seine immer wieder in<br />
den Gedichten erwähnte milde fre<strong>und</strong>liche Art,<br />
so dass er dem Jünger Johannes gleichgesetzt<br />
wurde.
Eickel stirbt! Hört! Zions Klage:<br />
Salems Tränen sind gerecht.<br />
Ohne lange Krankheit Plage,<br />
Starb der treue Gottesknecht.<br />
Ach! Der Hirt eilt nun von hinnen,<br />
Die verscheuchten Lämmer fliehn;<br />
Augen lass hier Zähren rinnen!<br />
Unsre Pflicht bejammert ihn. 12<br />
Etwas ganz besonderes ist jedoch das Trauergedicht<br />
von Johann Heinrich Jung, genannt<br />
Jung-Stilling, „Eickels Verklärung, eine Scene<br />
aus der Geisterwelt“. Jung-Stilling war zu dieser<br />
Zeit schon Hofrath <strong>und</strong> Professor für<br />
Staatswirtschaft in Marburg <strong>und</strong> es bestand<br />
trotzdem noch eine enge Beziehung zum Wuppertal.<br />
Er war von 1772 bis 1778 als Arzt in Elberfeld<br />
beschäftigt. Berühmt wurde er durch<br />
seine Bekanntschaft mit Goethe, der Jung-Stillings<br />
Jugenderinnerungen herausgab, die zu einem<br />
großen literarischen Erfolg wurden. Jung-<br />
Stilling war Mitbegründer der Ersten Elberfelder<br />
Lesegesellschaft von 1775. Als Arzt traf er,<br />
wie oben erwähnt, bei seinen Hausbesuchen<br />
oft auf den Prediger Eickel, der ebenfalls unterwegs<br />
war, um Kranke <strong>und</strong> Sterbende zu besuchen.<br />
In Eickels Verklärung geht es um zwei<br />
Engel, Elim <strong>und</strong> Salem, die zu dem sterbenden<br />
Eickel reisen, um ihm das Sterben zu erleichtern<br />
<strong>und</strong> um ihn anschließend vor den Thron<br />
des Erlösers zu führen. Der folgende Auszug<br />
vermittelt einen guten Eindruck von Jung-Stillings<br />
Stil <strong>und</strong> Sprache.<br />
Elim:<br />
Mein Bruder! Sage mir: Du kanntest ihn, wem<br />
unserer Fürsten war er gleich?<br />
Salem:<br />
Nicht einem ganz, - Sein Herz war weich<br />
So wie Lebbäus Herz; - Sein Geist entbrannte<br />
schier<br />
Wie Petrus, wenn der Spötter Rotte lachte.<br />
Doch was ihn fast Johanni ähnlich machte,<br />
Das war die sanfte Huld, die seinem Auge entfloß<br />
Und Stromweis – Liebe – in die Seelen goß.<br />
Die Wahrheit in Parabeln einzukleiden,<br />
Durch Gleichnisse den Unsinn zu bestreiten<br />
Das hatt er wohl vom Herren selbst gelernt.<br />
Die Gründlichkeit von allem Schwulst entfernt,<br />
Die flöst ihm Paulus ein. – Doch seine Sorgen<br />
Für Menschen Glück; die unbegrenzte Mühe<br />
In seinem Dienst; das Ringen spät <strong>und</strong> frühe<br />
Nach Licht <strong>und</strong> Kraft, von jedem Morgen<br />
Bis in die Nacht, vermag kein Engel auszudrücken.<br />
Der Ursprung von „Eickels Verklärung“<br />
war lange Zeit in Vergessenheit geraten <strong>und</strong><br />
lässt sich erst durch dieses Buch wieder nachweisen.<br />
Das Gedicht wurde eindeutig 1788 anlässlich<br />
des Todes von Dionysius Eickel verfasst<br />
<strong>und</strong> zeigt die große Hochachtung vor dem<br />
Seelsorger, der unermüdlich unterwegs war,<br />
den Kranken <strong>und</strong> Schwachen zu helfen.<br />
Hier soll nur auf zwei der Predigttexte eingegangen<br />
werden. Der eine verdeutlicht<br />
Dionysius Eickels theologische Gedankenwelt,<br />
der andere behandelt ein besonderes historische<br />
Ereignis.<br />
Die am 11. September 1785 gehaltene<br />
Frühpredigt über das „Große Vorrecht wahrer<br />
Gläubigen“ behandelt Römer 8, V.16: „Derselbe<br />
Geist gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir<br />
Gottes Kinder sind.“ Die Kindschaft Gottes,<br />
die Annahme derselben, ist für Eickel der zentrale<br />
Punkt des wahren Glaubens <strong>und</strong> er erläutert<br />
das große Vorrecht der Kindschaft Gottes<br />
<strong>und</strong> wie man zur Kindschaft gelangen könne.<br />
Nur durch „Erkenntnis <strong>und</strong> Gefühl, aber auch<br />
zugleich eine herzliche Reue aller unserer Sünden,<br />
<strong>und</strong> dabei ein rechtes geistliches Gesicht<br />
unserer Gräuel <strong>und</strong> Verdammniswürdigkeit in<br />
den Augen eines so heiligen Gottes.“ Ferner<br />
durch den „Glauben an Jesum Christum“ <strong>und</strong><br />
„Bereuung <strong>und</strong> Vergebung der Sünden, sondern<br />
auch ein aufrichtiger Vorsatz, die Sünde<br />
von Herzen zu hassen...“ Für Eickel ist es<br />
äußerst wichtig, Gott nicht als rächenden Gott<br />
darzustellen, sondern als Gott der Liebe <strong>und</strong><br />
Vergebung.<br />
Wir befinden uns in der Zeit des Pietismus<br />
<strong>und</strong> Elberfeld war ein Zentrum dieser religiösen<br />
Strömung, in der die persönliche Glaubensempfindung,<br />
die gelebte Frömmigkeit ins Zentrum<br />
rückte <strong>und</strong> die reine dogmatische Glaubenslehre<br />
zurückdrängte. Ohne das Zeitalter<br />
5
der Aufklärung nicht vorstellbar, mit dem der<br />
Mensch in den Mittelpunkt rückte, stand der<br />
Pietismus doch im Gegensatz zu einem rationalistischen<br />
Glaubensbegriff, der den Glauben<br />
als etwas Abgeschlossenes betrachtete. Es war<br />
auch der Beginn der Erweckungsbewegung,<br />
die ihren Höhepunkt im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert erreichte.<br />
Herminghaus erinnerte in seiner Gedächtnispredigt<br />
an die persönliche Erweckung<br />
Eickels, die er 1764 anlässlich einer schweren<br />
Erkrankung erlebt hatte. Die erste Predigt nach<br />
seiner langen Erkrankung hielt er über Matt.<br />
4,17: „Von der Zeit an fing Jesus an, zu predigen<br />
<strong>und</strong> zu sagen: Tut Buße, das Himmelreich<br />
ist nahe herbeigekommen!“ Eickel gehörte<br />
nicht zu den engeren pietistischer Kreisen von<br />
z. B. Tersteegen, Hasenkamp <strong>und</strong> Collenbusch,<br />
die ihn dennoch sehr schätzten. Obwohl<br />
Fre<strong>und</strong> des Tersteegianers Herminghaus, kam<br />
es doch auch zu Differenzen mit dem geistlichen<br />
Nachfolger Tersteegens, Engelbert Evertsen.<br />
Friedrich Wilhelm Krummacher bezeichnet<br />
ihn als einen Fre<strong>und</strong> der erweckten Kreise<br />
<strong>und</strong> Strauß sieht unter Eickel einen ersten<br />
Höhepunkt der Erweckungsbewegung im<br />
Wuppertale.<br />
In seinen Predigten sprach er die Zuhörer<br />
direkt an, nannte sie „Meine lieben Zuhörer“<br />
oder „Meine lieben Fre<strong>und</strong>e“ <strong>und</strong> ging besonders<br />
in der Zueignung immer beispielhaft auf<br />
das Leben der Gemeinde ein. Dies auch besonders<br />
in seiner berühmtesten Predigt vom<br />
22. Mai 1787, einer Buß- <strong>und</strong> Dankpredigt<br />
zum 100 Jahrestages des großen Brandes in Elberfeld.<br />
Nach einem längeren einleitenden Text<br />
über den Ablauf des schrecklichen Brandes,<br />
der ja vielfältig in den Schriften über die Geschichte<br />
Elberfelds zitiert wurde, geht er in seinem<br />
Predigttext auf Amos 4, V.11 ein: „Ich<br />
kehrte unter euch um, wie Gott Sodom <strong>und</strong><br />
Gomorra umkehrte, daß ihr waret wie ein<br />
Brand, der aus dem Feuer gerissen wird; doch<br />
bekehrtet ihr euch nicht zu mir, spricht der<br />
HERR.“ Auch in der Zueignung geht er in dramatischen<br />
Worten auf den Brand ein. Eickel<br />
schreitet in Gedanken mit seinen Fre<strong>und</strong>en<br />
noch einmal durch die brennende Stadt, ruft<br />
die einzelnen Orte des wütenden Feuers in Erinnerung,<br />
um dann den Zuhörern ins Gewissen<br />
6<br />
zu reden. Er ermahnt sie, von Hochmut, Eigennutz,<br />
Verschwendung, Hass, Neid, Zwietracht<br />
<strong>und</strong> Wollust zu lassen, damit sie einem solchen<br />
verheerenden Schicksal zukünftig entrinnen<br />
möchten. Hier zeigt sich denn doch noch einmal<br />
der Gott des Alten Testamentes. Diese letzte<br />
Predigt scheint nicht in allen Auflagen des<br />
Buches vorhanden zu sein, denn die meisten<br />
Hinweise auf dieses Buch sprechen nur von 10<br />
Predigten. Er war ein Mann der Worte mit<br />
einer ausgesprochenen rhetorischen Begabung.<br />
Noch aus der weiteren Umgebung kamen die<br />
Menschen, um ihn zu hören. Ein ehemaliger<br />
„Catechisant“ schrieb: „Wie erschreckend<br />
wusstest Du Hölle <strong>und</strong> den Weg zur Höllen<br />
<strong>und</strong> wie schön die Himmelsbahn <strong>und</strong> den Himmel<br />
vorzustellen; der in Luft verlorne Sünder,<br />
so sich in der Sünd verwirrt, <strong>und</strong> sich von dem<br />
Pfad des Lebens <strong>und</strong> von Gott <strong>und</strong> sich verirrt.“<br />
Auch im persönlichen Gespräch wußte er<br />
mit Gleichnissen zu überzeugen. Einige sind<br />
wiedergegeben in „Einige Züge zur Charakterschilderung<br />
des seligen Predigers Herrn<br />
Dionysius Eickel“, welche, von einem unbekannten<br />
Autor, 1791 bei Chr. Wil. Giesen erschienen.<br />
Er war ein Prediger, der die „praxis<br />
pietatis“ wirklich lebte.<br />
Literaturverzeichnis:<br />
Dionysius Eickel: in Reformiertes Wochenblatt<br />
Nr. 31. 1857.<br />
Eberlein, Hermann-Peter (Hg.): 444 Evangelische<br />
Kirche in Elberfeld. Köln 1998.<br />
Einige Züge zur Charakterschilderung des seligen<br />
Predigers Herrn Dionysius Eickel. Elberfeld<br />
1791.<br />
Goebel, Klaus: In allem Betracht ein angenehmer<br />
Aufenthalt, Ronsdorfer Vorträge <strong>und</strong> Aufsätze.<br />
Köln 1994.<br />
Krummacher, Friedrich-Wilhelm: Gottfried Damiel<br />
Krummacher <strong>und</strong> die niederrheinische Erweckungsbewegung.<br />
Berlin 1935.<br />
Langewiesche, Wilhelm (Hg.): Elberfeld <strong>und</strong><br />
Barmen, Beschreibung <strong>und</strong> Geschichte dieser Doppelstadt<br />
des Wupperthals. Barmen 1863.<br />
Neeb, Horst: Geistliches Blumenfeld, Briefe der<br />
Tersteegen-Fre<strong>und</strong>e 1737–1789. Düsseldorf 2000.
Ring, Walter: Geschichte der Universität Duisburg.<br />
Duisburg 1920.<br />
Rosenkranz, Albert: Das Evangelische Rheinland.<br />
1958.<br />
Sammlung einiger Predigten wegen ihrer<br />
Gründlichkeit <strong>und</strong> geistlichen Erfahrung aufgeschrieben<br />
<strong>und</strong> zum Druck befördert von ungenannten<br />
Fre<strong>und</strong>en. Elberfeld 1788.<br />
Schaffner, Hans: Duisburger Konsistorialakten<br />
1721–1792. Köln 1990.<br />
Simons, Eduard: Generalsynodalbuch, Die Akten<br />
der Generalsynoden von Jülich, Cleve, Berg <strong>und</strong><br />
Mark 1610–1793, 2. Teil. Aachen 1923.<br />
Strauß, Friedrich: Abend-Glocken-Töne. Berlin<br />
1869.<br />
Zur Erinnerung an die beiden Bergischen Prediger<br />
Heinrich Eickel zu Homberg <strong>und</strong> Bremen, <strong>und</strong><br />
dessen Sohn Dionysius Eickel zu Wülfrath <strong>und</strong> Elberfeld,<br />
in: Reformiertes Wochenblatt Nr. 50. 1880.<br />
Anmerkungen:<br />
1 Ein ähnliches Exemplar befindet sich im Archiv<br />
des Landeskirchenamtes in Düsseldorf.<br />
2 Heinrich Eickel war verheiratet mit a) Duisburg<br />
23.9.1719 Amalie Piron, b) Bremen 20.9. 1729<br />
Gesche Kraegel, c) Bremen 7.9.1732 Katharina<br />
Elisabeth Jorgens. Insgesamt 10 Kinder.<br />
3 Neeb, Horst: Geistliches Blumenfeld, Düsseldorf<br />
2000, S. 279.<br />
Karl-Heinz Kirchmann/Uwe Eckardt<br />
4 Vielleicht verwandt mit Philipp Jakob Kürten,<br />
seit 1698 Pfarrer in Wülfrath. Er war am<br />
13.02.1750 begraben worden <strong>und</strong> Henricus Jakobus<br />
Cürten (Curtenius, Kürten) 1707–1771,<br />
Student in Duisburg (Matrikel vom 14. März<br />
1725), Pfarrer in Schöller<br />
5 Elberfeld <strong>und</strong> Barmen, Beschreibung <strong>und</strong> Geschichte<br />
dieser Doppelstadt des Wupperthales,<br />
Barmen, 1863.<br />
6 Z.B.: anstatt: am Stamm des heiligen Kreuzes:<br />
am Stamme deines Kreuzes; anstatt: erloschen<br />
ist sein Glaube: verdunkelt ist sein Glaube<br />
7 Noch 1781 auf der Generalsynode in Duisburg<br />
wurde beklagt, dass einige Elberfelder Gemeinden<br />
die Einführung des neuen Gesangbuches<br />
verweigerten <strong>und</strong> der Inspektor der Elberfelder<br />
Klasse, Eickel, wird erneut ermahnt hier sanften<br />
Druck auszuüben.<br />
8 F. Strauß: Abend-Glocken-Töne, Berlin 1868,<br />
Seite 196.<br />
9 Jung, Joghann Heinrich, genannt Jung-Stilling:<br />
Sämtliche Werke. Scenen aus dem Geisterreiche,<br />
Bd. 2, Stuttgart 1843, S. 422 f.<br />
10 Daniel Kamp geb. 1. Juli 1757, gest. 12. Dezember<br />
1822, Studium in Duisburg, Pfarrer in<br />
Jüchen <strong>und</strong> Baerl.<br />
11 Neeb, Horst: Geistliches Blumenfeld, Düsseldorf<br />
2000, S. 537<br />
12 Auf den Tod des Dionysius Eickel von einem<br />
Mitglied der Lutherischen Gemeinde hieselbst.<br />
Zwei Inventarlisten der katholischen Kirchengemeinde Cronenberg<br />
von 1794<br />
Cronenberg, das um 1050 urk<strong>und</strong>lich zum<br />
ersten Mal erwähnt wurde, gehörte von Anfang<br />
an kirchlich zu Elberfeld. Das erste, den Hl.<br />
Ewalden geweihte Gotteshaus stand an der<br />
Stelle der heutigen, 1771 errichteten reformierten<br />
Kirche. Der Priester, der „up dem<br />
Kromberg“ den Gottesdienst versah, lebte von<br />
den Einkünften des Gutes in der Steinbeck, das<br />
1428 Lubbert von Galen der Elberfelder Kirche<br />
(heute: Alte reformierte Kirche) geschenkt<br />
hatte.<br />
Der Übertritt der Elberfelder zum neuen<br />
Glauben – angeblich blieben dort nur sechs Fa-<br />
milien katholisch – <strong>und</strong> das Auftreten des 1529<br />
auf dem Scheiterhaufen in Köln verbrannten<br />
Reformators Adolf Clarenbach hatten natürlich<br />
auch Auswirkungen auf die Gläubigen in<br />
Cronenberg. Der Glaubenswechsel vollzog<br />
sich hier offenbar zögerlich <strong>und</strong> in mehreren<br />
Schritten. Um 1540 wandte sich der Kaplan<br />
Peter von dem Bruch der lutherischen Lehre<br />
zu. Um 1570 trat dann die Cronenberger<br />
Gemeinde vermutlich weitgehend geschlossen<br />
zum reformierten Bekenntnis über. Der Amtsantritt<br />
des Pfarrers Friedrich Keppel 1582 gilt<br />
als Gründungsdatum der reformierten Ge-<br />
7
meinde. Danach wurde über 200 Jahre kein katholischer<br />
Gottesdienst mehr in Cronenberg<br />
gehalten.<br />
Dies änderte sich erst im ausgehenden<br />
18. Jahrh<strong>und</strong>ert. Durch Zuzug wuchs nach <strong>und</strong><br />
nach die Zahl der Lutheraner <strong>und</strong> Katholiken.<br />
Der katholische Landesherr Kurfürst Karl<br />
Theodor genehmigte durch Edikte am 12. Dezember<br />
1782 die Gründung der lutherischen<br />
Gemeinde <strong>und</strong> am 24. Mai 1791 die Gründung<br />
auch der katholischen Gemeinde Cronenberg,<br />
die zu dieser Zeit r<strong>und</strong> 120 Seelen zählte. Da<br />
im Zuge der Gegenreformation das Bergische<br />
Land zum Missionsgebiet erklärt worden war,<br />
wurden die Priester, die die wenigen Katholiken<br />
betreuten, als Missionare bezeichnet. Aus<br />
dem von der Regierung in Düsseldorf angekauften<br />
Wirtshaus an der Hauptstraße wurde<br />
nach seinem Umbau in einen Kirchenraum <strong>und</strong><br />
eine Priesterwohnung ein „Missionshaus“.<br />
Hier feierte der Missionar Narzissus Wersdorf,<br />
der zum Orden der Minoriten im Kloster Lennep<br />
gehörte, am 19. März 1792 wieder die<br />
erste Hl. Messe nach der Reformation in Cronenberg.<br />
Da im Heiligenkalender dieser Tag<br />
dem Hl. Josef geweiht war, galt er seitdem als<br />
Pfarrpatron der Gemeinde.<br />
Zur sachgerechten Ausstattung des Missionshauses<br />
genehmigte die Regierung in Düsseldorf<br />
1793 die Durchführung einer „stillen<br />
Kollekte“ im Bergischen Land, die in Barmen<br />
48, in Cronenberg 50, in Düsseldorf 65 <strong>und</strong> in<br />
Elberfeld sogar 140 Taler erbrachte. Bei den<br />
Recherchen nach dem kurfürstlichen Edikt<br />
vom 24. Mai 1791 hat Herr Theodor Hildebrand,<br />
der das Pfarr-Archiv der St. Laurentius-<br />
Gemeinde betreut, die beiden nachfolgenden<br />
Inventarlisten entdeckt, 1 die vermutlich auch<br />
deshalb erstellt worden sind, um die ordnungsgemäße<br />
Verwendung der Kollektengelder zu<br />
kontrollieren. 2 Die beiden Listen vermitteln einen<br />
guten Eindruck davon, wie der Kirchensaal<br />
ausgestattet gewesen ist <strong>und</strong> mit welchen<br />
Einrichtungsgegenständen der Geistliche im<br />
Missionshaus gelebt hat.<br />
Die Transkription der beiden Texte erfolgt<br />
buchstabengetreu. Auch die Groß- <strong>und</strong> Kleinschreibung<br />
sowie die Worttrennung entsprechen<br />
dem Originaltext.<br />
8<br />
I.<br />
Verzeichnüß<br />
der, in der Katolischen Missions Kirche zu<br />
Cronenberg vorfindlichen <strong>und</strong> zu derselben<br />
gehörigen Kirchen-Nothwendigkeiten.<br />
1. Ein vollständiger Altar mit Tisch <strong>und</strong> sonstigem<br />
Zubehör.<br />
2. Eine Monstrantz mit dem Ciborio 3 .<br />
3. Ein Silber vergoldeter Kelch.<br />
4. Vier Altar Leuchter.<br />
5. Ein neues Messen buch, worinn Festa Diocoesana,<br />
<strong>und</strong> ordinis Beigeb<strong>und</strong>en. 4<br />
6. Zwey Altar Tücher, <strong>und</strong> die übrigen Nothwendigkeiten.<br />
7. Zwey Altar Känger 5 mit dazu gehörigem<br />
Teller.<br />
8. Vier Alben, von welchen eine gantz Neu<br />
ist. 6<br />
9. Drey Neue Casulen, <strong>und</strong> zwey Dito alte. 7<br />
10. Ein Rauchfaß, Öhlgefäß, schifgen, weihkessel,<br />
<strong>und</strong> weihquast.<br />
11. Ein Crucifix Bild.<br />
12. Eine Klockke <strong>und</strong> zwei schellen.<br />
13. Eine Agend, 8 handpostill, 9 bruderschafts,<br />
<strong>und</strong> Christlichen Lehrbücher.<br />
14. Communicanten Tuch, 10 Tauf, Copulations<strong>und</strong><br />
Todtenbuch, 11 fort Allerhand altar Zierrathen,<br />
Altar Täfelger etc. etc.<br />
15. Ein Kirchenschranck, Beichtstuhl, Communicanten<br />
Banck, die gantze Kirch voll Kirchen<br />
Bänck, <strong>und</strong> sonsten alles, was zum<br />
Dienst Gottes erforderlich ist.<br />
Obiges nachgesehen, inventiret, <strong>und</strong> darab eine<br />
Abschrift zur Hochpreißlichen Regierung<br />
12 eingeschickt, <strong>und</strong> eine gleichlautende<br />
in das Kirchen archiv hingelegt.<br />
Cronenberg, den 3. Januar 1794.<br />
Von franz, richter qua commissarius.<br />
II.<br />
Verzeichnüß<br />
der in dem Katolischen Missions wohnhauß<br />
zu Cronenberg vorfindlichen <strong>und</strong> der<br />
Mission zugehörigen Effecten13 1. Zwey Neue Tisch.<br />
2. Zwölf Stühl <strong>und</strong> Ein Sessel.
3. Zwey Bettstädt, <strong>und</strong> ein Feld-Bett mit nöthigem<br />
Zubehör.<br />
4. Ein Schranck auf der Wohnstube,<br />
5. Ein Küchen Schranck.<br />
6. Eine Schlag Uhr von ohngefehr vier<br />
Reichsthaler werth.<br />
7. Ein Stuben ofen mit nöthigen Pfeiffen 14 <strong>und</strong><br />
Stein darunter.<br />
8. Zwey Größere Kupferne Kessel von werth 9<br />
Reichsthaler 38 Stüber.<br />
9. Sechszehn Stück Servietten.<br />
10. Acht Tischtücher.<br />
11. Sechs Paar Betttücher.<br />
12. Acht <strong>und</strong> zwantzig Hand Tücher quae partim<br />
pro Ecclesia. 15<br />
13. Ein vollständiges Federn Bett.<br />
14. Ein Dito von Flocken.<br />
15. Vier wollene Bettdecken.<br />
16. Ein Kochpott, Theewasser-Kessel, Kupferne<br />
Siebe, Küchenpfanne, <strong>und</strong> Dito Schüssel.<br />
17. Zwey Dutzend Englisch porcelaine Teller<br />
<strong>und</strong> sonstigen Englischen Porcelaine.<br />
18. Ein halb Dutzend messer, Dito gabel, <strong>und</strong><br />
Dito Löffel.<br />
19. Eine Fournaise 16 zum Kochen.<br />
20. Eine Wasch Bütte, zwey Eymer, gemüßfaß<br />
etc. <strong>und</strong> vieler andern, in Blech, Holtz,<br />
Stein, Eisen, Erdt, <strong>und</strong> porcelaine Bestehenden,<br />
<strong>und</strong> in der Rechnung nachgewiesenen<br />
Mobilien.<br />
Obiges nachgesehen, inventirt <strong>und</strong> die Verzeichnüß<br />
zur Hohen Regierung abgeschickt,<br />
fort Eine gleichlautende in das Kirchen archiv<br />
hingelegt.<br />
Cronenberg, den 3. Januar 1794.<br />
Von Frantz, richter qua commissarius.<br />
Literaturhinweise:<br />
Johannes Holtmanns/Adolph Herold/Clemens<br />
Cassel: Chronik der Bürgermeisterei<br />
Kronenberg, 1877, Nachdruck 1981.<br />
200 Jahre katholische Kirchengemeinde<br />
Cronenberg. Herausgegeben vom Gemeinderat<br />
St. Ewald, Sprockhövel, 1992.<br />
Uwe Eckardt: Cronenberg. Menschen, Daten<br />
<strong>und</strong> Fakten, Horb am Neckar, 2000.<br />
Anmerkungen:<br />
1 Die beiden Listen sind im Pfarr-Archiv St.<br />
Laurentius unter der Nummer 806 verzeichnet.<br />
2 Die Inventarisierungen sind von Franz (Xaver)<br />
von Franz (1750–1798), der von 1788<br />
bis zu seinem Tode als Richter das Amt Elberfeld<br />
verwaltet, durchgeführt bzw. veranlaßt<br />
worden. Da es sich bei beiden Listen<br />
um Abschriften handelt, sind sie nicht eigenhändig<br />
unterschrieben. Zu den Richtern<br />
des Amtes Elberfeld vgl. Otto Schell: Die<br />
Verwaltung des Amtes Elberfeld im 17.<br />
<strong>und</strong> 18. Jahrh<strong>und</strong>ert, in: Monatsschrift des<br />
Bergischen Geschichtsvereins, 17 (1910),<br />
S. 121–132, hier: S. 130.<br />
3 Monstranz = zumeist kostbares Gefäß zum<br />
Tragen <strong>und</strong> Zeigen der geweihten Hostie;<br />
Ziborium = gedeckter Kelch zur Aufbewahrung<br />
der geweihten Hostie.<br />
4 Gemeint sind ein Verzeichnis der in der<br />
Erzdiözese Köln gefeierten Heiligenfeste<br />
<strong>und</strong> die geltende Kirchenordnung.<br />
5 Vermutlich: Kännchen.<br />
6 Albe = weißes liturgisches Untergewand<br />
des katholischen Geistlichen.<br />
7 Casula, Kasel = seidenes Meßgewand, das<br />
über den anderen Gewändern zu tragen ist.<br />
8 Agende = Gottesdienstordnung.<br />
9 Postille = Predigtsammlung.<br />
10 Bei der Austeilung der Kommunion ist vor<br />
den Kommunizierenden ein Tuch auszubreiten,<br />
das aus Bequemlichkeitsgründen<br />
vielfach an der Bank befestigt worden ist.<br />
11 Die Tauf- <strong>und</strong> Heirats- (Kopulations-)<br />
Bücher sind seit 1792, die Sterbebücher<br />
seit 1793 geführt worden.<br />
12 Hoch zu preisende Regierung.<br />
13 Hier: Sachen, Wertgegenstände.<br />
14 „Pfeife“ hat im Rheinland auch die Bedeutung<br />
„Ofenrohr“; vgl. Rheinisches Wörterbuch,<br />
Bd. 6, 1944, Sp. 687.<br />
15 Die Handtücher sind zu gleichen Teilen<br />
auch für die Kirche bestimmt.<br />
16 Fournaise, frz. = Ofen.<br />
9
Erika van Norden<br />
Die Jungsche Fabrikschule in Sonnborn.<br />
Ein Beitrag zur historischen Sozialforschung<br />
„Unstreitig zu den ältesten Ansiedlungen<br />
im bergischen Lande gehört Sonnborn, der<br />
fre<strong>und</strong>liche Ort an der Wupper.“ So beginnt<br />
Fritz Jorde in seinem Buch das Kapitel über<br />
die Schule in Sonnborn 1 . Man weiß über die<br />
frühe Geschichte Sonnborns wenig. Vom Jahre<br />
1550 an fließen die Quellen reichlicher. In diesem<br />
Jahr wurde von dem Pfarrer Wemmers 2<br />
<strong>und</strong> seinem Vikar <strong>und</strong> späteren Nachfolger<br />
Wilhelm Camerarius die Reformation eingeführt,<br />
<strong>und</strong> schon vor 1600 gab es eine Schule 3 .<br />
Jorde berichtet, dass in Sonnborn, so wie in<br />
den meisten bergischen Orten, der Vikar<br />
gleichzeitig Schulmeister war, so auch Wilhelm<br />
Camerarius 4 . Er hatte die Aufgabe, „die<br />
Knaben <strong>und</strong> Mägdelein nicht nur in Religion,<br />
sondern auch im Schreiben <strong>und</strong> Lesen zu unterweisen“<br />
5 .<br />
Fast 250 Jahre später, um 1839 stellte sich<br />
die Schulsituation in Sonnborn wie folgt dar:<br />
Im Jahr 1817 war ein neuer Lehrer gewählt<br />
worden. Man hatte sich im Schulvorstand unter<br />
der Leitung des Schulpflegers Johann Friedrich<br />
Wilberg aus Elberfeld 6 für den Lehrer Johann<br />
Abraham Hummeltenberg aus Benrath<br />
entschieden 7 . In der Schule wurden in zwei<br />
Klassen 70 Kinder unterrichtet 8 . Als im Jahr<br />
1825 auch in den preußischen Rheinlanden die<br />
allgemeine Schulpflicht eingeführt wurde 9 ,<br />
stieg die Schülerzahl beträchtlich. Die beiden<br />
vorhandenen Schulräume reichten nicht mehr<br />
aus. Es wurde eine neue Schule mit drei Klassenräumen<br />
gebaut <strong>und</strong> 1832 eingeweiht 10 . Der<br />
dritte Klassenraum wurde zunächst nicht genutzt.<br />
Es gab weiterhin nur zwei Klassen, die<br />
von einem Hauptlehrer, dem Lehrer Hummeltenberg,<br />
<strong>und</strong> einem „Hülfslehrer“ unterrichtet<br />
wurden 11 . Jorde schreibt in seinem Buch über<br />
die Schulen von Elberfeld ausführlich über die<br />
„Pfarr-Schule“ in Sonnborn. Um so auffallender<br />
ist es, dass er die Fabrikschule in der<br />
Baumwollspinnerei Jung nicht erwähnt.<br />
Der Fabrikant Friedrich August Jung<br />
10<br />
(1769–1852) aus Elberfeld hatte 1825 das<br />
Gut 12 Hammerstein in (Wuppertal-) Sonnborn<br />
erworben, um dort eine Baumwollspinnerei zu<br />
errichten. Die Fabrikationsgebäude wurden in<br />
den Jahren 1835–38 gebaut. Im Jahr 1838 wurde<br />
die Hammersteiner Spinnerei in Betrieb genommen<br />
13 . „Als Muster-Anstalt wurde sie mit<br />
den neuesten <strong>und</strong> vollkommensten Maschinerien<br />
versehen; das colossale eiserne Wasserrad<br />
von 75 Pferdekraft sammt Hülfsdampfmaschine<br />
von 40 Pferdekraft, sämmtliche Getriebe<br />
<strong>und</strong> Dampfheizungsapparat (sic) aus den ersten<br />
Werkstätten Englands <strong>und</strong> sämmtliche<br />
Spinnmaschinen nebst Vorbereitungsapparat<br />
aus den besten Werkstätten Frankreichs bezogen“<br />
14 .<br />
Die Fabrik galt lange Zeit nicht nur als die<br />
größte Spinnerei Preußens, sondern sogar des<br />
ganzen Kontinents. Bis kurz vor seiner Auflösung<br />
im Jahre 1869 beschäftigte das Unternehmen<br />
durchweg r<strong>und</strong> 400 Arbeiter 15 . Als „Muster-Anstalt“<br />
war diese Fabrik für die damalige<br />
Zeit in vieler Hinsicht vorbildlich: Ein Teil der<br />
Arbeiter wohnte in „steinernen, ges<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />
zerstreut liegenden Häusern“ auf dem Fabrikgelände.<br />
Jede Familie hatte einen eigenen Garten<br />
<strong>und</strong> ein Stück Kartoffelacker. Es gab eine<br />
Krankenkasse, einen Arzt <strong>und</strong> eine Sparkasse.<br />
Alles das zeugt nicht nur von unternehmerischer<br />
Initiative, sondern auch von dem Bewusstsein,<br />
für das Wohl der Arbeiter <strong>und</strong> ihrer Familien<br />
verantwortlich zu sein. „Ohne seine<br />
kaufmännischen Belange aus dem Auge zu<br />
verlieren, sorgt sich der Fabrikant aus seiner<br />
religiös motivierten Patriarchalität um das<br />
Wohl der ihm anvertrauten Menschen: Er stellt<br />
nicht nur billige Arbeiterwohnungen zur Verfügung,<br />
deren Mietzins erheblich unter den<br />
ortsüblichen Sätzen liegt, sondern gibt Kartoffeln,<br />
Milch <strong>und</strong> andere Gr<strong>und</strong>nahrungsmittel<br />
aus der Produktion des Hammersteiner Gutes<br />
zum Selbstkostenpreis an seine Arbeiter weiter.<br />
Er (…) initiiert <strong>und</strong> unterhält einen Nähkurs für
die Arbeitermädchen <strong>und</strong> richtet (…) sogar eine<br />
Leihbibliothek für die Fabrikarbeiter ein“ 16 . Zu<br />
all diesen für die damalige Zeit sehr fortschrittlichen<br />
Einrichtungen kam auf dem Gelände<br />
der Jungschen Fabrik Hammerstein in Sonnborn<br />
eine Fabrikschule hinzu. Auch diese Fabrikschule<br />
war hinsichtlich ihrer Ausstattung<br />
so geplant, dass sie für die damalige Zeit vorbildlich<br />
sein sollte.<br />
In Elberfeld <strong>und</strong> Barmen gab es mehrere<br />
Fabrikschulen 17 . Sie gewinnen im Zusammenhang<br />
mit der Einführung der Schulpflicht <strong>und</strong><br />
dem Bestreben, diese durchzusetzen, an Bedeutung.<br />
Friedrich Wilhelm III. hatte am 14.<br />
Mai 1825 eine „Allerhöchste Kabinets-Ordre“<br />
erlassen, „den Schulbesuch, das Schulgeld <strong>und</strong><br />
die Schulzucht betreffend“. In ihr heißt es im<br />
§ 1: „Eltern oder deren gesetzliche Vertreter,<br />
welche nicht nachweisen können, dass sie für<br />
den nötigen Unterricht der Kinder in ihrem<br />
Hause sorgen, sollen erforderlichen falls durch<br />
Zwangsmittel <strong>und</strong> Strafen angehalten werden,<br />
jedes Kind nach zurückgelegtem fünften Jahre,<br />
zur Schule zu schicken“ 18 . Damit war nicht nur<br />
die Schulpflicht eingeführt, sondern auch der<br />
Wille k<strong>und</strong>getan, sie durchzusetzen. In französischer<br />
Zeit waren zwar die Eltern auch ermahnt<br />
worden, ihre Kinder in die Schule zu<br />
schicken, wenn es am Ort eine gab, die für die<br />
Kinder erreichbar war. Die vorhandenen Schulen<br />
waren jedoch für die große Zahl der Kinder<br />
zu klein. Man hatte stillschweigend hingenommen<br />
<strong>und</strong> auch vorausgesetzt, dass immer nur<br />
ein Teil der Kinder Schulunterricht erhielt. Das<br />
ändert sich nach 1825 gr<strong>und</strong>legend. Energisch<br />
wendet sich der Landrat Carl Theodor Graf<br />
von Seyssel d’Aix immer wieder an die Bürgermeister.<br />
So stellt er in einem Schreiben vom<br />
9. Mai 1828 an „sämmtliche Herrn Bürgermeister<br />
des Kreises“ fest: „Es kommt noch häufig<br />
der Fall vor, (daß) meine Circulair-Verfügung<br />
(…) das Verfahren bei Aufstellung der Schulgelder<br />
Hebelisten, Beziehungsweise Unbeibringlichkeits<br />
Verzeichnisse so wie überhaupt<br />
die Beförderung des Schulbesuchs betr(effend)<br />
nicht wie es sein soll von mehreren Herrn Bürgermeister<br />
<strong>und</strong> Schulvorständen beachtet werden.“<br />
Er wiederholt seine Forderung, dass ihm<br />
Schulbesuchslisten vorgelegt <strong>und</strong> „säumige<br />
Aeltern“, die ihre Kinder nicht zur Schule<br />
schickten, bestraft würden. Seine Schreiben<br />
werden in Abschrift <strong>und</strong> zur Kenntnisnahme an<br />
den Schulpfleger Hülsmann geschickt, von<br />
dem er erwartet, dass er diese Bemühungen<br />
unterstützt 19 . Auch das Resümee, das der Düsseldorfer<br />
Regierungspräsident Frhr. Spiegel<br />
von Borlinghausen zog, nachdem er im Mai<br />
1838 eine Reise durch mehrere Kreise gemacht<br />
hatte, verweist auf die mangelhafte<br />
Durchsetzung der amtlichen Vorschriften in<br />
Bezug auf den Schulbesuch, was er sowohl bei<br />
den Bürgermeistern als auch bei den Lehrern<br />
<strong>und</strong> Schulvorständen feststellen konnte. Er<br />
fand „in der katholischen Schule zu Hüthum<br />
Kreis Rees 3 Kinder von über 14 Jahren, die<br />
weder lesen noch schreiben <strong>und</strong> 5 eben so alte<br />
(…), die kaum die Buchstaben kannten“. Und<br />
weiter stellte er fest, dass „bei aller Sorge für<br />
den Unterricht der Jugend von oben herab,<br />
doch zunächst die Bürgermeister nebst den<br />
Lehrern pünktlich die erlaßenen Bestimmungen<br />
ausführen müßen, wenn überhaupt der<br />
Zweck erreicht werden soll“. So sollen die<br />
Bürgermeister da, „wo gütliche Mittel nicht<br />
fruchten, mit Geld- oder Gefängnisstrafen gegen<br />
renitente Eltern“ einschreiten 20 . Trotz solcher<br />
Maßnahmen erwies sich die Durchsetzung<br />
der Schulpflicht über Jahre hinweg nicht<br />
nur als sehr schwierig, sondern als unmöglich.<br />
Es gab viele Gründe, warum Kinder nach Einführung<br />
der allgemeinen Schulpflicht nach wie<br />
vor die Schule nicht besuchten <strong>und</strong> keinen Unterricht<br />
erhielten. Sie wurden zum Viehhüten<br />
gebraucht 21 . Sie mussten bei der Heimarbeit<br />
<strong>und</strong> auf den elterlichen Höfen mitarbeiten <strong>und</strong><br />
auf kleine Geschwister aufpassen, damit die<br />
Eltern einem Verdienst nachgehen konnten 22 .<br />
Die weiten Schulwege konnten bei schlechtem<br />
Wetter nicht bewältigt werden. Oft waren die<br />
Kinder krank 23 , oder sie hatten nicht die nötige<br />
Kleidung, um in die Schule gehen zu können 24 .<br />
Obendrein musste für jedes Kind ein monatliches<br />
Schulgeld von mindestens 3 Silbergroschen<br />
an den Lehrer gezahlt werden. In manchen<br />
Schulen war es üblich, dass der Lehrer<br />
Federn, Tinte <strong>und</strong> Papier für den Unterricht im<br />
Schreiben besorgte. Häufig kamen, so wie in<br />
Schöller, für „Schreibschüler“ zusätzlich 5<br />
11
Pfennig für „Federn <strong>und</strong> Dinte“ <strong>und</strong> in den<br />
Wintermonaten November bis April monatlich<br />
1 Silbergroschen für Holz zum Schulgeld hinzu.<br />
Für die Lehrer war dies Schulgeld der Kinder<br />
neben dem jährlichen „Normalgehalt“ von<br />
66 Talern die Haupteinnahmequelle 25 . Für arme<br />
Eltern war das Schulgeld eine große zusätzliche<br />
Belastung 26 . Dies alles <strong>und</strong> die Notwendigkeit,<br />
dass viele Kinder mit ihrer Arbeit<br />
zum Lebensunterhalt der Familie beitragen<br />
mussten, bildete die schwierigste Barriere für<br />
die Durchsetzung der Schulpflicht.<br />
Viele Familien waren auf den Verdienst der<br />
Kinder angewiesen, da die Eltern oft nicht in<br />
der Lage waren zu arbeiten. 1839 berichtete<br />
der Elberfelder Oberbürgermeister Brüning an<br />
den Landrat von Seyssel, „daß noch viele Kinder<br />
armer Eltern durch diese vom Schul-Besuche<br />
zurückgehalten wurden, weil die Familien<br />
den Verdienst der in Fabriken arbeitenden Kinder,<br />
der bei der größeren oder geringeren Arbeitsunfähigkeit<br />
der Eltern nicht selten den bei<br />
weitem größten Theil der Subsistenz-Mittel<br />
ausmachte, unmöglich entbehren konnten.“<br />
Würden diese Kinder zwangsweise in die Tagesschulen<br />
eingewiesen, würden die Ansprüche<br />
dieser Familien an die Armenverwaltung<br />
in einem Maße wachsen, das nicht zu leisten<br />
sei, „<strong>und</strong> außerdem würde den hiesigen<br />
Fabriken eine ansehnliche Zahl mitunter unentbehrlicher<br />
Hände entzogen worden seyn“ –<br />
war das Resümee des Oberbürgermeisters 27 .<br />
Dies zeigt auch, dass auf der anderen Seite<br />
die Kinder in den Betrieben <strong>und</strong> Fabriken des<br />
Wuppertals gebraucht wurden. „Baumwollspinnereien<br />
waren bezüglich ihrer Arbeit in<br />
einer besonderen Situation, in der Extreme zusammenkamen.<br />
Einerseits gab es einen Bedarf<br />
an hochqualifizierten Facharbeitern, den Bedienung<br />
<strong>und</strong> Wartung der Maschinen erforderten;<br />
die gleichen Maschinen benötigten jedoch<br />
sehr viel mehr einfachste unspezialisierte<br />
Arbeit.“ Für diese Arbeit setzte man Kinder<br />
ein. Sie waren nicht nur billige Arbeitskräfte,<br />
sondern zugleich durch ihre geringe Körpergröße<br />
besonders geeignet, sich zwischen den<br />
Maschinen zu bewegen 28 . Ihre Aufgabe war es<br />
z.B., die Maschinen zu beaufsichtigen, <strong>und</strong> mit<br />
ihren kleinen Fingern konnten sie besonders<br />
12<br />
gut abgerissene Fäden wieder anknüpfen. Dies<br />
wurde als eine den Kindern zumutbare Arbeit<br />
angesehen. Es gibt jedoch den kritischen Bericht<br />
eines Zeitgenossen, der die Arbeitssituation<br />
dieser Kinder in den Spinnereien schildert.<br />
Er schreibt: „Die Luft in den Sälen <strong>und</strong> die<br />
Wände sind von dem Schmutz des zu verarbeitenden<br />
Materials <strong>und</strong> mit faserigen Partikelchen<br />
des Stoffes ganz angefüllt <strong>und</strong> überkleidet.<br />
Die Kinder dementsprechend wahre Gebilde<br />
des Jammers, hohläugig <strong>und</strong> bleich wie<br />
der Tod“ 29 .<br />
Die staatlichen Behörden standen vor dem<br />
Problem, die gesellschaftlichen Gegebenheiten,<br />
Lebensumstände <strong>und</strong> ökonomischen Bedingungen<br />
der Zeit der frühen Industrialisierung<br />
hinnehmen zu müssen <strong>und</strong> zugleich die<br />
Schulpflicht durchzusetzen. Dies konnte nur<br />
durch Ausnahmeregelungen <strong>und</strong> Kompromisse<br />
geschehen 30 . Ausdruck dieser ambivalenten<br />
Haltung, die zwar einerseits Reformen durchsetzen<br />
wollte, aber andererseits vor Realitäten<br />
<strong>und</strong> Schwierigkeiten zurückweichen musste,<br />
war die Duldung <strong>und</strong> Einrichtung der sogenannten<br />
Fabrikschulen.<br />
Der an <strong>und</strong> für sich fortschrittliche Gedanke<br />
einer allgemeinen Schulpflicht belastete die<br />
Kinder, die in Fabriken arbeiten mussten, zusätzlich<br />
in unvorstellbarer Weise. Zu ihrer Arbeitszeit<br />
von bis zu 13 <strong>und</strong> mehr St<strong>und</strong>en täglich<br />
<strong>und</strong> zum Teil weiten, schwierigen Anmarschwegen<br />
bis zur Fabrik kam der Schulunterricht<br />
hinzu. Damit Kinder, die tagsüber in<br />
Fabriken arbeiten mussten, Unterricht erhielten,<br />
wurden Abend- <strong>und</strong> Sonntagsschulen eingerichtet.<br />
Manche Unternehmer richteten Fabrikschulen<br />
ein. Das hieß, dass sie für den Unterricht<br />
einen Raum zur Verfügung stellten <strong>und</strong><br />
einen Lehrer engagierten. Über die Einrichtung<br />
der Fabrikschule der rheinischen Baumwollspinnerei<br />
Cromford in Ratingen 1835 berichtet<br />
der Lehrer Herlitschka mit lapidaren<br />
Worten: „Nach der Aussage unseres Pfarrers<br />
hat derselbe (…) mit dem Fabrikinhaber Herrn<br />
Brügelmann die Einrichtung der Schule daselbst<br />
besprochen <strong>und</strong> beschlossen (…). Am<br />
13. Januar 1835 wurde (…) beschlossen, daß<br />
der Unterricht am 17. desselben Monats beginnen<br />
sollte. Herr Brügelmann gab ein Zimmer
<strong>und</strong> die nöthigen Utensilien her (…). Die Unterrichtsst<strong>und</strong>en<br />
sind Mittwochs <strong>und</strong> Samstags<br />
von 1–2 Uhr <strong>und</strong> Sonntags von 1–4 Uhr. Damit<br />
die Kinder keinen Abzug an ihrem Arbeitslohn<br />
erleiden müssen, arbeiten sie 4 Mal in der Woche<br />
Abends eine halbe St<strong>und</strong>e länger“ 31 .<br />
In einem Brief des Spinnereibesitzers J. A.<br />
Oberempt an das Barmer Bürgermeisteramt erfährt<br />
man über die Arbeit der Kinder <strong>und</strong> den<br />
Unterricht in seiner Fabrikschule: „Da die Kinder<br />
den ganzen Tag 13 St<strong>und</strong>en eine stehende<br />
Arbeit verrichten müßen, durch den Taumel<br />
<strong>und</strong> Geräusch der Spinnerey am Abend abgestumpft<br />
<strong>und</strong> zum Lernen <strong>und</strong> Nachdenken müde<br />
<strong>und</strong> schläfrig sind, so wurde es (…) für<br />
zweckmäßig erachtet den Kindern die beste<br />
Zeit des Tages (nemlich des Vormittags von 11<br />
bis halb ein Uhr, wo der Mensch am besten zu<br />
jeder geistigen Arbeit aufgelegt ist) zu geben<br />
(…). Es ist ihnen auch bei der getroffenen Einrichtung<br />
eine Erholung, wenn sie nach dem<br />
sechsstündigen stehen, 1 1 /2 St<strong>und</strong>e sitzen können,<br />
<strong>und</strong> es kann nicht anders als vorteilhaft<br />
für ihre Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> zarte Glieder wirken“<br />
32 . In der Spinnerei des Fabrikanten<br />
Oberempt wurde also für den Unterricht ein<br />
Teil der Mittagspause benutzt.<br />
Das Schulgeld, das dem jeweiligen Lehrer<br />
zustand, konnte den Kindern von ihrem Wochenlohn<br />
abgezogen werden. Das wurde von<br />
den einzelnen Fabrikbesitzern unterschiedlich<br />
gehandhabt. Über den Fabrikanten <strong>und</strong> Elberfelder<br />
Stadtrat P. C. Peill hieß es in den Annalen<br />
für 1835 in einem Nachruf: „Seine Sorge,<br />
welche ihm Gott lohnen wolle, war dahin gerichtet,<br />
den in seiner Spinnerei arbeitenden<br />
zahlreichen Kindern auf seine eigenen Kosten<br />
den jedem vernünftigen Menschen <strong>und</strong> Christen<br />
nothwendigen Unterricht erteilen zu lassen<br />
(…)“ 33 . Sowohl in der Fabrik des Fabrikanten<br />
Oberempt als auch in der Fabrik Cromford des<br />
Fabrikanten Brügelmann in Ratingen mussten<br />
die Kinder im Ausgleich für das Schulgeld länger<br />
arbeiten, damit sie keinen Lohnabzug hatten<br />
34 .<br />
Insbesondere arme Eltern konnten die von<br />
der fernen Regierung oktroyierte Schulpflicht<br />
nicht als förderlich für das Wohl ihrer Kinder<br />
erkennen <strong>und</strong> boykottierten die Maßnahme 35 .<br />
Im Jahr 1838 erklärte der Stadtrat, dass 700<br />
Kinder in Elberfeld ohne Unterricht seien <strong>und</strong><br />
davon ca. 600 weder lesen noch schreiben<br />
könnten 36 . Die meisten dieser Kinder arbeiteten<br />
in Fabriken.<br />
Ich habe in den Schulakten von Sonnborn<br />
einen ausführlichen Bericht von dem Schulpfleger<br />
Pfarrer August Wilhelm Hülsmann aus<br />
Elberfeld über die Jungsche Fabrikschule in<br />
Hammerstein gef<strong>und</strong>en, der in seiner Ausführlichkeit,<br />
Authentizität <strong>und</strong> Eindrücklichkeit die<br />
mir bekannten Berichte über andere Fabrikschulen<br />
bei weitem übertrifft 37 . Anlass für diesen<br />
Bericht war erstens das am 9. März 1839<br />
erlassene erste Kinderschutzgesetz, das „Regulativ<br />
über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter<br />
in Fabriken“ 38 . Dieses Gesetz bestimmte<br />
u.a. das Mindestalter <strong>und</strong> die Höhe der St<strong>und</strong>enzahl<br />
für die Beschäftigung „junger Leute“,<br />
die in Fabriken <strong>und</strong> in Berg-, Hütten- <strong>und</strong><br />
Pochwerken arbeiteten. Sie müssen mindestens<br />
10 Jahre alt sein, <strong>und</strong> sie dürfen, sofern sie<br />
„das sechszehnte Lebensjahr noch nicht<br />
zurückgelegt haben“, nicht über 10 St<strong>und</strong>en<br />
täglich beschäftigt werden. Auch § 5 konkretisiert<br />
den „Kinderschutz“: „Die Beschäftigung<br />
solcher jungen Leute vor 5 Uhr morgens <strong>und</strong><br />
(nach) 9 Uhr abends, sowie an den Sonn- <strong>und</strong><br />
Feiertagen ist gänzlich untersagt“ 39 .<br />
Wir sind fassungslos, wenn wir uns klar<br />
machen, dass diese Gesetzgebung „fortschrittlich“<br />
war <strong>und</strong> dem „Schutz der Kinder“ diente.<br />
Der Umkehrschluss liegt nahe, der sich auch<br />
aus vielen Dokumenten belegen lässt, dass<br />
Kinder, die zum Teil weit jünger als 10 Jahre<br />
waren, vor 5 Uhr morgens <strong>und</strong> nach 9 Uhr<br />
abends 13 St<strong>und</strong>en <strong>und</strong> mehr nicht nur am Tage,<br />
sondern auch nachts in Fabriken arbeiten<br />
mussten. Das Gesetz regelte nicht nur die erlaubte<br />
Arbeitszeit „jugendlicher Arbeiter“ in<br />
Fabriken <strong>und</strong> ihr Mindestalter, sondern es bestimmte<br />
auch, dass den Kindern während der<br />
Arbeit Pausen an der frischen Luft zustehen 40 .<br />
Zweiter Anlass dafür, dass Hülsmann die<br />
Fabrikschule der Jungschen Spinnerei Hammerstein<br />
in Sonnborn zusammen mit dem zuständigen<br />
Bürgermeister Schnittert aus Haan<br />
<strong>und</strong> zwei Mitgliedern des Schulvorstandes der<br />
„Pfarr-Schule“ in Sonnborn, nämlich dem<br />
13
Sonnborner Pfarrer Herminghaus 41 <strong>und</strong> Ernst<br />
Kopp, inspizierte <strong>und</strong> darüber am 23. Dezember<br />
1839 einen ausführlichen Bericht verfasste,<br />
war die Verfügung der Königlichen Regierung<br />
in Düsseldorf vom 21. September 1839 „die<br />
Beaufsichtigung des Unterrichts der in den<br />
Fabriken arbeitenden Kinder betreffend“. Mit<br />
dieser Verfügung sollte die Einhaltung des<br />
Kinderschutzgesetzes überwacht werden 42 .<br />
Ich gehe jetzt den Bericht entlang, den<br />
Schulpfleger Pfarrer Hülsmann in sechs Abschnitten<br />
vorgelegt hat. Ihre Aufeinanderfolge<br />
zeigt vielleicht schon seine Wertung.<br />
Als erstes macht Hülsmann in seinem Bericht<br />
an die Königliche Regierung in Düsseldorf<br />
Angaben über die Größe <strong>und</strong> Einrichtung<br />
des Schulzimmers. Er schildert einen hellen<br />
Raum mit 5 großen Fenstern etwa 9 m lang,<br />
7,50 m breit <strong>und</strong> 3,30 m hoch 43 . In dem Klassenraum<br />
gibt es 12 Schreibpulte für die Kinder,<br />
an denen je 10 sitzen können 44 , also genügend<br />
Platz für bis zu 120 Kinder 45 , <strong>und</strong> natürlich ein<br />
Pult für den Lehrer. Um die Bänke herum gibt<br />
es noch genügend Freiraum. Hülsmann stellt<br />
fest, dass die Einrichtung den Vorschriften entspricht.<br />
Der Raum kann im Winter geheizt<br />
werden – nämlich <strong>und</strong> auch das ist Hülsmann<br />
wichtig zu erwähnen – mit Hilfe einer neuen,<br />
modernen <strong>und</strong> fortschrittlichen Einrichtung:<br />
Er kann „durch eine vom Heizapparat der Fabrik<br />
führende Röhre nach belieben mehr oder<br />
weniger erwärmt“ werden 46 .<br />
Dieser große, helle <strong>und</strong> gut heizbare Klassenraum<br />
steht in einem eindrücklichen Gegensatz<br />
zu den Schulhäusern <strong>und</strong> Schulstuben der<br />
damaligen Zeit, die weitgehend den armseligen<br />
Verhältnissen des größten Teils der Bevölkerung<br />
entsprachen. Sie waren klein, dunkel<br />
<strong>und</strong> feucht, ohne Licht <strong>und</strong> Luft, häufig zu nahe<br />
an Kuhställen, „Latrinen“ <strong>und</strong> „Dunghaufen“<br />
gelegen 47 . Vielfach waren die Klassen<br />
überfüllt. Die „Königliche Regierung“ war davon<br />
ausgegangen, dass nicht mehr als 100 Kinder<br />
in einer Klasse sein sollten 48 . Bis weit ins<br />
19. Jahrh<strong>und</strong>ert hinein waren jedoch Klassen<br />
mit bis zu 180 Schulkindern keine Ausnahme<br />
49 . Der Pfarrer Friedrich Voswinkel berichtet<br />
über die lutherische Schule in Wichlinghausen<br />
1852: „Ein trauriges Hindernis für das Ge-<br />
14<br />
deihen der Schule ist die Überfüllung (…). Bei<br />
der letzten Prüfung zählte die IV. Klasse 160<br />
Kinder, die III. 135 (…). Dazu kommt dann,<br />
daß die Eltern ihre Kinder nicht mehr schicken<br />
wollen, weil ihre Kinder wie die Neger auf den<br />
Sklavenschiffen geschichtet werden müßten“.<br />
(…) Es ist zu bew<strong>und</strong>ern, daß die Lehrer noch<br />
so viel leisten, als sie leisten. Kommt nicht<br />
bald eine Änderung, so muß (…) eine ganze<br />
Schar Kinder (…) die Gasse zur Elementarschule<br />
machen“ 50 .<br />
In dem Hülsmannschen Bericht folgt als<br />
zweiter Punkt eine Aufzählung der in der Fabrikschule<br />
vorhandenen Lehrmittel. Nach Meinung<br />
des Schulpflegers sind sie in hinreichender<br />
Zahl vorhanden: Bibeln (für die evangelischen<br />
Kinder), Neue Testamente (nach der katholischen<br />
Übersetzung für katholische Kinder),<br />
Fibeln, Lese- <strong>und</strong> Rechenbücher, eine<br />
Wandtafel, Schiefertafeln, Schreibvorlagen,<br />
Landkarten <strong>und</strong> eine Tafel für den Unterricht<br />
in vaterländischer Geschichte nicht zu vergessen<br />
51 . Was da aufgezählt wird, entspricht in etwa<br />
der Ausstattung anderer Elementarschulen.<br />
Hülsmann geht an diesem Punkt nicht weiter<br />
ins Detail. Er hält es nicht für notwendig, die<br />
benutzten Schulbücher 52 genauer aufzuführen,<br />
wie man es in anderen jährlichen Schulberichten<br />
findet. Aber es kann davon ausgegangen<br />
werden, dass die gleichen Bücher wie in der<br />
Sonnborner „Pfarr-Schule“ benutzt wurden 53 .<br />
Schulbücher spielten in der damaligen Zeit<br />
zunehmend eine Rolle. Es gab zunächst nur<br />
wenige, <strong>und</strong> ein Lehrer der Elementarschule<br />
mit seinem geringen Einkommen, das kaum<br />
seinen Lebensunterhalt deckte, konnte sich in<br />
der Regel nicht leisten, eigene Bücher zu kaufen<br />
54 – <strong>und</strong> noch weniger seine Schulkinder,<br />
die aus den ärmsten Bevölkerungsgruppen kamen.<br />
Aus Berichten der Lehrer über ihre Schule<br />
geht hervor, dass die im Vergleich zur Kinderzahl<br />
wenigen Exemplare von Lese-, Rechenbüchern<br />
<strong>und</strong> Fibeln völlig zerlesen <strong>und</strong><br />
kaum noch zu brauchen waren. Lange Zeit war<br />
die Bibel erstes <strong>und</strong> einziges Schulbuch gewesen<br />
55 . Sie wurde zum Teil von vorne bis hinten<br />
ohne Kommentar gelesen. Mit der Aufklärung<br />
<strong>und</strong> der Notwendigkeit der besseren Ausbildung<br />
der Menschen zu effizienterem Arbeiten,
etwa in der Landwirtschaft, kamen erste Lesebücher<br />
mit „allgemeinbildenden“ Themen 56 .<br />
Das Misstrauen gegenüber solchen neuen<br />
Büchern <strong>und</strong> deren Inhalt war zum Teil groß.<br />
Manche „Schulinteressenten“ 57 erhoben<br />
gegen deren Einführung heftigen Widerspruch,<br />
<strong>und</strong> ein „Synodalprediger“ rief von der Kanzel:<br />
„Die Schulen sind unchristlich geworden.<br />
Man hat den Kindern das Vaterunser <strong>und</strong> den<br />
Glauben aus der Hand genommen“ 58 . Die Lehrer<br />
wurden in ihrem Berufsschein verpflichtet,<br />
keine neuen Bücher ohne die Einwilligung des<br />
Schulvorstandes einzuführen. In dem Protokoll<br />
über eine „abgehaltene halbjährige Schulprüfung“<br />
fand der Präses des Schulvorstandes<br />
Pastor Ball sich veranlasst, von „sämmtlichen<br />
eingeführten Schulbüchern 1 Exemplar anzufordern,<br />
um dieselben (…) namentlich auch in<br />
dem Verhältnisse ihres Inhalts zum Worte<br />
Gottes <strong>und</strong> der Lehre unsrer evangelischen<br />
Kirche zu prüfen (…), daß nicht durch solche<br />
Schulbücher den jugendlichen Herzen statt der<br />
lautern Nahrung göttlicher Wahrheit das Gift<br />
ungläubiger Lüge gereicht werde“ 59 . Und auch<br />
die Elberfelder Kreissynode von 1841 erwartete<br />
von dem Superintendenten, „daß er<br />
(…) dafür wirken werde, daß jetzt <strong>und</strong> in Zukunft<br />
in den sämmtlichen Schulen der Diöcese<br />
nur solche Schulbücher gebraucht resp. eingeführt<br />
werden, welche zur Erziehung der Jugend<br />
in christlicher Erkenntnis <strong>und</strong> Frömmigkeit<br />
völlig geeignet erscheinen“ 60 .<br />
Es kam vor, dass plattdeutsche Bücher oder<br />
solche in niederdeutscher M<strong>und</strong>art benutzt<br />
wurden. So berichtet Jorde von dem Lehrer<br />
Johann Heinrich Lantermann, der seinen<br />
Schülern wöchentlich eine St<strong>und</strong>e aus einem<br />
holländischen Buch ,Trap der Jeugd‘ (Stufen<br />
der Jugend) vorlas. Lantermann benutzte in<br />
seinem Unterricht auch den Roman „Robinson<br />
Crusoe 61 . Robinson besitzt nach Meinung der<br />
Zeit die Eigenschaften, die der aufstrebende<br />
Bürger entwickeln sollte, um voran zu kommen:<br />
unermüdlichen Fleiß, nicht versagende<br />
Energie, Erfindungsreichtum <strong>und</strong> die Überzeugung,<br />
mit seiner Hände Arbeit sich in allen Lebenslagen<br />
behaupten <strong>und</strong> alle auftretenden<br />
Schwierigkeiten meistern zu können. Dieses<br />
aufklärerische Gedankengut konnte so an Kin-<br />
der <strong>und</strong> Jugendliche weitergegeben werden 62 .<br />
Unter diesem Gesichtspunkt scheint der Lehrer<br />
Lantermann in seinem Unterricht engagiert<br />
<strong>und</strong> fortschrittlich gewesen zu sein.<br />
In einem dritten Punkt geht es um die Sauberkeit<br />
der Kinder in der Fabrikschule. Nicht<br />
erst in einem Erlass der „Königlichen Regierung,<br />
Abtheilung des Innern“ vom 17. Juli<br />
1838 wurde unter Punkt 2 moniert, „daß manche<br />
Lehrer die Reinlichkeit der Kinder am<br />
Körper <strong>und</strong> im Anzuge nicht genug beachten“,<br />
<strong>und</strong> weiter unter Punkt 3, „(…) daß in den<br />
Schulzimmern an Bänken <strong>und</strong> Pulten die geziemende<br />
Sauberkeit vermißt wird (…)“ 63 ,<br />
schon 1814 findet sich in einem Schreiben an<br />
„die Vorsteher des öffentlichen Unterrichts im<br />
Herzogthum Berg“ die Erkenntnis: „Eine<br />
Hauptsorge muß aber auch die seyn, daß das<br />
aufwachsende Geschlecht a n L e i b e ges<strong>und</strong><br />
<strong>und</strong> kraftvoll werde, damit das Können <strong>und</strong><br />
Wollen ein brauchbares Werkzeug finde (…).<br />
Dahin gehören: Reinlichkeit <strong>und</strong> frische Luft<br />
in den Schulstuben“ 64 .<br />
In einem Erlass des „Präfecten des Rheindepartements“<br />
vom 22. Juni 1813 heißt es in<br />
dem Punkt 10 „Aufsicht über die Ges<strong>und</strong>heit<br />
der Schulkinder“: „Zur Handhabung einer bessern<br />
Sanitätspolizei in den Schulen sollen die<br />
Maires die Aerzte auffordern, die öffentlichen<br />
Schulen von Zeit zu Zeit zu besuchen, um die<br />
Reinlichkeit der Schullokale <strong>und</strong> den Ges<strong>und</strong>heitszustand<br />
der Schüler zu untersuchen“ 65 .<br />
Diese „Präfectur Verfügung“ ist noch im<br />
Jahr 1822 in Kraft, als der Lehrer Vogel aus<br />
Velbert sich an den Landrat von Seyssel wendet<br />
<strong>und</strong> sein Problem vorsichtig vorträgt: „Da<br />
in einer Schule fast aus allen Häusern des Bezirks<br />
die Kinder zusammenkommen, <strong>und</strong> es<br />
unter den Eltern derselben wol welche geben<br />
mag, die auf die Reinlichkeit ihrer Kinder<br />
nicht genug halten; so könnte ja wol einmal der<br />
Fall eintreten, daß auf diese Weise Kinder mit<br />
einem ansteckenden Ausschlage doch noch auf<br />
die Schule kämen“ 66 . Solche Probleme gibt es<br />
in der Fabrikschule Hammerstein nicht, denn<br />
es wird „dafür Sorge getragen, daß in dem Vorzimmer<br />
alle Schüler vor dem Anfange des Unterrichts<br />
sich waschen u. reinigen.“<br />
Einzigartig in der Fabrikschule Hammer-<br />
15
stein ist auch, dass „jeder Schüler mit einem<br />
blauen Kittel u. jede Schülerin mit einer blauen<br />
Schürze vor dem Eintritt in das Lehrzimmer<br />
versehen“ wird, „ (…) so daß die Kinder, welche<br />
größten Teils frisch u(nd) ges<strong>und</strong> aussehen,<br />
in dieser reinlichen Kleidung einen (im<br />
Text folgte ursprünglich das Wort „sehr“, es ist<br />
jedoch durchgestrichen, E.v.N.), erfreulichen<br />
Anblick darbieten“ 67 .<br />
Damit ist die Fabrikschule Hammerstein<br />
einmalig. Einen ähnlichen Hinweis auf eine<br />
Waschgelegenheit, Kittel <strong>und</strong> Schürzen konnte<br />
ich in keinem anderen Bericht über Fabrikschulen<br />
finden. Und auch im Vergleich zu anderen<br />
Elementarschulen steht diese Fabrikschule<br />
gut da. Der Schule in Schöller fehlt ein<br />
eigener Brunnen, wie der Lehrer Jacob Theodor<br />
Krieger am 2. Juni 1840 berichtet. Nur um<br />
das für die Schulkinder nötige Trinkwasser holen<br />
zu lassen, müsse er größere <strong>und</strong> kräftigere<br />
Kinder zum Dorfbrunnen schicken, „wohin ein<br />
äußerst schlechter Weg führt (…). Mit Angst<br />
nur kann ich jedesmal die Kinder zu dem tiefen<br />
Brunnen, aus dem das Wasser heraufgew<strong>und</strong>en<br />
wird, Vorsicht empfehlend abgehen lassen,<br />
weil dieses Wasserholen mit mancherlei Gefahren<br />
verb<strong>und</strong>en“. Er schreibt weiter an den<br />
Schulpfleger Hülsmann, dass der Landrat von<br />
Seyssel schon bei der Einweihung der Schule<br />
1829 zugesagt habe, dass die Schule spätestens<br />
in 5 Jahren einen eigenen Brunnen bekommen<br />
werde. Seitdem waren 11 Jahre vergangen 68 .<br />
Ein vierter wichtiger Punkt in der Ausbildung<br />
der Jugend war die christliche Erziehung.<br />
Im § 6 des Kinderschutzgesetzes „Regulativ<br />
über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter<br />
in den Fabriken“ vom 9. März 1839 heißt es:<br />
„Christliche Arbeiter, welche noch nicht zur<br />
heiligen Kommunion gekommen sind, dürfen<br />
in denjenigen St<strong>und</strong>en, welche ihr ordentlicher<br />
Seelsorger für ihren Katechumenen- <strong>und</strong> Konfirmanden-Unterricht<br />
bestimmt hat, nicht (…)<br />
beschäftigt werden“ 69 . Nicht nur die Kirche,<br />
auch der Staat legte Wert auf eine christliche<br />
Erziehung der Kinder 70 .<br />
Also wird in der Fabrikschule des Fabrikanten<br />
Jung in Hammerstein den Kindern gestattet,<br />
den Katechumenenunterricht einmal<br />
wöchentlich <strong>und</strong> den Konfirmandenunterricht<br />
16<br />
dreimal in der Woche jeweils zwei St<strong>und</strong>en zu<br />
besuchen. Auch für die dadurch ausfallende<br />
Arbeitszeit wird, ebenso wie für den Schulunterricht,<br />
den Kindern nichts von ihrem Wochenlohn<br />
abgezogen, berichtet Pfarrer Hülsmann<br />
voller Genugtuung. Damit nicht genug.<br />
Kindern, die nicht mehr schulpflichtig sind,<br />
aber „des Unterrichts noch bedürfen“, wird gestattet,<br />
den Schulunterricht zu besuchen, ebenfalls<br />
ohne Lohnabzug 71 .<br />
Hintergr<strong>und</strong> für diese Maßnahme ist ein<br />
Synodalbeschluss, dass Kinder, „welche nicht<br />
gehörig vorbereitet sind, <strong>und</strong> oft nicht einmal<br />
lesen können“, nicht in den Konfirmandenunterricht<br />
aufgenommen werden <strong>und</strong> nicht konfirmiert<br />
werden dürfen 72 . Einen Konfirmationsschein<br />
vorweisen zu können, war aber z.B.<br />
wichtig, um Lehrer werden zu können, aber<br />
auch bei der Rekruteneinstellung wurde danach<br />
gefragt. Wer nicht konfirmiert war, hatte<br />
erhebliche gesellschaftliche Nachteile hinzunehmen<br />
73 . Wenn die Elberfelder Kreissynode<br />
von 1843 den Übelstand beklagt, „daß viele<br />
Kinder fortwährend sehr unregelmäßig die<br />
Schule besuchen, daß die betreffenden Eltern<br />
häufig nicht mit dem nöthigen Ernste angehalten<br />
werden, die Kinder fleißiger zur Schule zu<br />
schicken, daß eine große Zahl von Kindern allzu<br />
frühzeitig, schon vor dem zwölften Jahre<br />
die Schulen verlassen, besonders um in Fabriken<br />
zu arbeiten; daher es denn kommt, daß<br />
häufig sehr unwissende, vernachlässigte Confirmanden<br />
sich finden (…), die nur sehr<br />
schlecht lesen konnten (…)“ 74 , so gehört der<br />
Fabrikant Jung zu denen, die sich bemühen,<br />
auch diesem „Übelstand“ Abhilfe zu schaffen.<br />
Im fünften Punkt seines Berichts gibt<br />
Schulpfleger Hülsmann Informationen über<br />
den in der Fabrikschule unterrichtenden Lehrer.<br />
Es ist der Lehrer Hummeltenberg von der<br />
„Pfarr-Schule“ in Sonnborn. Er wird von Pfarrer<br />
Herminghaus, dem Vorsitzenden des Schulvorstandes<br />
in Sonnborn, sehr geschätzt. Das<br />
geht aus dessen jährlichen Berichten über die<br />
Pfarrschule hervor, die sich in der Schulakte<br />
von Sonnborn befinden. Herminghaus<br />
schreibt am 20. Dezember 1841 über den<br />
Lehrer: „Der Haupt Pfarr- Schul-Lehrer ist<br />
J(ohann) Abr(aham) Hummeltenberg, 46 Jahre
alt <strong>und</strong> bereits 28 Jahre im Amte. Er gehört zu<br />
den wissenschaftlich gebildeten Lehrern 75 , arbeitet<br />
mit Liebe an unserer Jugend, <strong>und</strong> ist<br />
ernstlich bemüht seine sanfte fre<strong>und</strong>liche Mitteilungsgabe<br />
<strong>und</strong> 28jährige Praxis mit Umsicht<br />
zur Bildung <strong>und</strong> Förderung unserer Kinder zu<br />
benutzen“, <strong>und</strong> er fügt noch hinzu: „(…) gegen<br />
seinen <strong>und</strong> der Seinigen Lebenswandel sind officiel<br />
beim Schul- <strong>und</strong> Kirchenvorstande keine<br />
Klagen vorgekommen“ 76 .<br />
Schulpfleger Hülsmann bestätigt diesem<br />
erfahrenen <strong>und</strong> fre<strong>und</strong>lichen Lehrer in der<br />
Fabrikschule gute Unterrichtserfolge: „Die<br />
Schreibübungen auf der Schiefertafel u(nd) auf<br />
Papier mit Feder u(nd) Dinte übertrafen selbst<br />
die gesetzten Erwartungen, indem einige<br />
Schüler nicht bloß eine deutliche u(nd) leserliche,<br />
sondern fast schöne Handschrift sich angeeignet<br />
hatten. Die Fertigkeit im Lesen zeigt<br />
sich bei den Meisten ebenfalls befriedigend<br />
u(nd) ebenso wurde auch der Unterricht im<br />
Rechnen u(nd) Gesang mit Erfolg erteilt (…)“.<br />
Das alles ist besonders erstaunlich <strong>und</strong> erfreulich,<br />
da ein Teil der Kinder vorher entweder gar<br />
nicht oder nur unregelmäßig zur Schule gegangen<br />
waren 77 .<br />
Hummeltenberg erteilte den Unterricht täglich<br />
von halb zwölf bis halb ein Uhr, nachdem<br />
er den morgendlichen Unterricht in der etwa<br />
10 Minuten entfernt liegenden Sonnborner<br />
Schule beendet hatte 78 . Interessant <strong>und</strong> bemerkenswert<br />
ist, dass Pfarrer Hülsmann in seinem<br />
lobenden Urteil über die Unterrichtserfolge<br />
des Lehrers Hummeltenberg besonders den<br />
Gesang erwähnt. Auch darin werden die Kinder<br />
der Fabrikschule unterrichtet. Dass aus einer<br />
Schulklasse munterer Gesang erschallt, ist<br />
für uns heute selbstverständlich <strong>und</strong> auch, dass<br />
bei Schul- <strong>und</strong> anderen Feiern wohlklingende<br />
Lieder vorgetragen werden. Offenk<strong>und</strong>ig wurde<br />
zu Beginn des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts in den<br />
Schulen nur selten <strong>und</strong> wenn überhaupt, nur<br />
wenig wohlklingend gesungen, was sich, wen<br />
w<strong>und</strong>ert’s, dann hinwiederum auf den Gemeindegesang<br />
negativ auswirkte. Der Lehrer Hummeltenberg<br />
unterrichtet seine Schulkinder im<br />
Gesang, <strong>und</strong> an andere Stelle erfahren wir<br />
auch, dass er einen Chor zur Verschönerung<br />
des Gottesdienstes gebildet hat 79 . In Sonnborn<br />
<strong>und</strong> bei dem „Pfarr-Schul-Lehrer“ Hummeltenberg<br />
zeigen sich somit die positiven Folgen<br />
der Bemühungen des „Königlichen Consistoriums“<br />
um eine Verbesserung des Gesanges in<br />
den Schulen <strong>und</strong> Gemeinden 80 .<br />
Mit einem eindringlichen, ausführlichen<br />
Schreiben von vierzehn Seiten vom 1. Oktober<br />
1822 sollte erreicht werden, im „Kreise der<br />
Lehrgegenstände, welche den Unterrichtscursus<br />
der Volksschule bilden, auch dem Gesange<br />
die ihm gebührende Stelle wieder anzuweisen<br />
<strong>und</strong> die Ehre, welche er früherhin in allen<br />
Schulen <strong>und</strong> Kirchen mit Recht hatte, wiederherzustellen.“<br />
Wortreich wird weiterhin ausgeführt:<br />
„Es wird immer allgemeiner anerkannt,<br />
daß der Gesangbildungs-Unterricht nicht allein<br />
eine wesentliche Lücke in der Schul-Erziehung<br />
ausfülle, welche keiner der übrigen Lehrgegenstände<br />
so auszufüllen vermag, sondern auch für<br />
die Verschönerung des Lebens <strong>und</strong> der Schule,<br />
so wie für die Verschönerung des häuslichen<br />
<strong>und</strong> bürgerlichen Lebens, für die Veredlung der<br />
Volksfeste, <strong>und</strong> vornehmlich für die Verherrlichung<br />
des öffentlichen Gottesdienstes <strong>und</strong> für<br />
die Belebung der häuslichen <strong>und</strong> kirchlichen<br />
Andachten von sehr großer Wichtigkeit sei (…)<br />
<strong>und</strong> daß keine Schule, in welcher derselbe<br />
fehlt, auf den Namen einer vollständig eingerichteten<br />
Schule Anspruch machen dürfe“ 81 .<br />
Dann geht es weiter um den Kirchengesang,<br />
„dessen Verbesserung bei den musikalischen<br />
Unterweisungen <strong>und</strong> Uebungen in der<br />
Schule fortwährend vorbereitet <strong>und</strong> bewirkt<br />
werden muß“, da dieser „bei sehr vielen Gemeinden<br />
in Verfall gerathen sei (…). Viele der<br />
besten Kirchenmelodien sind in Vergessenheit<br />
gerathen, so daß (sie) von den Gemeinden<br />
nicht gesungen werden können (…). Viele andere<br />
sind (…) allmählich verunstaltet <strong>und</strong> ihrer<br />
ursprünglichen Würde beraubt worden. Und in<br />
(…) den mehrsten Kirchen ist das Singen derselben<br />
so schlecht, daß es die Andacht <strong>und</strong> Erbauung<br />
nicht selten mehr stört, als befördert.“<br />
Man weiß auch, wie es dazu kam: „Dies ist die<br />
traurige Folge davon, daß man seit mehreren<br />
Jahrzehnden die ehemals allgemein gewesene<br />
Ordnung, in den Gemeinde-Schulen regelmäßig<br />
Gesangübungen anzustellen <strong>und</strong> täglich<br />
den Unterricht mit Absingen eines Kirchen-<br />
17
liedes zu eröffnen <strong>und</strong> zu beschließen verlassen<br />
<strong>und</strong> durch verkehrte Ansichten des Schul<strong>und</strong><br />
Erziehungs-Wesens eingeleitet, den Kirchengesang<br />
auf eine sehr nachtheilige Weise<br />
versäumt hat“ 82 .<br />
Pfarrer Hülsmann beendet seinen Bericht<br />
in einem sechsten Punkt mit einer Schilderung<br />
der Arbeitssituation der Kinder, die in der<br />
Jungschen Baumwollspinnerei arbeiteten, <strong>und</strong><br />
vermerkt beruhigend, „daß nur sehr wenige<br />
von 10 jährigem Alter“ sich unter den 85 Kindern<br />
befänden, die in die Schule aufgenommen<br />
worden seien 83 , <strong>und</strong> „auch den Kindern unter<br />
16 Jahren nur eine Arbeitszeit von kaum 10<br />
St<strong>und</strong>en zugewiesen“ worden sei <strong>und</strong> „innerhalb<br />
derselben auch die nöthige Zeit zum Frühstück<br />
<strong>und</strong> Abendbrot so wie zur Erholung<br />
gegönnt wird“ 84 . Für die Mittagspause nach<br />
dem Schulunterricht „ist den Kindern ein<br />
großer, im Winter gewärmter Saal mit den<br />
nöthigen Tischen <strong>und</strong> Bänken angewiesen, in<br />
welchem sie ihr Mittagessen verzehren können<br />
u(nd) wird ihnen außerdem noch die nöthige<br />
Zeit zum Aufenthalt in freier Luft u(nd) zur Erholung<br />
bewilligt“. Wen w<strong>und</strong>ert es, dass am<br />
Schluss seines Berichtes Pfarrer Hülsmann<br />
versichert, dass „die Arbeit keineswegs eine<br />
anstrengende noch eine die Ges<strong>und</strong>heit der<br />
Kinder gefährdende genannt werden kann,<br />
sondern größtentheils in einer Beaufsichtigung<br />
der arbeitenden Maschinen, anknüpfen der abgerissenen<br />
Fäden u(nd) d(er)gl(eichen) besteht“<br />
85 . Auch er war voll in das gesellschaftliche<br />
System <strong>und</strong> seine Denkweise eingeb<strong>und</strong>en<br />
<strong>und</strong> kaum zu einem kritischen Gedanken fähig.<br />
Es sei denn, man wertet es als Ansatz dazu,<br />
wenn er dann doch das Wörtchen „sehr“<br />
streicht, als er von dem „erfreulichen Anblick“<br />
berichtet, den die frisch gewaschenen Fabrikkinder<br />
in ihren einheitlichen blauen Schürzen<br />
<strong>und</strong> Kitteln dem Betrachter bieten.<br />
Neben solchen Zeitgenossen, die die Kinderarbeit<br />
in der Fabrik als gottgewollt <strong>und</strong> unabänderlich<br />
hinnehmen, gibt es aber auch kritische<br />
Stimmen, die darauf hinweisen, wie sehr<br />
die Kinder Schaden nehmen 86 . Die Motivation<br />
dafür ist unterschiedlich. So befasst sich die<br />
Elberfelder Kreissynode vom Oktober 1833<br />
mit dem Thema <strong>und</strong> weist darauf hin, dass<br />
18<br />
„(…) viele Kinder durch die Fabrikarbeiten,<br />
insbesondere in Spinnereien, Katt<strong>und</strong>ruckereien<br />
e.c. abgehalten (…) werden, den nöthigen<br />
Unterricht zu erhalten“. Man ist der Meinung,<br />
dass es Aufgabe der „hohen Regierung“ sei,<br />
diesen Kindern zu einem „hinlänglichen Unterricht“<br />
zu verhelfen, damit sie nicht „durch<br />
die unausgesetzte Arbeit vom frühen Morgen<br />
bis in die späte Nacht an Leib <strong>und</strong> Seele verkrüppeln“<br />
87 .<br />
Auch der Elberfelder Schulpfleger Wilberg<br />
stellt in seinem kritischen Revisionsbericht<br />
über die Elberfelder Schulen bereits 1815 fest,<br />
„daß ein sehr großer Teil der schulfähigen Kinder<br />
im Wupperthale mit Manufakturarbeiten<br />
beschäftigt ist (…) so bleibt den Kindern (…)<br />
aus den armen Ständen nur wenig von ihrer Jugendzeit<br />
zur Bildung des Verstandes übrig, an<br />
die Bildung des Gemütigen (sic) <strong>und</strong> des Körperlichen<br />
des Kindes ist fast gar nicht zu denken“.<br />
Er fragt <strong>und</strong> fordert: „Sollte es nicht<br />
möglich sein, (…) daß den Kindern aus den ärmern<br />
Ständen die erforderliche Zeit zum Lernen<br />
gelassen werde?“ <strong>und</strong> sieht sie als Opfer<br />
der „Habsucht“ 88 der Eltern. Das klingt so, als<br />
ob seiner Meinung nach die Eltern eine andere<br />
Wahl gehabt hätten 89 . Ebenso schreibt der Regierungsschulrat<br />
Altgelt in seinem Bericht an<br />
den Oberpräsidenten der Rheinprovinz, Freiherrn<br />
von Bodelschwingh-Velmede, über die<br />
„Untersuchung der Zustände der Kinder in den<br />
baumwollen Spinnereien des Herrn Oberempt<br />
zu Rhauenthal <strong>und</strong> des Herrn Wittenstein zu<br />
Wupperfeld“: „Daß diese Kinder übermäßig<br />
angestrengt werden, ist meines Erachtens erwiesen<br />
(…). Einen Theil der Schuld der körperlichen<br />
<strong>und</strong> geistigen Verkrüppelung ist aber<br />
den Ältern zuzuschreiben, welche in Armuth<br />
<strong>und</strong> Elend die Kinder zeugen <strong>und</strong> gebären, <strong>und</strong><br />
sie von der Geburt an an allem Nöthigen Mangel<br />
leiden lassen. Nahrung, Kleidung, Schlafstätte<br />
alles fehlt diesen armen Kindern (…)“ 90 .<br />
Der Hintergr<strong>und</strong> für diese <strong>und</strong> ähnliche<br />
Denkstrukturen ist in der Sichtweise auf Kindheit<br />
<strong>und</strong> Jugend zu finden. In der vorindustriellen<br />
Gesellschaft hatte man einerseits die Vorstellung<br />
einer kurzen Kindheit, die mit dem<br />
7. Lebensjahr endete, eine Sichtweise, die zum<br />
Teil bis weit in das 19. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>und</strong> selbst
im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert insbesondere in der bäuerlichen<br />
Welt als Relikt vormoderner Lebensweise<br />
erhalten blieb. Und andererseits war auch die<br />
Meinung weit verbreitet, die Arbeit in der<br />
Fabrik erziehe die Kinder zu Fleiß, Ausdauer,<br />
Ordnung, Gewissenhaftigkeit <strong>und</strong> Geschicklichkeit,<br />
so dass man sie höher <strong>und</strong> wichtiger<br />
einschätzte als das Lernen in der Schule 91 . Bei<br />
der industriellen Kinderarbeit wurden jedoch<br />
die negativen Folgen für die Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong><br />
die Entwicklung von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen<br />
durch intensive Arbeitsbelastung besonders<br />
augenfällig, so dass an diesem Punkte die<br />
Ächtung der Kinderarbeit <strong>und</strong> der Kampf dagegen<br />
einsetzte 92 .<br />
Bei dem Barmer Industriellen <strong>und</strong> Mitglied<br />
des rheinischen Provinziallandtages Johann<br />
Schuchard (1782–1854) findet man auch das<br />
weit verbreitete Denkmuster, dass die Kinder<br />
„arbeitsscheuen Eltern (…) als einziges Werkzeug<br />
ihres Erwerbs (…) dienen“; man gab diesen<br />
damit weitgehend die Schuld an der Not<br />
der Kinder. In einem Aufsatz im Rheinisch-<br />
Westphälischen Anzeiger schrieb Schuchard:<br />
„Es ist herzergreifend, wenn man gefühl- <strong>und</strong><br />
gewissenlose Mütter ihre fünf- sechsjährigen<br />
Kleinen frühmorgens im Regen oder Schnee,<br />
in ärmlicher Kleidung sieht hinaustreiben zu<br />
der oft eine halbe St<strong>und</strong>e weit entfernten Spinnerei,<br />
wo die armen Würmer schlecht ernährt,<br />
ohne den ganzen Tag einen warmen Bissen zu<br />
erhalten, ihre geringen Kräfte aufwenden müssen“.<br />
Und weiter, veranlasst durch den Selbstmordversuch<br />
eines zwölfjährigen Mädchens:<br />
„Der Menschenfre<strong>und</strong> schaudert, wenn er in<br />
die Zukunft blickt, da sich ohne Zweifel auch<br />
in unserm Lande die großen massiven Gebäude<br />
vervielfältigen werden, worin eine Menge<br />
Kinder von früh Morgens bis spät in die Nacht<br />
eingesperrt werden, worin sie um ihre Jugendheit,<br />
um die zum Wachsthum unentbehrliche<br />
Luft, um Gottes liebe Sonne, ja um Alles, Alles<br />
gebracht werden, was des Kindes Gedeihen<br />
<strong>und</strong> Frohsinn bewirkt (…)“ 93 . Jedoch er ergriff<br />
die Initiative <strong>und</strong> legte im Jahr 1837 auf dem<br />
5. Rheinischen Provinziallandtag den Antrag<br />
vor, einen Gesetzesvorschlag zum Schutz der<br />
Fabrikkinder als Petition zwecks Vollziehung<br />
an den König zu richten, in dessen Folge am<br />
9. März 1839 das Kinderschutzgesetz „Regulativ<br />
über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter<br />
in Fabriken“ vom „Königlichen Staats-<br />
Ministerium“ in Berlin erlassen wurde 94 .<br />
Schon auf der ersten Seite seines Berichtes<br />
vom 14. 12. 1839 über „die von dem Herrn<br />
Fr(iedrich) Aug(ust) Jung, Gutsbesitzer <strong>und</strong><br />
Kaufmann zu Elberfeld auf seiner Fabrikanlage<br />
zu Hammerstein bei Sonnborn eingerichteten<br />
Schule, in welcher die in der Fabrik, einer<br />
Baumwollenspinnerei, arbeitenden Kinder den<br />
erforderlichen Unterricht erhalten“, teilt der<br />
Schulpfleger Pfarrer Hülsmann mit: „Das Resultat<br />
dieser Untersuchung war im Allgemeinen,<br />
daß diese Schuleinrichtung nicht bloß alles<br />
leiste, was nach den bestehenden Vorschriften<br />
von einer Anstalt dieser Art gefordert werden<br />
muß, sondern als ein Meister einer Fabrikschule<br />
betrachtet werden kann u(nd) ein sehr<br />
rühmliches Zeugnis davon abgiebt, wie der<br />
obengenannte Herr Fabrikinhaber für das geistige<br />
u(nd) physische Wohl der in seiner Fabrik<br />
arbeitenden Jugend eine wahrlich väterliche<br />
Sorge trägt“ 95 . In den Schulakten befinden sich<br />
auch die Notizen Hülsmanns zu seinem Begleitschreiben<br />
vom 2. Januar 1840 an die Königliche<br />
Regierung in Düsseldorf. Er schließt<br />
mit dem Satz: „Indem ich das (…) Protokoll<br />
(…) übersende, ersuche ich (die) königl(iche)<br />
Reg(ierung) ganz gehorsamst, diese Schuleinrichtung<br />
für eine vollkommen genügende erklären<br />
zu wollen“ 96 .<br />
Das geschieht dann auch. Der „Königliche<br />
Landrath Seyssel“ teilt am 30. Januar 1840<br />
dem Schulpfleger Hülsmann die Meinung der<br />
Königlichen Regierung mit. Mit volltönenden<br />
Worten heißt es, „(…) daß die in der Fabrik des<br />
Friedr(ich) August Jung zu Hammerstein für<br />
die Erhaltung der Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> den Schulunterricht<br />
der darin arbeitenden Jugend getroffenen<br />
Einrichtungen dem hohen Regulativ<br />
vom 9. Mai c. (muss heißen: März, E.v.N.) entsprechend<br />
seien, <strong>und</strong> (man) hat mich veranlaßt<br />
dies dem genannten Fabrikinhaber zu erkennen<br />
zu geben“ 97 . Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.<br />
Selbst der kritische, von Karl Marx <strong>und</strong><br />
Friedrich Engels beeinflusste Kaufmann <strong>und</strong><br />
Schriftsteller Georg Weerth 98 kann nicht umhin,<br />
1845 anerkennend über die Jungsche<br />
19
Fabrik in Hammerstein zu schreiben, dass sie<br />
sich von „ähnlichen Sauetablissements des<br />
Wuppertals“ unterscheide 99 .<br />
Bericht des Schulpflegers Pfarrer August<br />
Wilhelm Hülsmann über die Fabrikschule<br />
der Jungschen Fabrik zu Hammerstein<br />
Actum Hammerstein, d. 23 Dec. 1839.<br />
In Folge der Verfügung der Königl. Regierung<br />
zu Düsseldorf, vom 21. Septbr d. J. die<br />
Beaufsichtigung des Unterrichts der in den Fabriken<br />
arbeitenden Kinder betreffend, wurde<br />
am heutigen Tage von dem unterzeichneten<br />
Schulpfleger die von dem Herrn Fr. Aug. Jung,<br />
Gutsbesitzer u. Kaufmann zu Elberfeld auf seiner<br />
Fabrikanlage zu Hammerstein bei Sonnborn<br />
eingerichtete Schule, in welcher die in der<br />
Fabrik, einer Baumwollenspinnerei, arbeitenden<br />
Kinder den erforderlichen Unterricht erhalten,<br />
unter Beistand der Herrn Bürgermeister<br />
Schnittert von Haan u. des Schulvorstandes zu<br />
Sonnborn, von welchem der Herr Präses Pfarrer<br />
Herminghaus u. der Hl. Schulvorsteher<br />
Kopp zugegen waren, inspizirt <strong>und</strong> untersucht.<br />
Das Resultat dieser Untersuchung war im Allgemeinen,<br />
daß diese Schuleinrichtung nicht<br />
bloß alles leiste, was nach den bestehenden<br />
Vorschriften von einer Anstalt dieser Art gefordert<br />
werden muß, sondern als Meister einer Fabrikschule<br />
betrachtet werden kann u. ein sehr<br />
rühmliches Zeugniß davon abgiebt, wie der<br />
obengenannte Herr Fabrikinhaber für das geistige<br />
u. physische Wohl der in seiner Fabrik<br />
arbeitenden Jugend eine wahrhaft väterliche<br />
Sorge trägt.<br />
Das Schulzimmer liegt zur ebenen Erde, ist<br />
30’ lang 25’ breit <strong>und</strong> 11’ hoch u. mit fünf<br />
großen Fenstern versehen. In diesem Zimmer<br />
befinden sich außer dem Pulte des Lehrers 12<br />
vorschriftsmäßig eingerichtete Schreibpulte<br />
von welchen jedes hinlänglichen Raum für 10<br />
Kinder darbietet, so daß in dem Schulzimmer<br />
120 Kinder bequem sitzen können, u. noch ein<br />
sehr bedeutender Raum für Gänge pp übrig<br />
bleibt. Das Lokal wird im Winter durch eine<br />
vom Heizapparat der Fabrik führende Röhre<br />
nach Belieben mehr oder weniger erwärmt.<br />
20<br />
An Lehrmitteln war alles Erforderliche<br />
vorhanden, eine hinreichende Anzahl Bibeln<br />
für die evangelischen, Neue Testamente nach<br />
der katholischen Übersetzung für die katholischen<br />
Kinder, Lesebücher Fibeln u. Rechenbücher,<br />
eine Wandtafel u. eine große Anzahl<br />
von Schiefertafeln, lithographische Vorschriften<br />
für den Schreibunterricht, Landkarten u.<br />
Tafeln Behufs des Unterrichts in der vaterländischen<br />
Geschichte, u. s. w., so daß Nichts vermißt<br />
wurde, was zu einem der Schule angemessenen<br />
Lehrapparat erforderlich erscheint.<br />
Außerdem wird jeder Schüler mit einem<br />
blauen Kittel u. jede Schülerin mit einer blauen<br />
Schürze vor dem Eintritt in das Lehrzimmer<br />
versehen u. dafür Sorge getragen, daß in dem<br />
Vorzimmer alle Schüler vor dem Anfange des<br />
Unterrichts sich waschen <strong>und</strong> reinigen, so daß<br />
die Kinder, welche größtentheils frisch u. ges<strong>und</strong><br />
aussehen, in dieser reinlichen Kleidung<br />
einen sehr (ist im Text gestrichen worden!<br />
E.v.N.) erfreulichen Anblick darbieten.<br />
Die Zahl der jetzt in die Schule aufgenommenen<br />
Kinder beläuft sich auf 85, vom 10. bis<br />
zum 14. Jahr, wobei jedoch bemerkt wird, daß<br />
nur sehr wenige von 10 jährigem Alter sich unter<br />
denselben befinden u. wobei es hervorgehoben<br />
zu werden verdient, daß der Herr<br />
Fabrikinhaber auch solchen Kindern, die das<br />
schulpflichtige Alter bereits zurückgelegt haben,<br />
den Besuch der Schule, wenn sie des Unterrichts<br />
noch bedürfen, gerne gestattet, ohne<br />
ihnen für den dadurch verursachten Ausfall an<br />
Arbeitsst<strong>und</strong>en irgend einen Abzug an ihrem<br />
Wochenlohn zu machen. Eben so wird denjenigen<br />
Kindern, welche den Konfirmandenunterricht<br />
besuchen, in derselben Weise gestattet,<br />
daß sie dreimal in der Woche u. zwar jedes mal<br />
zwei St<strong>und</strong>en an demselben theilnehmen, den<br />
Katechumenen, daß sie einmal wöchentlich<br />
den Unterricht des betreffenden Pfarrers genießen,<br />
ohne Abzug des Wochenlohns.<br />
Zum Lehrer dieser Schule ist der Lehrer<br />
Hummeltenberg aus Sonnborn von dem Fabrikinhaber<br />
<strong>und</strong> auf seine eigene Kosten engagiert<br />
u. erteilt ersterer den Unterricht täglich von<br />
halb zwölf bis halb ein Uhr, nachdem er seine<br />
Schulst<strong>und</strong>en in der etwa 10 Minuten entferntliegenden<br />
Schule zu Sonnborn geendigt hat.
Was nun die Leistungen der in der Schule<br />
unterrichteten Kinder betrifft, so waren dieselben<br />
nach der angestellten Prüfung sehr befriedigend<br />
zu nennen. Die Schreibübungen auf der<br />
Schiefertafel u. auf Papier mit Federn u. Dinte<br />
übertrafen selbst die gehegten Erwartungen,<br />
indem einige Schüler nicht bloß eine deutliche<br />
<strong>und</strong> leserliche, sondern fast schöne Handschrift<br />
sich angeeignet hatten. Die Fertigkeit<br />
im Lesen zeigte sich bei den Meisten ebenfalls<br />
befriedigend <strong>und</strong> eben so wurde auch der Unterricht<br />
im Rechnen u. Gesang mit Erfolg erteilt,<br />
so daß die Fortschritte der Kinder um so<br />
mehr als befriedigend erscheinen mußten, als<br />
manche Kinder vor ihrem Eintritt in die Fabrik,<br />
theils gar keinen, theils einen sehr unregelmäßigen<br />
Schulunterricht genossen hatten. Es<br />
läßt sich von dem Fortbestehen dieser Schule<br />
bei der väterlichen Aufsicht u. thätigen Theilnahme<br />
des Herrn Fabrikbesitzers, durch dessen<br />
Anordnung ein höchst regelmäßiger Besuch<br />
dieser Fabrikschule, wie sich aus der darüber<br />
geführten Liste ergab, erzielt worden ist, u. bei<br />
den treuen u. verständigen Bemühungen des<br />
einsichtsvollen Lehrers, die beste u. erfreulichste<br />
Wirkung erwarten u. ist es außer allem<br />
Zweifel, daß für diejenigen Kinder, die von<br />
ihren Ältern zu der Fabrikarbeit gebraucht werden<br />
müssen, in einer solchen Schule Alles vorhanden<br />
ist, was als Erfolg für den ordentlichen<br />
Schulunterricht, nach den bestehenden Vorschriften,<br />
gefordert wird.<br />
Nach beendigtem Schulunterricht ist den<br />
Kindern ein großer im Winter erwärmter Saal<br />
mit den nöthigen Tischen u. Bänken angewiesen,<br />
in welchem sie ihr Mittagsessen verzehren<br />
können u. wird ihnen außerdem noch die nöthige<br />
Zeit zum Aufenthalt in freier Luft u. zur Erholung<br />
bewilligt, wie denn auch den Kindern<br />
unter 16 Jahren nur eine Arbeitszeit von kaum<br />
10 St<strong>und</strong>en zugewiesen, innerhalb derselben<br />
auch die nöthige Zeit zum Frühstück u. Abendbrot<br />
so wie zur Erholung vergönnt wird, wobei<br />
noch zu bemerken ist, daß die Arbeit keineswegs<br />
eine anstrengende noch eine die Ges<strong>und</strong>heit<br />
der Kinder gefährdende genannt werden<br />
kann, sondern größtentheils in einer Beaufsichtigung<br />
der arbeitenden Maschinen, anknüpfen<br />
der abgerissenen Fäden u. dgl. besteht.<br />
Vorstehender Bericht wurde vorgelesen, r.<br />
von den anwesenden Herrn Bürgermeister u.<br />
Schulvorsteher u. dem Schulinspector unterzeichnet.<br />
Hl. Pfarrer Herminghaus hatte sich<br />
wegen Amtsgeschäften vor dem Schluß des<br />
Protokolls entfernt.<br />
Schnittert Ernst Kopp Hülsmann<br />
Vom gleichen Tage, dem 23. Dezember<br />
1839 liegt eine von dem Lehrer Hummeltenberg<br />
angefertigte Namenliste der Kinder der<br />
Fabrikschule vor.<br />
Namen-Verzeichniß der auf der Fabrik zu<br />
Hammerstein beschäftigten Kinder, welche<br />
die Schule daselbst in den letzten Tagen besuchten.<br />
Aprath Alwine<br />
Aprath Gustav<br />
Aprath Sanni<br />
Balke Rosette<br />
Bein Karoline<br />
Blumenau Wilh(elm)<br />
Brinkmann Friedr(ich)<br />
Brinkmann Karl<br />
Brückenhaus Karl<br />
Bünger Friedr(ich)<br />
Bünger Wilh(elmin)a<br />
Ditzler Wilh(elm)<br />
Dohm Johanna<br />
Dörner I Wilh(elm)<br />
Dörner II Friedr(ich)<br />
Dörner II Wilh(elm)<br />
Dörner III Robert<br />
Dörner III Wilh(elm)<br />
Eik Wilh(elmin)a<br />
Flasch Karolina<br />
Gräf Wilh(elmin)a<br />
Halfmann Aug(ust)<br />
Halfmann Frieda<br />
Hast Amalia<br />
Hast Friedr(ich)<br />
Hast Henr(iett)a<br />
Heil Henr(iett)a<br />
Heil Karl(in)a<br />
Hermes Karolina<br />
Herter Alwine<br />
Hölter Wilh(elm)<br />
21
Hostadt Aug(ust)<br />
Hüttemann Wilh(elm)<br />
Jost Friedr(ich)<br />
Jung Friedr(ich)<br />
Knürenhaus Wilh(elm)<br />
König Julie<br />
Kratz Karl<br />
Kreis Joh(ann)<br />
Krieger Aug(ust)<br />
Küller Karl<br />
Küller Wil(helmin)a<br />
Lenz Aug(ust)<br />
Lenz Gust(av)<br />
Luke Aug(ust)<br />
Lütz Louise<br />
Morian Christian<br />
Morian Ludow(ig)a<br />
Mühlejansen Helena<br />
Otlinghaus Henr(iett)a<br />
Otlinhgaus Wilh(elmin)a<br />
Paashaus I Aug(ust)<br />
Paashaus I Wilh(elm)<br />
Paashaus II Charl(ott)a<br />
Paashaus III Karl<br />
Peekhaus Aug(ust)<br />
Peekhaus Gust(av)<br />
Peis Abr(aham)<br />
Pleuge Auguste<br />
Pleuge Karol(in)a<br />
Pütbach Julie<br />
Püth Kathar(ina)<br />
Remling Lorenz<br />
Richards Karol(in)a<br />
Römer Charl(ott)a<br />
Rötgers Henr(iett)a<br />
Saurenhaus Peter<br />
Scheidt Aug(ust)<br />
Schmitt I Amalia<br />
Schmitt I Karl<br />
Schmitt I Wilh(elmin)a<br />
Schmitt II Gust(av)<br />
Schreiber Wilhelm<br />
Schreiber Wilh(elmin)a<br />
Spieß Wilh(elm)<br />
Steffens Martin<br />
Stitz Aug(ust)<br />
Stuckmann Wilh(elm)<br />
Tang Aug(ust)<br />
Tang Wilh(elm)<br />
22<br />
Theil Henr(iett)a<br />
Wafen Julius<br />
Wagner Aug(ust)<br />
Wagner Wilh(elmin)a<br />
Wahl Johann<br />
Sonnborn, den 23. Dec(em)b(e)r 1839.<br />
J(ohann) Abr(aham) Hummeltenberg,<br />
Schullehrer.<br />
Anmerkungen:<br />
1 Fritz Jorde, Geschichte der Schulen von Elberfeld,<br />
Elberfeld 1903, S. 325 ff.<br />
2 Jorde gibt den Namen mit Pastor Hermann Weimer<br />
an, ebd., S. 325.<br />
3 Albert Rosenkranz (Hg.), Das Evangelische<br />
Rheinland, Bd. 1: Die Gemeinden, Düsseldorf<br />
1956, S. 231 f.<br />
4 Als Pfarrer wirkte Wilhelm Camerarius nur von<br />
1569 bis 1570 in Sonnborn. Sein Nachfolger als<br />
Lehrer war nach Jorde der Vikar Godschalkus<br />
Breuer aus Wipperfürth. Von ihm wird berichtet,<br />
dass er von dem geringen Schulgeld nicht leben<br />
konnte, deshalb beschloss das Konsistorium<br />
am 30. November 1595, dass in der Gemeinde<br />
für ihn gesammelt werden sollte. „Jeder Hausmann<br />
oder Junggesell, die etwas im Vermögen<br />
<strong>und</strong> gute Mittel haben, wollten aus ihren Mitteln<br />
nach ihrem Vermögen etwas geben zu der Schulen,<br />
daß man einen Schuldiener desto besser<br />
könne erhalten (…). Denn Kirchen <strong>und</strong> Schulen<br />
müssen erhalten werden zu der Ehren des allmächtigen<br />
Gottes <strong>und</strong> unserer Besserung <strong>und</strong><br />
endlich zu unserer Seelen Seligkeit“. So zitiert<br />
in Jorde (wie Anm. 1), S. 326; s.a. Jörg van<br />
Norden, Zwischen Tradition <strong>und</strong> Moderne. Die<br />
evangelische Kirche im Großherzogtum Berg<br />
1806–1813, in: Religiöse Erneuerung, Romantik,<br />
Nation im Kontext von Befreiungskriegen<br />
<strong>und</strong> Wiener Kongress, hg. von Michael Bunners<br />
<strong>und</strong> Erhard Piersig (Studien zur Deutschen Landeskirchengeschichte,<br />
Bd.5), in: Jahrbuch für<br />
Mecklenburgische Kirchengeschichte, Mecklenburgia<br />
Sacra, Bd. 5, S. 153.<br />
5 Jorde (wie Anm. 1), S. 325 f.<br />
6 Johann Friedrich Wilberg (1776–1846) war<br />
1802 als Inspektor <strong>und</strong> Lehrer der Armenanstalt<br />
nach Elberfeld berufen worden. 1814 wurde er<br />
Schulpfleger, 1829 Schulinspektor in Elberfeld;<br />
s.a. Volkmar Wittmütz, von Rochows Einfluß
auf Johann Friedrich Wilberg, Reckahner Hefte<br />
(Brandenburger Gesellschaft für Schulgeschichte)<br />
1/1998, S. 15 f.<br />
7 Johann Abraham Hummeltenberg (1795–1853).<br />
Über den Empfang bei seiner Ankunft in Sonnborn<br />
berichtet Jorde: „Am 15. Juli des Jahres<br />
1817 war es, als eine stattliche Reiterschar (…)<br />
Hummeltenberg nach Sonnborn geleitete, wo<br />
am Eingang des Dorfes festlich geschmückte<br />
Schulkinder <strong>und</strong> zahlreiche Bauern mit frohen<br />
Gesichtern den neuen Lehrer begrüßten <strong>und</strong><br />
zum Schulhaus führten.“ Jorde (wie Anm. 1),<br />
S. 338.<br />
8 Jorde gibt die Maße dieser Klassen an. Jede<br />
Klasse war 12 köln. Fuß lang, 11 Fuß breit <strong>und</strong> 7<br />
Fuß hoch. Es sind, wie damals üblich, sehr kleine<br />
Räume. Umgerechnet auf Meter ergeben sich<br />
die Maße: Die Länge betrug tatsächlich nur ca.<br />
3,60 m, die Breite ca. 3,30 m <strong>und</strong> die Höhe ca.<br />
2,10 m; der Fuß zu 30 cm gerechnet. Jorde (wie<br />
Anm. 1), S. 338.<br />
9 1825 wurde das Allgemeine preußische Landrecht<br />
<strong>und</strong> damit die Schulpflicht auch in den<br />
Westprovinzen Preußens eingeführt. Hermann<br />
Altgelt, Sammlung der gesetzlichen Bestimmungen<br />
<strong>und</strong> Vorschriften des Elementar-Schulwesens<br />
im Bezirke der Königl. Regierung zu<br />
Düsseldorf nebst einer historischen Einleitung<br />
in die Verwaltung des öffentlichen Unterrichts,<br />
aus den Zeiten des Churfürsten Carl Theodor,<br />
bis auf das Todesjahr König Friedrich Wilhelm<br />
III. 1794 bis 1840, 2. Aufl. Düsseldorf 1842.<br />
Nachdruck mit einer Einleitung hg. von Michael<br />
Klöcker, Köln - Wien 1986, S. 184 f.<br />
10 Schon im Jahre 1812 bestimmte eine „Instruction<br />
für die Eintheilung der Schulbezirke in<br />
ganzen Arrondissements“ unter Punkt 7: „Die<br />
sämmtlichen Primärschulen werden auf Kosten<br />
der betreffenden Mairie errichtet <strong>und</strong> unterhalten.“<br />
Schulakten, Akte Nr. 3: Schulpflege, Allgemeine<br />
Verordnungen, Sammlung Erika van<br />
Norden. (Ich habe vor Jahren von einem pensionierten<br />
Rektor eine umfangreiche, zum größten<br />
Teil handschriftliche, unpaginierte Sammlung<br />
von Schulakten aus dem Beginn des 19. Jhts.<br />
bekommen, die er auf dem Speicher seiner<br />
Schule gef<strong>und</strong>en hatte <strong>und</strong> nicht auf den Abfall<br />
werfen wollte.) Nachdem das Bergische Land<br />
preußisch geworden war, wurden die in französischer<br />
Zeit eingeführten Regelungen des<br />
Schulwesens weitgehend übernommen <strong>und</strong> fortgesetzt.<br />
S. dazu auch Hans-Jürgen Apel / Michael<br />
Klöcker, Schulwirklichkeit in Rheinpreußen,<br />
Analysen <strong>und</strong> Dokumente zur Modernisierung<br />
des Bildungswesens in der ersten Hälfte des<br />
19. Jahrh<strong>und</strong>erts, Köln - Wien 1986, S. 5. Über<br />
die Schulpolitik im Großherzogtum Berg<br />
schreibt ausführlich Jörg van Norden (wie Anm.<br />
4), S. 152–155.<br />
In vielen Gemeinden wurde es notwendig, neue<br />
Schulen zu bauen. Mit der Finanzierung waren<br />
die einzelnen, finanzschwachen Gemeinden allerdings<br />
weitgehend überfordert. In einem ausführlichen<br />
Schreiben aus dem Jahre 1821, einer<br />
„Anleitung für die Herrn Schulpfleger <strong>und</strong><br />
Schulvorsteher im Bergischen zur Betreibung<br />
der Schulbauten“, werden einerseits die Gemeinden<br />
dennoch ermutigt, den notwendigen<br />
Neubau von Schulen in Angriff zu nehmenen,<br />
andererseits heißt es dort über die Finanzierung:<br />
„Gern möchte der Schul-Rath jetzt, die sich hier<br />
von selbst aufdringende Frage: welche allgemeine<br />
feste Bestimmungen über die Beibringung<br />
der Kosten für Schulbauten aufgestellt seyen<br />
genügend beantworten; allein er sieht sich in<br />
diesem Augenblicke bey der noch nicht ständig<br />
geordneten Verfassung der Landes-Verwaltung<br />
dazu außer Stande.“ Der Schulrat teilt „den jetzt<br />
zum Bauen geneigten Gemeinden“ mit, dass die<br />
Kosten in diesem Jahr, wie in den beiden früheren<br />
Jahren, umgelegt werden. Aber keine Gemeinde<br />
werde dadurch benachteiligt werden,<br />
„daß sie jetzt ihren Schulbau beschleunigt“.<br />
Weiter heißt es: „Indessen ist es doch nicht zu<br />
verkennen, daß mancher kleinen Gemeinde die<br />
Beibringung der Kosten schwer fallen wird“.<br />
Gerade diese haben jedoch noch „Hülfsquellen“,<br />
„welche bei Vereinigung mehrerer Gemeinen<br />
zur gemeinsamen Betreibung ihrer Schulbauten<br />
versiegen. Einige Gemeinen werden aus<br />
dem Kirchenvermögen, andere aus ihren Gemeine-Gründen,<br />
<strong>und</strong> wieder andere aus einer<br />
Sammlung bei Schulfre<strong>und</strong>en ihres Bezirkes<br />
sich Zufluß verschaffen.“ Schulakten, Akte Nr.<br />
3: Schulpflege, Allgemeine Verordnungen (s.o.);<br />
s.a. das Vorwort von Michael Klöcker zu Altgelt<br />
(wie Anm. 9), S. VII. Deshalb mobilisierte man<br />
auch in Sonnborn die Gelder für die neue Schule<br />
aus den verschiedensten „Hülfsquellen“, so<br />
dass sich für den Schulneubau eine „Mischfinanzierung“<br />
ergab. Der Lehrer Hummeltenberg<br />
sammelte „nach altem Brauch“ in den<br />
Nachbargemeinden mit dem „Kollektenbuch“.<br />
Diese Gelder erhöhten sich durch den Verkauf<br />
des alten Schulhauses auf 3000 Thaler. Jorde<br />
(wie Anm.1), S. 338.<br />
23
In dem Protokoll der Kreissynode Elberfeld<br />
vom Jahr 1831 wird unter § 4 berichtet: „Zu<br />
Sonnborn ist das Projekt eines neuen Kirchenbaues<br />
<strong>und</strong> Pfarrhausbaues so weit vorbereitet,<br />
daß im Frühjahr des künftigen Jahres der Anfang<br />
mit diesen Bauten gemacht werden kann.<br />
Die Gemeinde hat sich eines Gnaden Geschenkes<br />
Sr. Königlichen Majestät von 2000<br />
Th(a)l(e)r(n) Behufs des Kirchen- <strong>und</strong> Schulbaues<br />
zu erfreuen“. Jörg van Norden (Hg.), Protokolle<br />
der Kreissynoden Elberfeld von 1817 bis<br />
1850 (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische<br />
Kirchengeschichte, Bd. 148), Köln 2000, S. 117.<br />
In den Schulakten von Sonnborn findet sich in<br />
einem Schreiben des Bürgermeisters Schnittert<br />
von Haan (Sonnborn gehört zur Bürgermeisterei<br />
Haan <strong>und</strong> zur Synode Elberfeld) vom 11. August<br />
1839 im Zusammenhang mit der Sonnborner<br />
Schule ein weiterer Hinweis, nämlich dass<br />
die Gemeinde „in Folge des Schulbaues noch<br />
1300 Th(a)l(e)r verzinsliche Schulden hat.“<br />
Schulakten, Akte Nr. 12: Sonnborn, Sammlung<br />
Erika van Norden (s.o.). Aus diesen Teilinformationen<br />
sind die Gesamtkosten für den Schulneubau<br />
nicht mit Sicherheit auszumachen. Je<br />
nachdem wie das „Gnadengeschenk“ auf die geplanten<br />
Gebäude verteilt wurde, waren es mindestens<br />
etwa 5300 Taler.<br />
11 Erst nach dem Tode des Lehrers Hummeltenberg<br />
1853 wurde beschlossen, die längst notwendige<br />
dritte Klasse einzurichten <strong>und</strong> einen<br />
weiteren „Hülfslehrer“ einzustellen. In dem Protokoll<br />
über die „Verhandlungen des Preßbyteriums<br />
des Schulvorstandes der Repräsentation<br />
<strong>und</strong> des Schullehrer-Wahl-Kollegiums der evangelisch<br />
reformirten Gemeine zu Sonnborn“ vom<br />
31. März 1853 steht unter § 2, ad 5: „Ferner<br />
wurde (…) dringend beantragt, daß wegen der<br />
Ueberfüllung der zweiten Klasse nothwendig<br />
(…) ein zweiter Gehülfe, ein geprüfter Seminarist<br />
erwählt werde, weil es eine Unmöglichkeit<br />
sey, daß der Lehrer Zweiter Klasse zirka 180<br />
Kinder unterrichten könne“. Schulakten, Akte<br />
Nr. 12: Sonnborn (vgl. Anm. 10). Dieser Beschluss,<br />
eine dritte Klasse einzurichten <strong>und</strong> einen<br />
weiteren Lehrer einzustellen, wurde jedoch<br />
erst 1860 ausgeführt. Jorde (wie Anm.1), S. 338.<br />
- Damals wurden die Klassen anders gezählt als<br />
heute. Die ältesten Schüler waren jeweils in der<br />
1. Klasse. In einer zweiklassigen Schule waren<br />
also in der zweiten Klasse die Schulanfänger.<br />
12 Hammerstein wurde durch die „Kabinettsordre“<br />
vom 14. Dezember 1833 in die Matrikel der<br />
24<br />
landtagsfähigen Rittergüter eingetragen. Der<br />
Besitzer erhielt damit Sitz <strong>und</strong> Stimme im Rheinischen<br />
Provinziallandtag in Düsseldorf. Michael<br />
Knieriem, Aus den Tagebüchern des Fabrikanten<br />
Wilhelm Ehrenfest Jung (1800–1867)<br />
in Wuppertal-Hammerstein aus den Jahren<br />
1844–1846. Wuppertal 1984. Einführung zur<br />
Quellenveröffentlichung, S. 1. - Wilhelm Ehrenfest<br />
Jung war der Neffe <strong>und</strong> Schwiegersohn des<br />
Firmengründers Friedrich August Jung. Nachdem<br />
dieser 1852 gestorben war, übernahm er<br />
gemeinsam mit zweien von dessen drei Söhnen<br />
als Teilhaber die Spinnerei <strong>und</strong> das Gut in Hammerstein.<br />
In: Tania Ünlüdag, Historische Texte<br />
aus dem Wupperthale, Quellen zur Sozialgeschichte<br />
des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts, hg. von Karl-Hermann<br />
Beeck, Wuppertal 1989, S.168.<br />
13 Das Fabrikgebäude war von erstaunlichen Ausmaßen,<br />
nämlich etwa 46 m lang, 15,5 m tief <strong>und</strong><br />
20,5 m hoch. Tatsächlich hatte der Bau sieben<br />
Etagen. Ein Maschinenhaus war angegliedert.<br />
Die Häuser für die Arbeiter waren aus Bruchsteinen<br />
gebaut, die Villa des Besitzers <strong>und</strong> die<br />
Fabrik aus Backsteinen. Die Einstellung zur<br />
neuen Antriebskraft Dampf wird darin deutlich,<br />
dass, als nach 1857 eine weitere Dampfmaschine<br />
mit höherer Leistung aufgestellt wurde, diese<br />
einen Fußsockel aus Neandertaler Marmor bekam.<br />
Klaus Peter Huttel, Wuppertaler Bilddokumente.<br />
Ein Geschichtsbuch zum 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
in Bild <strong>und</strong> Text, hg. von Karl-Hermann Beeck,<br />
Wuppertal 1985, Bd. 1, S. 258.<br />
14 Aus den Lebenserinnerungen des Wilhelm Ehrenfest<br />
Jung. Zit. in Ünlüdag (wie Anm. 12),<br />
S. 168 f.; s.a. Knieriem (wie Anm. 12), S. 2.<br />
15 Knieriem (wie Anm. 12), S. 1.<br />
16 Ebd.; s.a. Ünlüdag (wie Anm.12), S.169; s.a.<br />
Hermann Kellenbenz, Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialentwicklung<br />
der nördlichen Rheinlande seit<br />
1815, in: Rheinische Geschichte, hg. von Franz<br />
Petri <strong>und</strong> Georg Droege, Bd. 3: Wirtschaft <strong>und</strong><br />
Kultur im 19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert, Düsseldorf,<br />
2. Aufl. 1980, S. 23 <strong>und</strong> 28.<br />
17 Außer der Fabrikschule in der Baumwollspinnerei<br />
Jung in Hammerstein gab es in Elberfeld eine<br />
Fabrikschule in der Seidenspinnerei Simons,<br />
in der Spinnerei des Fabrikanten <strong>und</strong> Stadtrats<br />
P.C. Peill <strong>und</strong> in der Spinnerei des Fabrikanten<br />
Oberempt in Rhauenthal, über die Berichte <strong>und</strong><br />
Informationen vorliegen. Ünlüdag (wie Anm.<br />
12), S. 334 <strong>und</strong> S. 338 f.; außerdem liegt ein Bericht<br />
über die Fabrikschule der Cromford-Fabrik<br />
des Fabrikanten Brügelmann in Ratingen vor.
Bericht des Lehrers Herlitschka über die Schule<br />
zu Cromford vom 6. Dez. 1838, in: Die Macht<br />
der Maschine. 200 Jahre Cromford-Ratingen.<br />
Eine Ausstellung zur Frühzeit des Fabrikwesens,<br />
Ratingen 1985, S. 227. Wittmütz nennt eine<br />
weitere Fabrikschule in Barmen, <strong>und</strong> zwar die<br />
der Baumwollspinnerei Wittenstein <strong>und</strong> Reinhold.<br />
Volkmar Wittmütz, Zwischen Schule <strong>und</strong><br />
Fabrik. Das Dilemma der Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen<br />
im Wuppertal 1800 bis 1850. In: Jugend<br />
zwischen Selbst- <strong>und</strong> Fremdbestimmung. Historische<br />
Jugendforschung zum rechtsrheinischen<br />
Industriegebiet im 19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert, hg.<br />
von Burkhard Dietz, Ute Lange, Manfred<br />
Wahle, Bochum 1996, S. 60.<br />
18 Altgelt (wie Anm. 9), S. 184 f.; s. a. Wilhelm<br />
Zimmermann, Der Aufbau des Lehrerbildungs<strong>und</strong><br />
Volksschulwesens unter der preußischen<br />
Verwaltung 1814–1840 (1846), Köln 1986, S.<br />
293.<br />
19 Schreiben des Landrats Carl Theodor Graf von<br />
Seyssel d’ Aix (1780–1863) an die Bürgermeister<br />
des Landkreises vom 9. Mai 1828. In:<br />
Schulakten, Akte Nr. 5: Schulpflege Kronenberg,<br />
Allgemeine Verhandlungen (vgl. Anm. 10).<br />
20 Altgelt (wie Anm. 9), S. XXV. In der Verordnung<br />
vom 30. Oktober 1825 der königl. Preußischen<br />
Regierung in Düsseldorf heißt es über die<br />
Geldstrafen zunächst noch unter Punkt 13: „Wir<br />
vertrauen jedoch, daß schärfere Zwangsmittel<br />
nirgend erforderlich seyn werden, vielmehr die<br />
regelmäßige Beitreibung des Schulgeldes im<br />
Allgemeinen hinreichen werde, den Schulbesuch<br />
zu fördern.“ Altgelt (wie Anm. 9), S.186.<br />
Diese Hoffnung bestätigt sich nicht. „Schulversäumnisse<br />
wurden im Anschluss an die Kabinetts-Ordre<br />
von 1825 mit Geldstrafen von 1 Silbergroschen<br />
bis 1 Taler bestraft.“ Ünlüdag (wie<br />
Anm. 12), S. 339. In der Verfügung vom 6. Juli<br />
1826 wird das Strafmaß noch erhöht. Hier heißt<br />
es unter Punkt 4: „Zur Beseitigung aller Bedenken<br />
<strong>und</strong> Zweifel setzen wir hiermit fest, daß die<br />
(…) Polizeistrafe in Geld gegen die säumigen<br />
Aeltern (…), welche ihre Kinder nicht zur Schule<br />
schicken, bis zu Fünf Thaler geschärft werden<br />
kann.“ Altgelt (wie Anm. 9), S. 197.<br />
Wiederholt fordert der Landrat von Seyssel die<br />
Bürgermeister der Gemeinden auf, unnachsichtig<br />
gegen Eltern vorzugehen, die ihre Kinder<br />
nicht zur Schule schicken. Sie wurden vom „Polizei-Gericht“<br />
verurteilt. Schulakten, Akte Nr. 5:<br />
Schulpflege Kronenberg, Allgemeine Verhandlungen<br />
(vgl. Anm. 10). „Bei Zahlungsunfähig-<br />
keit gab es Gefängnisstrafen bis zu 24 St<strong>und</strong>en,<br />
wobei für 5 Silbergroschen jeweils 4 St<strong>und</strong>en<br />
Gefängnis gerechnet wurden.“ Ünlüdag (wie<br />
Anm. 12) S. 339. Die Gefängnisstrafen für zahlungsunfähige<br />
Eltern wurden tatsächlich ausgesprochen<br />
<strong>und</strong> mussten an Sonntagen abgesessen<br />
werden. Erst im Jahr 1855 erklärt der Regierungspräsident<br />
in Düsseldorf: „Die Abbüßung<br />
der Strafen an Sonntagen hat wirklich stattgehabt,<br />
ist aber nun abgestellt, <strong>und</strong> haben wir die<br />
sämtlichen Landräte <strong>und</strong> Polizeibeamten darauf<br />
aufmerksam gemacht, daß der Sonntag nicht<br />
dazu verwendet werden dürfe, die Eltern von<br />
der Kirche <strong>und</strong> Familie abzusperren“. Klaus<br />
Goebel, Schule im Schatten. Die Volksschule in<br />
den Industriestädten des Wuppertals <strong>und</strong> seiner<br />
niederbergischen Umgebung (Beiträge zur Geschichte<br />
<strong>und</strong> Heimatk<strong>und</strong>e des Wuppertals, Bd.<br />
26), Wuppertal 1978, S. 89.<br />
In Sonnborn hatten sich 1838 im „Strafschulgelderfonds“<br />
43 Taler <strong>und</strong> 6 Silbergroschen gesammelt,<br />
<strong>und</strong> der Schulvorstand stellte an den<br />
Schulpfleger Hülsmann in Elberfeld den Antrag,<br />
„daß dem Lehrer Hummeltenberg aus dem vorhandenen<br />
Strafschulgelderfonds (…) die Hälfte<br />
als Remuneration bewilligt werde“, zum Ausgleich<br />
für fehlende Schulgeldeinnahmen, wenn<br />
Eltern nicht zahlten bzw. nicht zahlen konnten.<br />
Die andere Hälfte sollte für den notwendigen<br />
neuen Anstrich der Schulfenster verwendet werden.<br />
Schulakten, Akte Nr. 12: Sonnborn (vgl.<br />
Anm. 10). Dieser Antrag wurde bewilligt.<br />
21 In einem Schreiben der Königlichen Regierung<br />
vom 12. Juni 1827 geht es darum, in welchen<br />
Fällen „Dispensationen vom Unterricht oder<br />
Beschränkungen desselben auf einige Tage in<br />
der Woche oder auf wenige St<strong>und</strong>en des Tages<br />
(…) stattfinden können.“ Dort heißt es ausdrücklich:<br />
„(…) namentlich ist dem höchst<br />
schädlichen Mißbrauch des Viehhütens durch<br />
Kinder dadurch auf das Nachdrücklichste zu begegnen,<br />
daß für solche Beschäftigung der Kinder<br />
die Erlaubnis zu Schulversäumnissen gar<br />
nicht ertheilt, sondern auf den regelmäßigen<br />
Schulbesuch mit unnachsichtlicher Strenge gehalten<br />
werde.“ Schulakten, Akte Nr. 5: Schulpflege<br />
Kronenberg, Allgemeine Verhandlungen<br />
(vgl. Anm. 10).<br />
22 In den Schulakten der Elementarschule in<br />
Schöller befinden sich zwei Briefe, die solch<br />
eine Situation näher beschreiben: Am 4. August<br />
1845 schreibt der Schulpfleger Hülsmann an<br />
den Pfarrer Goldenberg in Schöller: „Eine Frau<br />
25
Schütter zu Buntenbeck wünscht für ihren Sohn<br />
August Dispensation vom Schulbesuch (…),<br />
weil sie denselben (…) zu ihren häuslichen Arbeiten<br />
nothwendig gebrauchen müsse.“ Hülsmann<br />
bittet Pfarrer Goldenberg „die Motive dieser<br />
Bitte (…) näher zu ermitteln“, um darüber<br />
entscheiden zu können. In dem Antwortschreiben<br />
des Pfarrers noch vom gleichen Tage erfahren<br />
wir einiges über dieses Kinderschicksal.<br />
Pfarrer Goldenberg schreibt: „Der Knabe ist<br />
stets unregelmäßig zur Schule gegangen <strong>und</strong><br />
konnte schon deshalb nichts lernen (…) (auch)<br />
seine große Kurzsichtigkeit war besonders hinderlich<br />
(…) <strong>und</strong> erst nach den wiederholtesten<br />
Bitten waren die Eltern zu bewegen, dem Knaben<br />
eine Brille anzuschaffen.“ Vermutlich ist<br />
der Junge inzwischen mindestens 12 Jahre alt,<br />
denn die Eltern stellen den Antrag, ihn ganz aus<br />
der Schule zu entlassen, was aber vom Schulvorstand<br />
nicht genehmigt wird, „da die dazu<br />
nothdürftigsten Kenntnisse mangelten.“ Weiter<br />
schreibt der Pfarrer: „Die Aeltern sind übrigens<br />
allerdings arm (…) der Mann arbeitet auf der Eisenbahn<br />
<strong>und</strong> verdient 15 S(ilber)gr(oschen) (…).<br />
Der Knabe (ist) seiner Mutter bei einem kleinen<br />
Kind sehr nothwendig (…), da sie Eisenbahnarbeiter<br />
in Kost u. Logis genommen.“ Schulakten,<br />
Akte Nr. 13: Schöller (vgl Anm. 10). Bereits in<br />
der Verordnung vom 30. Oktober 1825 war eingeräumt<br />
worden, dass „ländliche Beschäftigungen<br />
oder andere den Kindern übertragene Arbeiten<br />
ein Hindernis des täglichen zweimaligen<br />
Schulbesuchs sind“. Die Schulpfleger waren ermächtigt<br />
worden, „im Benehmen mit dem Bürgermeister<br />
<strong>und</strong> unter Zuziehung des Ortsschulvorstandes<br />
eine angemessene Abänderung in<br />
den Schulst<strong>und</strong>en zu treffen“. Altgelt (wie Anm.<br />
9), S. 186.<br />
23 Der Lehrer Krieger aus Schöller gibt in seinem<br />
Bericht vom 2. Juni 1840 an, dass 89 Kinder die<br />
Schule besuchen. Er fährt dann fort: „Diese Anzahl<br />
war indeß des hier endemischen Wechselfiebers,<br />
mitunter auch anderer Krankheiten<br />
(1841 nennt er Erkältungen <strong>und</strong> Husten), weiter<br />
<strong>und</strong> oft sehr schlimmer Wege <strong>und</strong> ungünstiger<br />
Witterung halber nicht häufig versammelt“.<br />
Schulakten, Akte Nr. 13: Schöller (vgl. Anm.<br />
10).<br />
24 Deshalb macht der Landrat von Seyssel in<br />
einem Schreiben vom 9. Juni 1828 an „sämmtliche<br />
Herrn Bürgermeister des Kreises“ auf eine<br />
„im Kreise Solingen getroffene zweckmäßige<br />
Anordnung“ aufmerksam. „Damit die Dürftigen<br />
26<br />
die Schulversäumnisse Ihrer Kinder nicht mit<br />
dem Mangel an nöthigen Kleidungsstücken entschuldigen<br />
können“, soll durch freiwillige<br />
Beiträge <strong>und</strong> durch Zuschüsse aus dem Straf-<br />
Schulgelde für die Beschaffung der Kleidungsstücke<br />
nach Möglichkeit gesorgt werden. Die<br />
Bürgermeister sollen zusammen mit den Schulpflegern<br />
<strong>und</strong> den Schulvorständen „nach Kräften<br />
dahin (…) wirken, daß die besagte Anordnung,<br />
welche zur Beförderung des Schulbesuchs<br />
sehr förderlich ist, auch in ihrer Bürgermeisterei<br />
Anwendung findet.“ Schulakten, Akte<br />
Nr. 5: Schulpflege Kronenberg, Allgemeine Verhandlungen<br />
(vgl. Anm. 10); s. a. Altgelt (wie<br />
Anm. 9) S. 200; s.a. Siegfried Quandt (Hg.),<br />
Kinderarbeit <strong>und</strong> Kinderschutz in Deutschland<br />
1783–1976, Paderborn 1978, S. 10 f.<br />
25 In den Erläuterungen vom 30. Juni 1826 zu der<br />
Verordnung vom 30. Oktober 1825 stellt man<br />
sich gegen Vorschläge, pro Kind ein geringeres<br />
Schulgeld als 3 Silbergroschen zu verlangen,<br />
<strong>und</strong> rechnet aus, dass ein Lehrer, der 100 Kinder<br />
unterrichtet „<strong>und</strong> größer darf die Zahl in der Regel<br />
nicht sein“, somit ein jährliches Einkommen<br />
von 186 Talern hat. Hinzu kommt die freie<br />
Wohnung <strong>und</strong> ein Garten. „Ein solches Einkommen<br />
kann wohl nicht zu hoch erscheinen.“ Altgelt<br />
(wie Anm. 9), S. 186 <strong>und</strong> 193. Es entsprach<br />
der allgemeinen Armut im Wuppertal. Ein Meister<br />
verdiente nicht viel mehr, wöchentlich 4 Taler,<br />
also etwa 192 Taler im Jahr. Ein Geselle verdiente<br />
wöchentlich etwa 2 bis 2 1 /2 Taler, eine<br />
Frau in der Textilindustrie 1 1 /2 bis 2 Taler <strong>und</strong><br />
ein Kind 1 bis 1 1 /2 Taler in der Woche; s. a. in<br />
den Schulakten, Akte Nr. 13: Schöller (vgl.<br />
Anm. 10), die Angaben des Pfarrers Goldenberg<br />
über die Einnahmen des Lehrers Jacob Theodor<br />
Krieger in dem Jahresbericht der Schule in<br />
Schöller vom 30. September 1841; s.a. Schulakten,<br />
Akte Nr. 5: Kronenberg (vgl. Anm. 10),<br />
Berufsschein des Lehrers Heinrich Witte vom<br />
20. Dezember 1832.<br />
Im Jahre 1829 wurde in Elberfeld das Schulgeld<br />
für die Elementarschule in der Stadt auf mtl. 10<br />
Silbergroschen erhöht, im „Kirchspiel Elberfeld“<br />
auf 6 Silbergroschen. Hinzu kam noch bei<br />
„Schreibschülern“ 1 Silbergroschen für Federn<br />
<strong>und</strong> Tinte. Das Schulgeld sollte von der städtischen<br />
Schulkasse eingezogen <strong>und</strong> die Gehälter<br />
der Lehrer daraus bezahlt werden. Beides ließ<br />
sich nicht durchsetzen <strong>und</strong> musste 1831 wieder<br />
rückgängig gemacht werden. Beibehalten wurden<br />
jedoch die gerichtlichen Zwangsmaßnah-
men bei „säumiger Zahlung“. So wurde dem<br />
Barmer Schreiner Karl Walbrächt wegen „rückständigen<br />
Schulgeldes“ eine Hobel- <strong>und</strong> eine<br />
Drehbank gepfändet. Erst 1868 wurde das<br />
Schulgeld in Elberfeld für die Elementarschulen<br />
aufgehoben. Ünlüdag (wie Anm. 12), S. 347.<br />
26 Für die Lehrer reichten aber diese Einnahmen<br />
kaum aus, wie z.B. ein Bettelbrief des Lehrers<br />
Jacob Theodor Krieger aus Schöller vom 26.<br />
Februar 1853 an den Schulpfleger Jaspis in Elberfeld<br />
zeigt. Schulakten, Akte Nr. 13: Schöller<br />
(vgl. Anm.10); s.a. Gerhard E. Sollbach, Schule<br />
am Vorabend der Industriellen Revolution, Eine<br />
Schulerhebung in der Grafschaft Mark 1798/99,<br />
Dortm<strong>und</strong>er Arbeiten zur Schulgeschichte <strong>und</strong><br />
zur historischen Didaktik, hg. von Klaus Goebel<br />
<strong>und</strong> Hans Georg Kirchhoff, Bd. 24, Bochum<br />
1997, S. 27.<br />
27 Ünlüdag (wie Anm. 12 ), S. 331; s.a. Sollbach<br />
(wie Anm. 26), S. 25. Ebenso in Wolfgang Marquardt,<br />
Geschichte <strong>und</strong> Strukturanalyse der Industrieschule,<br />
Arbeitserziehung, Industrieunterricht,<br />
Kinderarbeit in niederen Schulen (ca.<br />
1770–1850/70), Diss. phil. der Technischen<br />
Universität Hannover 1975, S. 359 f.<br />
28 Huttel (wie Anm.13 ), S. 260.<br />
29 Zitiert ebd.; Ursula Wölfel hat die Situation der<br />
in einer Fabrik arbeitenden Kinder in ihrem lesenswerten<br />
Buch wiedergegeben: Jakob unterwegs<br />
oder Das Kartoffelbergwerk, München<br />
2002; s.a. Quandt (wie Anm. 24), S. 22–34; s.a.<br />
Birgit Luxem, Die Kinder- <strong>und</strong> Jugendarbeit im<br />
19. Jahrh<strong>und</strong>ert im Regierungsbezirk Düsseldorf,<br />
Diss. phil. der Universität Düsseldorf<br />
1983, S. 16–52.<br />
30 Wittmütz, (wie Anm. 17), S. 43 ff.<br />
31 Bericht des Lehrers Herlitschka (wie Anm. 17).<br />
32 Zit. in Ünlüdag (wie Anm. 12), S. 334.<br />
Im Jahr 1827 räumte ein Regierungsreskript ein,<br />
„daß in Fabrikgegenden eine billige Rücksicht<br />
auf die lokalen Verhältnisse genommen werden<br />
könne“. Zit. in Ünlüdag (wie Anm. 12), S. 337.<br />
33 Zit. in Ünlüdag (wie Anm. 12), S. 334.<br />
34 Bericht des Lehrers Herlitschka (wie Anm. 17).<br />
35 S. a. Altgelt (wie Anm.9), S. XXIII.<br />
36 1835 besuchten von 4496 unterrichtspflichtigen<br />
Kindern in Elberfeld nur 2762 die Elementarschulen;<br />
eine kleine Zahl besuchte die höheren<br />
Lehranstalten. Etwa 1000 Kinder wuchsen ohne<br />
Schulunterricht auf. 1838 stellte sich die Situation<br />
wie folgt dar: Elberfeld hatte 35400 Einwohner<br />
<strong>und</strong> 4609 schulpflichtige Kinder. Die 33<br />
Klassen der 15 Elementarschulen besuchten<br />
aber nur 3354 Kinder. Huttel (wie Anm. 13), Bd.<br />
2 , S. 684.<br />
37 Bericht an die Königliche Regierung (in Düsseldorf)<br />
„bei Gelegenheit der Inspektion der (Fabrik-)<br />
Schule zu Sonnborn“ am 23. Dez. 1839<br />
(hs.), in: Schulakten, Akte Nr. 12: Sonnborn<br />
(vgl. Anm. 10).<br />
Die Fabrikschulen wurden zum Elementarschulwesen<br />
gezählt. Deshalb unterstand die Fabrikschule<br />
in Sonnborn ebenso wie die Pfarrschule<br />
der Aufsicht des von der Synode Elberfeld<br />
bestimmten Schulpflegers, dem evangelischen<br />
Pfarrer August Wilhelm Hülsmann (1794-<br />
1857). Er war von 1830 bis 1846 Schulpfleger<br />
<strong>und</strong> außer für die Schulen in Sonnborn zuständig<br />
für die Schulen in Schöller, Gruiten, Cronenberg,<br />
Dohr, Sudberg, Kohlfurt <strong>und</strong> Kuchhausen.<br />
Altgeld (wie Anm. 9), S. 280. Hülsmann<br />
war von 1822 bis 1846 Pfarrer in Elberfeld <strong>und</strong><br />
in den Jahren 1829 bis1831 sowie von 1840 bis<br />
1846 Superintendent. Danach ging er als Konsistorial-<br />
<strong>und</strong> Schulrat nach Düsseldorf. Dort<br />
starb er 1857. Rosenkranz (wie Anm. 3), Bd. 2:<br />
Die Pfarrer, S. 230.<br />
38 Das Regulativ von 1839 bestimmte, dass Kinder<br />
erst in Fabriken beschäftigt werden durften, die<br />
mindestens 10 Jahre alt waren, bereits drei Jahre<br />
die Schule besucht hatten <strong>und</strong> lesen <strong>und</strong> schreiben<br />
konnten. Auch das hat sich nie durchsetzen<br />
lassen. Ende Februar 1855 besuchte der Direktor<br />
Wilhelm August Bühring vom Lehrerseminar<br />
in Neuwied im Rahmen einer Visitationsreise<br />
Elementarschulen im damaligen Kreis Elberfeld.<br />
Dazu gehörte auch die Jungsche Fabrikschule.<br />
Als er den ihn begleitenden Direktor<br />
Stein darauf ansprach, dass einige Kinder, „namentlich<br />
Mädchen sehr schwach <strong>und</strong> stümperhaft“<br />
lasen, erklärte ihm dieser, „daß, wenn sie<br />
die Kinder, deren sie genug ältere haben könnten,<br />
entließen, so wäre das Geschick der armen<br />
Kinder, daß sie auf den Bettel geschickt würden<br />
<strong>und</strong> in gar keine Schule kämen“. Goebel (wie<br />
Anm. 20), S. 77; Zum Problem der Bettelkinder<br />
s. Jürgen Kuczynski, Die Geschichte der Lage<br />
der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 19:<br />
Studien zur Geschichte der Lage des arbeitenden<br />
Kindes in Deutschland von 1700 bis zur Gegenwart,<br />
Berlin 1968, S. 4–8.<br />
In der Sek<strong>und</strong>ärliteratur wird das Mindestalter<br />
häufig fälschlicherweise mit 9 Jahren angegeben.<br />
Es heißt jedoch im Gesetzestext: „Vor<br />
zurückgelegtem neunten Lebensjahre darf niemand<br />
in einer Fabrik (…) zu einer regelmäßigen<br />
27
Beschäftigung angenommen werden“. Altgelt<br />
(wie Anm.9), S. 239 f.<br />
39 Ebd.<br />
40 „Zwischen den (…) Arbeitsst<strong>und</strong>en ist (…) Vor<strong>und</strong><br />
Nachmittags eine Muße von einer Viertelst<strong>und</strong>e,<br />
<strong>und</strong> Mittags eine ganze Freist<strong>und</strong>e, <strong>und</strong><br />
zwar jedesmal auch Bewegung in freier Luft, zu<br />
gewähren.“ Ebd.<br />
41 Johann Heinrich Adolf Herminghaus (um<br />
1783–1865), in Sonnborn Pfarrer von<br />
1833–1863.<br />
42 Pfarrer Hülsmann verweist auf diese Verfügung<br />
am Anfang seines Berichtes. Schulakten, Akte<br />
Nr. 12: Sonnborn (vgl Anm. 10); s.a. Marquardt<br />
(wie Anm. 27), S. 361.<br />
43 Die Maße sind in Fuß angegeben: 30’ lang, 25’<br />
breit <strong>und</strong> 11’ hoch. Ich habe die Maße in Meter<br />
umgerechnet.<br />
44 Schulakten, Akte Nr. 12: Sonnborn (vgl. Anm.<br />
10).<br />
45 1839 zum Zeitpunkt des Berichtes von Schulpfleger<br />
Hülsmann wurden in der Fabrikschule<br />
85 Kinder unterrichtet. Aus den vorliegenden<br />
Berichten des Lehrers Hummeltenberg <strong>und</strong> des<br />
Pfarrers Herminghaus über die beiden Sonnborner<br />
Schulen, die „Pfarr-Schule“ <strong>und</strong> die Fabrikschule<br />
der folgenden Jahre geht jeweils hervor,<br />
wie viele Kinder aus ihrem Schulbezirk in der<br />
Fabrikschule unterrichtet wurden. 1840 waren<br />
es von 332 schulpflichtigen Kindern 70. Hinzu<br />
kamen 15 Kinder aus anderen Bezirken. Für die<br />
folgenden Jahre liegen nur die Zahlen für den<br />
Schulbezirk Sonnborn selber vor: 1841 sind es<br />
von 342 Kindern im November 71, im Dezember<br />
70 Kinder, die in der Fabrik arbeiten <strong>und</strong><br />
dort unterrichtet werden. 1842 sind es von 366<br />
schulpflichtigen Kindern 68. Für das Jahr 1843<br />
liegen monatliche Zahlen vor: Bei 366 schulpflichtigen<br />
Kindern schwankt die Zahl derer, die<br />
in die Fabrikschule gehen, zwischen 63 <strong>und</strong> 73.<br />
Im Jahr 1848 <strong>und</strong> 1849 sind die vorliegenden<br />
Zahlen gleich: Von 386 Kindern gehen 75 in die<br />
Fabrikschule. 1850 sind es von 378 Kindern 76.<br />
1851 von 382 Kinder 73 <strong>und</strong> 1852 von 386 wieder<br />
mehr, nämlich 77 Kinder. Schulakten, Akte<br />
Nr. 12: Sonnborn (vgl. Anm. 10). Aus diesen<br />
vorliegenden Zahlen kann man schließen, dass<br />
die vorgesehene Zahl von 120 Kindern für die<br />
Fabrikschule wahrscheinlich nie erreicht wurde.<br />
Vergl. dazu auch Anm. 78.<br />
46 Schulakten, Akte Nr. 12: Sonnborn (vgl. Anm.<br />
10); s.a. Rudolf Schmidt, Volksschule <strong>und</strong><br />
Volksschulbau. Von den Anfängen des niederen<br />
28<br />
Schulwesens bis in die Gegenwart. Diss. phil.<br />
der Univ. Mainz 1961, S.136.<br />
47 Wittmütz (wie Anm. 17), S. 46. f.; s.a. Ünlüdag<br />
(wie Anm. 12), S. 325; s.a. Sollbach (wie Anm.<br />
26), S. 24. Auf Seite 37 ist die Zeichnung eines<br />
Schulhauses im ostelbischen Gebiet von 1893<br />
wiedergegeben. Schulhäuser im Wuppertal kann<br />
man sich mindestens zu Beginn des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
ähnlich vorstellen; zum Vergleich s.<br />
auch die Maße der Schulräume der Sonnborner<br />
Elementarschule vor dem Neubau, Anm. 8.<br />
48 Altgelt (wie Anm. 9), S. 193.<br />
49 Der Oberpräsident Kleist-Retzow schickte den<br />
Bericht Bührings an die zuständige Regierung<br />
in Düsseldorf. In seinem Begleitschreiben weist<br />
auch er darauf hin, dass von allen Missständen<br />
das Hauptübel die Überfüllung der Klassen sei,<br />
„während doch das im Vorjahr ergangene Regulativ<br />
für die einklassige Elementarschule in der<br />
Regel nicht mehr als 80 Kinder vorsehe“. S.<br />
Anm. 38. Goebel (wie Anm. 20), S. 88; vergl. a.<br />
Anm. 11.<br />
50 Zit. in Goebel (wie Anm. 20), S. 85 f.<br />
Den Lehrern war zwar die Möglichkeit eingeräumt,<br />
die Kinder gruppenweise zu unterrichten.<br />
„Wenn die Schulzimmer nicht groß genug<br />
sind, alle schulpflichtigen Kinder auf einmal<br />
aufzunehmen, so können die Kinder nach Alter<br />
<strong>und</strong> Fähigkeit oder nach dem Geschlecht getrennt<br />
<strong>und</strong> in verschiedenen Abteilungen unterrichtet<br />
werden“. Altgelt (wie Anm. 9), S. 186.<br />
Der Lehrer Hubert Ulrich von der katholischen<br />
Schule in Elberfeld kann seine Kinder nicht alle<br />
gleichzeitig unterrichten, weil ihm genügend<br />
Bänke fehlen. In seinem Antrag für diese Bänke<br />
erfährt man etwas über die zusätzlichen Schwierigkeiten,<br />
mit denen ein Lehrer konfrontiert ist,<br />
der nur einen Teil der Kinder in der Klasse unterrichten<br />
<strong>und</strong> nicht alle Kinder, die draußen<br />
sind, sehen <strong>und</strong> beaufsichtigen kann: „welches<br />
doch hie um so nothwendiger ist; weil die hiesige<br />
Jugend (…) sehr ausgelassen <strong>und</strong> ungesittet<br />
ist, <strong>und</strong> an gar keine Ordnung gewohnt war, die<br />
ich auch nicht einführen (…) kann (…)“ . Zit. in<br />
Ünlüdag, (wie Anm. 12), S. 325.<br />
51 In einem Schreiben der Königlichen Regierung,<br />
Abtheilung des Innern, gez. von Massenbach,<br />
vom 17. Juli 1838 an „ sämmtliche Herren<br />
Schullehrer“ heißt es, dass „kein Schüler entlassen<br />
werden darf, der nicht die Namen <strong>und</strong><br />
Hauptmomente aus dem Leben <strong>und</strong> Wirken der<br />
glorreichen Regenten unseres erhabenen Herrscherhauses<br />
von dem großen Churfürsten bis
auf die gegenwärtige Zeit <strong>und</strong> die Nachkommen,<br />
so wie die Namen der Geschwister <strong>und</strong><br />
nächsten Anverwandten Sn Majestät des Königs<br />
kennen sollte. (…) Zur Belehrung der Schüler<br />
über die Genealogie des Königlichen Hauses ist<br />
ein Stammbaum vom Jahre 1640 an in der Schule<br />
auszuhangen.“ Schulakten, Akte Nr. 3: Allgemeine<br />
Verordnungen (wie Anm. 10). Vgl. Anm.<br />
77.<br />
52 Jorde berichtet, dass es Schulbücher für Kinder<br />
im heutigen Sinne in der „alten Zeit“ nicht gab.<br />
Die wenigen, die es überhaupt gab, waren bestimmt<br />
für die Hand des Lehrers. Daniel Schürmann,<br />
bekannt als Schulmeister von Remscheid,<br />
initiierte den Zusammenschluss von Lehrern zu<br />
drei großen Schullehrer-Lesegesellschaften.<br />
Bücher, die für den Einzelnen zu teuer waren,<br />
wurden gemeinsam gelesen oder untereinander<br />
weitergereicht. Schulbücher wurden so allgemeiner<br />
bekannt <strong>und</strong> auch der Gedanke, Schulbücher<br />
für Kinder anzuschaffen, propagiert. Jorde<br />
(wie Anm. 1), S. 418.<br />
53 In den von der Regierung in Düsseldorf geforderten<br />
Berichten über die Elementarschulen<br />
sollte die Anzahl der vorhandenen Lese- <strong>und</strong><br />
Rechenbücher mit Titel bzw. Herausgeber genau<br />
aufgelistet werden. Der Lehrer Johann Abraham<br />
Hummeltenberg von der Elementarschule in<br />
Sonnborn unterrichtete auch die Kinder in der<br />
Fabrikschule. Es kann deshalb davon ausgegangen<br />
werden, dass für beide Schulen die gleichen<br />
Bücher angeschafft <strong>und</strong> benutzt wurden. In dem<br />
Bericht des Pfarrers Herminghaus über die Elementarschule<br />
in Sonnborn an den Superintendenten<br />
Hülsmann findet sich folgende Auflistung:<br />
„Die Schulbücher sind folgende: Die<br />
Heilige Schrift alten <strong>und</strong> neuen Testamentes.<br />
Die biblische Geschichte von Zahn. Schley<br />
Denkfre<strong>und</strong>. Willberg Lesebuch 1 u(nd) 2 ter<br />
Theil. Lieths 1 u(nd) 2 tes Elementarbüchlein.<br />
Diesterwegs Rechenbuch.“ Schulakten, Akte<br />
Nr. 12: Sonnborn (vgl. Anm. 10).<br />
54 Schon 1806 unter Joachim Murat hatten die<br />
Lehrer einen umfangreichen Fragebogen auszufüllen,<br />
in dem auch nach Handbüchern für den<br />
Unterricht gefragt wurde. Die meisten Lehrer<br />
besaßen keins. Jorde (wie Anm. 1), S. 421.<br />
55 S. a. Marquardt (wie Anm. 27), S. 36.<br />
56 Friedrich Eberhard von Rochow (1734–1805)<br />
richtete in seinen Dörfern Schulen ein, die die<br />
Kinder kostenlos besuchen konnten, stellte Lehrer<br />
ein, die im Vergleich zum Durchschnitt der<br />
Lehrer der damaligen Zeit besonders gebildet<br />
waren, <strong>und</strong> schuf selbst die fehlenden, nötigen<br />
Schulbücher. Sein Lesebuch „Der Kinderfre<strong>und</strong>“<br />
von 1776 ist das erste Lesebuch, das<br />
statt der bisher fast ausschließlich religiösen<br />
Unterweisung den Kindern in den Landschulen<br />
ein beträchtliches Sachwissen vermittelte. Er<br />
hatte bereits 1772 ein Lesebuch herausgegeben,<br />
das noch, wie damals üblich, nur für die Hand<br />
des Lehrers bestimmt war, das „Berliner Lesebuch“.<br />
Robert Alt, Bildatlas zur Schul- <strong>und</strong> Erziehungsgeschichte,<br />
Bd. 2: Von der Französischen<br />
Revolution bis zum Beginn der großen<br />
Sozialistischen Oktoberrevolution, Berlin 1965,<br />
S. 117. Jorde berichtet, dass dieses Buch aus der<br />
„Musterschule“ in Reckahn nach Elberfeld kam.<br />
Auch das Lesebuch Rochows „Der Kinderfre<strong>und</strong>“<br />
war im Bergischen verbreitet. Ihm folgte<br />
ein Lesebuch von Tops <strong>und</strong> Berger in Mühlheim<br />
am Rhein, das „Mühlheimer Lesebuch“.<br />
Auch Wilberg gab ein zweibändiges Lesebuch<br />
heraus, das in den Schulen im Wuppertal <strong>und</strong> in<br />
der Umgebung benutzt wurde, wie aus den jährlichen<br />
Schulberichten hervorgeht.<br />
Aus den Schulakten der Schulen in Sonnborn,<br />
Schöller, Kronenberg <strong>und</strong> Gruiten ergibt sich,<br />
dass diese Schulbücher teilweise parallel benutzt<br />
wurden. Dies steht im Gegensatz zur Meinung<br />
Jordes, sie hätten einander abgelöst. Ebenso<br />
ergibt sich aus den Listen der benutzten<br />
Bücher in den Schulakten, dass fast in allen<br />
Schulen viele Exemplare der „Biblischen Geschichten“<br />
von Franz Ludwig Zahn (1798–<br />
1890) vorhanden waren. Schulakten, Akte Nr.<br />
12: Sonnborn, Akte Nr. 13: Schöller, Akte Nr. 5:<br />
Schulpflege Kronenberg, Allgemeine Verhandlungen,<br />
Akte Nr. 14: Gruiten (vgl. Anm.10).<br />
Das älteste Rechenbuch im Bergischen Land<br />
war von Mauritius Zons. Es wurde schon 130<br />
Jahre benutzt, bevor Servatius Schlyper, genannt<br />
„der Rechenmeister von Elberfeld“, 1734<br />
ein Buch herausgab mit dem Titel: Die wohlgezierte<br />
Rechenstube. Es war in Versen gesetzt<br />
<strong>und</strong> gleichzeitig ein Sing-, Schreib- <strong>und</strong> Rechenbuch.<br />
Seine letzte Auflage aus dem Jahr<br />
1803 wurde von dem Rechenbuch Daniel<br />
Schürmanns aus Remscheid verdrängt mit dem<br />
Titel: Praktisches Schulbuch der gemeinen Rechenkunst<br />
<strong>und</strong> Geometrie mit Figuren. Jorde<br />
(wie Anm. 1), S. 420.<br />
57 Schulinteressenten waren solche Hof- <strong>und</strong><br />
Gr<strong>und</strong>besitzer, die unter der Aufsicht der Kirchengemeinde<br />
für die Schule verantwortlich<br />
waren, sowohl für die Ausstattung als auch für<br />
29
die Wahl des Lehrers. Sie setzten das Schulgeld<br />
fest <strong>und</strong> bestimmten oft auch, was gelehrt wurde.<br />
Sie waren nicht mit den Vätern der Schulkinder<br />
identisch. Wittmütz (wie Anm. 17), S.<br />
47.<br />
58 Zit. in Jorde (wie Anm. 1), S. 420 f.<br />
59 Zit. in Ünlüdag (wie Anm. 12), S. 337.<br />
60 Zit. in Jörg van Norden (wie Anm. 10), S. 249.<br />
61 Bei Jorde klingt es leicht mokant, wenn er den<br />
Lehrer Lantermann zitiert, der scheinbar naiv<br />
schreibt: „Ich besitze nur ein einziges pädagogisches<br />
Buch, den Robinson“. Jorde (wie Anm. 1),<br />
S. 421. Vergegenwärtigt man sich jedoch die Intention<br />
dieses Buches, erscheint diese Mitteilung<br />
in einem völlig anderen Licht. Die Erzählung<br />
Daniel Defoes (1660-1730) von Robinson<br />
Crusoe, der auf eine entfernte, einsame Insel<br />
verschlagen wird <strong>und</strong> kraft seines Verstandes<br />
<strong>und</strong> seiner Energie am Leben bleibt, hatte J. H.<br />
Campe zu einem vielgelesenen <strong>und</strong> überall verbreiteten<br />
<strong>und</strong> geliebten Jugendbuch umgearbeitet.<br />
Er war dazu von J. J. Rousseau angeregt worden,<br />
der seinem Emile als einziges Buch den<br />
„Robinson“ als Lektüre gestattete. Campe ließ<br />
als Rahmenhandlung einen Vater seinen Kindern<br />
die Geschichte Robinsons erzählen. Der<br />
Vater unterhält sich im Anschluss an seine Erzählung<br />
mit den Kindern über die Erlebnisse<br />
Robinsons <strong>und</strong> über dessen Verhalten. So hat er<br />
die Möglichkeit, mit den Kindern über naturk<strong>und</strong>liche<br />
Themen aller Art zu sprechen, <strong>und</strong><br />
kann die Gelegenheit „zu sittlichen, dem Verstand<br />
<strong>und</strong> dem Herzen des Kindes angemessenen<br />
Bemerkungen für gottesfürchtige <strong>und</strong> tugendhafte<br />
Empfindungen“ nutzen. Alt (wie<br />
Anm. 56) S. 117.<br />
62 Alt (wie Anm. 56), S. 117; s. a. Marquardt (wie<br />
Anm. 27), S. 36–41.<br />
63 Schulakten, Akte Nr. 3: Schulpflege, Allgemeine<br />
Verordnungen (wie Anm. 10).<br />
64 Ebd. Im Original gesperrt. Unter Punkt 4 heißt<br />
es weiter: „Hierzu würde sehr dienlich seyn,<br />
wenn die Wiederbelebung der Gymnastik schon<br />
so weit gediehen wäre, dass sie sich auf die<br />
Volkserziehung ausdehnen ließe. Da dieses aber<br />
im ganzen Umfange auf der Stelle nicht geschehen<br />
kann, so muss doch wenigstens soviel möglich<br />
dahin gewirkt <strong>und</strong> das, was überall thunlich<br />
<strong>und</strong> nöthig ist, nicht versäumt werden. Dahin<br />
gehören:<br />
a) Reinlichkeit <strong>und</strong> frische Luft in den Schulstuben.<br />
b) Nicht zu viel Schulst<strong>und</strong>en zum Sitzen, be-<br />
30<br />
sonders für die kleinen Kinder.<br />
c) Vor allem ein Spielplatz bey der Schule, auf<br />
welchem sich die Kinder zur Unterbrechung<br />
viertelst<strong>und</strong>enweise, <strong>und</strong> an bestimmten Tagen<br />
länger, herumtummeln.<br />
d) Nicht Beschränkung, sondern möglichste Beförderung<br />
der kindlichen Spiele, die an einem<br />
Orte hergebracht sind, <strong>und</strong> die meistens mit<br />
den Jahreszeiten regelmäßig wechseln. Je<br />
ausgedehnter, allgemeiner, anstrengender,<br />
desto besser.<br />
Wenn dabey hin <strong>und</strong> wieder ein reger, lebensrüstiger<br />
Lehrer auf dem Spielplatze einige einfache<br />
Veranstaltungen zu gymnastischen Übungen<br />
machen will, so muß er dazu auf alle Weise aufgemuntert<br />
werden, <strong>und</strong> der Schul-Pfleger wird<br />
durch seine Theilnahme an der Sache vieles<br />
beytragen können, um die etwaigen Vorurtheile<br />
dagegen zu beseitigen. Dergleichen einzelne<br />
Anfänge können zündende Funken für das<br />
ganze Land werden, <strong>und</strong> sind um so erwünschter,<br />
als solche Dinge Erzeugniß des eigenen lebendigen<br />
Triebes der Nation seyn müssen, <strong>und</strong><br />
sich nicht wohl als Pflicht gebieten lassen.“<br />
Allgemeine Ansichten über die Schulpflege an<br />
die Vorsteher des öffentlichen Unterrichts im<br />
Herzogthum Berg, Düsseldorf, den 15. Juli<br />
1814, Schulakten, Akte Nr. 3: Schulpflege, Allgemeine<br />
Verordnungen (wie Anm. 10).<br />
65 Verordnung vom 22. 6. 1813. Ebd.<br />
66 Brief des Lehrers Vogel an Landrat von Seyssel,<br />
Velbert, den 20. Januar 1822, ebd. In dem Antwortschreiben<br />
des Landrats vom 15. 2. 1822<br />
weist von Seyssel darauf hin, dass es den Schullehrern<br />
<strong>und</strong> Pfarrgeistlichen „anempfohlen“ ist,<br />
Kinder mit ansteckenden Hautausschlägen zum<br />
Arzt zu schicken <strong>und</strong> ihnen erst wieder zu erlauben,<br />
in die Schule zu kommen, wenn sie vom<br />
Arzt eine Bescheinigung vorlegen können, dass<br />
sie geheilt sind. Weiter teilt der Landrat mit,<br />
dass der Physikus Doctor Sonderland in Barmen<br />
„wegen der gegen die Krätze zu gebrauchenden<br />
Heilmittel (...) mit Rath <strong>und</strong> That gerne zur<br />
Hand“ gehen werde <strong>und</strong> „auch wegen von Zeit<br />
zu Zeit zu veranlaßenden Schulbesuche von Seiten<br />
eines Arztes das Nöthige vorkehren wird.“<br />
Ebd.<br />
67 Schulakten, Akte Nr. 12: Sonnborn (vgl. Anm.<br />
10).<br />
68 Bericht des Lehrers Krieger über seine Schule<br />
vom 2. Juni 1840. Schulakten, Akte Nr. 13:<br />
Schöller (vgl. Anm. 10).<br />
69 Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher
Arbeiter in Fabriken vom 9. März 1839. Altgelt<br />
(wie Anm. 9), S. 240.<br />
70 In der Bekanntmachung, die das Königliche<br />
Rheinische Konsistorium in Koblenz am Reformationstag,<br />
dem 31. Oktober 1828, <strong>und</strong> die Königliche<br />
Regierung in Düsseldorf am 11. November<br />
1828 herausgegeben hatte, heißt es: „Da<br />
es sich zuweilen noch ereignet, daß Kinder ohne<br />
allen Schul- <strong>und</strong> Religionsunterricht aufwachsen<br />
<strong>und</strong> dann ohne eingesegnet (…) zu seyn, zu<br />
dem bürgerlichen Leben übergehen (…), wenn<br />
solche Individuen Verbrechen begangen haben<br />
(…); so haben Sr. Majestät der König (...) befohlen<br />
(…), die Ortsgeistlichen zu gehöriger Aufmerksamkeit<br />
auf diesen wichtigen Gegenstand<br />
anzuhalten, damit solche Fälle gänzlicher Vernachlässigung<br />
des Schul- <strong>und</strong> Religions-Unterrichts<br />
nicht wieder vorkommen.“ Es wird der sicheren<br />
Erwartung Ausdruck verliehen, dass die<br />
„Herren Ortsgeistlichen (…) das Ihrige um so<br />
gewissenhafter beitragen werden, je schwerer<br />
sie es vor Gott <strong>und</strong> der weltlichen Obrigkeit zu<br />
verantworten haben würden, wenn aus Kindern<br />
ihrer Gemeine, ihrer Seelsorge anvertraut, Verbrecher<br />
erwüchsen, (…) indem sie sich um den<br />
Unterricht der armen, von ihren Aeltern <strong>und</strong> Angehörigen<br />
verwahrlosten Kinder nicht bekümmerten.“<br />
Altgelt (wie Anm. 9), S. 199 f. Zur Unterstützung<br />
der Geistlichen darin, den Religionsunterricht<br />
für alle Kinder durchzusetzen<br />
„gleichviel ob er in der Schule oder in dem<br />
Pfarrhause, oder in der Kirche (…) von den<br />
Pfarr-Geistlichen ertheilt wird“ wurde in der<br />
„Circular-Verfügung“ vom 4. März 1834 festgesetzt,<br />
dass der „Religions-Unterricht (…) als Bestandtheil<br />
des Schulunterrichtes betrachtet“<br />
wird <strong>und</strong> „demselben gesetzlichen Zwange unterliegen<br />
soll.“ Altgelt (wie Anm. 9), S. 201.<br />
71 Bericht des Schulpflegers Hülsmann. Schulakten,<br />
Akte Nr. 12: Sonnborn (vgl. Anm. 10).<br />
72 Jörg van Norden (wie Anm. 10), S. 55 <strong>und</strong> S.<br />
119.<br />
73 Es heißt nicht nur allgemein: „Jeder Nichtkonfirmierte<br />
steht unter der geistlichen Aufsicht des<br />
Pfarrers, der Eltern, <strong>und</strong> darf sich dessen Leitung,<br />
Warnung, <strong>und</strong> wo es nötig ist dessen Zucht<br />
nicht entziehen“ (ebd., S. 32), sondern bei seiner<br />
Anstellung als „Gehülfe“ in der Schule in<br />
Sonnborn musste der Seminarist aus Soest neben<br />
seinem Zeugnis über die Seminarausbildung<br />
auch seinen Konfirmationsschein vorlegen.<br />
Schulakten, Akte Nr. 12: Sonnborn (vgl.<br />
Anm. 10). In den Verhandlungen der Elberfelder<br />
Kreissynode von 1844 wird auf den Bericht des<br />
„Garnisonspredigers zu Saarlouis“ hingewiesen,<br />
„(…) der Sohn eines Gärtners aus Barmen,<br />
evang. Confession, (sei) bei seinem Eintritt in<br />
den Militärdienst (…) noch nicht konfirmiert gewesen<br />
(…); er ist zu Saarlouis noch unterrichtet<br />
<strong>und</strong> konfirmiert worden“. Aus diesem Text ergibt<br />
sich, dass auch die Militärbehörde bei ihren<br />
Rekruten wert auf den Konfirmationsschein<br />
legte. Jörg van Norden (wie Anm. 10), S. 308.<br />
74 Ebd., S. 405.<br />
75 Dies ist eine wohlwollende Umschreibung der<br />
Tatsache, dass Hummeltenberg bei einem Lehrer<br />
ausgebildet worden war <strong>und</strong> nicht in einem<br />
Seminar. Wenn letzteres der Fall war, wurde es<br />
jedesmal in einem Zusatz erwähnt. So heißt es<br />
z. B. im Bericht über die Schule im Jahr 1839:<br />
Der Lehrer der zweiten Klasse ist „der Gehülfe<br />
Christian Kirchlinne 25 Jahre alt (…) im Seminar<br />
zu Soest gebildet.“ Schulakten, Akte Nr. 12:<br />
Sonnborn (vgl. Anm. 10). In dem Protokoll der<br />
dritten Elberfelder Kreissynode vom September<br />
1819 wird zu dem Thema vermerkt: „Die Synode<br />
ist der Meinung, daß den in Seminaren gebildeten<br />
Schullehrern kein Vorzug vor den bei<br />
den Schullehrern gebildeten zukomme, weil die<br />
Erfahrung gelehrt hat, daß diese an theoretischen<br />
<strong>und</strong> praktischen Kenntnissen hinter jenen<br />
nicht zurückstehen.“ Zit. in: Jörg van Norden<br />
(wie Anm. 10), S. 49. Diese beiden Ausbildungsmöglichkeiten<br />
für Lehrer bestanden<br />
zunächst nebeneinander, wobei sich die Ausbildung<br />
in einem Seminar jedoch auf die Dauer<br />
durchsetzte.<br />
76 Bericht des Pfarrers Herminghaus über die<br />
Schule in Sonnborn vom 20. Dezember 1841.<br />
Schulakten, Akte Nr. 12: Sonnborn (vgl. Anm.<br />
10).<br />
77 Bericht des Schulpflegers Hülsmann. Ebd.<br />
Hülsmann erwähnt das Fach „Vaterländische<br />
Geschichte <strong>und</strong> Erdbeschreibung“ nicht. Offensichtlich<br />
wird es in der geringen Zeit, die für den<br />
Unterricht in der Fabrikschule zur Verfügung<br />
steht, nicht unterrichtet. Vgl. dazu Anm. 51.<br />
78 Als der Seminardirektor Bühring 1855 die Fabrikschule<br />
in Sonnborn besuchte, unterrichtete<br />
dort seit Februar 1854 Robert Hummeltenberg,<br />
„29 Jahre alt <strong>und</strong> früherer Moerser Seminarzögling“,<br />
der Sohn des 1853 verstorbenen Lehrers<br />
Johann Abraham Hummeltenberg, der auch dessen<br />
Nachfolger an der Pfarrschule in Sonnborn<br />
war. Der Lehrer Robert Hummeltenberg unterrichtete<br />
die Kinder in der Fabrikschule nicht<br />
31
mehr mittags, sondern morgens „also vor der<br />
müde <strong>und</strong> stumpf machenden Fabrikarbeit“ <strong>und</strong><br />
vor seinem Unterricht an der Pfarrschule in<br />
Sonnborn. Allerdings waren von den 99 Fabrikkindern,<br />
die in der Liste standen, an diesem Tag<br />
nur 24 Mädchen <strong>und</strong> 33 Knaben zum Unterricht<br />
gekommen. Goebel (wie Anm. 20), S. 77. Im<br />
Gegensatz dazu bestätigte Pfarrer Hülsmann einen<br />
regelmäßigen Schulbesuch der Fabrikkinder<br />
des mittags. Vergl. dazu auch Anm. 45.<br />
79 Bericht des Schulpflegers Hülsmann Schulakten,<br />
Akte Nr. 12: Sonnborn (vgl. Anm. 10).<br />
80 Bereits in den Amtsblättern vom 13. Dezember<br />
1817 hatte es eine Verfügung über die „fernere<br />
Betreibung (des) Gesangbildungs-Unterrichts<br />
gegeben“. Sie war offenk<strong>und</strong>ig nur wenig beachtet<br />
worden, so dass am 1. Oktober 1822 eine<br />
weitere Initiative des „Königlichen Consistoriums“<br />
zur „Beförderung <strong>und</strong> Wiedereinführung<br />
des Gesanges“ in den Schulen <strong>und</strong> Kirchengemeinden<br />
erfolgte. Schulakten, Akte Nr. 3:<br />
Schulpflege, Allgemeine Verordnungen (wie<br />
Anm. 10).<br />
81 Schulakten, Akte Nr. 3: Schulpflege, Allgemeine<br />
Verordnungen (wie Anm. 10).<br />
82 Ebd. Bereits im Jahr 1818 steht unter § 66 im<br />
Protokoll der zweiten Elberfelder Kreissynode<br />
zu lesen: „In den meisten Kirchspielen bilden<br />
sich, die Reinheit des Kirchengesanges zu befördern,<br />
Singschulen, welche allenthalben befördert<br />
werden sollen“. Jörg van Norden (wie<br />
Anm. 10 ), S. 36. Dies geht auf eine Verfügung<br />
des Jahres 1817 zurück. Dem folgt in der Angelegenheit<br />
der Verbesserung des Kirchengesangs<br />
das oben erwähnte Schreiben von 1822.<br />
Schulakten, Akte Nr. 3: Schulpflege, Allgemeine<br />
Verordnungen (wie Anm. 10).<br />
Im Protokoll der Kreissynode vom Oktober<br />
1831 heißt es unter § 3, Punkt 12: „Unter dem<br />
10. December 1830 eröffnete die Königliche<br />
Regierung zu Düsseldorf, daß zufolge Verfügung<br />
des Ministeriums der Geistlichen ec. ec.<br />
Angelegenheiten vom 10. November, keine Musiklehrer,<br />
Organisten <strong>und</strong> Elementarlehrer von<br />
Königlichen Behörden angestellt werden sollen,<br />
welche nicht bei einem Schullehrer-Seminario<br />
oder einem hierzu beauftragten Sachverständigen<br />
auch in Ansehung ihrer Tüchtigkeit zum<br />
Gesang-Unterricht <strong>und</strong> Orgelspiel geprüft worden<br />
sind <strong>und</strong> darüber ein genügendes Zeugniß<br />
beigebracht haben.“ Jörg van Norden (wie Anm.<br />
10), S.112 f.<br />
Bei den Verhandlungen der Kreissynode vom<br />
32<br />
April 1840 steht unter § 10, 4: „Unterm 10. Dec.<br />
1839 erinnert die Königl. Hochlöbl. Regierung<br />
der Förderung des Kirchengesanges, namentlich<br />
durch Einüben der Melodien in den Schulen stete<br />
Aufmerksamkeit zuzuwenden.“ Ebd. S. 233;<br />
s.a. Friedrich Adolph Wilhelm Diesterweg, Wert<br />
des Gesanges in der häuslichen <strong>und</strong> öffentlichen<br />
Erziehung, in: Sämtliche Werke, 1. Abteilung:<br />
Zeitschriftenbeiträge, Bd. 1: Aus den „Rheinischen<br />
Blättern für Erziehung <strong>und</strong> Unterricht“<br />
von 1827 bis 1829, bearb. von Ruth Hohendorf,<br />
Berlin 1956, S. 346–349.<br />
83 Schulakten, Akte Nr. 12: Sonnborn (vgl. Anm.<br />
10).<br />
84 Ebd.<br />
85 Ebd.; vergl. dazu Anm. 29.<br />
86 S.a. Marquardt (wie Anm. 27), S. 359.<br />
87 Jörg van Norden (wie Anm. 10), S. 140.<br />
88 Volkmar Wittmütz, Die Elberfelder Schulen<br />
1815. Bericht des Schulpflegers Johann Friedrich<br />
Wilberg, in: Geschichte im Wuppertal, Jg. 2<br />
(1993), S. 39.<br />
89 Ebd.<br />
90 Ünlüdag (wie Anm. 12), S. 202.<br />
91 Adolf Georg Heinrich Meyer, Schule <strong>und</strong> Kinderarbeit,<br />
Das Verhältnis von Schul- <strong>und</strong> Sozialpolitik<br />
in der Entwicklung der preußischen<br />
Volksschule zu Beginn des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />
Diss. phil. der Universität Hamburg, 1971,<br />
S.142; s.a. Lotte Adolphs, Industrielle Kinderarbeit<br />
im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert. In: Dies., Kinderarbeit<br />
im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert. Lehrerverhalten im 19.<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert. Schulrevision im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />
Duisburg 1979, S. 19.<br />
92 Quandt (wie Anm. 24), S. 9–11.<br />
93 Zit. in Ünlüdag (wie Anm. 12), S. 202.<br />
94 Kellenbenz (wie Anm. 16), S. 28; s.a. Meyer<br />
(wie Anm. 91), S. 268.<br />
95 Bericht des Schulpflegers Hülsmann, in:<br />
Schulakten, Akte Nr. 12: Sonnborn (vgl. Anm.<br />
10).<br />
96 Notizen in der Handschrift des Schulpflegers<br />
Hülsmann für sein Begleitschreiben zum abschriftlichen<br />
Protokoll, das er am 2. Januar 1840<br />
an den Landrat schickte, zur Weiterleitung an<br />
die Königliche Regierung in Düsseldorf.<br />
Schulakten, Akte Nr. 12: Sonnborn (vgl. Anm.<br />
10).<br />
97 Brief des Landrats an den Schulpfleger Pfarrer<br />
Hülsmann vom 30. Januar 1840, ebd.<br />
98 Georg Weerth (1822–1856) war mit Friedrich<br />
Engels befre<strong>und</strong>et. In Brüssel lernte er Karl<br />
Marx kennen, an dessen „Neuer Rheinischer
Zeitung“ er 1848/49 Feuilletonredakteur war. In<br />
seinen lyrischen <strong>und</strong> erzählerischen Arbeiten<br />
nahm das Elend des Proletariats einen immer<br />
größeren Raum ein. Seine volksliedhaften,<br />
zunächst an der Philosophie Ludwig Feuerbachs<br />
orientierten, später proletarisch klassenbewussten<br />
Gedichte blieben zu seinen Lebzeiten ungedruckt.<br />
Uwe Eckardt<br />
99 Knieriem (wie Anm. 12), S. 1. Im Revolutionsjahr<br />
1848/49 kommt es in der Fabrik Hammerstein<br />
nicht zu Ausschreitungen durch die Arbeiterschaft,<br />
eine Folge der fortschrittlichen Sozialeinrichtungen.<br />
„Die Arbeiter verhalten sich<br />
loyal gegenüber Unternehmer <strong>und</strong> Staat“. Ebd.,<br />
S. 2.<br />
Die Fabrikschulklassen wurden 1874 aufgelöst.<br />
Elberfeld 1837 – Ein Reisebericht von Wilhelmine Funke aus Flensburg<br />
Im Jahre 1837 unternahm der Flensburger<br />
Kaufmann <strong>und</strong> Reeder Wilhelm Friedrich<br />
Funke (1785–1862) mit seiner Tochter Wilhelmine<br />
eine über zweimonatige Deutschlandreise.<br />
In ihrer Begleitung befanden sich Emilie<br />
Momsen, eine Fre<strong>und</strong>in der Tochter, <strong>und</strong> deren<br />
Vater. Wilhelmine Funke (1810–1871) schrieb<br />
ihre Erlebnisse in sechs schmalen Heftchen<br />
nieder, die sie, da Flensburg damals noch zu<br />
Dänemark gehörte, „Tagebuch während der<br />
Reise nach Deutschland“ betitelte. 1<br />
Die Tagebuchschreiberin schildert sehr detailliert,<br />
was sie zwischen der Abreise am 24.<br />
Juni <strong>und</strong> der Rückkunft am 2. September 1837<br />
erlebt. Die Reise führte sie von Flensburg über<br />
Hamburg, Braunschweig, Wernigerode, Leipzig,<br />
Dresden, Prag nach Wien <strong>und</strong> zurück über<br />
Passau, Nürnberg, Würzburg, Frankfurt, Köln,<br />
Soest <strong>und</strong> Hannover wieder nach Flensburg.<br />
Für die 26jährige Wilhelmine Funke <strong>und</strong> ihre<br />
Fre<strong>und</strong>in war dies eine Vergnügungs- <strong>und</strong> Bildungsreise<br />
mit allem Komfort. Außer den touristischen<br />
Sehenswürdigkeiten besuchten sie<br />
Theateraufführungen <strong>und</strong> Konzerte <strong>und</strong> machten<br />
immer wieder Einkäufe. Der Kaufmann<br />
Wilhelm Funke nutzte die Aufenthalte gelegentlich<br />
zur Vertiefung von Geschäftsbezie-<br />
hungen. Den größten Teil der Strecke legten<br />
die Reisenden mit der Kutsche zurück, gelegentlich<br />
unternahmen sie Ausflüge mit dem<br />
Schiff. Das ganze Unternehmen war offenbar<br />
hervorragend vorbereitet, in den großen Städten<br />
organisierten Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Geschäftpartner<br />
umfassende Besichtigungsprogramme.<br />
Von Köln fährt die Reisegruppe am 16. August<br />
1837 nach Solingen <strong>und</strong> von dort am<br />
nächsten Tage nach Elberfeld. Über diese beiden<br />
Stationen finden sich in den Tagebuchheften<br />
folgende Eintragungen: 2<br />
„Gleich nach Tisch setzten wir unsere Reise<br />
fort bis Langenfeld, 3 Meilen, dann Solingen,<br />
1 1 /2 M[eilen], welches wir gegen 7.00 Uhr erreichten,<br />
der Weg dahin ist äußerst intressant,<br />
u. zwar etwas bergig mit lieblichsten Thälern<br />
abwechselnd, die Gegend ist sehr bebaut u. hat<br />
etwas sehr ansprechendes, überall erkennt man<br />
den Fleiß u. die Betriebsamkeit, u. manches<br />
Häuschen, im Versteck gelegen, schaute recht<br />
romantisch hervor, u. gerne wären wir noch etwas<br />
herumgestreift. Solingen ist wegen seiner<br />
vorzüglichen Klingen berühmt, überhaupt bedeutender<br />
Fabrickort vieler Eisenwaaren. Wir<br />
logierten im deutschen Hause 3 , wo uns ein sehr<br />
aufmerksamer Wirth den Aufenthalt so ange-<br />
33
nehm wie möglich machte, eine erquickende<br />
Tasse Thee ließen Emilie u. ich uns vortrefflich<br />
schmecken. Vater ging zu einem Handlungsfre<strong>und</strong><br />
H[er]r Gratre (?) 4 , welchen er aber<br />
nicht zu Hause traf, doch / bald erschien er bei<br />
uns u. bat uns recht sehr, den Abend bei ihm zu<br />
zubringen, welches wir aber ablehnten, wie<br />
auch die Einladung für den folgenden Tag. Aus<br />
den Fenstern unsers Schlafzimmers hatten wir<br />
einen Ueberblick der fre<strong>und</strong>lichen Gegend,<br />
später am Abend kühlte ein leichtes Gewitter<br />
die Luft sehr angenehm.<br />
Den 17. August Morgens in aller Frühe bei<br />
heller fre<strong>und</strong>licher Luft führte unser Weg wieder<br />
durch die reizensten Gegenden, namentlich<br />
das höchst romantische Wupperthal, eine lange<br />
Strecke fährt man längs dem fre<strong>und</strong>lichen<br />
Flüßchen, an dessen Ufer die üppigsten grünen<br />
Wiesen sich erstrecken, dabei die Berge mit<br />
Bäumen, welche bald in Gruppen, bald Waldungen<br />
bilden, die Höhe begränzen, dabei ist<br />
die ganze Gegend mit Wohnungen stark versehen,<br />
u. überall sah man thätige Menschen.<br />
Bald schimmerten uns die Häuser von Elberfeld<br />
entgegen, nahe an der Stadt ist ein öffentlicher<br />
Garten, die Brille 5 genannt, sehr malerisch<br />
gelegen. Von Solingen bis Elberfeld<br />
2 M[eilen], wir logierten im Churfeldschen<br />
Hause 6 , wo wir unsere Zimmer aufs geschmackvollste/<br />
meublirt fanden, u. auch die<br />
Speisen waren vorzüglich gut zubereitet, namentlich<br />
schmeckte uns das Frühstück. Ehe wir<br />
in unsern Gasthof gelangten, durch fuhren wir<br />
einen großen Theil der Stadt, welche sehr bedeutend<br />
ist u. fortwährend durch neue große<br />
Häuser verschönert wird. Nachdem wir etwas<br />
Toilette gemacht hatten, fuhren wir nach Barmen,<br />
welches aber gewissermaßen mit Elberfeld<br />
vereinigt ist, man bemerkt keine Grenze<br />
zwischen beiden Städten, wir dachten es uns<br />
weiter entfernt, sonst hätten wir die Tour zu<br />
Fuß gemacht, da besonders H[er]r Schmidt 7 ,<br />
dem wir unseren Besuch abstatteten, eins der<br />
nächstgelegenen Häuser bewohnt. Wir wurden<br />
besonders von Mad[ame] Schmidt äußerst zuvorkommend<br />
empfangen u. durch ihr fre<strong>und</strong>lich<br />
Wesen ganz für sie eingenommen, so daß<br />
wir gerne ihre Einladung zum Thee annahmen.<br />
Auf dem Rückwege von Barmen fuhren wir der<br />
34<br />
neuen Kirche 8 u. dem Missionshaus 9 vorüber,<br />
auch zeigte man uns ein großes, schönes Armenhaus<br />
10 . Nahe an Elberfeld liegt die Hardt,<br />
ein Gebirge mit hübschen Anlagen, wir schickten<br />
den Wagen fort u. machten die Tour zu Fuß.<br />
Diese Anlage verdanken die Elberfelder / einem<br />
Doctor Diemel, 11 welchem auf der Höhe<br />
ein Denkmal errichtet ist, ein zweites Denkmal<br />
ist dem ersten evangelischen Prediger Swibertus<br />
12 geweiht. Leider schienen die schönen Anlagen<br />
etwas vernachläßigt, auf deren Höhe<br />
eine belohnende Aussicht über Elberfeld u. der<br />
herrlichen Umgebung uns sehr ansprach, noch<br />
weit umfassender fanden wir sie von der<br />
Mühle 13 aus, von wo aus man auch die Uebersicht<br />
von Barmen zugleich hat. Als wir in unsern<br />
Gasthof anlangten, läutete schon die Mittagsglocke,<br />
u. so verfügten wir uns in den<br />
Speisesaal, wo die Gesellschaft nicht sehr zahlreich<br />
war.<br />
Nachmittags stellte H[er]r Schmidt sich<br />
ein, um uns etwas herum zu führen, bekanntlich<br />
hat Elberfeld bedeutende Färbereien u. Webstühle,<br />
doch, daß wir nichts von den Sachen<br />
dort besahen, davon weiß ich den Gr<strong>und</strong> eigentlich<br />
nicht. H[er]r Schmidt führte uns zuerst<br />
ins Cassino 14 , ein großes Gebäude mit<br />
schönem Aeußeren, doch innen uns durchaus<br />
nicht zu sagend, freilich war man theilweise<br />
damit beschäftigt, es etwas in Ordnung zu bringen.<br />
Dann besahen wir die neue katholische<br />
Kirche 15 , von der sich aber nichts besonderes<br />
bemerken läßt, noch auch nicht vollendet. /<br />
Auch das neue Rathhaus 16 macht sich ausgezeichnet,<br />
doch begnügten wir uns mit dem<br />
äußern Anblick, welcher imponirend ist, vier<br />
Löwen machen sich majestätisch, oben führt<br />
eine Galerie herum. Durch mehrere neue<br />
Straßen spazierten wir später nach der Brille,<br />
einem öffentlichen Garten, dessen ich schon<br />
bei der Einfahrt in Elberfeld erwähnte, wo wir<br />
Caffe tranken, dann nach dem Garten von de<br />
Wörth 17 , wo aber außer einigen Punkten, von<br />
wo aus die Aussicht in die Gegend sehr ansprechend<br />
war, nichts weiter Erwähnung verdient.<br />
An einem Punkte hatte man die Landstraße 18<br />
vor sich, deren lebhafter Verkehr wirklich erstaunlich<br />
ist, wenn ich nicht irre, wurde uns erzählt,<br />
wie jede St<strong>und</strong>e Wagen, d. h. Diligen-
ces 19 , nach den nahgelegenen Oertern abgehen.<br />
Statt uns nun aber H[er]r Schmidt nach<br />
seiner Frau führen sollte, ging er mit uns nach<br />
unserm Logis, u. über dies Benehmen nichts<br />
weniger als zufrieden, ließen wir gerne ihn bei<br />
den Vätern u. gingen auf unser Zimmer, wie<br />
ganz anders angenehm hätten wir mit einer<br />
Spatziertour in die reizende Gegend uns die<br />
Zeit verkürzt“.<br />
Anmerkungen:<br />
1 Ich danke Herrn Hans-Joachim Camphausen<br />
(Wuppertal), der mich auf dieses Reisetagebuch<br />
aufmerksam gemacht <strong>und</strong> mir Kopien des Originals<br />
zur Verfügung gestellt hat. Das Original<br />
befindet sich in der Handschriftenabteilung des<br />
Stadtarchivs Flensburg: HS 2850 – Nachlaß<br />
Friedrichsen. – Archivamtfrau Susanne Fiedler<br />
hat dankenswerterweise umfangreiches Material<br />
für viele der Anmerkungen zusammengestellt.<br />
2 Die Transkription der Tagebuchaufzeichnungen<br />
erfolgt buchstabengetreu. Dies gilt auch für die<br />
Eigennamen, die Wilhelmine Funke offenbar<br />
zumeist nach dem Gehör aufgeschrieben hat.<br />
Zum besseren Verständnis sind allerdings vereinzelt<br />
Satzzeichen eingefügt worden. Eindeutige<br />
Abkürzungen habe ich in eckigen Klammern<br />
aufgelöst.<br />
3 Das „Deutsche Haus“ in Solingen (Ecke Kölner<br />
<strong>und</strong> Weyersberger Staße) stammt vermutlich aus<br />
dem Jahre 1592; vgl. Paul Clemen: Die Kunstdenkmäler<br />
der Städte Barmen, Elberfeld, Remscheid<br />
<strong>und</strong> der Kreise Lennep, Mettmann, Solingen,<br />
1894, S. 122. – Das Hotel, das auch „Im<br />
Himmel“ genannt wurde, war bis zu seiner Zerstörung<br />
1943 ein Mittelpunkt des gesellschaftlichen<br />
<strong>und</strong> geselligen Lebens in Solingen; vgl.<br />
Solinger Tageblatt vom 14. 8. 1940.<br />
4 Der Name ist verschrieben <strong>und</strong> nicht eindeutig<br />
zu lesen.; es ist denkbar, daß sich F. W. Funke<br />
mit Abraham Grah, Teilhaber der Stahl- <strong>und</strong> Eisenwarenhandlung<br />
„Peter Hendrichs & Grah“<br />
getroffen hat. – Ich danke meiner Solinger Kollegin<br />
Dr. Aline Poensgen für hilfreiche Auskünfte.<br />
5 Das heutige Briller Viertel ist zu dieser Zeit noch<br />
unbebaut. Die Gastwirtschaft „Brill“ (oder auch<br />
„Schinkenbrill“) ist mit ihrem großen Garten ein<br />
beliebtes Ausflugziel.; vgl. Wilhelm Langewiesche:<br />
Elberfeld <strong>und</strong> Barmen, Barmen, 1863,<br />
S. 61.<br />
6 Die Tagebuchschreiberin meint mit Sicherheit<br />
den „Churpfälzischen Hof“, der in dieser Zeit<br />
neben dem „Zweibrücker Hof“ <strong>und</strong> dem „Weidenhof“<br />
zu den führenden Gasthöfen Elberfelds<br />
zählt. Im „Fremdenblatt“, das der „Tägliche Anzeiger“<br />
am 18. August 1837 veröffentlicht, sind<br />
die Flensburger Besucher wie folgt aufgeführt:<br />
„Funke, Kaiserl. Russ. Consul u. Familie“ sowie<br />
„Momsen, Parti[culier] u. Familie“.<br />
7 Der Gastgeber bzw. Geschäftspartner Schmidt<br />
ist nicht zu identifizieren.<br />
8 Hier ist fraglos die Unterbarmer Hauptkirche<br />
gemeint, die nach vierjähriger Bauzeit 1832 eingeweiht<br />
worden ist. Die 1822 erfolgte Gründung<br />
der Vereinigt-evangelischen Gemeinde Unterbarmen<br />
geht maßgeblich auf die Initiative des<br />
Manufakturbesitzers Johann Caspar Engels<br />
(1753–1821) zurück.<br />
9 Die 1828 gegründete „Rheinische Missionsgesellschaft“<br />
weihte 1832 ihr auf dem von dem<br />
Kaufmann <strong>und</strong> Bankier Johann Keetman zur<br />
Verfügung gestellten Gr<strong>und</strong>stück an der Rudolfstraße<br />
errichtetes „Missionshaus“ ein.<br />
10 Das städtische Armenhaus ist 1827 am Ostersbaum<br />
errichtet worden.<br />
11 Der 1807 begonnene Ausbau der Hardt zu einer<br />
Parkanlage geht auf die Initiative des Arztes Dr.<br />
Johann Stephan Anton Diemel (1763–1821)<br />
zurück; vgl. Gerhart Werner: Johann. Stephan<br />
Anton Diemel, in Wuppertaler Biographien 8,<br />
1969, S. 45–48.<br />
12 Zum Suidbertus-Denkmal (1818) <strong>und</strong> Diemel-<br />
Denkmal (1824) vgl. Ruth Meyer-Kahrweg:<br />
Denkmäler, Brunnen <strong>und</strong> Plastiken in Wuppertal<br />
(= Beiträge zur Denkmal- <strong>und</strong> Stadtbildpflege<br />
des Wuppertals 10), Wuppertal, 1991, S. 23–26.<br />
13 Die Windmühle wurde 1812 auf der Hardt errichtet.<br />
1838 baute sie Engelbert Eller zum Aussichtsturm<br />
mit Sternwarte um. Der Turm wurde<br />
zu Ehren von Elisabeth Ludovika von Bayern,<br />
die 1823 den späteren preußischen König Friedrich<br />
Wilhelm IV. geheiratet hatte, „Elisenturm“<br />
genannt.<br />
14 Das 1820 von der Gesellschaft „Museum“ an<br />
der Königstraße (heute: Friedrich-Ebert-Straße)<br />
errichtete Gebäude ist für viele Jahre Zentrum<br />
des gesellschaftlichen <strong>und</strong> kulturellen Lebens<br />
der Stadt.<br />
15 Die zwischen 1829 <strong>und</strong> 1835 errichtete St. Laurentius-Kirche<br />
zählt zu den Hauptwerken des in<br />
Düsseldorf wirkenden Baumeisters Adolf von<br />
Vagedes (1777–1841). Die achteckigen Helme<br />
sind erst 1835/37 fertiggestellt worden.<br />
35
16 Die Fertigstellung des neuen Rathauses (heute:<br />
Von der Heydt-Museum) zieht sich nach dem<br />
Bezug der ersten Räume 1831 bis 1842 hin. Wilhelmine<br />
Funke spricht hier fälschlicherweise<br />
von vier Löwen. 1833 wurden als Schmuck der<br />
Freitreppe zum Rathaus zwei Löwen, die nach<br />
einem Modell des berühmten Berliner Bildhauers<br />
Daniel Christian Rauch (1777–1857) geschaffen<br />
worden waren, aufgestellt. Zum wechselvollen<br />
Schicksal dieser Skulpturen vgl. Michael<br />
Metschies: Die Löwen waren unerwünscht.<br />
Gußeisernes Original weiter auf dem<br />
Fabrikhof, in: Mitteilungen des Stadtarchivs, des<br />
Historischen Zentrums <strong>und</strong> des Bergischen Ge-<br />
Martin Blindow<br />
Albert Lortzings Jahre in Elberfeld<br />
Als am 17. Mai 1850 das neugebaute,<br />
prunkvolle Friedrich-Wilhelmstädter Theater<br />
in Berlin eröffnet wurde, saßen in der Ehrenloge<br />
die in der preußischen Politik einflußreichen<br />
Herren August von der Heydt <strong>und</strong> Louis<br />
Benjamin Simons 1 , die beide aus Elberfeld kamen.<br />
Ob sie sich beim Anhören der Festouverture<br />
von Albert Lortzing, die der als Kapellmeister<br />
verpflichtete Komponist selbst dirigierte,<br />
daran erinnerten, daß dieser auf den<br />
deutschen Bühnen inzwischen sehr erfolgreiche<br />
Musiker vor einigen Jahrzehnten für kurze<br />
Zeit in ihrer Heimatstadt aufgetreten war? Der<br />
Fabrikant Simons dürfte da nicht nur mit wohlwollenden<br />
Ohren zugehört haben, denn Lortzing<br />
hatte in seiner im Revolutionsjahr 1848<br />
geschriebenen Oper „Regina“, in der zum erstenmal<br />
in der Musikgeschichte ein Arbeiteraufstand<br />
auf die Bühne gebracht wurde, dem Fabrikherrn<br />
den Namen Simon gegeben, sicher<br />
eine Reminiszenz an seine Elberfelder Zeit. 2<br />
Wo Lortzing politisch stand, hatte er im Libretto<br />
unüberhörbar den Streikenden in den M<strong>und</strong><br />
gelegt: „Beschlossen ist’s: zu Ende sei die<br />
Knechtschaft <strong>und</strong> die Tyrannei. Wir werden<br />
Recht uns bald verschaffen! Wenn nicht mit<br />
Worten, dann mit Waffen!“<br />
36<br />
schichtsvereins, Abteilung Wuppertal 15/16,<br />
1990/91, H. 1–3, S. 3–22.<br />
17 Gemeint ist der Deweerthsche Garten, den 1802<br />
der kurkölnische Hofgärtner Peter Joseph Lenné<br />
im Auftrage des Gutsbesitzers Peter de Weerth<br />
(1767–1855) angelegt hat.<br />
18 Die Nevigeser Chaussee ist 1833 bis 1835 auf<br />
Kosten der Städte Elberfeld <strong>und</strong> Neviges zu einer<br />
wichtigen Verkehrsstraße ausgebaut worden.<br />
19 „Diligencen“ sind Postkutschen, die als Eilwagen<br />
zu bestimmten Uhrzeiten in die Nachbarstädte<br />
fahren.<br />
Lortzings Theatererfolge erklären sich mit<br />
seinen ausgezeichneten Kenntnissen der<br />
Schauspielpraxis. Er war im Theater groß geworden<br />
<strong>und</strong> hatte alle Sparten der Bühne kennengelernt.<br />
Zudem kam er aus einem Elternhaus,<br />
das vom <strong>und</strong> für das Theater lebte. Sein<br />
Vater war Mitglied der Theatergesellschaft<br />
Urania in Berlin gewesen, zu der Handwerker,<br />
Ladenbesitzer <strong>und</strong> einige vermögende Kaufleute<br />
gehörten. Für die öffentlichen Aufführungen<br />
verpflichtete man auch professionelle<br />
Schauspieler. Im eigenen Theaterbau wurden<br />
im Jahr ca. 15 Produktionen realisiert, darunter<br />
auch Opern <strong>und</strong> Singspiele unter der Leitung<br />
des damals in Berlin einflußreichen Kapellmeisters<br />
<strong>und</strong> Komponisten Rungenhagen, der<br />
den jungen Albert Lortzing in die Musiktheorie<br />
einführte. 3 Der Knabe, zu dessen Taufpaten<br />
der von Goethe engagierte Schauspieler Johann<br />
Friedrich Lortzing gehörte, 4 trat in diesen<br />
frühen Jahren schon mit Kinderrollen auf. Seine<br />
Eltern gaben 1812 – Albert, einziges Kind<br />
nach dem frühen Tod der älteren Schwester,<br />
war fast 11 Jahre – ihre Lederwarenhandlung<br />
auf, schlossen sich einer Theatergesellschaft an<br />
<strong>und</strong> wechselten häufig die Standorte. Nach<br />
Auftritten in Breslau, wo Bierey 5 als Nachfol-
ger von Carl Maria von Weber die musikalische<br />
Direktion innehatte, wechselte man nach<br />
Coburg <strong>und</strong> dann nach Bamberg. Dieses unstete<br />
Umherziehen erschwerte natürlich eine kontinuierliche<br />
<strong>und</strong> intensive Ausbildung des Jungen,<br />
dessen musikalische Begabung die Eltern<br />
schon früh erkannt hatten. Es ist bis heute nicht<br />
geklärt, wer Albert Lortzing in seiner Jugendzeit<br />
in der Musik entscheidend als Lehrer beeinflußt<br />
hat. In seiner kurzen Autobiographie 6<br />
gibt er für seine Berliner Zeit den schon erwähnten<br />
Rungenhagen 7 an. Aber dieser Unterricht<br />
kann nur für eine erste Einführung in die<br />
Musik gereicht haben, da Lortzing schon mit<br />
fast 11 Jahren Berlin verließ. Klavierspielen<br />
hatte er in Berlin bei Johann Heinrich Griebel<br />
gelernt, einem jungen Mitglied der Hofkapelle<br />
<strong>und</strong> sicher keinem ernst zu nehmenden Pianisten.<br />
8 Am liebsten spielte er jedoch das Cello.<br />
Für seine musikalische Weiterbildung war er in<br />
erster Linie auf eigene Initiativen <strong>und</strong> auf die<br />
Kapellmeister <strong>und</strong> Musiker der Theatergesellschaften<br />
angewiesen, bei denen die Familie<br />
verpflichtet war. In Bamberg leitete das Theater<br />
Karl August Freiherr von Lichtenstein, ehemaliger<br />
Minister, Diplomat <strong>und</strong> Opernkomponist.<br />
Ob er Albert Lortzing musikalisch gefördert<br />
hat, ist bisher unbekannt. 9 Als die Schauspieltruppe<br />
in Juni 1814 nach Straßburg wechselte,<br />
fre<strong>und</strong>ete sich hier der junge Lortzing<br />
mit dem fünf Jahre älteren Carl Gollmick 10 an,<br />
mit dem er noch in späteren Jahren intensiv<br />
über Fragen der Oper korrespondierte. 11<br />
Nach einem kurzen Engagement in Freiburg<br />
<strong>und</strong> Baden verpflichtete sich die Schauspielerfamilie<br />
Lortzing 1816 bei Derossi 12 , der<br />
vor allem unterhaltsame Lustspiele inszenierte<br />
<strong>und</strong> nicht ohne finanziellen Erfolg blieb. Bei<br />
ihm hatte die Familie Lortzing zum erstenmal<br />
in ihrer Theaterkarriere eine einigermaßen<br />
tragbare Berufsbasis gef<strong>und</strong>en. Sie blieb deshalb<br />
auch einige Jahre in dieser Gesellschaft.<br />
Derossi nannte das Ensemble „Düsseldorfer<br />
Schauspielgesellschaft“, später „Aachener <strong>und</strong><br />
Düsseldorfer Opernpersonal“. Man spielte in<br />
Düsseldorf, Köln, Bonn 13 <strong>und</strong> Aachen. 14 In Aachen<br />
trat der 17jährige Albert als „Stußli, der<br />
Flurschütz“ in Schillers „Wilhelm Tell“ auf. 15<br />
Der junge Schauspieler ist also inzwischen von<br />
seinen Kinderrollen zu Nebenrollen gewechselt.<br />
Derossi erhielt im Mai 1821 von der Kölner<br />
Behörde die Kündigung, zog sich auch aus<br />
Aachen zurück <strong>und</strong> konzentrierte sich auf Düsseldorf<br />
<strong>und</strong> Elberfeld.<br />
Als Albert Lortzing in Elberfeld 1821/22<br />
auftrat, hatte er mit seinen zwanzig Jahren<br />
schon einige musikalische Erfahrungen sammeln<br />
können. Da die Eltern keine großen Gagen<br />
erhielten – sie gehörten nie zu den ersten<br />
Kräften der Theatergesellschaften – <strong>und</strong> die<br />
Familie immer in Geldnöten lebte, verdiente<br />
sich Sohn Albert schon vor der Zeit im Rheinland<br />
einige Groschen mit Notenkopieren <strong>und</strong><br />
Aushilfen als Cellist im Orchester. Diese Arbeiten<br />
kamen natürlich seinen musikalischen<br />
Ambitionen sehr zugute. So lernte er die Partituren<br />
der Opernkomponisten seiner Zeit <strong>und</strong><br />
die Orchesterpraxis gründlich <strong>und</strong> früh kennen.<br />
Auch erste Kompositionsversuche hatte er<br />
hinter sich. Kleinere Klavierstücke, eine Vertonung<br />
der „Bürgschaft“ von Schiller <strong>und</strong> eine<br />
Schauspielmusik zu Kotzebus „Der Schutzgeist“<br />
sind verloren. Erhalten haben sich in<br />
einer Abschrift „Thema mit Variationen“ für<br />
Horn <strong>und</strong> Orchester, das den Vermerk trägt:<br />
componirt von Albert Lortzing in Cölln den<br />
9. Oktober 1820, 16 ein Stück mit einer simplen<br />
Harmonik, einem höchst einfachen Orchestersatz<br />
<strong>und</strong> einer floskelhaften Solostimme, die<br />
virtuose Fähigkeiten vom Hornisten erwartet.<br />
Man muß sagen, keine Aufsehen erregende<br />
Komposition, vor allem wenn man bedenkt,<br />
was Mozart, Lortzings großes Vorbild, in diesem<br />
Alter schon produziert hatte. Diese noch<br />
sehr oberflächliche Komposition argumentiert<br />
aber auch, daß Albert Lortzing in erster Linie<br />
als Komponist Autodidakt war <strong>und</strong> sich seine<br />
Kenntnisse der Kompositionstechnik mühsam<br />
erarbeiten mußte, wozu ihm sein alltägliches<br />
Theaterleben natürlich die besten Voraussetzungen<br />
bot. 17<br />
Im Jahr 1822 schrieb Albert Lortzing nachweislich<br />
zwei, wahrscheinlich aber vier Kompositionen,<br />
die für seine künstlerische Entwicklung<br />
sehr wichtig waren. Bedeutendste<br />
Arbeit dieses Jahres ist ohne Zweifel die Hymne<br />
„Dich preist, Allmächtiger“ für Vokalsoli,<br />
Chor <strong>und</strong> Orchester. Autographe Partitur, Or-<br />
37
chester- <strong>und</strong> Chorstimmen liegen in der Landesbibliothek<br />
Detmold. 18 Es überrascht natürlich,<br />
daß der spätere Meister der komischen<br />
Oper nach dem nicht überzeugenden ersten<br />
größeren instrumentalen Konzertstück nun den<br />
Versuch einer geistlichen Kantatenkomposition<br />
startet. Absicht war sicher, ein Werk für die damals<br />
florierenden Musikvereine zu schreiben,<br />
um über die Konzerte der Chöre bekannt zu<br />
werden. Daß auch in Wuppertal die musikliebende<br />
Bürgerschaft sehr aktiv war, läßt sich<br />
leicht einsehen, wenn man anhand der Presseberichte<br />
das Konzertleben im Jahre 1822 untersucht.<br />
19 Aufgeführt wurden u. a. Beethovens<br />
„Christus am Ölberg“, Händels „Messias“<br />
1. Teil <strong>und</strong> „Alexanderfest“, „Die Glocke“ von<br />
Andreas Romberg, Carl Maria von Webers<br />
Tonkunstkantate <strong>und</strong> Teile aus Schneiders<br />
„Weltgericht“. Es waren alle maßgebenden<br />
zeitgenössischen Oratorienkomponisten vertreten,<br />
dazu als einziges historisches Werk<br />
Händels „Messias“ <strong>und</strong> „Alexanderfest“, eine<br />
Programmkonstellation, wie man sie zu dieser<br />
Zeit in allen Städten Deutschlands findet, für<br />
den Anfang des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts aber eine bemerkenswerte<br />
<strong>und</strong> in anderen Städten nicht übliche<br />
Breite <strong>und</strong> Vielfalt. Bei den Instrumentalwerken<br />
werden Mozart, Beethoven, Spohr, Weber<br />
<strong>und</strong> die Konzerte der damals beliebten,<br />
aber heute vergessenen Virtuosen vorgezogen.<br />
Wie üblich hörte man in den Konzertprogrammen<br />
auch Auszüge aus den bekannten Opern.<br />
Organisiert war das Wuppertaler Musikleben<br />
durch den 1815 gegründeten Elberfelder Gesangverein<br />
unter Johannes Schornstein <strong>und</strong><br />
den Barmer Singverein unter Karl Gotthelf<br />
Gläser. 20 Hinzu kamen die Abonnementskonzerte<br />
der Konzertdirektion, die sicher ein höheres<br />
künstlerisches Niveau besaßen. Sie wurden<br />
nicht von den einheimischen Dirigenten<br />
Schornstein <strong>und</strong> Gläser geleitet, sonden vom<br />
Musikdirektor der Theatertruppe Derossi. Die<br />
Aufführung von Beethovens „Christus auf dem<br />
Ölberg“ am 1. Juni im Saal „Auf der Hardt“,<br />
bei dem auch auswärtige Musiker <strong>und</strong> Sänger<br />
mitwirkten, leitete der in der rheinischen Theatergeschichte<br />
nicht unbekannte Eschborn. Die<br />
Literatur macht über ihn sehr verschiedene Angaben.<br />
Da der Vorname einmal mit Karl<br />
38<br />
(Carl) 21 , dann mit Josef 22 angegeben wird,<br />
könnte man vermuten, es handele sich um zwei<br />
Personen. Viele Details stimmen aber überein,<br />
wie Aufenthaltsorte <strong>und</strong> Beruf der Ehefrau, so<br />
daß man eher eine Verwechslung des Vornamens<br />
vermutet. Anhand der Sterbeurk<strong>und</strong>e lassen<br />
sich aber die verwirrenden Angaben der<br />
verschiedenen Lexika klarstellen. 23 Joseph<br />
Eschborn wurde am 04.03.1800 nicht in Amorbach<br />
24 , sondern in Mainz geboren. Er hat also<br />
mit 22 Jahren das Elberfelder Konzert geleitet.<br />
Um 1828 verpflichtete er sich als Erster Violinist<br />
ans Theater Mannheim, heiratete hier die<br />
Sängerin Cizewsky, mit Künstlernamen Frassini.<br />
25 Für kurze Zeit dirigierte er im 1826 neuerbauten<br />
Theater Bonn am Vierecksplatz, <strong>und</strong> in<br />
Düsseldorf wurde seine Kantate „Die Würde<br />
der Frauen“ aufgeführt. 1830 gab er mit seiner<br />
Frau vor seiner Abfahrt zu seinem neuen<br />
Standort Frankfurt in Bonn ein Konzert im<br />
„Englischen Hof“. 26 Dann arbeitete er von<br />
1832–34 als Musikdirektor in Mannheim, verpflichtete<br />
sich anschließend bis 1842 in Köln<br />
<strong>und</strong> trat dann noch in Hamburg, Amsterdam,<br />
Aachen <strong>und</strong> Heidelberg auf. Er starb am 07.11.<br />
1881 in Coburg. 27 Eschborn hatte seine Musikerkarriere<br />
als Violinvirtuose begonnen <strong>und</strong><br />
machte sich dann als Dirigent <strong>und</strong> Komponist<br />
einen Namen. Er schrieb die Oper „Bastards<br />
oder das Stiergefecht“, Chöre <strong>und</strong> Lieder,<br />
Werke, die heute alle vergessen sind. 28 Lortzing<br />
stellte ihm in einem Brief an seinen Sängerkollegen<br />
Ludwig Schäfer ein gutes Zeugnis<br />
aus: Grüße doch die Madame Derossi vielmals<br />
von mir <strong>und</strong> meiner Frau, sowie Eschborns.<br />
Gelt? Eschborn ist ein anderer Kerl wie unser<br />
alter Nußknacker? 29 Der Name des Elberfelder<br />
Chordirigenten Johannes Schornstein ist eng<br />
mit den „Niederrheinischen Musikfesten“ verb<strong>und</strong>en,<br />
ein Festival, das u. a. von Mendelssohn<br />
<strong>und</strong> Robert Schumann geleitet wurde.<br />
Hier trafen sich Chöre <strong>und</strong> Musiker aus den<br />
Städten Aachen, Bonn, Köln, Düsseldorf <strong>und</strong><br />
Elberfeld, studierten die damals beliebten Oratorien<br />
von Händel, Haydn <strong>und</strong> Spohr ein <strong>und</strong><br />
machten das musikbegeisterte Rheinland in<br />
ganz Deutschland <strong>und</strong> den benachbarten Ländern<br />
bekannt. 30 Daß der junge Lortzing zusammen<br />
mit den professionellen Theatergesell-
schaften bei den Konzerten beteiligt war, wäre<br />
denkbar, läßt sich aber nicht nachweisen.<br />
Für seine Hymne wählte Lortzing einen<br />
Text von Friedrich von Matthison (1761–<br />
1831), 31 einem bei seinen Zeitgenossen sehr<br />
geschätzten Lyriker – Schiller lobte den<br />
„Wohllaut <strong>und</strong> die sanfte Schwermut seiner<br />
Verse“ – 32 <strong>und</strong> Theaterintendant des Königs<br />
von Württemberg, der ihm den Adel verlieh.<br />
Beethoven vertonte seine beliebte „Adelaide“,<br />
<strong>und</strong> auch Schubert benutze Texte von ihm. Der<br />
junge Lortzing, der auf der Bühne meist in<br />
Possen <strong>und</strong> flachen Lustspielen mitspielte,<br />
wagt sich hier an einen geistlichen Text der<br />
höheren Qualität, eine dreistrophige Hymne<br />
mit je vier alexandrinischen Langzeilen, 33 eine<br />
etwas sentimentale religiöse Naturlyrik, die<br />
dem hilflosen <strong>und</strong> ohnmächtigen Menschen<br />
Gottes Majestät <strong>und</strong> Gnade gegenüberstellt.<br />
Geistliche Chormusik erwartete <strong>und</strong> verlangte<br />
auch noch in den ersten Jahrzehnten des 19.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts einen Komponisten, der die Kontrapunktformen<br />
sicher beherrschte, der ein Gespür<br />
für den Aufbau der Komposition mit einer<br />
gutdurchdachten Folge von Chören, Arien <strong>und</strong><br />
Orchesterteilen besaß, Qualitäten, die Lortzing<br />
bisher nie gezeigt hatte. Lortzing lernte die<br />
Kontrapunktregeln in Albrechtsbergers theoretischen<br />
Schriften 34 , <strong>und</strong> beim Kopieren der<br />
Partituren <strong>und</strong> Stimmen für seine Theatertruppe<br />
hatte er die Kompositionstechniken seiner<br />
großen Vorbilder kennengelernt, er wurde aber<br />
in seiner entscheidenden Lehrphase kaum intensiv<br />
von einem versierten <strong>und</strong> gebildeten<br />
Komponisten kontrolliert.<br />
Die Partitur der Hymne bewegt sich dann<br />
auch in statischen Akkordfolgen, nicht ohne<br />
melodiöse Reize <strong>und</strong> nur mit angedeuteten,<br />
aber nie konsequent durchgeführten polyphonen<br />
Einwürfen. Immerhin läßt sich ein auffälliger<br />
Fortschritt gegenüber den bisher abgelieferten<br />
Kompositionen konstatieren: eine besser<br />
durchgearbeitete Selbständigkeit der Orchesterstimmen,<br />
ein bewußterer Einsatz der Instrumentalfarben<br />
<strong>und</strong> – das ist für den späteren<br />
Lortzing charakteristisch – ein Wissen um dramatische<br />
Effekte <strong>und</strong> Überraschungen. Auch<br />
die harmonische Struktur ist vielschichtiger<br />
entwickelt. Öfter eingesetzte Modulationen,<br />
ein besserer Plan der Tonartenwahl <strong>und</strong> damit<br />
eine lebendigere Spannung schenken diesem<br />
Jugendwerk eine akzeptable Qualität. Seltenheitswert<br />
hat das Finale: Es wiederholt wörtlich<br />
den Eingangschor, also keine Verdichtung<br />
<strong>und</strong> Steigerung durch eine groß angelegte Fuge,<br />
wie es auch die klassischen Vorbilder kennen.<br />
Traute sich hier der junge Compositeur<br />
nicht? Oder stand er unter Zeitdruck?<br />
Schon der junge Lortzing komponierte<br />
nicht für die Schreibtischschublade. Er hatte<br />
immer Aufführungen seines jeweiligen Opus<br />
vor Augen <strong>und</strong> setzte alles daran, daß seine<br />
Werke auch publik wurden. Für die Hymne<br />
kennen wir einen direkten Anlaß nicht, so daß<br />
viele Biographen eine Uraufführung nicht<br />
nachweisen können 35 oder leugnen. 36 Lortzing<br />
hoffte vielleicht, daß einer der aktiven Musikvereine<br />
in Aachen, Bonn oder Düsseldorf sich<br />
der geistlichen Kantate annehmen würde, zumal<br />
die technischen Schwierigkeiten auch für<br />
Laien gut zu bewältigen waren. Vielleicht hat<br />
er auch an die Wuppertaler Chöre gedacht. In<br />
diesem Raum läßt sich keine Aufführung dokumentieren.<br />
Daß die Hymne aber bekannt<br />
war, zeigt eine spätere Aktennotiz im Münsterschen<br />
Stadtarchiv. 37 Die Stadtverwaltung, die<br />
öffentliche Konzerte genehmigen mußte, hatte<br />
Albert Lortzing die Uraufführung seines<br />
„Himmelfahrtsoratorium“ gestattet <strong>und</strong> wurde<br />
von der preußischen Regierung kritisiert:<br />
Ebensowenig waren Sie befugt, dem Schauspieler<br />
Lortzing ein Conzert zu gestatten, da<br />
derselbe als Musiker gar keinen Ruf <strong>und</strong> Werth<br />
hat. Diesen Vorwurf der bei den katholischen<br />
Münsteranern nicht gerade hochgeliebten protestantischen<br />
Preußen konterte der Bürgermeister<br />
mit der Bemerkung: Lortzing gab auch<br />
als Mitglied der hiesigen Bühne im vorigen<br />
Jahre mit Beyfall concert <strong>und</strong> selbst Componist<br />
einer Hymne <strong>und</strong> einer mit Beyfall aufgeführten<br />
Oper wegen konnte ich kaum abfelliges gegen<br />
seine Persönlichkeit <strong>und</strong> Kunst entgegensetzen.<br />
Man darf also davon ausgehen, daß die<br />
Hymne 1827/28 in Münster zum erstenmal erklang.<br />
Die hier angesprochene Oper „Ali<br />
Pascha von Janina“ feierte ihre Uraufführung<br />
am 1. Februar 1828 im Theater von Münster. 38<br />
Auch dieser erste Opernversuch, der 1823/24<br />
39
wahrscheinlich in Köln niedergeschrieben<br />
wurde, 39 fand zunächst keinen Veranstalter, obwohl<br />
Lortzing das Stück, das den in der zeitgenössischen<br />
Presse vielbeachteten Freiheitskampf<br />
der Griechen verherrlicht, einigen Kollegen<br />
für eigene Benefizaufführungen empfahl.<br />
40<br />
Direkt nach der Hymne brachte Lortzing in<br />
Elberfeld eine Bearbeitung einer Opernarie zu<br />
Papier: die 2. Arie „Es ist ein gar w<strong>und</strong>erlich,<br />
seltsames Ding“ des 2. Aktes aus der Oper<br />
„Carlo Floras“ von Ferdinand Fränzl (Text:<br />
Wilhelm Vogel). 41 Auf dem Autograph vermerkte<br />
er: Elberfeld den 13. Juli 1822, 42 versetzte<br />
die Frauenstimme in den Baß <strong>und</strong> hielt<br />
sich bei der Neuvertonung nur im Duktus an<br />
die Vorlage von Fränzl. Capelle vermutet, daß<br />
deshalb das Lied nicht in der Oper verwandt<br />
wurde, sondern als Hochzeitslied bestimmt<br />
war. 43 Daß Operarien aber für andere Stimmlagen<br />
transponiert wurden <strong>und</strong> auch Rollentausch<br />
eingeplant war, ist nicht unbekannt.<br />
Auch die Instrumentierung (Streicher, Flöte,<br />
Klarinetten, Fagott <strong>und</strong> Hörner) spricht für die<br />
Opernpraxis.<br />
Ins Jahr 1822 datiert man auch ein heute<br />
verlorengegangenes Scherzlied für Baßsolo<br />
<strong>und</strong> Orchester, dessen Dichter unbekannt ist:<br />
Cupido nahm sich einstens für<br />
doch auch einmal zu freyn.<br />
Er sprach zur Mutter: Sage mir<br />
wie schick ich mich darein,<br />
daß ich als ein gescheiter Mann<br />
in dieser Kunst bestehen kann.<br />
Die Partitur dieses Scherzliedes wurde<br />
1902 versteigert, war dem Lortzingforscher<br />
Kruse noch bekannt <strong>und</strong> ist dann verlorengegangen.<br />
44 In dasselbe Jahr verlegt Capelle noch<br />
die Komposition eines Liedes mit Gitarrenbegleitung<br />
„Der Kußhandel“ 45 auf einen Text von<br />
Langbein. 46 Lortzing hatte übrigens während<br />
seines Aufenthaltes in Breslau – er war damals<br />
11 Jahre – Gitarrenspielen bei Karl Töpfer gelernt.<br />
47 Das Autograph dieses Liedes liegt in<br />
der Nationalbibliothek Wien.<br />
Albert Lortzing war während seiner Elberfelder<br />
Zeit stark eingespannt in den Theaterbe-<br />
40<br />
trieb. Das anstrengende ewige Hin- <strong>und</strong> Herreisen<br />
zwischen Aachen, Bonn, Düsseldorf<br />
<strong>und</strong> Elberfeld <strong>und</strong> der zeitraubende Wechsel<br />
zwischen den Wohnquartieren, die bei den geringen<br />
Gagen, die man bekam, natürlich<br />
äußerst preiswert sein mußten, belasteten zusätzlich.<br />
In seinen rheinischen Jahren lernte<br />
der junge Schauspielsänger aber eine Menge<br />
klassischer Rollen. Er gehörte zwar nicht zu<br />
den ersten Kräften der Schauspielgesellschaft<br />
Derossi, aber er löste sich allmählich aus dem<br />
künstlerisch wenig anspruchsvollen Niveau<br />
seiner Eltern. Noch während seines Elberfelder<br />
Aufenthaltes hatte er nicht die Möglichkeit,<br />
die Wahl der Benefizstücke zu bestimmen. Er<br />
trat hier unter „Familie Lortzing“ auf <strong>und</strong> mußte<br />
bei flachen Possen <strong>und</strong> Lustspielen mitwirken.<br />
Schon die Titel in den Zeitungsanzeigen<br />
lassen Schlimmes befürchten: Roderich <strong>und</strong><br />
Cuneg<strong>und</strong>e oder Der Ermit vom Berge Parazzo<br />
oder: Die Windmühle auf der Westseiter oder<br />
Die lang verfolgte <strong>und</strong> zuletzt doch triumphierende<br />
Unschuld. Ein dramatischer Galimathias<br />
als Parodie aller Rettungsstücke. Vorher<br />
zum ersten Male: Die Damenhüte im Berliner<br />
Theater. Lokalposse in 1 Akt von Julius von<br />
Voß. 48 So kündigten die Eltern Lortzing am 16.<br />
Januar 1820 in der „Cölnischen Zeitung“ ihr<br />
Benefiz an, das in der ersten Hälfte des 19.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts zu jedem Bühnenvertrag gehörte<br />
<strong>und</strong> einen nicht unwesentlichen Beitrag zur<br />
Lage der Künstler beisteuerte. In dieser Kölner<br />
Lortzing-Produktion waren gängige Opernmelodien<br />
von Mozart, Cherubini, Weigl <strong>und</strong><br />
anderen beliebten Komponisten eingeflochten.<br />
Auf ähnlicher Qualitätsstufe steht eine Eigenproduktion<br />
der Familie Lortzing, die für das<br />
Jahr 1822 in der Wuppertaler „Allgemeinen<br />
Zeitung“ gedruckt wird.<br />
Theater-Anzeige<br />
Freitag den 26. Juli.<br />
Zum Vortheil des Unterzeichneten.<br />
Zum Erstenmal.<br />
Pumpernickels Hochzeitstag.<br />
Fortsetzung des Rochus Pumpernickels.<br />
Ein musikalisches Quodlibet in drei Akten<br />
von Matheus Stegmeier;<br />
wozu die geehrten hiesigen <strong>und</strong>
enachbarten Theaterfre<strong>und</strong>e<br />
ergebenst einladen.<br />
Die Familie Lortzing<br />
Mitglieder hiesiger Bühne<br />
Da die Lortzings nicht zu den ersten Kräften<br />
der Derossi-Gesellschaft gehörten, konnten<br />
sie für ihre Benefizvorstellung keine Oper anbieten,<br />
wie das den großen Bühnenstars der damaligen<br />
Zeit möglich war. Sie mußten sich mit<br />
leichter Unterhaltungskost zufrieden geben,<br />
mit Stücken, wie sie beim Publikum beliebt<br />
waren <strong>und</strong> in denen man sie als Schauspieler<br />
auf der Bühne immer wieder erlebte. Schon<br />
der Zwang, möglichst viel Geld einzuspielen,<br />
führte zu solchen trivialen Possen wie „Rochus<br />
Pumpernickel“ von Matthäus Stegmayr, einem<br />
Hofschauspieler <strong>und</strong> Dichter in Wien, 49 dessen<br />
Sohn Ferdinand, einen anerkannten Kapellmeister<br />
<strong>und</strong> Komponisten, Lortzing später in<br />
Leipzig traf. 50<br />
Albert Lortzing hat in der Elberfelder Presse<br />
– sehen wir einmal von der erwähnten Benefizveranstaltung<br />
ab – keine Spuren hinterlassen.<br />
Im August erschien in der „Allgemeinen<br />
Zeitung“ ein Bericht über das Theaterleben, in<br />
dem die ganze Familie Lortzing übergangen<br />
wird. 51 Genannt wird als herausragende Kraft<br />
der Oper u. a. Gollmick, sicher Wilhelm Gollmick,<br />
52 ein Bruder des Tenors Friedrich Karl<br />
Gollmick, Vater des Lortzingfre<strong>und</strong>es Karl<br />
Gollmick, den der junge Lortzing in Straßburg<br />
kennengelernt hatte. Seine allerdings nicht<br />
sehr erfolgreiche Karriere hat auffällige Parallelen<br />
zu Lortzing: Er begann als Sänger <strong>und</strong><br />
Schauspieler <strong>und</strong> schrieb dann Opern.<br />
Am 27. Oktober 1822 erschien in der „Allgemeinen<br />
Zeitung“ eine kurze Anzeige: Die<br />
Räuber auf Maria Culm oder Der Schutz des<br />
Gnadenbildes. Schauspiel in 5 Akten von Ziegler.<br />
Wozu die hiesigen <strong>und</strong> benachbarten Theaterfre<strong>und</strong>e<br />
ergebenst einladet Rosine Ahles. Erwähnenswert<br />
ist hier nicht Dichter <strong>und</strong> Werk,<br />
sondern die Veranstalterin. Hinter der kleinen<br />
<strong>und</strong> bescheidenen Annonce verbirgt sich eine<br />
Benefizveranstaltung der Braut von Albert<br />
Lortzing. Rosina Regina Ahles <strong>und</strong> Lortzing<br />
hatten sich einige Jahre vorher in der Theater-<br />
gesellschaft Derossi getroffen. Wann <strong>und</strong> wo<br />
genau, ließ sich bisher nicht ausmachen. Lokalpatrioten<br />
siedeln die Romanze natürlich<br />
gerne in ihrer Heimatstadt an. Es könnte Köln,<br />
Aachen oder Düsseldorf in frage kommen. Elberfeld<br />
scheidet aus, weil man sich seit etwa<br />
1818 kannte, Elberfeld aber frühestens 1821<br />
von Derossi bespielt wurde. Rosina Ahles wurde<br />
am 8. Dezember 1799 in Bietigheim bei<br />
Stuttgart geboren. Ihren Vater, einen Weingärtner<br />
<strong>und</strong> Totengräber, verlor sie mit 5 Jahren,<br />
über die Mutter können wir nichts aussagen,<br />
die kleine Rosina wuchs in einem Waisenhaus<br />
auf. Wo sie als Schauspielerin anfing, wo sie<br />
vor ihren rheinischen Jahren engagiert war,<br />
liegt im Dunkeln. Die Hochzeit wurde erst am<br />
30. Januar 1824 gefeiert. Die Theaterfre<strong>und</strong>e<br />
lasen am 23. Januar in der „Kölnischen Zeitung“:<br />
Donnerstag, den 29. dieses, zum Vorteil<br />
der Unterzeichneten: van Dycks Landleben,<br />
malerisches Schauspiel in 3 Akten, nebst einem<br />
Vorspiel von Friedrich Kind. Da die Direktion<br />
uns heute diese Vorstellung zum Vorteil unserer<br />
nahen ehelichen Verbindung gütigst bewilligt<br />
hat, so nehmen wir uns die Freiheit, ein verehrungswürdiges<br />
Publikum hierzu ganz ergebenst<br />
einzuladen. 53 Daß Lortzing für diese Vorstellung,<br />
dessen Einnahmen das junge Paar<br />
sicher gut gebrauchen konnte, auf Musik verzichtete,<br />
mag zunächst überraschen. Wenn<br />
man aber weiß, daß die musikalischen Fähigkeiten<br />
seiner Frau begrenzt waren, kann man<br />
seine Entscheidung schon verstehen. So mußte<br />
bei einer Aufführung von Wolffs „Prezosa“ das<br />
Lied, das eigentlich Rosina Lortzing singen<br />
sollte, von einer Choristin übernommen werden.<br />
54 Immerhin wählte das Brautpaar ein<br />
bekanntes Schauspiel eines Autors, der als<br />
Librettist von Carl Maria von Webers<br />
„Freischütz“ <strong>und</strong> Kreutzers „Nachtlager von<br />
Granada“ literarische Anerkennung gef<strong>und</strong>en<br />
hatte. 55 Rosina Ahles war bei Derossi als erste<br />
Liebhaberin verpflichtet, hatte beim Publikum<br />
einen großen Erfolg <strong>und</strong> garantierte gute Einnahmen<br />
für die Gesellschaft. In Köln gründete<br />
in diesen Jahren Ringelhardt 56 eine eigene<br />
Truppe, in die Albert Lortzing mit seinen Eltern<br />
wechselte. Ringelhardt versuchte, auch<br />
Rosina für sich zu gewinnen. Aber Derossi, der<br />
41
in großen geschäftlichen Schwierigkeiten<br />
steckte, wollte natürlich nicht auf seine beste<br />
Schauspielerin verzichten <strong>und</strong> versuchte zuletzt<br />
mit hinterlistigen Mitteln, die Verlobten<br />
zu trennen. Er setzte das Gerücht in die Welt,<br />
daß der Bräutigam, in der Presse ein „Liebling<br />
der Damen“, es wohl mit der Treue nicht so genau<br />
nehme. Empört ließen nun Ringelhardt<br />
<strong>und</strong> Lortzing alle Bedenken fallen, <strong>und</strong> es kam<br />
in Elberfeld zu einer theaterreifen Entführungsszene.<br />
Als Rosina die Wuppertaler<br />
Bühne betreten wollte, wurde sie gekidnappt<br />
<strong>und</strong> in die Kutsche gebracht, wo Albert Lortzing<br />
auf sie sehnlichst wartete. Ringelhardt<br />
hatte an der Kasse Direktor Derossi während<br />
dieses Brautraubes erfolgreich abgelenkt. 57<br />
Welchen Erfolg Albert Lortzing bei den Elberfelder<br />
Theaterbesuchern als Sänger <strong>und</strong><br />
Schauspieler ernten konnte, läßt sich wegen<br />
fehlender Kritiken <strong>und</strong> Aussagen nicht dokumentieren.<br />
Zeitungsberichte kennen wir aus<br />
den ersten Jahren nach seinem Aufenthalt in<br />
Elberfeld. Seine Auftritte wurden nicht immer<br />
sehr wohlwollend beurteilt. Öfter wird sein<br />
mangelhaftes Stimmvolumen erwähnt. Herrn<br />
Lortzings d. J. Fleiß als Pedrillo (Mozarts Entführung)<br />
darf nicht übersehen werden, wenn<br />
auch jeder zugeben muß, daß seine Stimme<br />
nicht Kraft genug besitzt, diese Rolle durchzuführen.<br />
Und zu einer bekannten anderen Mozartrolle:<br />
Seine proteusähnliche Natur verdiente<br />
dankbare Anerkennung, wenngleich seine<br />
Leistung als Papageno nicht befriedigte. 58<br />
Unerträglich für Lortzing wurde ein Verriß<br />
im „Dresdener Merkur“ vom Juli 1826: Herr<br />
Lortzing, zweiter Liebhaber <strong>und</strong> Tenorist, ein<br />
junger Zierbengel mit einer Kastratenstimme,<br />
die keiner Modulation fähig ist, einem Milchgesicht<br />
– <strong>und</strong> Liebling der Damen. Auch in der<br />
Kölner Lokalpresse gab es für Lortzing unerfreuliche<br />
Besprechungen. In der „Rheinischen<br />
Flora“ attestierte man im Namen des Kölner<br />
<strong>und</strong> Aachener Publikums dem fleißigen, braven<br />
<strong>und</strong> talentvollen Herrn Lortzing zwar, daß<br />
diese kränkende Kritik den finsteren Gründen<br />
der Boulevardpresse entsprungen sei, aber<br />
Lortzing veröffentliche am 10. August 1826 in<br />
der „Rheinischen Flora“ eine temperamentvolle,<br />
wortgewandte <strong>und</strong> phantasievolle Antwort:<br />
42<br />
In Nro 92 des Kölnischen Unterhaltungsblattes<br />
fordert in einem Theaterbericht aus Aachen irgend<br />
ein arrogantes Gassengenie, das sich zum<br />
Kunstrichter aufwirft, die Erlaubniß, mir an<br />
den Puls zu fühlen. Da aber zum Pulsfühlen die<br />
Hand gehört, so verweigere ich die nachgesuchte<br />
Erlaubniß aus dem einfachen Gr<strong>und</strong>e,<br />
weil ich meine Hand nicht jedem namenlosen<br />
Gassenjungen reiche <strong>und</strong> sie von der Antastung<br />
verunreinigen lassen will. Zuerst zeige er,<br />
der unberufene kritische Wegelagerer, daß er<br />
einen Namen habe, der nicht etwa schon gebrandmarkt<br />
ist, wenn er die Hand eines ehrlichen<br />
Mannes, sei es auch nur zum Pulsfühlen,<br />
fassen will. Aachen. Albert Gustav Lortzing.<br />
Mitglied der hiesigen Bühne. Besser wurden<br />
seine Schauspielerischen Qualitäten beurteilt:<br />
H(err) L(ortzing) d(er) J(üngere) wurde für<br />
sein herrliches Spiel (in Schillers Don Carlos)<br />
mit der Ehre des einstimmigen Hervorrufens<br />
belohnt. 59 Daß Lortzing sich in seinen letzten<br />
Jahren im Rheinland als Schauspieler durchgesetzt<br />
hatte, beweist u. a. ein Abschiedsgedicht,<br />
das am 30. Oktober 1826 in Köln von H.<br />
Chorus aus Aachen veröffentlicht wurde:<br />
Du ziehest weg, o Fre<strong>und</strong>,<br />
<strong>und</strong> auch zugleich mit dir<br />
Dein hoher Künstlergeist,<br />
der uns so oft ergötzte.<br />
Acht Jahre konnte Albert Lortzing unter<br />
der Leitung eines erfahrenen Schauspielers <strong>und</strong><br />
Regisseurs seine Bühnenlaufbahn vorbereiten<br />
<strong>und</strong> erwähnte das auch in seiner Kurzbiographie:<br />
Ungefähr im Jahr 1820 (richtig wäre<br />
1815/16) betrat ich die Bühne als jugendlicher<br />
Liebhaber unter Direktion des Herrn Derossi<br />
in Düsseldorf, Aachen <strong>und</strong> Elberfeld. 60 Bei Derossi<br />
scheint Lortzing hauptsächlich als Schauspieler<br />
eingesetzt worden zu sein. Erst unter<br />
Ringelhardt übernahm er größere Gesangspartien.<br />
Als Lortzing für kurze Zeit in Elberfeld<br />
wohnte, stand er mit seinen 21 Jahren am Anfang<br />
seiner Musikerlaufbahn. Daß er sich zu<br />
einem großen Komponisten der deutschen<br />
Operngeschichte entwickeln würde, daß er<br />
zum meistgespielten Opernautor nach Mozart<br />
aufsteigen würde, ahnte damals in Wuppertal
wohl niemand. Man hätte ihn dann sicher nicht<br />
in der Presse so übergangen. Daß die Erfolge,<br />
die Lortzing noch miterleben konnte, auch<br />
Jahrh<strong>und</strong>erte überdauern würden, bezweifelten<br />
einige zeitgenössische Kritiker. Der bekannte<br />
Berliner Musikrezensent Friedrich Rellstab<br />
meinte, daß Lortzing als einziger deutscher<br />
Komponist das Gebiet der komischen Oper betreten,<br />
sich aber doch nicht über diejenige Stufe<br />
erhoben habe, die eine Zeitlang in der Gegenwart<br />
ihre Giltigkeit hat, ein Urteil, das die<br />
Geschichte korrigiert hat. Denn trotz der heute<br />
noch nicht beendeten Debatte besonders unter<br />
den Operndirigenten, ob man die Musik von<br />
„Zar <strong>und</strong> Zimmermann“ <strong>und</strong> vom „Waffenschmied“<br />
in die Rubrik „Unterhaltungs-“ oder<br />
„Ernste Musik“ einordnen muß, konnte der<br />
Komponist noch zu seinen Lebzeiten den Erfolgslauf<br />
seiner besten Opern erleben. In dem<br />
penibel geführten Einnahmebuch hat Lortzing<br />
zwischen 1837 <strong>und</strong> 1841 über 70 Aufführungen<br />
des „Zar <strong>und</strong> Zimmermann“ an deutschsprachigen<br />
Bühnen eintragen können. 61 Die<br />
Position, die noch heute Lortzing im deutschen<br />
Theaterleben einnimmt, hat der große Komponist<br />
Hans Pfitzner in einem treffenden Gedicht<br />
liebevoll beschrieben:<br />
Ach Du, der tausend noch heut’ erbaut<br />
Doch nie im Leben saß bei vollen Töpfen,<br />
Geringgeschätzt von aufgeblas’nen<br />
Tröpfen,<br />
Wie lachst du über sie so froh <strong>und</strong> laut!<br />
Ach, sag’ es doch den allzuweisen Leuten<br />
Mit ihren großen Gesten, hehren Stoffen,<br />
Daß dies nicht Schlüssel zum<br />
Parnasse sind. 62<br />
Anmerkungen:<br />
1 August von der Heydt (1801–1874), 1848–1869<br />
preußischer Handelsminister sowie 1862 <strong>und</strong><br />
1866–1869 zugleich preußischer Handelsminister.<br />
– Louis Benjamin Simons (1803–1870) war<br />
von 1849–1860 preußischer Justizminister.<br />
2 Lodemann, Jürgen: Lortzing, Göttingen 2000,<br />
S. 612.<br />
3 Schirmag, Heinz: Albert Lortzing, Berlin 1982,<br />
S. 11–13.<br />
4 Wittmann, Hermann: Lortzing, Leipzig o. J.,<br />
S. 22.<br />
5 Gottlob Benedikt Bierey (1772–1840) war<br />
Theaterkapellmeister mehrerer angesehener<br />
Theatergruppen.<br />
6 Kruse, Georg Richard (Hgb.): Albert Lortzing.<br />
Gesammelte Briefe. 2. Auflage Regensburg<br />
1913, S. XI (Wird zitiert Kruse Briefe).<br />
7 Karl Friedrich Rungenhagen wurde 1778 in<br />
Berlin geboren. Er starb im selben Jahr wie<br />
Lortzing, wurde Zelters Nachfolger als erster<br />
Dirigent der berühmten Berliner Singakademie<br />
<strong>und</strong> gehörte im frühen 19. Jahrh<strong>und</strong>ert neben<br />
dem jungen Felix Mendelssohn zu den bedeutendsten<br />
Musikern <strong>und</strong> Komponisten Berlins.<br />
8 Worbs, Christoph: Albert Lortzing, rororo 1979,<br />
S. 9.<br />
9 Hoffmann, Hans: Albert Lortzing. Libretto<br />
eines Komponisten-Lebens, Düsseldorf 1987,<br />
S. 31.<br />
10 Karl Gollmick (1796–1866) studierte in Straßburg<br />
Theologie <strong>und</strong> Musik, ging dann ans Theater<br />
nach Frankfurt. Er betätigte sich als Librettist,<br />
Musikschriftsteller, Kapellmeister <strong>und</strong><br />
Komponist.<br />
11 Schirmag a. a. O., S. 19. Vgl. den Briefwechsel<br />
Lortzing-Gollmick in: Kruse a.a.O.<br />
12 Josef Derossi (1765–1841) stammte aus einer<br />
alten italienischen Familie. Der Vater war<br />
Oberst in piemontischen Diensten. Josef Derossi<br />
studierte zunächst Forstwirtschaft, ging aber<br />
1786 zur Bühne als Schauspieler, trat in Freiburg,<br />
Baden-Baden <strong>und</strong> Karlsruhe auf. Dann arbeitete<br />
er bei Schikaneder in Wien <strong>und</strong> lebte anschließend<br />
12 Jahre in Innsbruck. Er kämpfte<br />
mit Andreas Hofer in Tirol, nahm dann seinen<br />
Schauspielerberuf wieder auf <strong>und</strong> kam über<br />
Mainz 1815 nach Düsseldorf, wo er 1816 von<br />
Karoline Müller die Direktion der Düsseldorfer<br />
Bühne übernahm. Während Immermann das<br />
Düsseldorfer Theater leitete (1834–1837), zog<br />
er sich zurück <strong>und</strong> trat dann später seinen Direktorenposten<br />
wieder an. Anfang 1841 setzte er<br />
sich zur Ruhe. Reden-Esbeck, Friedrich Johann<br />
von: Deutsches Bühnenlexikon 1879. Zitiert<br />
nach: Deutsches Biographisches Archiv I.<br />
13 Man nannte die Derossi-Gesellschaft auch<br />
ABC-Truppe nach den Spielorten Aachen, Bonn<br />
<strong>und</strong> Cöln. Lodemann a.a.O., S. 43 deutet B als<br />
Abkürzung für Barmen. Dort hat Derossi aber<br />
nicht gespielt.<br />
14 Hoffmann a.a.O., S. 43f.<br />
15 Faksimile des Theaterzettels bei Schirmag<br />
a.a.O., S. 22.<br />
43
16 Capelle, Irmlind: Chronologisch-thematisches<br />
Verzeichnis der Werke von Gustav Albert Lortzing,<br />
Köln 1994, S. 18.<br />
17 Dippel, Gerhardt: Albert Lortzing, Berlin 1951,<br />
S. 12.<br />
18 Capelle a.a.O., S. 21.<br />
19 Siehe Anhang.<br />
20 MGG (Musik in Geschichte <strong>und</strong> Gegenwart)<br />
Sachteil 9 Kassel 1998, Sp. 2081.<br />
21 Musikalisches Conservations-Lexikon Bd. 3,<br />
Berlin 1873, S. 420; MGG BD !6, Kassel 1974,<br />
Sp. 144; Conservations-Lexikon der Tonkunst,<br />
Verlag Tonger Köln o.J., S. 75.<br />
22 Kruse Briefe 287; Walterscheid, Josef: Das Bonner<br />
Theater im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert, Emsdetten,<br />
S. 23. Fétis, F.J.: Biographie universelle des musiciens,<br />
Paris 1878, S. 155, gibt keinen Vornamen<br />
an.<br />
23 Für bereitwillige Auskunft <strong>und</strong> Hilfe dankt der<br />
Verfasser Herrn Bürgermeister Neuser <strong>und</strong><br />
Herrn Kunz von der Stadtverwaltung Amorbach.<br />
24 Walterscheid a.a.O., S. 23; Conservations-Lexikon<br />
der Tonkunst a.a.O., S. 75 gibt 1814 als Geburtsjahr<br />
an, ohne den Geburtsort zu nennen.<br />
25 Walterscheid a.a.O., S. 23 heißt sie Ciszerweski.<br />
26 Walterscheid a.a.O., S. 20.<br />
27 Sterbeurk<strong>und</strong>e Nr. 269 Standesamt Coburg: Coburg,<br />
am 7. November 1881. Vor dem unterzeichneten<br />
Standesbeamten erschien heute, der<br />
Persönlichkeit nach bekannt Haushofmeister Johann<br />
Köppler, wohnhaft zu Coburg, Villa<br />
Ernsthöhe 2 <strong>und</strong> zeigte an, daß Capellmeister a.<br />
D. Joseph Eschborn 81 Jahre 8 Monate alt, katholischer<br />
Religion, wohnhaft zu Coburg, ebenfalls<br />
Ernsthöhe 2, geboren zu Mainz, am 4.<br />
März 1800, verheiratet mit der hier verstorbenen<br />
Maria Angelica, gen. Nina, geborene Cizewsky,<br />
Sohn des Oberamtmanns Johann Eschborn<br />
aus Amorbach <strong>und</strong> dessen Ehefrau Katharina<br />
geborenen Schwank, zu Coburg, am siebten<br />
November des Jahres tausendachth<strong>und</strong>ertachtzig<br />
<strong>und</strong> eins – morgens um einhalbein Uhr verstorben<br />
sei. Die Todesanzeige erschien am<br />
8.11.1881 in der „Coburger Zeitung“: Fre<strong>und</strong>en<br />
<strong>und</strong> Bekannten die Trauernachricht von dem<br />
heute Nacht nach längerem Leiden erfolgten<br />
Hinscheiden unseres geliebten Vaters, Goßvaters<br />
<strong>und</strong> Schwagers Herrn Josef Eschborn. Um<br />
stilles Beileid bittet im Namen der Hinterbliebenen<br />
Natalie von Grünhof. Die Beerdigung findet<br />
Mittwoch Nachmittag um 3 Uhr vom Leichenhaus<br />
aus statt. (Fre<strong>und</strong>liche Auskunft von Herrn<br />
H. J. Baier, Stadtarchiv Coburg).<br />
44<br />
28 Der Sohn Karl (nicht „Ernst“) erhielt am Konservatorium<br />
in Paris einen Kompositionspreis.<br />
Er starb schon mit 18 Jahren. Zwei Töchter wurden<br />
Sängerinnen. Die ältere Nina (1828–1910)<br />
war mit Hauptmann Gotthelf von Könneritz vermählt,<br />
der 1866 im Kriege fiel. Die jüngere Natalie<br />
(1834–1907) studierte in Florenz <strong>und</strong> Paris<br />
bei Rossini, nahm den Künstlernamen Frassini<br />
an, trat u. a. in Bonn auf <strong>und</strong> heiratete 1860 den<br />
Herzog Ernst von Württemberg, nachdem sie<br />
zur Frau von Grünhof geadelt worden war. Nach<br />
dem Tode des Herzogs lebte sie auf der<br />
Ernsthöhe in Coburg (nicht Koblenz), <strong>und</strong> nahm<br />
hier ihre Eltern auf. Die Mutter starb 1874, der<br />
Vater am 7.11.1881. Walterscheid a.a.O., S. 23<br />
gibt einige falsche Daten an.<br />
29 Kruse Briefe S. 2. Mit dem „Nußknacker“ ist<br />
Edm<strong>und</strong> von Weber gemeint, der Halbbruder<br />
von Carl Maria. Er wurde von Haydn ausgebildet<br />
<strong>und</strong> war u. a. Kapellmeister bei Derossi. Der<br />
Freischützkomponist nannte ihn etwas abfällig<br />
„einen braven Komponisten <strong>und</strong> routinierten<br />
Kapellmeister“. Riemann, Hugo: Musiklexikon<br />
7. Aufl., S. 1530. In einer Kritik der Rheinischen<br />
Flora“ heißt es: ... auch wurde es (das Orchester)<br />
von dem der Gesellschaft attachieren<br />
Musikdirektor, Herrn von Weber, älterem Bruder<br />
des Komponisten, träge <strong>und</strong> schläfrig geleitet.<br />
Hoffmann a.a.O., S. 59.<br />
30 In der Allgemeinen Zeitung wurde 1822 auf das<br />
Niederrheinische Musikfest am 26. <strong>und</strong> 27. Mai<br />
im ehemaligen Rittersaal des Schlosses in Düsseldorf<br />
hingewiesen. Programm: 1. Tag. Die Befreiung<br />
von Jerusalem. Oratorium. Text von<br />
Heinrich <strong>und</strong> Matthäus von Collin. Musik Maximilian<br />
Stadler. 2. Tag. 4. Sinfonie B-Dur Beethoven.<br />
Hymne In seiner Ordnung schafft der Herr.<br />
Text Friedrich Rochlitz. Musik C. M. von Weber.<br />
Ouverture Zauberflöte Mozart. Kampf <strong>und</strong> Sieg.<br />
Kantate zur Feier der Schlacht bei Waterloo <strong>und</strong><br />
Belle-Aliance. Text Wohlbrück. Musik C-M-von<br />
Weber. Im Schloßsaal konnten 400 Musiker auftreten.<br />
Maximilian Stadler (1748–1833) war ein<br />
enger Fre<strong>und</strong> von Haydn <strong>und</strong> Mozart, Abt von<br />
Kremsmünster <strong>und</strong> fleißiger Kirchenkomponist.<br />
31 Blindow, Martin: Albert Lortzings geistliche<br />
Chorwerke, in: Der Kirchenmusiker 1992, H. 5,<br />
S. 166ff.<br />
32 Lexikon der Weltliteratur Hgb.: Gero von Wilpert,<br />
2. Aufl., Bd. 1, S. 1068.<br />
33 Lodemann a.a.O., S. 56.<br />
34 Schirmag a.a.O., S. 20.<br />
35 Capelle a.a.O., S. 30.<br />
36 Lodemann a.a.O., S. 57.
37 Stadtarchiv Münster, Stadtregistr., Fach 151,<br />
Nr. 3.<br />
38 Kruse, Georg Richard.: Lortzings Erstlingsoper.<br />
Zur Erinnerung an die Uraufführung von Ali<br />
Pascha vor 100 Jahren, in: Der Friedenssaal 2<br />
(1928), H. 2, S. 216ff. Schroeder, Klaus-H.: Albert<br />
Lortzings erste Oper: Ali Pascha von Janina,<br />
in: Beiträge zur Südosteuropa-Forschung,<br />
München 1966, S. 168ff.<br />
39 Capelle a.a.O., S. 28.<br />
40 Am 21. August 1826 schrieb er aus Aachen an<br />
den Schauspieler <strong>und</strong> Sänger Ludwig Schäfer:<br />
Er (Philipp Reger) gibt zu seinem Hochzeits-Benefiz<br />
meine Oper, welche ihm, glaube ich, des<br />
imposanten Namens halber, eine gute Einnahme<br />
machen wird. Sollte die Aufführung mitBeifall<br />
aufgenommen werden, welches ich dir unverzüglich<br />
melde, so steht dir meine Oper ebenfalls<br />
zu Dienst, falls du noch kein Stück gewählt hättest.<br />
Kruse Briefe S. 1. Dieses Hochzeitsbenefiz<br />
fand aber nicht statt.<br />
41 Ferdinand Fränzl (1770–1833), Violinschüler<br />
seines Vaters, wurde international bekannt als<br />
Violinvirtuose, kam über Italien nach München<br />
<strong>und</strong> als Musikdirektor an die Frankfurter Oper.<br />
Nach einer Rußlandreise avancierte er zum Direktor<br />
der Deutschen Oper in München. Er<br />
schrieb Violinkonzerte, Kammermusik, Orchesterwerke<br />
<strong>und</strong> mehrere Opern.<br />
42 Capelle a.a.O., S. 32.<br />
43 Capelle a.a.O., S. 32.<br />
44 Kruse, Georg Richard: Ein unveröffentlichtes<br />
Scherzlied Lortzings, in: Die Musik 29 (1936),<br />
H. 5.<br />
45 Capelle a.a.O., S. 33.<br />
46 August Friedrich Ernst Langbein (1757–1835)<br />
Modeschriftsteller von Schwänken, Unterhaltungsromanen<br />
<strong>und</strong> Salongedichten. Zensor für<br />
Belletristik in Berlin.<br />
47 Wittmann, Hermann: Lortzing. Musiker-Biographien.<br />
Erster Band, Reclam Leipzig o.J.,<br />
S. 23.<br />
48 Julius von Voß (1768–1832) mußte als preußischer<br />
Leutnant seinen Abschied nehmen <strong>und</strong><br />
lebte dann als freier Schriftsteller meistens in<br />
Berlin. von seinen Werken (Gedichte <strong>und</strong> Romane)<br />
haben seine kleinbürgerlichen Lustspiele<br />
zwar keinen literarischen, aber einen kulturhistorischen<br />
Wert für das zeitgenössische Berliner<br />
Leben.<br />
49 Riemann a.a.O., S. 1353.<br />
50 Ferdinand Stegmayr wird von Lortzing schon<br />
1833 in Detmold erwähnt. Kruse a.a.O., S. 41.<br />
51 17. August. Ob der Verfasser, ein Leutnant E.<br />
Simons, dessen Prolog „Germania’s Schmach,<br />
Erwachen <strong>und</strong> Befreiung“ am 18. Oktober 1822<br />
auf dem Elberfelder Theaterprogramm stand,<br />
zur Elberfelder Fabrikantenfamilie Simons<br />
gehört, konnte noch nicht ermittelt werden.<br />
52 K. J. Kutsch/Leo Riemens: Großes Sängerlexikon,<br />
3. Auflage, Bd. 2, 1997.<br />
53 Hoffmann a.a.O., S. 48.<br />
54 Fritz a.a.O., S. 164. Das Große Sängerlexikon<br />
a.a.O., Bd. 3, S. 2122 behauptet, daß sie auf rheinischen<br />
Bühnen als Sängerin aufgetreten sei,<br />
was den Quellen widerspricht. Rosina gehörte<br />
nur zum Schauspielpersonal. Vgl. Anm. 56.<br />
55 Lortzing konnte 1822 in der Wuppertaler „Provinzial-Zeitung“<br />
lesen: Februar. Vermischte<br />
<strong>Nachrichten</strong>. Große Sensation macht jetzt auf<br />
den Bühnen zu Dresden <strong>und</strong> Berlin eine von dem<br />
Dresdener Dichter Fr. Kind gedichtete <strong>und</strong> von<br />
dem Kapellmeister Maria v. Weber in Musik gesetzte<br />
Oper. Der Freischütz. Zu Berlin wurde<br />
diese neue Oper, nach einem öffentlichen Blatte,<br />
fast schon 30 Mal, kurz nacheinander gegeben,<br />
umd immer war das Haus gedrängt voll. Zu<br />
Dresden wurde vor einiger Zeit die Hofbühne<br />
mit dieser Oper, unter der eigenen Direktion des<br />
berühmten Komponisten, eröffnet. Der Enthusiasmus<br />
des überfüllten Hauses durchbrach alle<br />
Schranken der Mäßigung, die sonst zu Dresden<br />
an der Tagesordnung ist. Ein bekränzter Lorbeerbaum,<br />
mit Gedichten behangen, wurde in<br />
dem Zwischenakte ins Orchester gebracht <strong>und</strong><br />
neben der Stelle, wo Weber dirigierte, aufgestellt.<br />
56 Friedrich Sebald Ringelhardt (1785–1855) begann<br />
als Schauspieler <strong>und</strong> entwickelte sich zu<br />
einem der angesehensten Theaterdirektoren in<br />
Deutschland. 1824 gehörten zu seinem Opernpersonal:<br />
Mutter Lortzing als komische Alte,<br />
Mütterrollen, Albert Lortzing für zweite Tenorpartie(n),<br />
naive Rollen <strong>und</strong> zum Schauspiel Albert<br />
Lortzings Frau als erste Liebhaberin, naive<br />
Rollen, Mutter Lortzing als komische Mutter,<br />
zänkische Alte <strong>und</strong> Albert Lortzing als jugendliche(r)<br />
<strong>und</strong> 2. Liebhaber. Hoffmann a.a.O., S. 55.<br />
57 Diese jedem Biographen willkommene Geschichte<br />
wird öfter erzählt. Zuletzt von Lodemann<br />
a.a.O., S. 50.<br />
58 Fritz a.a.O., S. 163.<br />
59 Fritz a.a.O., S. 162.<br />
60 Kruse a.a.O., S. XI.<br />
61 Hoffmann a.a.O., S. 373f.<br />
62 Pfitzner, Hans: Gesammelte Schriften II, Augsburg<br />
1926. Zitiert nach Worbs a.a.O., S. 141.<br />
45
Gerhard Deimling<br />
150 Jahre Elberfelder System – Ein Nachruf 1<br />
Vor 150 Jahren beschloss der Elberfelder<br />
Gemeinderat die Neue Armenordnung, 2 die die<br />
bis dahin gültigen Armenordnungen ablöste.<br />
Unter der Bezeichnung „Elberfelder System“<br />
ging die darauf gegründete Armenpflegepraxis<br />
in die einschlägige sozialpolitische Diskussion<br />
des 19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>erts ein. Es wurde auf<br />
Initiative des Gemeinderats geschaffen, von der<br />
Sozialbehörde implementiert <strong>und</strong> verwaltungsmäßig<br />
begleitet <strong>und</strong> in seiner praktischen<br />
Arbeit ausschließlich von freiwillig <strong>und</strong> unentgeltlich<br />
tätigen Personen mit Leben erfüllt.<br />
Kerngedanke des Systems war die durch die<br />
Preußische Gemeindeordnung legitimierte<br />
bürgerschaftliche Mitwirkung an der gemeindlichen<br />
Selbstverwaltung.<br />
Die Neue Armenordnung wurde Vorbild für<br />
eine ganzheitliche, individualisierende <strong>und</strong><br />
ortsbezogene Hilfe- <strong>und</strong> Beratungspraxis für<br />
Menschen, die unverschuldet in soziale <strong>und</strong><br />
wirtschaftliche Not geraten waren. Zugleich<br />
verfolgte sie den kommunalpolitischen Zweck,<br />
für „das Beste der Gemeinde zu sorgen“ <strong>und</strong><br />
eine Verschwendung der von den Bürgern aufgebrachten<br />
Mittel aus der Armensteuer zu verhindern.<br />
Ein moderner Gedanke des Elberfelder<br />
Systems bestand in dem Bestreben, Hilfe<br />
zur Selbsthilfe zu leisten, indem es arbeitsfähige<br />
Hilfesuchende dabei unterstützte, einen Arbeitsplatz<br />
zu finden. Außer ihrer sozialkaritativen<br />
<strong>und</strong> wirtschaftlichen Hilfe übernahm sie<br />
Aufgaben, die später die Arbeitsverwaltungen<br />
wahrnahmen.<br />
Internationale Ausbreitung<br />
des Elberfelder Systems<br />
Die Neue Armenordnung fand in der zweiten<br />
Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts ein rasch wachsendes<br />
Interesse, zunächst in Preußen, in anderen<br />
deutschen Partikularstaaten sowie im Ausland.<br />
3 Innerhalb von wenigen Jahrzehnten wur-<br />
46<br />
de sie in r<strong>und</strong> 170 deutschen Städten eingeführt.<br />
Die meisten Großstädte der Niederlande,<br />
Belgiens, der Schweiz, Russlands <strong>und</strong> Österreichs<br />
4 übernahmen das Elberfelder System in<br />
seinen wesentlichen Gr<strong>und</strong>zügen bis 1890. 5<br />
Auf den Weltausstellungen in Paris (1900) <strong>und</strong><br />
in St. Louis (1904) war es Gegenstand nationaler<br />
<strong>und</strong> internationaler sozialpolitischer Fachdiskussionen.<br />
In England stand es Pate beim<br />
Aufbau der Charity Organization Society. 6 In<br />
den USA 7 wurde um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende die<br />
Möglichkeit seiner Übertragung auf die spezifischen<br />
sozioökonomischen <strong>und</strong> ethnischen<br />
Verhältnisse der nordamerikanischen Großstädte<br />
diskutiert <strong>und</strong> eine Variante des Elberfelder<br />
Systems in Gestalt der „Community Organization<br />
Societies“ geschaffen. Nach dem<br />
Zweiten Weltkrieg wurde es unter der Bezeichnung<br />
„Soziale Gemeinwesenarbeit“ nach<br />
Deutschland reimportiert. 8 Gegen Ende des<br />
Ersten Weltkrieges <strong>und</strong> während der Meiji-Ära<br />
gelangte das Elberfelder System nach Okoyama<br />
<strong>und</strong> Osaka. 9 An diesen für die japanische<br />
Sozialpolitik bedeutsamen Ideentransfer erinnert<br />
eine kleine deutschsprachige Festschrift<br />
anlässlich des sechzigjährigen Bestehens der<br />
japanischen Vereinigung der Community Volunteers.<br />
10<br />
Organisation <strong>und</strong> Rechtliche Gr<strong>und</strong>lagen<br />
Das Elberfelder System stellt eine anspruchsvolle<br />
Form des Ehrenamtes dar, das im<br />
Gegensatz zu den heute üblichen Organisationsformen<br />
weder auf kirchen- noch auf vereins-,<br />
sondern auf kommunalrechtlicher Basis<br />
beruht. Mit ihm wurde eine mediatisierende<br />
Instanz geschaffen, die eine Brücke zwischen<br />
der Armenverwaltung <strong>und</strong> den einzelnen Hilfeempfängern<br />
schlug. Das Amt der Armenpfleger<br />
<strong>und</strong> Bezirksvorsteher gehörte seit seiner<br />
Einführung zu den wichtigsten bürgerlichen
Ehrenämtern der Gemeinde. 11 Rechtsgr<strong>und</strong>lage<br />
für die Institutionalisierung des Elberfelder<br />
Systems war die Preußische Gemeindeordnung<br />
vom 11.3.1850, derzufolge „sowohl zur dauernden<br />
Verwaltung einzelner Geschäftszweige,<br />
als zur Erledigung einzelner bestimmter Angelegenheiten<br />
<strong>und</strong> Aufträge (...) auf Beschluß des<br />
Gemeinderathes besondere Deputationen aus<br />
Mitgliedern des Vorstandes, Gemeindeverordneten<br />
<strong>und</strong> Gemeindewählern gebildet werden.<br />
Die Gemeindeverordneten <strong>und</strong> die Gemeindewähler<br />
werden von dem Gemeinderathe, die<br />
Mitglieder des Vorstandes von dem Bürgermeister<br />
bestimmt. Dergleichen Deputationen<br />
sind dem Gemeindevorstande untergeordnet.<br />
Ein von dem Bürgermeister bezeichnetes Mitglied<br />
des Gemeindevorstandes führt den Vorsitz“<br />
12 .<br />
Die 1852 beschlossene Elberfelder Armenverwaltung<br />
war eine „Deputation“ im Sinne<br />
der Preußischen Gemeindeordnung <strong>und</strong> bestand,<br />
unter dem Vorsitz des damaligen Oberbürgermeisters<br />
Lischke, aus vier Stadtverordneten<br />
<strong>und</strong> drei wahlberechtigten Bürgern, die<br />
für drei Jahre vom Gemeinderat gewählt wurden.<br />
13 Der Vorsitz ging wenig später an den<br />
Gemeindeverordneten Daniel von der Heydt<br />
über. 14 Die Bezirksvorsteher <strong>und</strong> Armenpfleger<br />
wurden auf Vorschlag der Armenverwaltung<br />
vom Gemeinderat mit der Möglichkeit der<br />
Wiederwahl für eine dreijährige Amtsdauer gewählt.<br />
15 Ein Bezirksvorsteher <strong>und</strong> 15 Armenpfleger<br />
bildeten die Bezirksversammlung als<br />
Organ der Armenverwaltung mit weitreichenden<br />
Befugnissen <strong>und</strong> Amtspflichten. Sie war<br />
als beschließendes Gremium für die Funktionsfähigkeit<br />
<strong>und</strong> die unmittelbare Ausübung<br />
der Armenhilfe innerhalb eines nach Straßen<br />
<strong>und</strong> Häusern in 15 Quartiere unterteilten Bezirks<br />
verantwortlich. Die Regelungskompetenz<br />
für das gesamte Armenwesen der Stadt blieb<br />
zentral beim Gemeinderat, der die Gr<strong>und</strong>sätze<br />
für die Durchführung der kommunalen Armenpflege<br />
beschloss <strong>und</strong> fortentwickelte, die<br />
Pflichten <strong>und</strong> Rechte der Pfleger, Vorsteher<br />
<strong>und</strong> der städtischen Armenerwaltung regelte<br />
<strong>und</strong> deren Einhaltung überwachte.<br />
Die Armenverwaltung war zuständig für<br />
die „Hausarmen“, die in drei geschlossenen<br />
städtischen Armenanstalten, nämlich im allgemeinen<br />
Armenhaus, im Waisenhaus <strong>und</strong> im Armenkrankenhaus,<br />
untergebracht waren. Hilfsbedürftige<br />
Personen, die keine „Hausarmen“<br />
waren, wurden als „Außenarme“ bezeichnet.<br />
Diese bildeten das eigentliche Klientel des Elberfelder<br />
Systems.<br />
Die Größe der Bezirke richtete sich nach<br />
der Zahl der zu versorgenden Außenarmen, die<br />
innerhalb eines näher bezeichneten Wohngebiets<br />
lebten. Insgesamt waren in den ersten<br />
zwei Jahren 160 ehrenamtlich tätige Bürger<br />
zur Durchführung der Neuen Armenordnung<br />
erforderlich, die nach ihrer Wahl durch den<br />
Gemeinderat verpflichtet waren, das Amt anzunehmen,<br />
falls sie keine gesetzlichen Ablehnungsgründe<br />
geltend machten konnten. 16 Als<br />
die Elberfelder lutherische Gemeinde wegen<br />
des großen Zuzugs Ortsfremder nicht mehr in<br />
der Lage war, die Armen ihrer Gemeinde selbst<br />
zu versorgen, <strong>und</strong> deshalb die Kirchliche Armenpflege<br />
an die Stadt abgeben musste, wurden<br />
1855 18 Bezirke mit je 14 Quartieren gebildet.<br />
Die kommunale Armenpflege wurde in<br />
den ersten 50 Jahren ihres Bestehens ausschließlich<br />
von Männern wahrgenommen. Erst<br />
von 1902 an wurde in Elberfeld auch Frauen<br />
dieses Amt übertragen. 17<br />
Die Armenpfleger traten 14-tägig an einem<br />
festgesetzten Wochentag unter dem Vorsitz des<br />
Vorstehers zur Bezirksversammlung zusammen,<br />
um die vorgebrachten Bitten um Unterstützung<br />
zu beraten. Die vor Ort geprüften Gesuche<br />
wurden in der Bezirksversammlung vorgetragen,<br />
erörtert <strong>und</strong> mit Stimmenmehrheit<br />
beschlossen. Bei Stimmengleichheit gab die<br />
Stimme des Vorstehers den Ausschlag. In strittigen<br />
Fällen konnte der Vorsteher einen Beschluss<br />
der Versammlung beanstanden <strong>und</strong> ihn<br />
der Armenverwaltung zur Entscheidung vortragen.<br />
Über den Sitzungsverlauf wurde ein<br />
Protokoll angefertigt, das der Armenverwaltung<br />
unverzüglich zugeleitet wurde. Auf der<br />
Gr<strong>und</strong>lage der Sitzungsprotokolle der stets<br />
gleichzeitig tagenden Bezirksversammlungen<br />
<strong>und</strong> der Teilnahme der Bezirksvorsteher an den<br />
14-tägig stattfindenden Sitzungen der Armenverwaltung<br />
gewann diese einen präzisen <strong>und</strong><br />
zeitnahen Überblick über die während eines<br />
47
Quartals tatsächlich verausgabten Sach- <strong>und</strong><br />
Geldmittel <strong>und</strong> über den voraussichtlichen<br />
Mittelbedarf für das folgende Quartal, der von<br />
der Armenverwaltung beantragt <strong>und</strong> vom Gemeinderat<br />
beschlossen werden musste.<br />
Als Unterstützung wurden geleistet: Bargeld,<br />
Bekleidung, Bettzeug, freier Schulunterricht,<br />
ärztliche Versorgung, Arzneien <strong>und</strong> Verbandmaterial,<br />
Hebammenhilfe <strong>und</strong> kostenlose<br />
Bestattung. Falls der begründete Verdacht bestand,<br />
dass ein Hilfeempfänger die ihm gewährte<br />
Hilfe missbräuchlich verwandte, erfolgte<br />
die Unterstützung ausschließlich durch<br />
Naturalien, d. h. durch tägliche kostenlose<br />
Ausgabe von Suppe <strong>und</strong> Brot im Armenhaus.<br />
Die Armenpfleger waren verpflichtet, die ordnungsgemäße<br />
Verwendung der gewährten Hilfen<br />
zu kontrollieren <strong>und</strong> im Falle eines Missbrauchs<br />
in der Bezirksversammlung Bericht zu<br />
erstatten.<br />
Anlässlich der Prüfung des ersten Hilfegesuchs<br />
wurden anhand eines von der Armenverwaltung<br />
erstellten „Abhörbogens“ die persönlichen<br />
Verhältnisse des Bittstellers <strong>und</strong> der von<br />
ihm zu versorgenden Angehörigen, deren Erwerbseinkommen<br />
<strong>und</strong> Arbeitsfähigkeit, Größe<br />
<strong>und</strong> Zustand der Wohnung, Zahl <strong>und</strong> Art der<br />
Einrichtungsgegenstände, die zum Unterhalt<br />
verpflichteten Angehörigen, der gesetzliche<br />
Unterstützungswohnsitz 18 <strong>und</strong> die sonstigen<br />
Gründe für das Vorliegen eines gesetzlichen<br />
Anspruchs auf Armenhilfe ermittelt. Als unterstützungsbedürftig<br />
galt ein Armer nur dann,<br />
wenn er nicht arbeitsfähig war <strong>und</strong> zu seinem<br />
Unterhalt andere Personen nicht verpflichtet<br />
oder imstande waren. Die „Instruction“ 19 führt<br />
dazu aus: „Arbeitsfähiger Personen darf die<br />
Armenverwaltung sich nur dann annehmen,<br />
wenn sie genügend nachzuweisen im Stande<br />
sind, sich ernstlich <strong>und</strong> mit allen ihnen zu Gebote<br />
stehenden Mitteln, aber erfolglos, um<br />
Arbeit bemüht zu haben. Solche Personen sind<br />
jedoch verpflichtet, jede ihnen angewiesene,<br />
angemessene Arbeit zu übernehmen, oder,<br />
falls ihnen solche nicht angewiesen werden<br />
kann, sich mit einer zeitweisen Unterstützung<br />
zu begnügen. Sowohl die Armenpfleger als<br />
auch die Bezirksvorsteher werden solchen Armen<br />
zunächst mit Rat <strong>und</strong> Tat behilflich sein,<br />
48<br />
dass sie wo möglich Arbeit finden <strong>und</strong> dadurch<br />
ihren Unterhalt selbst erwerben“. In dringenden<br />
Fällen war der Pfleger befugt, unverzüglich<br />
die erforderlichen Hilfen zu leisten. Seine<br />
Entscheidung bedurfte der Bestätigung in der<br />
nächstfolgenden Bezirksversammlung.<br />
Der Missbrauch von Unterstützungen wurde<br />
strafrechtlich gem. § 119 des Preußischen<br />
Strafgesetzbuchs von 1851 mit einer Gefängnisstrafe<br />
von einer Woche bis zu drei Monaten<br />
geahndet, wenn sich eine Person dem Spiel,<br />
dem Trunk oder dem Müßiggang ergeben hatte<br />
<strong>und</strong> dadurch in eine Lage geriet, die es ihm unmöglich<br />
machte, für sich selbst oder für unterhaltsbedürftige<br />
Angehörige den Lebensunterhalt<br />
zu verdienen. Die gleiche Strafe drohte<br />
dem Empfänger von Mitteln aus der Armenkasse,<br />
der sich weigerte, die ihm zugewiesene<br />
oder sich innerhalb einer von der Ortspolizeibehörde<br />
bestimmten Frist, „aller angewandten<br />
Bemühungen ungeachtet“, keine neue Erwerbsquelle<br />
verschafft hatte. 20 Die seit dem ausgehenden<br />
16. bis weit in das 20. Jahrh<strong>und</strong>ert in<br />
Europa bestehenden Zucht- <strong>und</strong> Arbeitshäuser<br />
dienten hauptsächlich der Unterbringung von<br />
„arbeitsscheuen Personen“, die sich – wie es in<br />
der „Instruction“ heißt – „dem Spiele, dem<br />
Trunke oder dem Müßiggange“ hingegeben<br />
hatten. 21 Ihre Unterbringung in einem Arbeitshaus<br />
galt bis 1969 22 als Nebenstrafe bzw. als<br />
„correctionelle Nachhaft“ nach verbüßter Gefängnisstrafe.<br />
Der Zweck dieser Maßnahme im<br />
Sinne des Preußischen StGB war die „Wiederherstellung<br />
<strong>und</strong> Besserung von meist geistig<br />
<strong>und</strong> körperlich verkommenen Subjekten ohne<br />
moralische Willenskraft“, die sich „nur durch<br />
längeres zwangsweises Anhalten zur Ordnung<br />
<strong>und</strong> Arbeitsamkeit erzielen“ lässt. 23 Die Armenpfleger<br />
übten im Rahmen der „Instruction“<br />
<strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> ihrer persönlichen Orts<strong>und</strong><br />
Personenkenntnis eine durch das Strafrecht<br />
<strong>und</strong> die staatliche Sozialpolitik sanktionierte<br />
<strong>und</strong> effiziente Sozialkontrolle aus. Sie<br />
waren verpflichtet, dem Vorsitzenden der Armenverwaltung<br />
im Falle des Verdachts einer<br />
missbräuchlichen Entgegennahme <strong>und</strong> Verwendung<br />
von Mitteln der Armenhilfe „zur weiteren<br />
Veranlassung Anzeige zu machen, auch<br />
dafür zu sorgen, dass die für die Familienglie-
der solcher Personen bestimmten Gaben unmittelbar<br />
an die Ersteren gelangen“ 24 .<br />
Vor der Einführung der Neuen Armenordnung<br />
erhielten 5–7 % der Bevölkerung eine<br />
Unterstützung aus dem Armenfonds, der aus<br />
den Einnahmen der Armensteuer gespeist wurde.<br />
Im Jahr 1852 betrug der Anteil der Außenarmen<br />
an der Bevölkerung sogar 8,0 %. 25 Von<br />
1853 sank der Anteil der Betreuten trotz starker<br />
Zuwanderung allmählich auf 4,0 % <strong>und</strong> erreichte<br />
1865 den Wert von 2,5 %. Die Armenpflegeausgaben<br />
der Stadt Elberfeld gingen<br />
1853 innerhalb eines Jahres von 47.149 Thlr.<br />
auf 23.550 Thlr. zurück. Zum Zeitpunkt der<br />
Reichsgründung zählte Elberfeld nach dem<br />
vollständigen Verschwinden des Straßen- <strong>und</strong><br />
Hausbettels zu den „bettelfreiesten“ Städten in<br />
Deutschland. Vor allem die Reduzierung der<br />
„Armenlast“, die trotz wiederkehrender Wirtschaftskrisen<br />
vergleichsweise niedrig bleib,<br />
war wesentlicher Anreiz für andere Städte <strong>und</strong><br />
Gemeinden, das Elberfelder System einzuführen.<br />
Vom Elberfelder System<br />
zur Ehrenamtlichen Sozialhilfe<br />
Die allgemeine Entwicklung von Wirtschaft<br />
<strong>und</strong> Gesellschaft machte von Zeit zu<br />
Zeit Anpassungen der Dienstordnungen für<br />
den ehrenamtlichen Sozialdienst in den Städten<br />
erforderlich, die das Elberfelder System<br />
übernommen hatten. Eine vollständige Übersicht<br />
über die diesbezügliche Literatur kann<br />
hier wegen der Fülle der Publikationen <strong>und</strong><br />
des Aktenmaterials nicht gegeben werden. 26<br />
Berücksichtigt werden müssten vor allem die<br />
Entwicklung <strong>und</strong> die Periodisierung der deutschen<br />
Sozialgesetzgebung in Bezug auf die<br />
wichtigsten Lebensrisiken wie Unfall, Krankheit,<br />
Invalidität, Alter <strong>und</strong> Arbeitslosigkeit <strong>und</strong><br />
deren kodifikatorische Zusammenfassung in<br />
der Reichsversicherungsordnung von 1911 sowie<br />
deren Einfluss auf die Gestaltung der Systeme<br />
ehrenamtlicher Armen- bzw. Sozialhilfe.<br />
27 An dieser Stelle muss eine kursorische<br />
Übersicht über wesentliche Veränderungen<br />
<strong>und</strong> Modifikationen genügen.<br />
Einen gravierenden Einschnitt in die Organisation<br />
der Armenpflege nach dem Vorbild<br />
des Elberfelder Systems stellt der Erste Weltkrieg<br />
mit seinen sozialen <strong>und</strong> wirtschaftlichen<br />
Folgen dar, die in Elberfeld gegen Kriegsende<br />
zur Planung <strong>und</strong> 1919 zur Errichtung eines in<br />
vier Abteilungen gegliederten städtischen<br />
Wohlfahrtsamtes 28 führten, das zusätzlich zur<br />
ehrenamtlichen Wohlfahrtspflege die von professionellen<br />
Sozialbediensteten geleiteten Aufgabenbereiche<br />
umfasste. Während die amtliche<br />
Wohlfahrtspflege vorrangig kriegsfolgenbedingte<br />
Hilfen leistete, beschränkte sich die<br />
ehrenamtliche auf ihre ursprünglichen armenpflegerischen<br />
Aufgaben, wobei darauf geachtet<br />
wurde, dass typisch ehrenamtliche nicht durch<br />
professionelle Tätigkeit ersetzt wurde. 1928<br />
bestanden in Elberfeld 42 Wohlfahrtsbezirke<br />
sowie ein Bezirk für Sonderfälle, in denen 716<br />
Ehrenbeamte auf der Gr<strong>und</strong>lage einer Dienstordnung<br />
vom 8.6.1923 tätig waren <strong>und</strong> die<br />
Durchführung neuer Aufgaben nach In-Kraft-<br />
Treten des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes<br />
(1922) <strong>und</strong> des Reichsjugendgerichtsgesetzes<br />
(1923) wahrnahmen. Nach der Vereinigung der<br />
beiden Städte Barmen <strong>und</strong> Elberfeld (1929)<br />
gab es in der Stadt Wuppertal 120 Wohlfahrtsbezirke,<br />
in denen insgesamt 1832 Ehrenbeamte,<br />
darunter 311 Frauen, freiwillig tätig waren.<br />
Bis 1933 stieg deren Zahl auf 1958 an.<br />
Während der Herrschaft des Nationalsozialismus<br />
(1937) erfolgte eine Anpassung der<br />
Zahl der Wohlfahrtsbezirke an die der Ortsgruppen<br />
der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt“<br />
(NSV). Die Zahl der in 83 Bezirken<br />
ehrenamtlich tätigen Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürger<br />
stieg auf 1627. 1936 war eine neue „Dienstordnung<br />
für die ehrenamtliche städtische Wohlfahrtspflege<br />
in Wuppertal“ in Kraft getreten,<br />
die deren Gleichschaltung mit der NSV besiegelte.<br />
In der Dienstordnung heißt es: „Das Ehrenamt<br />
des Pflegers verpflichtet durch geschichtliche<br />
Überlieferung <strong>und</strong> durch Anerkennung<br />
seiner Bedeutung <strong>und</strong> Notwendigkeit<br />
durch den nationalsozialistischen Staat den<br />
Träger des Amtes zu vorbildlicher <strong>und</strong> besonders<br />
verantwortungsbewusster Haltung innerhalb<br />
der Volksgemeinschaft <strong>und</strong> zur vorbehaltlosen<br />
Hingabe an die nationalsozialistische<br />
49
Staatsführung.“ 29 Bei der Bestellung der Bezirksvorsteher<br />
<strong>und</strong> der Pfleger wirkten die<br />
NSV-Ortsgruppenleiter mit. Nach der Einziehung<br />
zahlreicher ehrenamtlicher Mitarbeiter<br />
zur Wehrmacht verwaiste ein großer Teil der<br />
Bezirke. Nach den schweren Bombenangriffen<br />
auf Barmen <strong>und</strong> Elberfeld im Mai <strong>und</strong> Juni<br />
1943, die 7.700 Tote <strong>und</strong> Tausende von<br />
Schwerverletzten forderten, ganze Stadtteile<br />
vernichteten <strong>und</strong> eine Massenevakuierung der<br />
Bevölkerung notwendig machten, fielen 33<br />
Wohlfahrtsbezirke aus. 1946 waren aber immerhin<br />
in 49 Bezirken noch 608 ehrenamtliche<br />
Bezirksvorsteher <strong>und</strong> Pfleger im Amt. Ihre<br />
Zahl sank in der Folgezeit auf ca. 500, Ende<br />
1949 waren es 547 in 52 Bezirken. Die Zahl<br />
der Bezirke blieb danach bis Anfang der 90er-<br />
Jahre konstant. Unter Berücksichtigung der<br />
unvergleichlich schwierigeren sozialen <strong>und</strong><br />
wirtschaftlichen Umstände während der<br />
Kriegs- <strong>und</strong> Nachkriegszeit grenzt es an ein<br />
W<strong>und</strong>er, dass sich allen demotivierenden Hindernissen<br />
zum Trotz überhaupt noch Menschen<br />
fanden, die sich neben ihren eigenen<br />
kriegsbedingten persönlichen Problemen freiwillig<br />
<strong>und</strong> uneigennützig in den Dienst für das<br />
Gemeinwohl stellten <strong>und</strong> ihren gewissenhaften<br />
Beitrag zur Aufrechterhaltung des ehrenamtlichen<br />
Sozialdienstes der Stadt Wuppertal nach<br />
den Katastrophen zweier Weltkriege leisteten.<br />
Ehrenamtliche Sozialhilfe in der Praxis<br />
Das Elberfelder System war von Anfang an<br />
integraler Bestandteil der kommunalen Sozialbehörde,<br />
die unter Aufsicht <strong>und</strong> Kontrolle des<br />
von den Bürgern gewählten Stadtrats stand. 30<br />
Die Bezirksvorsteher <strong>und</strong> Armenpfleger 31 nahmen<br />
nach ihrer täglichen Berufsarbeit in unterschiedlichen<br />
Erwerbszweigen die ihnen obliegenden<br />
Pflichten während eines längeren Zeitraums<br />
unentgeltlich wahr. Sie unterlagen einer<br />
Dienstordnung, deren Einhaltung ein hohes<br />
Maß an Disziplin forderte. Bezüglich ihrer<br />
Aufgaben gab es keinen Unterschied zu den im<br />
19. Jahrh<strong>und</strong>ert noch relativ wenigen besoldeten<br />
Sozialbeamten, die ihnen nicht über-, sondern<br />
nebengeordnet waren. Sie nahmen exakt<br />
50<br />
dieselben Aufgaben wahr, die gegenwärtig von<br />
einer wachsenden Zahl hauptamtlicher Sozialarbeiterinnen<br />
<strong>und</strong> Sozialarbeiter ausgeübt werden.<br />
Trotz der hohen Ansprüche an Leistungsfähigkeit<br />
<strong>und</strong> Einsatzbereitschaft bestand kein<br />
Mangel an Interessenten für das Amt: ihre Zahl<br />
war zeitweise höher als der Bedarf. Der unbezahlte,<br />
freiwillige Dienst für das Gemeinwesen<br />
galt als hohe Ehre. Das öffentliche Ansehen<br />
<strong>und</strong> das den Ehrenamtlichen entgegengebrachte<br />
Vertrauen reichten als Motivation zur Amtsführung<br />
aus. 32 Daran änderte sich im Prinzip<br />
nichts im Verlauf von 140 Jahren.<br />
Bis etwa 1992 blieb die organisatorische<br />
Einbindung des ehrenamtlichen Sozialdienstes<br />
in die Sozialbehörde unbestritten. Die Mitarbeiter<br />
wurden zwar nicht mehr vom Rat der<br />
Stadt gewählt, sondern vom Oberstadtdirektor<br />
auf Vorschlag der Sozialhilfebezirke, Kirchen<br />
<strong>und</strong> Verbände urk<strong>und</strong>lich bestellt <strong>und</strong> vereidigt.<br />
33 Die Vorgeschlagenen mussten die für<br />
Ehrenbeamte erforderlichen Voraussetzungen<br />
nach dem Beamtengesetz des Landes NW erfüllen<br />
<strong>und</strong> erhielten einen Dienstausweis der<br />
Stadt, der sie zur Ausübung ihres Amtes gegenüber<br />
Dritten legitimierte. 34 Sie waren zur<br />
Verschwiegenheit <strong>und</strong> zur Treue gegenüber der<br />
Stadt verpflichtet. 35 Sie sollten nicht jünger als<br />
25 <strong>und</strong> nicht älter als 75 Jahre sein. Sie wurden<br />
für eine Amtszeit von fünf Jahren ernannt, 36<br />
die meisten übten ihr Amt jedoch wesentlich<br />
länger, manche sogar 30, 40 <strong>und</strong> 50 Jahre,<br />
aus. 37 Ihre Tätigkeiten umfassten außer den<br />
„klassischen“ Aufgaben der Bedarfsermittlung<br />
<strong>und</strong> der Gewährung materieller Hilfe nach geltendem<br />
Sozialhilferecht insbesondere regelmäßige<br />
Besuchsdienste, persönliche Beratung,<br />
Behördengänge, Übernahme von Vorm<strong>und</strong>schaften<br />
<strong>und</strong> Pflegschaften sowie eine Vielzahl<br />
unterschiedlicher persönlicher Hilfen für Personen<br />
aller Altersgruppen. Sie wohnten in der<br />
Regel innerhalb des Sozialhilfebezirks <strong>und</strong> besuchten<br />
mindestens einmal im Monat, bei Bedarf<br />
wesentlich öfter, die ihnen in der Bezirksversammlung<br />
zugewiesenen Hilfeempfänger,<br />
deren Zahl zwischen sechs <strong>und</strong> zehn je Mitarbeiter<br />
schwankte. Der Vorsteher betreute keinen<br />
eigenen Personenkreis, sondern suchte alle<br />
Hilfeempfänger etwa viermal jährlich in ihren
Wohnungen auf, um sich persönlich ein Bild<br />
von der Art <strong>und</strong> Notwendigkeit wirtschaftlicher<br />
<strong>und</strong> psychosozialer Hilfe des Klientels<br />
zu machen.<br />
Die Bezirksversammlung trat in den letzten<br />
Jahrzehnten monatlich einmal unter dem Vorsitz<br />
des Vorstehers an einem Werktag 38 in einem<br />
zentral gelegenen Raum innerhalb des Bezirks<br />
zusammen. Die Sitzung dauerte in der<br />
Regel zwei St<strong>und</strong>en. Die Versammlung bestand<br />
aus den Ehrenbeamten, den im Bezirk<br />
tätigen Sozialarbeitern <strong>und</strong> einem vom Sozialamt<br />
bestellten, beamteten Schriftführer, der<br />
das Sitzungsprotokoll verfasste <strong>und</strong> den kurzen<br />
Dienstweg zwischen Bezirk <strong>und</strong> Sozialamt sicherstellte.<br />
Der Vorsteher führte den Schriftverkehr<br />
<strong>und</strong> die Akten des Bezirks, stellte die<br />
Bewilligungsscheine für Sachleistungen <strong>und</strong><br />
Krankenscheine für nicht krankenversicherte<br />
Personen aus. Er nahm an den vom Sozialdezernenten<br />
einberufenen Bezirksvorsteherversammlungen<br />
teil <strong>und</strong> informierte die Mitarbeiter<br />
seines Bezirks über die behandelten Beratungspunkte.<br />
Exemplarisch sollen die Dienstleistungen<br />
eines Bezirks aufgezeigt werden, die im Verlauf<br />
von mehr als 30 Jahren zusätzlich zu zahlreichen<br />
Vorm<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Pflegschaften erbracht<br />
wurden. In ihm wurden insgesamt 72 Personen<br />
von durchschnittlich fünf bis sechs Ehrenbeamten<br />
betreut: Bei Betreuungsaufnahme waren<br />
17 % jünger als 60 Jahre, 42 % 60–70 Jahre,<br />
35 % 70–80 Jahre <strong>und</strong> 6 % älter als 80 Jahre.<br />
Zum Zeitpunkt der Betreuungseinstellung waren<br />
12 % jünger als 70 Jahre, der Anteil der<br />
70–80-Jährigen betrug 26 % <strong>und</strong> der der<br />
80–100-Jährigen 62 %. Bis zu ihrem Tod wurden<br />
mehr als die Hälfte aller Hilfeempfänger in<br />
ihren Wohnungen von ehrenamtlichen Mitarbeitern<br />
betreut <strong>und</strong> damit ihre Hospitalisierung<br />
vermieden. Wegen Umzugs in ein Altenheim<br />
schieden 12,6 % aus, 7,6 % wegen z. T. geringfügiger<br />
Überschreitung der Einkommensgrenzen<br />
nach Rentenerhöhungen <strong>und</strong> 6,0 % wegen<br />
Wohnortwechsels. Zu den aus finanziellen<br />
Gründen aus der Betreuung ausgeschiedenen<br />
<strong>und</strong> den in Altenheime verzogenen Hilfeempfängern<br />
blieben die regelmäßigen Kontakte erhalten.<br />
Die durchschnittliche Dauer der vom<br />
Bezirk durchgeführten Betreuung betrug 19,7<br />
Jahre; knapp 50 % wurden sogar 25 <strong>und</strong> mehr<br />
Jahre betreut. 1997 verblieben dem Bezirk<br />
noch 15 hochaltrige Personen, die bis zu ihrem<br />
Tod regelmäßig besucht wurden.<br />
Das langjährige, kontinuierliche Engagement<br />
der Mitarbeiter vermittelte ihnen innerhalb<br />
des Sozialhilfebezirks öffentliche Bekanntheit<br />
<strong>und</strong> eine genaue Orts- <strong>und</strong> Personenkenntnis.<br />
Sie kannten nicht nur die Hilfeempfänger<br />
<strong>und</strong> ihre Angehörigen, Nachbarn <strong>und</strong><br />
Bekannten, sondern auch deren Hausärzte, Gemeindepfarrer<br />
<strong>und</strong> -schwestern. In den im Bezirk<br />
befindlichen Altenheimen, Altentagesstätten,<br />
Kindergärten <strong>und</strong> Kinderheimen waren sie<br />
gern gesehene Ansprechpartner. Ihre Tätigkeit<br />
beschränkte sich nicht nur auf die Betreuung<br />
der ihnen zugewiesenen Personen, sondern bezog<br />
auch andere, vor allem Alleinstehende <strong>und</strong><br />
von sozialer Isolierung Bedrohte ihres Bezirks<br />
im Rahmen der Altenhilfe 39 sowie Kinder, Jugendliche<br />
<strong>und</strong> deren Eltern im Rahmen der Jugendhilfe<br />
40 mit ein. Die Besuche wurden auch<br />
während eines vorübergehenden Krankenhausaufenthaltes<br />
fortgesetzt. Einmal jährlich wurden<br />
von den Mitarbeitern privat finanzierte<br />
Ausflüge in die nähere Umgebung mit kurzen<br />
Spaziergängen <strong>und</strong> Kaffeetrinken unternommen.<br />
Nie wurde ein Fall bekannt, in dem ein<br />
Mitarbeiter von einem Hilfebedürftigen abgelehnt<br />
wurde.<br />
Der Niedergang des Elberfelder Systems<br />
Er setzte im Laufe des Jahres 1991 ein <strong>und</strong><br />
vollzog sich in mehreren Schritten bis etwa<br />
zum Frühjahr 1997.<br />
1. Er begann zunächst mit der Verzögerung <strong>und</strong><br />
bald darauf mit der völligen Einstellung der<br />
Informationsvermittlung durch das Sozialamt.<br />
Änderungen z. B. der Pflegesätze <strong>und</strong><br />
einschlägiger Sozialgesetze, die zur verantwortlichen<br />
Beratung des Klientels dringend<br />
erforderlich waren, wurden nicht mehr weitergegeben.<br />
Schriftführer blieben den Bezirkssitzungen<br />
unentschuldigt fern, Sitzungsniederschriften<br />
wurden nicht mehr erstellt.<br />
51
2. Obwohl die meisten Bezirke über eine ausreichende<br />
Betreuungskapazität verfügten, 41<br />
erfolgten keine Neuzuweisungen von Hilfeempfängern<br />
mehr. Die Folge war, dass die<br />
Zahl der zu betreuenden Personen bei<br />
gleichzeitigem Anstieg der Sozialhilfequote<br />
stark zurückging, zahlreiche Sozialhelfer die<br />
Freude an ihrer Tätigkeit verloren <strong>und</strong> deshalb<br />
ausschieden <strong>und</strong> eine Werbung neuer<br />
ehrenamtlicher Mitarbeiter nicht mehr sinnvoll<br />
erschien. Die allmähliche Drosselung<br />
der Zahl der Betreuungsfälle im Verlauf weniger<br />
Jahre stand im Widerspruch zum Prinzip<br />
des Vorrangs der Betreuung des Klientels<br />
durch Ehrenbeamte. 42<br />
3. Im zeitlichen Zusammenhang mit der Reduzierung<br />
der Betreuungskapazität folgte der<br />
Entzug der Bewilligung von Sozialhilfeleistungen<br />
durch den Bezirksvorteher. 43<br />
Nachdem die dazu erforderlichen Informationen<br />
den Bezirken vorenthalten worden<br />
waren, wurde dieser Schritt mit der angeblich<br />
schwieriger werdenden Rechtslage im<br />
Sozialhilfebereich begründet. 44 Die vom Bezirk<br />
aufgr<strong>und</strong> individueller Prüfung vor Ort<br />
bewilligten Sachbeihilfen <strong>und</strong> Mehrbedarfsleistungen<br />
wurden den Hilfeempfängern<br />
von der Stadtkasse nicht mehr überwiesen.<br />
Damit wurde den Bezirken die Zuständigkeit<br />
für die wirtschaftliche Hilfe entzogen.<br />
4. Nach Beseitigung der für die Ehrenamtliche<br />
Sozialhilfe essentiellen personellen, wirtschaftlichen<br />
<strong>und</strong> organisatorischen Ressourcen<br />
wurden die Bezirke ohne Einwilligung<br />
der ehrenamtlichen Mitarbeiter aufgelöst.<br />
An ihre Stelle traten sieben Bezirkssozialdienste,<br />
die historisch unterschiedlich entwickelte<br />
<strong>und</strong> sozialökonomisch heterogene<br />
Stadtteile umfassten, die fortan von je einem<br />
hauptamtlichen Mitarbeiter der Sozialverwaltung<br />
geleitet wurden. Die in ihren früheren<br />
Bezirken verbliebenen Ehrenbeamten<br />
wurden ohne ihr Einverständnis auf die neuen<br />
Bezirkssozialdienste verteilt. 45 Die ohne<br />
Rücksicht auf gewachsene persönliche Bindungen<br />
zwischen den Mitarbeitern <strong>und</strong> zu<br />
ihrem Klientel willkürlich vorgenommene<br />
52<br />
Zuordnung der Ehrenamtlichen zu den Bezirkssozialdiensten<br />
wurde mit Entrüstung<br />
aufgenommen <strong>und</strong> abgelehnt. Mit der Beseitigung<br />
der kleinräumlichen Bezirksstruktur<br />
endete die Zusammenarbeit mit den Kirchengemeinden,<br />
Alten- <strong>und</strong> Kinderheimen,<br />
Kindergärten, Altentagesstätten, Ärzten,<br />
Apothekern, Einzelhandelsgeschäften, Industrie-<br />
<strong>und</strong> Handwerksunternehmen in den<br />
Bezirken. Ihnen wurde jede Chance genommen,<br />
die zur Unterstützung ihres Klientels<br />
notwendigen Informationen zu erhalten. 46<br />
Damit war der irreversible Schritt zur Abkehr<br />
vom Prinzip der Ortsbezogenheit 47 individueller<br />
Sozialhilfe vollzogen.<br />
5. Der Institutionalisierung von Bezirkssozialdiensten<br />
folgte zeitgleich die Abschaffung<br />
des Amtes der Vorsteher <strong>und</strong> der Bezirksversammlung.<br />
48 Eine weitere Folge war die Beseitigung<br />
des Ehrenbeamtenstatus. Eine Entlassungsurk<strong>und</strong>e<br />
wurde nicht ausgestellt,<br />
auch die Dienstausweise <strong>und</strong> -siegel wurden<br />
nicht eingezogen. Der gesamte Vorgang<br />
vollzog sich unter Ausschluss des Plenums<br />
des Stadtrats, dem die Satzungskompetenz<br />
für einen Schritt von weittragender kommunalpolitischer<br />
Bedeutung zusteht. 49 An der<br />
denkwürdigen „Diskussion mit den Ehrenbeamtinnen<br />
<strong>und</strong> Ehrenbeamten“, die unter<br />
Leitung des Sozialdezernenten am „Europäischen<br />
Tag der Ehrenamtlichkeit“ am<br />
5.12.1996 stattfand, erlosch de facto das<br />
„Elberfelder System“, zu dessen 125.<br />
Jahrestag seines Bestehens im Jahr 1978 der<br />
damalige Ministerpräsident des Landes NW,<br />
Dr. h. c. Johannes Rau, die Festrede in der<br />
Wuppertaler Stadthalle hielt. Bei jener Diskussion<br />
im Dezember 1996 waren nur drei<br />
Mitglieder zweier Ratsfraktionen anwesend,<br />
die sich aber laut Protokoll nicht zu Wort<br />
meldeten. 50 Die als Reform ausgegebene<br />
Beseitigung der letzten Reste des Elberfelder<br />
Systems <strong>und</strong> deren Ersatz durch neue<br />
Formen ehrenamtlicher Sozialarbeit sollte<br />
im Juli 1994 von einer aus Ehren- <strong>und</strong><br />
Hauptamtlichen bestehenden Planungsgruppe<br />
vorbereitet werden. Doch schon wenige<br />
Wochen später stellte sie ihre Arbeit ergeb-
nislos ein. Zwei Jahre später, im April 1996,<br />
wurde eine neue siebenköpfige „Planungsgruppe“<br />
gebildet, die sich ausschließlich aus<br />
Hauptamtlichen zusammensetzte. Diese<br />
Gruppe entwarf das Konzept zur „Weiterentwicklung<br />
der ehrenamtlichen sozialen<br />
Arbeit in Wuppertal“, das sich inzwischen<br />
als nicht realisierbar erwiesen hat.<br />
Gegenwärtiger Stand<br />
150 Jahre nach In-Kraft-Treten der Neuen<br />
Armenordnung bleibt nur noch die unter Einsatz<br />
systemüberwindender Planungsstrategien<br />
nicht mehr rückgängig zu machende Zerschlagung<br />
des Elberfelder Systems festzustellen. An<br />
seine Stelle trat eine Sozialbürokratie, die es in<br />
den vergangenen Jahren nicht vermochte, die<br />
notwendige Zahl von Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürgern<br />
für ein verantwortungsvolles ehrenamtliches<br />
Engagement in der Sozialarbeit zu gewinnen<br />
<strong>und</strong> damit ihr Versprechen einzulösen, eine<br />
Reform des Ehrenamtlichen Sozialdienstes zu<br />
realisieren. Durch dessen Beseitigung ist die<br />
Stadt Wuppertal um ein herausragendes Spezifikum<br />
ihrer Bürgerkultur <strong>und</strong> Urbanität ärmer<br />
geworden: ärmer an flächendeckender, intensiver<br />
<strong>und</strong> individualisierender sozialer Hilfe von<br />
Mensch zu Mensch, ärmer auch an Erfahrungen,<br />
dass ehrenamtliche Mitwirkung der Bürger<br />
an der kommunalen Selbstverwaltung ein<br />
unverzichtbares Prinzip freiheitlich-demokratischer<br />
Gr<strong>und</strong>ordnung ist. 51<br />
Im November 1985 besuchte eine Gruppe<br />
von 40 Japanern die Stadt Wuppertal, um sich<br />
über das zum damaligen Zeitpunkt noch intakte<br />
„Elberfelder System“ zu informieren. Aus<br />
diesem Anlass überreichte der Leiter der Delegation<br />
der Freiwilligen Wohlfahrtspfleger Japans,<br />
Shigetoshi Takahashi, eine Gedenktafel<br />
mit folgendem Wortlaut:<br />
„Liebe Wuppertaler! Im Namen der freiwilligen<br />
Wohlfahrtspfleger Japans möchte ich<br />
Ihnen hiermit meinen Dank für die tiefe<br />
Fre<strong>und</strong>schaft unserer beiden Organisationen<br />
k<strong>und</strong>tun. – Das bestehende Sozialreformkomitee,<br />
welches nach dem Muster Ihrer im 19.<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert gegründeten Bewegung aufgebaut<br />
ist, zählt nach knapp 70-jähriger Tätigkeit<br />
174.000 Mitglieder. Es freut mich überaus,<br />
dass ich dieses Jahr die Gelegenheit habe, Ihre<br />
Stadt, welche als die Wiege der Freiwilligen<br />
Wohlfahrtspflege gilt, persönlich kennenzulernen.<br />
Möge der Geist <strong>und</strong> die fre<strong>und</strong>schaftlichen<br />
Bande dazu beitragen, unsere allerseits<br />
ersprießlichen Kontakte weiter zu vertiefen.“ 52<br />
Anmerkungen:<br />
1 Dieser Aufsatz ist zuerst erschienen in: Zeitschrift<br />
für Sozialhilfe <strong>und</strong> Sozialgesetzbuch<br />
12/2002, S. 716–722.<br />
2 Die Beschlussfassung erfolgte am 9.7.1852. Die<br />
am 28.12.1852 beschlossene Geschäftsordnung<br />
regelte die Pflichten der unter dem Vorsitz des<br />
Bürgermeisters oder seines Vertreters tagenden<br />
Gemeindeverordneten. Die am selben Tag beschlossene<br />
„Instruction für die Armenpfleger<br />
<strong>und</strong> Bezirksvorsteher der städtischen Armenverwaltung<br />
in Elberfeld“ trat am 1.1.1853 in<br />
Kraft.<br />
3 Lammers, Stadt Elberfeld, in: Arwed Emminghaus<br />
(Hrsg.), Das Armenwesen <strong>und</strong> die Armengesetzgebung<br />
in europäischen Staaten, Berlin<br />
1870. Des Weiteren: Münsterberg, Das Elberfelder<br />
System, Festbericht aus Anlaß des fünfzigjährigen<br />
Bestehens der Elberfelder Armenordnung,<br />
Leipzig 1903, S. 44–46. Die Schrift<br />
Münsterbergs erschien anlässlich der 50-Jahr-<br />
Feier des Elberfelder Systems <strong>und</strong> enthält zahlreiche<br />
deutsch- <strong>und</strong> fremdsprachige Literaturangaben<br />
zu den in den ersten Jahrzehnten seines<br />
Bestehens erschienenen Schriften.<br />
4 Mischler/v. Carona, die Armenpflege nach Elberfelder<br />
Vorbild in den österreichischen Städten,<br />
in: Österreichs Wohlfahrtseinrichtungen<br />
1848–1898, Bd. 1, S. 391–419, Wien 1907.<br />
5 Münsterberg (Hrsg.), Bibliographie des Armenwesens,<br />
Bibliographie charitable, Schriften der<br />
Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrts-Einrichtungen,<br />
Abteilung für Armenpflege <strong>und</strong><br />
Wohlthätigkeit, Berlin 1900. Das Werk enthält<br />
chronologisch <strong>und</strong> nach Ländern geordnete Angaben<br />
über die Beziehungen, die zwischen den<br />
Wohlfahrtseinrichtungen der einzelnen Länder<br />
<strong>und</strong> dem Elberfelder System bestanden.<br />
6 Münsterberg, Das Elberfelder System, Festschrift,<br />
a. a. O., S. 46.<br />
7 Münsterberg, Das Elberfelder System, Festschrift,<br />
a. a. O. S. 47 f.<br />
53
8 Friedländer, Deutsches Vorwort zu „Gr<strong>und</strong>begriffe<br />
<strong>und</strong> Methoden der Sozialarbeit“, Neuwied<br />
<strong>und</strong> Berlin 1966, S. V. Friedländer (geb. 1891)<br />
war von 1921–1933 Stadtrat <strong>und</strong> Dezernent des<br />
Wohlfahrtsamtes in Berlin, später Dozent in<br />
Chicago <strong>und</strong> Professor of Social Welfare an der<br />
University of California, at Berkeley. Er hat entscheidend<br />
zur internationalen Verbreitung der<br />
Kenntnis des „Elberfelder Systems“ beigetragen.<br />
Siehe hierzu seine autobiographischen Notizen<br />
in: Ludwig J. Pongratz (Hrsg.), Pädagogik<br />
in Selbstdarstellungen, Bd. IV, Hamburg 1982,<br />
S. 58–80, insbes. S. 62.<br />
9 Unter der Bezeichnung „The System of Community<br />
Volunteers in Japan“.<br />
10 Minsei-Iin, The System of Community Volunteers<br />
in Japan, September 1979. Im Brief eines<br />
japanischen Gastprofessors am Japanologischen<br />
Institut der Universität Bonn, Prof. Dr. Shuzo<br />
Ono, an den Verfasser vom Januar 1993 wird<br />
auf die erste japanische Publikation zum „Elberfelder<br />
System“ von Yuichi Inoue, Entwicklung<br />
der Selbstregierung, hingewiesen, die schon<br />
1912 in japanischer Sprache erschien.<br />
11 § 1 der “Instruction für die Armenpfleger <strong>und</strong><br />
Bezirksvorsteher der städtischen Armenverwaltung<br />
in Elberfeld“ vom 28.12.1852 [im Folgenden<br />
zitiert: „Instruction] hat folgenden Wortlaut:<br />
„Zu den wichtigsten bürgerlichen Ehrenämtern<br />
gehören die der Armenpfleger <strong>und</strong> Bezirksvorsteher.<br />
Berufen, für das Wohl der ihnen anvertrauten<br />
Armen zum Besten der Gemeinde zu<br />
sorgen, bedürfen sie vor allem zu einer würdigen<br />
Führung ihres Amtes der Liebe <strong>und</strong> des<br />
Ernstes; - der Liebe, um mit wohlwollendem<br />
Herzen in Fre<strong>und</strong>lichkeit zu pflegen, <strong>und</strong> des<br />
Ernstes, um mit Festigkeit zu verhindern, daß<br />
die Gaben nicht zur Trägheit <strong>und</strong> zum Müßiggange<br />
führen, oder gar im Dienste des Lasters<br />
vergeudet werden“ (Hervorh. im Original). Die<br />
„Instruction“ schließt mit dem Satz (in Fettdruck):<br />
„Möge Gott seinen Segen zu der neuen<br />
Einrichtung geben!“<br />
12 Gemeinde-Ordnung für den Preußischen Staat<br />
vom 11.3.1850. Ausgegeben zu Berlin, den<br />
27.3.1850, in: Gesetz-Sammlung für die Königlichen<br />
Preußischen Staaten, Nr., 18. Jg. 1850<br />
(Nr. 3254.), S. 228.<br />
13 „Gemeindewähler“ sind wahlberechtigte Bürger<br />
einer Kommunalgemeinde.<br />
14 Bankier Daniel von der Heydt (1802–1874) entstammte<br />
einer evangelisch-reformierten Elberfelder<br />
Bankiersfamilie <strong>und</strong> gründete 1847 zu-<br />
54<br />
sammen mit Hermann Friedrich Kohlbrügge die<br />
Niederländisch-Reformierte Gemeinde Elberfeld.<br />
Er genießt das besondere Interesse sozialkritischer<br />
Geschichtsschreiber, die ihn aus dem<br />
Blickwinkel der Emanzipation der Arbeiterklasse<br />
als exemplarischen Repräsentanten einer reaktionären,<br />
vorindustriellen Armenpolitik identifizieren<br />
<strong>und</strong> die „Entmythologisierung“ des<br />
ihm zugeschriebenen Konzepts des „Elberfelder<br />
Systems“ betreiben möchten. Siehe hierzu: Herberts,<br />
Alles ist Kirche <strong>und</strong> Handel ..., Wirtschaft<br />
<strong>und</strong> Gesellschaft des Wuppertals im Vormärz<br />
<strong>und</strong> in der Revolution 1848/49. Bergische<br />
Forschungen, Bd. XII, hrsg. im Auftrage des<br />
Bergischen Geschichtsvereins von Köllmann<br />
<strong>und</strong> Reulecke, Neustadt an der Aisch 1980,<br />
S. 228–230; des Weiteren vor allem: Lube,<br />
Mythos <strong>und</strong> Wirklichkeit des Elberfelder<br />
Systems, in: Gründerzeit. Versuch einer Grenzbestimmung<br />
im Wuppertal. Abhandlungen <strong>und</strong><br />
Spezialbiographie, Hrsg. von Beeck unter Mitarbeit<br />
von Becker, Köln 1984, S. 154–184, sowie<br />
Lube, Vom „Gemeinsamen Wohl“ zur<br />
Wohltätigkeit – Elberfelder Armenpflege im<br />
Wandel des Zeitgeistes, in: de Buhr/ Küppers/<br />
Wittmütz (Hrsg.), Die Bergischen, „ein Volk<br />
von zugespitzter Reflexion“. Region-Schule-<br />
Mentalität, in: Festschrift für Karl-Hermann<br />
Beeck, Wuppertal 1992, S. 59–71.<br />
15 Zur Annahme der Wahl war der Gewählte<br />
gemäß § 137 der Preußischen Gemeindeordnung<br />
verpflichtet. Siehe auch §§ 20 <strong>und</strong> 21 der<br />
Gemeindeordnung des Landes Nordrhein-Westfalen<br />
vom 6.10.1987 (künftig zitiert GO NW).<br />
16 So auch gegenwärtig noch § 20 Abs. 2 der Gemeindeordnung<br />
des Landes NW vom<br />
6.10.1987: „Der Bürger ist zur nebenberuflichen<br />
Übernahme eines auf Dauer berechneten<br />
Kreises von Verwaltungsgeschäften verpflichtet<br />
(Ehrenamt).“<br />
17 Siehe: Werner, H<strong>und</strong>ert Jahre Hilfe von Mensch<br />
zu Mensch, in: Hilfe von Mensch zu Mensch,<br />
100 Jahre Elberfelder Armenpflege-System<br />
1853–1953, hrsg. im Auftrage der Stadtverwaltung<br />
Wuppertal vom Presse- <strong>und</strong> Werbeamt,<br />
Wuppertal o. J., S. 42. Im Zusammenhang mit<br />
der Frauenbewegung vollzog sich eine radikale<br />
Wendung von der ehrenamtlich-männlichen zu<br />
einer überwiegend weiblich-professionellen Sozialarbeit<br />
in Deutschland. In die vor dem ersten<br />
Weltkrieg entstandenen Wohlfahrtsschulen<br />
(Gertrud Bäumer, Alice Salomon, Hedwig Lange<br />
<strong>und</strong> Anna von Gierke) wurden ausschließlich
Frauen aufgenommen. Erst ab 1924 wurden, z.<br />
B. in das Berliner Seminar für Jugendwohlfahrt,<br />
auch Männer als Schüler aufgenommen. Siehe<br />
Friedländer, Selbstdarstellung, a. a. O., S. 64.<br />
Bis zu ihrer faktischen Auflösung 1996/97 arbeiteten<br />
in der ehrenamtlichen Sozialhilfe der<br />
Stadt Wuppertal 57 Männer <strong>und</strong> 63 Frauen.<br />
18 Die Verpflichtung der Gemeinden zur Armenpflege<br />
war im gleichnamigen preußischen Gesetz<br />
vom 31.12.1842 geregelt.<br />
19 Instruction, § 4. Diese Definition blieb jahrzehntelang<br />
unverändert, 70 Jahre später wurde<br />
sie sogar noch enger gefasst. So heißt es in § 4<br />
der Dienstordnung [künftig zitiert: DO] von<br />
1923: „Wer nicht im Besitze der notwendigsten<br />
Mittel zur Bestreitung der zum Lebensunterhalt<br />
unentbehrlichsten Gegenstände für sich <strong>und</strong> seine<br />
Familie <strong>und</strong> dabei körperlich oder aus anderen<br />
zwingenden Gründen außerstande ist, sich<br />
diese Mittel durch eigene Arbeit oder durch die<br />
Arbeit von Familienangehörigen zu beschaffen,<br />
ist, wenn er nicht von irgendeiner Seite die erforderlichen<br />
Mittel erhält, für die Dauer dieses<br />
Zustandes als hilfsbedürftig anzusehen“. Zitiert<br />
nach: Werner, a. a. O. S. 66 f.<br />
20 Instruction, § 5.<br />
21 Siehe hierzu: Deimling, Die Gründung Bridewells<br />
im Kontext der europäischen Armenfürsorge<br />
im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert, in: Josef Maria Häußling,<br />
Richard Reindl (Hrsg.), Sozialpädagogik<br />
<strong>und</strong> Strafrechtspflege. Gedächtnisschrift für<br />
Max Busch, Pfaffenweiler 1995, S. 42–84.<br />
22 Durch das 1. Gesetz zur Reform des Strafrechts<br />
vom 25.6.1969 wurde der Arbeitszwang (§ 362<br />
StGB) aufgehoben <strong>und</strong> das Arbeitshaus abgeschafft,<br />
nachdem das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht<br />
durch eine Entscheidung 1968 den Zweck der<br />
Besserung eines Erwachsenen nicht mehr als<br />
gewichtigen Gr<strong>und</strong> für die Entziehung der persönlichen<br />
Freiheit gemäß § 73 Abs. 2 <strong>und</strong> 3 BS-<br />
HG für ausreichend anerkannt hatte (BVerfGE<br />
22. Bd. (1968), S. 218, 219, 220).<br />
23 V. Holtzendorff/v. Jagemann (Hrsg.), Handbuch<br />
des Gefängniswesens, 2. Bd., Hamburg 1888,<br />
S. 267.<br />
24 Instruction § 5.<br />
25 1852 hatte Elberfeld 50.364 Einwohner; es mussten<br />
also rd. 4.000 Personen unterstützt werden.<br />
150 Jahre später beträgt die Sozialhilfequote bei<br />
367.000 Einwohnern in Wuppertal 6,0 %. Siehe:<br />
Wuppertal statistik-info, I. Quartal 2002, hrsg.<br />
vom Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal.<br />
Das Landesamt für Statistik NW gibt für Wup-<br />
pertal im Jahre 2001 die Zahl von 20.974 Empfängern<br />
von Sozialhilfe an; auf je 1.000 Einwohner<br />
kamen 57 Empfänger von laufender Hilfe<br />
zum Lebensunterhalt. 1998 waren es noch<br />
49 je 1000. Das Durchschnittsalter der Hilfeempfänger<br />
beträgt 30 Jahre; 7.697 sind unter<br />
18 Jahren. Quelle: Westdeutsche Zeitung vom<br />
17.7.2002.<br />
26 Über die in Fn. 2 genannte Literatur hinaus wird<br />
exemplarisch verwiesen auf die von Münsterberg,<br />
Berlin 1900, zusammengestellte 160-seitige<br />
<strong>und</strong> mit einem Register versehene „Bibliographie<br />
des Armenwesens. Bibliographie charitable“,<br />
auf die staatswissenschaftliche Dissertation<br />
von Müller, „Die theoretischen <strong>und</strong> allgemeinpraktischen<br />
Fürsorgelehren Emil Münsterbergs,<br />
eine Darstellung <strong>und</strong> Würdigung“ (Univ.<br />
Münster), Bottrop 1933, die staatswissenschaftliche<br />
Dissertation von Schlaudraff, „Ein Vergleich<br />
zwischen dem Elberfelder, dem Straßburger<br />
<strong>und</strong> dem Frankfurter System in der Armenpflege“<br />
(Univ. Erlangen), Nürnberg-Zirndorf<br />
1932, Deimling, 125 Jahre ehrenamtliche Sozialhilfe<br />
der Stadt Wuppertal – Vorgeschichte<br />
<strong>und</strong> gegenwärtige Situation, Zeitschrift für Sozialhilfe,<br />
16. Jg., H. 12, Dezember 1977, S. 353-<br />
358; Berger, Die ehrenamtliche Tätigkeit in der<br />
Sozialarbeit – Motive, Tendenzen, Probleme –<br />
Dargestellt am Beispiel des Elberfelder Systems.<br />
Mit einem Vorwort von Deimling, Frankfurt<br />
a. M. Bern, Las Vegas 1979.<br />
27 Siehe hierzu: Hockerts; Die historische Perspektive<br />
– Entwicklung <strong>und</strong> Gestalt des modernen<br />
Sozialstaats in Europa, in: Veröffentlichungen<br />
der Walter-Raymond-Stiftung, Bd. 35: Sozialstaat<br />
– Idee <strong>und</strong> Entwicklung, Reformzwänge<br />
<strong>und</strong> Reformziele, Köln 1996, S. 27–48.<br />
28 Der Wandel sozialpolitischer Auffassungen in<br />
Legislative <strong>und</strong> Exekutive im Verlauf von 150<br />
Jahren spiegelt sich u. a. in der Aufeinanderfolge<br />
der „Kennworte“ Armenpflege – Wohlfahrtspflege<br />
– Volkswohlfahrtspflege – Fürsorge – Sozialhilfe<br />
wieder, denen sich zeitgleich die Berufsbezeichnungen<br />
der Haupt- <strong>und</strong> Ehrenamtlichen<br />
anpassen. Aus dem Armenpfleger wird der<br />
Wohlfahrtspfleger <strong>und</strong> Volkswohlfahrtspfleger,<br />
aus diesem der Fürsorger <strong>und</strong> aus diesem der<br />
Sozialarbeiter bzw. Sozialhelfer. Konstant blieb<br />
die Bezeichnung des Bedürftigen als „Empfänger“<br />
von Armen-, Wohlfahrts-, Fürsorge- <strong>und</strong><br />
Sozialhilfe. Neuerdings scheint sich ein dienstleitungs-<br />
<strong>und</strong> professionstheoretischer Paradigmenwechsel<br />
anzukündigen, der von interessier-<br />
55
ter berufspolitischer Seite favorisiert wird. Der<br />
Empfänger staatlicher Sozialleistungen wird<br />
nun zum „Konsumenten“, „Nutzer“, „Verbraucher“<br />
bzw. „K<strong>und</strong>en“, also zum „Geber“ bzw.<br />
„Gewährer“ ideeller Gratifikationen zusätzlich<br />
zum Tarifgehalt des „Dienstleisters“. Die<br />
Rechtsansprüche des „K<strong>und</strong>en“ sollen durch<br />
„professionelle Erbringungsverhältnisse“ <strong>und</strong><br />
die Einführung neuer Qualitätsmanagementsysteme<br />
gesichert werden.<br />
29 Zitiert nach: Werner, a. a. O., S. 70.<br />
30 Noch in den Erläuterungen 1. 2. d) zur „Dienstordnung<br />
für den Ehrenamtlichen Sozialdienst<br />
der Stadt Wuppertal vom 1.3.1987“ (im Folgenden:<br />
DO 87) heißt es: „Der ehrenamtliche Sozialdienst<br />
nimmt einen wichtigen Teil der Aufgaben<br />
des Sozialamtes wahr. Er betreut Hilfeempfänger<br />
<strong>und</strong> bewilligt im Rahmen einer Dienstordnung<br />
materielle Hilfe. (...) Er erkennt frühzeitig<br />
die Notwendigkeit wirtschaftlicher oder anderer<br />
Hilfen nach dem BSHG.“<br />
31 Es handelte sich bei ihnen keineswegs um Honoratioren<br />
der „Leisure Class“, sondern um berufstätige<br />
Personen mit hohen Wochen-, Jahres<strong>und</strong><br />
Lebensarbeitszeiten, die sich überwiegend<br />
aus der sozialen Mittelschicht rekrutierten.<br />
32 Erst in den letzten Jahrzehnten wurde eine Aufwandspauschale<br />
von monatlich 10 DM für<br />
Briefporto, Telefon <strong>und</strong> Fahrtkosten vom Sozialamt<br />
bezahlt <strong>und</strong> einmal jährlich ein allseits beliebter,<br />
eintägiger Ausflug mit den Ehrenbeamten<br />
sämtlicher Bezirke <strong>und</strong> deren Angehörigen<br />
durchgeführt.<br />
33 Die Ernennungsurk<strong>und</strong>e, die von Oberstadtdirektor<br />
<strong>und</strong> Sozialdezernenten unterzeichnet<br />
wurde, hatte folgenden Wortlaut: „Ich ernenne<br />
(Name) zum ehrenamtlichen Sozialhelfer (bzw.<br />
Bezirksvorsteher) des x. Bezirks der ehrenamtlichen<br />
Sozialhilfe der Stadt Wuppertal unter Berufung<br />
in das Beamtenverhältnis als Ehrenbeamter.<br />
Ich vollziehe diese Urk<strong>und</strong>e in der Erwartung,<br />
daß der/die Ernannte seine/ihre Amtspflichten<br />
gewissenhaft erfüllt <strong>und</strong> das Vertrauen<br />
rechtfertigt, das ihm/ihr durch die Ernennung<br />
bewiesen wird.<br />
34 DO 1965, II. 1. 1. So auch Erläuterung zur DO<br />
1987, Ziff. 2.5.<br />
35 DO 1987, III. Siehe auch GO NW § 22 (Verschwiegenheitspflicht)<br />
<strong>und</strong> § 24 (Treuepflicht).<br />
36 Erläuterung zur DO 1987, Ziff. 2.6.<br />
37 Für Verdienste in ihrer langjährigen ehrenamtlichen<br />
Sozialarbeit wurden zuletzt in den 80er-<br />
Jahren <strong>und</strong> in den Jahrzehnten zuvor zahlreiche<br />
56<br />
Sozialhelfer <strong>und</strong> Bezirksvorsteher vom B<strong>und</strong>espräsidenten<br />
mit dem B<strong>und</strong>esverdienstkreuz ausgezeichnet.<br />
38 Wegen der Berufstätigkeit der meisten Ehrenbeamten<br />
kamen für die Bezirkssitzungen nur die<br />
Abendst<strong>und</strong>en in Frage. Mit den hauptamtlich<br />
tätigen Sozialarbeitern <strong>und</strong> dem Schriftführer<br />
kam es nach Jahrzehnten kollegialer Zusammenarbeit<br />
dieserhalb in den letzten Jahren zu<br />
Konflikten, die auch nicht durch eine entgegenkommende<br />
Vorverlegung der Sitzungszeiten<br />
gelöst werden konnten, weil die Freizeitinteressen<br />
der Hauptamtlichen mit der berufsbedingten<br />
Unabkömmlichkeit der Ehrenbeamten zu einer<br />
früheren Tageszeit kollidierten.<br />
39 DO 65, Ziff. 1.8.<br />
40 DO 65, Ziff. 3.3.<br />
41 1985/86 erbrachte eine einmalige Aktion zur<br />
Anwerbung neuer Mitarbeiter auf Anhieb 50<br />
Freiwillige, die am 23.7.1986 im Ratssaal des<br />
Wuppertaler Rathauses in Anwesenheit der<br />
Oberbürgermeisterin <strong>und</strong> einiger Stadtverordneter<br />
vom Oberstadtdirektor vereidigt wurden<br />
(s. hierzu: WZ vom 24.7.1986). Eine jährliche<br />
Wiederholung dieser Werbeaktion hätte mit<br />
niedrigstem Kostenaufwand nicht nur den altersbedingten<br />
Rückgang der Zahl der ehrenamtlichen<br />
Mitarbeiter ausgeglichen, sondern dazu<br />
beigetragen, die Personalstärke vergangener<br />
Jahrzehnte wiederherzustellen.<br />
42 Siehe Ziff. 5.1 der Dienstanweisung vom<br />
6.5.1980.<br />
43 DO 1987, Punkt III.<br />
44 Dieses Argument wurde von der Sozialverwaltung<br />
auch in Zeiten schwierigster Wirtschaftslagen<br />
im 19. Jh. <strong>und</strong> nach dem Ersten <strong>und</strong> Zweiten<br />
Weltkrieg niemals vorgebracht. Eine sozialrechtlich<br />
korrekte Ermittlung der Regelsätze<br />
<strong>und</strong> deren unverzügliche Auszahlung durch die<br />
Ehrenbeamten an die Bedürftigen waren im Verlauf<br />
von 140 Jahren niemals Anlass zu Beanstandungen.<br />
Nach einem Zeitungsbericht (WZ<br />
vom 18.5.2000) sollen neuerdings neben den<br />
Bezirkssozialdiensten 14 Stellen für einen „Bedarfsfeststellungsdienst“<br />
geschaffen werden.<br />
45 Sie erfuhren ihre Versetzung aus einem Anhang<br />
zum “Bericht zur Weiterentwicklung der ehrenamtlichen<br />
sozialen Arbeit in Wuppertal – Reform<br />
des Ehrenamtlichen Sozialdienstes der Stadt<br />
Wuppertal“, hrsg. vom Geschäftsbereich Soziales<br />
& Kultur, 1997, S. 115–118. Über die weitere<br />
Verwendung der verbliebenen Ehrenbeamten<br />
heißt es a. a. O., S. 48, lapidar: „Die städtischen
Ehrenbeamten sollten sich überlegen, welche<br />
Tätigkeiten sie zukünftig ausüben wollen.“<br />
46 Erläuterung zur DO 87, Ziff. 1. 2. e.<br />
47 § 13 c (2) GO NW.<br />
48 Mit der Abschaffung des Vorsteheramts wurde<br />
auch die Bezirksvorsteherversammlung als letztes<br />
Organ des Elberfelder Systems aufgelöst<br />
(DO 65, Ziff. 4. 2 <strong>und</strong> DO 87, V).<br />
49 § 4 (1) GO NW.<br />
50 Siehe hierzu: Reform des ehrenamtlichen Sozialdienstes<br />
der Stadt Wuppertal, a. a. O., S. 5–18.<br />
Sigbert Zesewitz<br />
51 § 1 GO NW: „Die Gemeinden sind die Gr<strong>und</strong>lagen<br />
des demokratischen Staatsaufbaus. Sie fördern<br />
das Wohl der Einwohner in freier Selbstverwaltung<br />
durch ihre von der Bürgerschaft gewählten<br />
Organe.“<br />
52 Dieser Text wurde vom Oberstadtdirektor der<br />
Stadt Wuppertal, Amt 50/40, im Dezember 1985<br />
als Anlage zu seinem R<strong>und</strong>schreiben an die Vorsteher<br />
der Bezirke der ehrenamtlichen Sozialhilfe<br />
weitergegeben. Er datiert vom 21.11.1985.<br />
Ein Leben für die Schifffahrt. Ewald Bellingrath zum 100. Todestag<br />
Ewald Bellingrath stammte aus Barmen,<br />
aber seine Lebensaufgabe fand er in der sächsischen<br />
Landeshauptstadt Dresden, wo er seit<br />
Mitte des Jahres 1867 bis zu seinem Tode ansässig<br />
war. 1 Hier war er der Initiator der Aktiengesellschaft<br />
„Kettenschleppschiffahrt der<br />
Oberelbe“. Bei deren Gründung im Jahre 1869<br />
wurde er als Direktor bestellt, <strong>und</strong> seit 1881,<br />
nach der Ausweitung des Unternehmens zur<br />
„KETTE – Deutsche Elbschiffahrts-Gesellschaft“,<br />
war er Generaldirektor, bis er 1898 in<br />
den Aufsichtsrat gewählt wurde. Die von ihm<br />
geleitete Gesellschaft entwickelte sich im Laufe<br />
eines Jahrzehnts zum führenden Unternehmen<br />
der deutschen Elbeschifffahrt.<br />
Bellingrath wurde am 18. April 1838 geboren.<br />
Sein Vater, Carl Friedrich Bellingrath<br />
(1801–1844), war Seidenwarenfabrikant. Er<br />
gehörte zwar nicht zu den führenden Industriellen<br />
von Barmen, aber er war immerhin Stadtrat<br />
<strong>und</strong> als solcher auch nicht ohne Einfluss. 2<br />
Da er schon früh verstorben war, führte<br />
Bellingraths Mutter, Christine geb. Karthaus<br />
(1802–1881), das Geschäft weiter. Sie ermöglichte<br />
ihrem Sohn eine gute Ausbildung. Der<br />
junge Bellingrath besuchte das Realgymnasium,<br />
das er allerdings ohne Abschluss verließ,<br />
<strong>und</strong> ging dann zwei Jahre auf die Gewerbeschule<br />
in Hagen/Westfalen. Es folgten ein Volontariat<br />
in der Krupp’schen Gussstahlfabrik in<br />
Essen <strong>und</strong> 1858 der Militärdienst bei den Gar-<br />
Dr.-Ing. E. h. Ewald Bellingrath (1838–1903).<br />
Foto: Technische Universität Dresden, Universitätsarchiv.<br />
depionieren in Berlin. Anschließend studierte<br />
Bellingrath an den polytechnischen Schulen in<br />
Lüttich, Karlsruhe (vom Herbst 1859 bis<br />
57
Ostern 1861) <strong>und</strong> Zürich. 1864 engagierte er<br />
sich als Teilhaber eines Stahlwerks, das jedoch<br />
gegen Krupp nicht bestehen konnte. Danach<br />
war Bellingrath noch zwei Jahre als Ingenieur<br />
in rheinischen Maschinenfabriken tätig, bevor<br />
er nach Dresden kam.<br />
Hier bemühten sich Handels- <strong>und</strong> Schifffahrtskreise<br />
um die Verbesserung der Verkehrsverhältnisse<br />
auf der Elbe. Der Massengutverkehr,<br />
der infolge der fortschreitenden Industrialisierung<br />
schnell anwuchs, konnte nicht mehr<br />
auf herkömmliche Weise durch das Segeln <strong>und</strong><br />
Treideln der antriebslosen Güterschiffe bewältigt<br />
werden. Aber die verfügbaren Radschleppdampfer<br />
waren noch unwirtschaftlich <strong>und</strong> leistungsschwach<br />
<strong>und</strong> hatten einen zu großen Tiefgang.<br />
Da war das aus Frankreich bekannte <strong>und</strong><br />
auf der Magdeburger Stromelbe bereits seit<br />
1866 betriebene eigenartige System, bei dem<br />
sich die Schleppdampfer mittels einer Dampfwinde<br />
an einer im Flussbett ausgelegten Kette<br />
entlangzogen, eine Erfolg versprechende Alternative,<br />
um der Elbeschifffahrt die erforderliche<br />
Leistungsfähigkeit für den Wettbewerb mit den<br />
Eisenbahnen zu verschaffen.<br />
Wir können nur vermuten, warum sich Bellingrath<br />
nach Dresden wandte. Kam er schon<br />
mit Kettenschifffahrtsprojekten, oder fasste er<br />
erst unter dem Eindruck der erwähnten Bestrebungen<br />
seine Entschlüsse? Vielleicht hatte ihn<br />
Gustav Zeuner empfohlen, 3 der ihn von seiner<br />
Züricher Studienzeit kannte <strong>und</strong> mit dem er<br />
später während dessen Tätigkeit am Dresdner<br />
Polytechnikum eng zusammenarbeitete, oder<br />
es bestanden Verbindungen zwischen den rheinischen<br />
Unternehmen, in denen Bellingrath<br />
gearbeitet hatte, <strong>und</strong> der Sächsischen Gussstahlfabrik<br />
in Döhlen, deren Direktor Richard<br />
Grahl bei Gründung der Dresdner Kettenschifffahrtsgesellschaft<br />
ihr stellvertretender<br />
Verwaltungsratsvorsitzender wurde. Jedenfalls<br />
widmete sich Bellingrath voller Tatendrang –<br />
er war erst 30 Jahre alt – der Einführung der<br />
Kettenschifffahrt. Er fand Geldgeber, hauptsächlich<br />
das Dresdner Bankhaus Philipp Elimeyer,<br />
<strong>und</strong> es gelang ihm auch, die kleingewerblichen<br />
Privatschiffer nach anfänglich heftiger<br />
Gegnerschaft für sein Projekt zu gewinnen.<br />
4 So konnte am 5. Mai 1869 die Ketten-<br />
58<br />
schleppschifffahrt der Oberelbe (KSO) in Dresden<br />
gegründet werden. Schon am 1. November<br />
1869 wurde der Betrieb auf der 49 km langen<br />
Teilstrecke zwischen Merschwitz (oberhalb<br />
von Riesa) <strong>und</strong> Loschwitz (oberhalb von Dresden)<br />
eröffnet. Im Juli 1870 war die Kette auf<br />
der gesamten sächsischen Strecke von Kreinitz<br />
bis Schmilka (118 km) ausgelegt, <strong>und</strong> im September<br />
1871 wurde die Gesamtstrecke bis<br />
Magdeburg vollendet (331 km). 1873 nahm<br />
die Gesellschaft auch auf der Saale die Kettenschifffahrt<br />
auf, zunächst nur von der Mündung<br />
bis Calbe (22 km); diese Strecke wurde 1884<br />
nach Halle verlängert (105 km).<br />
Bereits nach kurzer Zeit beherrschte die<br />
KSO das Schleppgeschäft oberhalb Magdeburgs.<br />
Aber Bellingrath erkannte bald, dass<br />
seine Gesellschaft diese Stellung nur erhalten<br />
<strong>und</strong> ausbauen konnte, wenn sie sich auch im<br />
Frachtgeschäft betätigte. 1876 übernahm sie<br />
die Leitung des Verbandes oberelbischer Schiffer.<br />
Bellingrath hatte eine Organisationsform<br />
gef<strong>und</strong>en, mit der er die zersplittert wirtschaftenden<br />
Privatschiffer zusammenfasste <strong>und</strong> in<br />
seine Konzentrationsbestrebungen einbezog,<br />
wobei er sogar an bestimmte Vorstellungen der<br />
Privatschiffer anknüpfen konnte. Diesem Vorbild<br />
folgend, gründeten später auch andere<br />
Elbeschifffahrtsgesellschaften ähnliche Verbände.<br />
Nach dem Ankauf der Dresdner Frachtschiffahrts-Gesellschaft<br />
(gegr. 1872) im Jahre<br />
1878 gelang es Bellingrath in den Jahren<br />
1879/80, die Vereinigte Hamburg-Magdeburger<br />
Dampfschiffahrts-Compagnie 5 (gegr.<br />
1837) <strong>und</strong> die Dresdner Elbdampfschifffahrts-<br />
Gesellschaft (gegr. 1865), die beiden anderen<br />
bedeutenden Elbeschifffahrtsunternehmen neben<br />
der KSO, in ein Kartell bzw. eine Betriebsgemeinschaft<br />
mit der KSO einzubinden. Das<br />
waren die Vorstufen zur Fusion der genannten<br />
Unternehmen, die am 13. September 1881 mit<br />
der Gründung der KETTE – Deutsche Elbschiffahrts-Gesellschaft<br />
vollzogen wurde. Ende<br />
1882 besaß die KETTE das gesamte im<br />
deutschen Elbegebiet vorhandene Kettenschifffahrtsmaterial<br />
(625 km Elbe-Kette von<br />
Hamburg bis Schmilka, 22 km Saale-Kette von<br />
der Mündung bis Calbe, 27 Kettendampfer)
sowie zwölf Radschleppdampfer, acht Eilgutdampfer,<br />
zwei Personendampfer, einen Bugsierdampfer<br />
<strong>und</strong> 107 Schleppkähne. Unternehmen<br />
dieser Größe hatte es bisher in der Elbeschifffahrt<br />
nicht gegeben.<br />
Kehren wir noch einmal zur Gründung <strong>und</strong><br />
den ersten Betriebsjahren der KSO zurück.<br />
Parallel zum Aufbau dieser Gesellschaft befasste<br />
sich Bellingrath nämlich noch mit weiteren<br />
Projekten, <strong>und</strong> es ist schon erstaunlich,<br />
dass er trotz der vielen Schwierigkeiten der<br />
Unternehmensgründung dafür noch Zeit fand.<br />
Am 25. Juni 1869 war auf Initiative von Friedrich<br />
Harkort der Zentralverein für die Hebung<br />
der deutschen Fluss- <strong>und</strong> Kanalschifffahrt in<br />
Berlin gegründet worden. 6 Schon Bellingraths<br />
Engagement für die Kettenschifffahrt war von<br />
dem Bestreben getragen, die Position der Binnenschifffahrt<br />
im Wettbewerb mit den Eisenbahnen<br />
zu stärken. Der Zentralverein bot dafür<br />
das geeignete Podium. Bellingrath muss ihm<br />
bald nach der Gründung beigetreten sein.<br />
Wahrscheinlich lernte er hier den Berliner<br />
Kaufmann Friedrich Eduard Gustav Grosse<br />
kennen, der den Bau eines Elbe-Spree-Kanals<br />
von Dresden nach Berlin propagierte <strong>und</strong> sein<br />
Projekt im Dezember 1868 vorgestellt hatte.<br />
Bellingrath vertiefte dessen Vorschläge zur<br />
Bauausführung <strong>und</strong> zur Betriebsführung sowie<br />
die Nutzen-Kosten-Berechnung des Kanals.<br />
Gemeinsam mit Grosse verfolgte Bellingrath<br />
außerdem das Projekt eines Kanals zwischen<br />
dem Jungfernsee (bei Potsdam) <strong>und</strong> Paretz<br />
(nordwestlich von Potsdam), der die Fahrt<br />
durch die Potsdamer Havelseen abkürzen sollte.<br />
Im August 1872 beantragten die beiden die<br />
Baugenehmigung; sie wurde jedoch nicht erteilt,<br />
weil der Sacrow-Paretzer Kanal bereits<br />
als öffentliche Wasserstraße geplant war. Wenn<br />
auch nicht von Bellingrath <strong>und</strong> Grosse, so wurde<br />
dieser Kanal zwischen 1874 <strong>und</strong> 1876 immerhin<br />
gebaut. Der Elbe-Spree-Kanal ist dagegen<br />
nie ausgeführt worden.<br />
Trotzdem setzte Bellingrath auch in den<br />
folgenden Jahren seine Bemühungen um den<br />
Ausbau der Wasserstraßen fort. Er stellte das<br />
Projekt des Elbe-Spree-Kanals in den größeren<br />
Zusammenhang eines ganzen Systems leistungsfähiger<br />
Wasserstraßen <strong>und</strong> machte auf<br />
dessen volkswirtschaftliche Bedeutung aufmerksam.<br />
1879 erschienen seine „Studien über<br />
Bau <strong>und</strong> Betriebsweise eines deutschen Kanalnetzes“,<br />
die auf umfassender Auswertung des<br />
internationalen Schrifttums <strong>und</strong> eigenen Erkenntnissen<br />
beruhten. Das Buch galt lange als<br />
das Hand- <strong>und</strong> Lehrbuch des Fachgebiets. Im<br />
Interesse der Wirtschaftlichkeit der Schifffahrt<br />
forderte Bellingrath einheitliche Mindestabmessungen<br />
der künstlichen Wasserstraßen.<br />
Diese sollten für das 350-t-Schiff geeignet<br />
sein. Zur Überwindung großer Höhenunterschiede<br />
hatte er einen „hydrostatischen Wagen“<br />
erf<strong>und</strong>en, mit dem die Schiffe auf einem<br />
Schrägaufzug über die Wasserscheide zwischen<br />
zwei Kanalhaltungen gebracht werden<br />
sollten. Als wissenschaftlich gebildeter Ingenieur<br />
hatte Bellingrath aber auch erkannt, dass<br />
noch viele technische Fragen nicht geklärt waren.<br />
So regte er insbesondere an, den Einfluss<br />
der Schiffsform <strong>und</strong> des Kanalquerschnitts auf<br />
den Schiffswiderstand zu untersuchen.<br />
Als 1883/86 die Gesetzesvorlage für den<br />
Bau des Dortm<strong>und</strong>-Ems-Kanals im preußischen<br />
Landtag behandelt wurde, machte sich<br />
der nationalliberale Abgeordnete Ernst v. Eynern,<br />
ein Fre<strong>und</strong> Bellingraths aus der Barmer<br />
Schulzeit, dessen Sachverstand zunutze <strong>und</strong><br />
zog ihn zu den Sitzungen des Herrenhauses<br />
hinzu. 7 Auf dem 5. Internationalen Binnenschifffahrts-Kongress<br />
1892 in Paris erstattete<br />
Bellingrath gemeinsam mit dem Potsdamer<br />
Geheimen Baurat Dieckhoff einen Bericht<br />
über die Schifffahrtsverhältnisse auf der Elbe<br />
<strong>und</strong> der Oder.<br />
Im Zusammenhang mit dem Ausbau des<br />
Wasserstraßennetzes interessierten Bellingrath<br />
nicht nur wasserbauliche <strong>und</strong> wirtschaftliche<br />
Fragen. Intensiv widmete er sich auch der Verbesserung<br />
der Schiffstechnik. Dazu nutzte er<br />
vor allem die seit 1878 zur KSO gehörende<br />
Werft Übigau, die unter seiner Leitung großzügig<br />
ausgebaut wurde. 1892 ließ er hier nach<br />
dem Vorbild von William Froude eine Versuchsanstalt<br />
einrichten; sie war die erste <strong>und</strong><br />
acht Jahre lang auch die einzige in Deutschland.<br />
8 Die erwähnten, bereits 1879 angeregten<br />
Untersuchungen konnten nun im eigenen Hause<br />
systematisch betrieben werden. Bellingrath<br />
59
gewann dafür in Hubert Engels den geeigneten<br />
Fachmann. 9 Engels untersuchte seit 1897 den<br />
Einfluss von Form <strong>und</strong> Größe eines Kanalquerschnitts<br />
auf den Schiffswiderstand. Darüber<br />
hinaus sind in Übigau zahlreiche Versuche<br />
für fremde Auftraggeber, u.a. für die Kaiserliche<br />
Marine, zur Ermittlung der günstigsten<br />
Schiffsform von See- <strong>und</strong> Binnenschiffen <strong>und</strong><br />
zur Schaffung von Berechnungsgr<strong>und</strong>lagen<br />
für Schraubenpropeller ausgeführt worden.<br />
1903/04 wurde mit staatlicher Förderung ein<br />
Neubau errichtet, den auch die Technische<br />
Hochschule Dresden für Forschung <strong>und</strong> Lehre<br />
nutzte.<br />
Neuen Wirkprinzipien für den Antrieb<br />
flachgehender Binnenschiffe stand Bellingrath<br />
stets aufgeschlossen gegenüber. Selbst unkonventionelle<br />
Lösungen waren ihm eine nähere<br />
Untersuchung wert. Dies beweisen das Versuchsschiff,<br />
das 1882 in Übigau erbaut wurde,<br />
um den „Hydromotor“ von Emil Fleischer zu<br />
erproben, <strong>und</strong> die Entwicklung des „Turbinenpropellers“<br />
durch Gustav Zeuner. 10 Während<br />
sich das Hydromotorschiff als Fehlschlag erwies,<br />
war der Turbinenpropeller eine zukunftsträchtige<br />
Erfindung. Für dessen Erprobung<br />
stellte Bellingrath im Herbst 1891 das Dampfboot<br />
„Elbfee“ zur Verfügung. Seit 1893 wurden<br />
mehrere auf der Schiffswerft Übigau erbaute<br />
Schiffe mit Turbinenpropellern ausgerüstet,<br />
darunter zwei Kettendampfer für die<br />
KETTE <strong>und</strong> acht Kettendampfer für den Einsatz<br />
auf dem oberen Main. Nach h<strong>und</strong>ert Jahren<br />
erfährt dieses Vortriebsmittel heute – natürlich<br />
weiterentwickelt <strong>und</strong> verbessert – als<br />
„Pump-Jet“ eine Wiedergeburt.<br />
Bellingrath hat auf diese Weise auch den<br />
Fortschritt der Schiffstechnik im Allgemeinen<br />
gefördert. So war es nur folgerichtig, dass er<br />
sogleich der Schiffbautechnischen Gesellschaft<br />
beitrat, als diese 1899 in Berlin nach<br />
dem Vorbild der britischen Institution of Naval<br />
Architects (gegr. 1860) zur Förderung des wissenschaftlichen<br />
Austauschs auf dem Gebiet der<br />
Schiffstechnik gegründet worden war.<br />
Seit 1880 war Bellingrath Mitglied der<br />
Handelskammer zu Dresden, wo er seinen Einfluss<br />
geltend machte, um der Elbeschifffahrt<br />
günstige Rahmenbedingungen zu verschaffen.<br />
60<br />
So hat er die Schifffahrtspolizeiordnung von<br />
1894, das Binnenschifffahrtsgesetz von 1895<br />
<strong>und</strong> die Eichordnung von 1899 mitgestaltet.<br />
Vor allem beschäftigte ihn jedoch die Wirtschaftlichkeit<br />
der Binnenschifffahrt. Mit dieser<br />
Frage war er seit der Gründung der KSO <strong>und</strong><br />
seit seinen Kanalprojekten konfrontiert, <strong>und</strong><br />
sie ließ ihn bis an sein Lebensende nicht mehr<br />
los. Als Unternehmer befürwortete Bellingrath<br />
natürlich Tarife, die an Wirtschaftlichkeitskriterien<br />
<strong>und</strong> an den Regeln des Marktes ausgerichtet<br />
waren, <strong>und</strong> kritisierte die staatlich reglementierten<br />
Eisenbahn- <strong>und</strong> Kettenschifffahrts-Tarife.<br />
Die soziale Frage beantwortete Bellingrath<br />
für sein Unternehmen schon wenige Jahre nach<br />
dessen Gründung. Am 1. März 1874 errichtete<br />
die KSO eine Pensions- <strong>und</strong> Unterstützungskasse<br />
für ihre Schiffsmannschaft. Sie wurde<br />
aus Beiträgen der Mitglieder <strong>und</strong> Zuschüssen<br />
des Unternehmens finanziert. Ob Bellingrath<br />
aus eigenem Antrieb handelte, oder ob er<br />
durch das Vorbild der Sächsisch-Böhmischen<br />
Dampfschiffahrts-Gesellschaft (SBDG) in<br />
Dresden angeregt wurde, ist nicht überliefert. 11<br />
Jedenfalls waren dafür nicht allein humanitäre<br />
Gründe maßgebend, sondern auch das Interesse<br />
der Gesellschaft am „Zusammenhalt der<br />
Schiffsmannschaften“ <strong>und</strong> an der „Wahrung<br />
der nothwendigen Disciplin“. 12 Offensichtlich<br />
war die Fluktuation vor allem unter den jüngeren<br />
Besatzungsmitgliedern hoch, was erklärlich<br />
ist, wenn man an die auf den Schiffen übliche<br />
tägliche Arbeitszeit von 15 bis 16 St<strong>und</strong>en<br />
<strong>und</strong> an die oft wochenlange Abwesenheit vom<br />
Heimatort denkt. 13 Mit dem Bestreben, in patriarchalischer<br />
Manier die soziale Not der<br />
Lohnarbeiter bei Krankheit, Unfall <strong>und</strong> im Alter<br />
zu lindern <strong>und</strong> ein Treueverhältnis zwischen<br />
ihnen <strong>und</strong> dem Unternehmen zu schaffen,<br />
stand Bellingrath nicht allein. Dennoch ist<br />
zu würdigen, dass diese Kasse zehn bzw. 15<br />
Jahre vor der gesetzlichen Regelung der Kranken-<br />
<strong>und</strong> Unfallversicherung (1883/84) <strong>und</strong><br />
der Alters- <strong>und</strong> Invalidenversicherung (1889)<br />
gegründet wurde.<br />
Über den Menschen Bellingrath ist nur<br />
wenig bekannt. Sein Barmer Landsmann<br />
Gustav Soll von der Burschenschaft „Teutonia“,
der Bellingrath seit seiner Karlsruher Studienzeit<br />
angehörte, schildert ihn als „stattlichen,<br />
blonden Jüngling, schneidigen Fechter <strong>und</strong><br />
schlagfertigen Redner“, der schon nach einem<br />
Semester zum Sprecher ernannt worden war.<br />
Als überzeugter Burschenschafter sei er „vom<br />
nationalen Einheitsgedanken durchdrungen“<br />
gewesen <strong>und</strong> habe sich als „eifriges Mitglied<br />
des damaligen Nationalvereins“ betätigt. 14 Der<br />
preußische Gesandte in Dresden führte<br />
1883/84 das scharfe Vorgehen der KETTE gegen<br />
die konkurrierenden Gesellschaften auf<br />
den „unruhigen Geist“ <strong>und</strong> den Ehrgeiz Bellingraths<br />
zurück. 15 Hinsichtlich der Charaktereigenschaften<br />
dieses Mannes mag das immerhin<br />
zutreffen, aber es wird wohl eher so gewesen<br />
sein, dass Bellingrath im Interesse seiner Gesellschaft<br />
einen ihm richtig erscheinenden Weg<br />
zielstrebig <strong>und</strong> konsequent verfolgte. Dies ist<br />
auch in den zahlreichen Schreiben Bellingraths<br />
zu spüren, die er an die preußischen <strong>und</strong> die<br />
sächsischen Ministerien richtete, um den bürokratischen<br />
Gang der jeweiligen Konzessionsangelegenheiten<br />
zu beschleunigen <strong>und</strong> deren<br />
Ton im Laufe der Jahre immer streitbarer wurde.<br />
Dass sein sachbezogenes Engagement auch<br />
an Rücksichtslosigkeit grenzen konnte, zeigt<br />
Bellingraths Verhalten gegenüber seinem Mitbewerber<br />
um die sächsische Kettenschifffahrtskonzession,<br />
den Baumeister F. A. Fiedler,<br />
den er im April 1869 aus dem Gründungskomitee<br />
der KSO verdrängt hatte. Andere Quellen<br />
würdigen die „vornehme Natur“ Bellingraths,<br />
der „auch inmitten der regsten Erwerbstätigkeit<br />
niemals seinen idealen Sinn“ verleugnet<br />
<strong>und</strong> „stets ein lebhaftes Interesse für Kunst <strong>und</strong><br />
Wissenschaft“ bewahrt habe. 16<br />
Am 4. April 1868 heirate Bellingrath Emilie<br />
Juliane Josephine Catharina Wagner (geb.<br />
30. August 1838, gest. 17. März 1900) aus<br />
Karlsruhe, eine Tochter des pensionierten Registrators<br />
Maximilian Joseph Wagner <strong>und</strong><br />
dessen verstorbener Frau Caroline, geb.<br />
Schmolz. 17 Emilie Wagner, die Bellingrath<br />
vielleicht schon während seiner Studienzeit in<br />
Karlsruhe kennen gelernt hatte, war Konzertsängerin<br />
<strong>und</strong> wird als „eine der glänzendsten<br />
Erscheinungen in den süd- <strong>und</strong> westdeutschen<br />
Concertsälen <strong>und</strong> auf den rheinischen<br />
Musikfesten“ geschildert. 18 Zwischen 1866<br />
<strong>und</strong> 1869 trat sie viermal in dem berühmten<br />
Leipziger Gewandhaus auf, zuletzt in der Uraufführung<br />
des Deutschen Requiems von Johannes<br />
Brahms am 18. Februar 1869, wo sie<br />
das Sopran-Solo sang. 19 Bald darauf scheint sie<br />
sich allerdings aus der Öffentlichkeit zurückgezogen<br />
zu haben. Sicher hat sie jedoch auch<br />
später die Hausmusik gepflegt, ja wahrscheinlich<br />
sogar vor geladenen Gästen private Konzerte<br />
unter Mitwirkung von Musikern der<br />
Dresdner Staatskapelle gegeben. 20 Nach ihrem<br />
Tod heiratete Bellingrath Mathilde Henriette<br />
Therese, verw. Posen, geb. v. Bothmer, eine<br />
Tochter des hannoverschen Obersten Theodor<br />
Freiherrn v. Bothmer. 21<br />
Auf dem Gebiet der Kettenschifffahrt wurde<br />
Bellingrath bald zur ersten Autorität<br />
Deutschlands. Zwischen 1870 <strong>und</strong> 1874 bemühte<br />
er sich gemeinsam mit seinem Kanalprojekt-Partner<br />
Grosse um Kettenschifffahrtskonzessionen<br />
für die Havel, die Spree, den<br />
Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal <strong>und</strong> die<br />
Rüdersdorfer Gewässer. Zehn Jahre später, im<br />
November 1880, sehen wir ihn als Beauftragten<br />
der Breslauer Discontobank Friedenthal &<br />
Co. <strong>und</strong> des uns bereits bekannten Dresdner<br />
Bankhauses Ph. Elimeyer, die einen Kettenoder<br />
Seilschifffahrtsbetrieb auf der Oder oberhalb<br />
von Küstrin <strong>und</strong> auf der Warthe einrichten<br />
wollten. Diese Projekte sind jedoch nicht ausgeführt<br />
worden.<br />
Am Neckar bemühte sich ein Heilbronner<br />
Komitee seit 1872 um die Einführung der Kettenschifffahrt.<br />
Es gewann Bellingrath als Berater,<br />
der die technischen <strong>und</strong> organisatorischen<br />
Vorarbeiten übernahm <strong>und</strong> die Bauaufträge für<br />
die Kettendampfer an die Sächsische Dampfschiffs-<br />
<strong>und</strong> Maschinenbauanstalt in Dresden-<br />
Neustadt vermittelte. Der Betrieb auf der r<strong>und</strong><br />
115 km langen Strecke zwischen Mannheim<br />
<strong>und</strong> Heilbronn wurde am 23. Mai 1878 aufgenommen.<br />
Er entwickelte sich von Anfang an<br />
erfolgreich. Bis zur Jahrh<strong>und</strong>ertwende stieg<br />
die Transportmenge auf durchschnittlich<br />
130.000 t im Jahr an. Als „Vater der Kettenschiffahrt<br />
auf dem Neckar“ erhielt Bellingrath<br />
„aus der Hand des württembergischen Königs“<br />
den Friedrichsorden 1. Klasse. 22 Belling-<br />
61
ath war außerdem Träger des sächsischen Albrechtsordens<br />
1. Klasse <strong>und</strong> des preußischen<br />
Kronenordens 3. Klasse. 23<br />
In ähnlicher Weise engagierte sich Bellingrath<br />
für die Kettenschifffahrt auf dem Main.<br />
Auch hier wurde die Verbesserung der Schifffahrtsverhältnisse<br />
dringend gefordert. Die<br />
Uferstaaten hatten sich zu einer Stauregelung<br />
des unteren Mains entschlossen, <strong>und</strong> nun stritten<br />
die Fachleute um die wirtschaftlichste Fortbewegung<br />
der antriebslosen Güterschiffe. Bellingrath<br />
befürwortete in einem Gutachten vom<br />
10. November 1879 <strong>und</strong> in einer 1880 erschienenen<br />
Schrift Kettenschlepper als die günstigste<br />
Lösung. Die Aktiengesellschaft Mainkette<br />
in Mainz konnte allerdings erst 1883 gegründet<br />
werden, nachdem das schon mehrmals<br />
erwähnte Bankhaus Ph. Elimeyer, vermutlich<br />
62<br />
durch Bellingraths Vermittlung, die Hälfte des<br />
Gründungskapitals übernommen hatte. Der<br />
Betrieb zwischen Mainz <strong>und</strong> Aschaffenburg<br />
wurde am 7. August 1886 eröffnet; im Sommer<br />
1895 wurde die Strecke bis Lohr verlängert.<br />
Inzwischen hatte Bayern 1894 auch auf dem<br />
oberen Main die Voraussetzungen für die Einrichtung<br />
der Kettenschifffahrt geschaffen. Die<br />
Betriebsführung auf der bayerischen Strecke<br />
wurde der Königlich Bayerischen Ketten-<br />
Schleppschiffahrt (KBKS) übertragen. Diese<br />
beschaffte zwischen 1898 <strong>und</strong> 1911 insgesamt<br />
acht Kettendampfer von der Schiffswerft Übigau.<br />
1912 wurde der Endpunkt Bamberg erreicht.<br />
In ähnlicher Weise wie auf dem Neckar<br />
waren auch auf dem Main der Fortbestand <strong>und</strong><br />
die weitere Entwicklung der Schifffahrt gesichert<br />
worden. Abgesehen von den natürlichen<br />
Prinzipskizze eines Kettendampfers <strong>und</strong> Lage der Kette in der Elbe bei Dresden, vermutlich von Bellingrath<br />
entworfen. Die rechts vor dem Dampfer im Fluss liegende Kette wird über den Ausleger<br />
„A“ aufgenommen, umschlingt die beiden von einer Dampfmaschine angetriebenen Kettentrommeln<br />
„T“ auf je drei halben Trommelumfängen <strong>und</strong> fällt am hinteren Ausleger wieder ins Wasser.<br />
Quelle: Prospekt für die Ketten-Schleppschifffahrt auf der Oder-Elbe.
Bedingungen beider Flüsse, unter denen die<br />
Kettenschifffahrt besonders wirksam war, hatte<br />
hier an dem wirtschaftlichen Erfolg dieses Betriebssystems<br />
sicher die sachverständige Mitwirkung<br />
Bellingraths gehörigen Anteil. Natürlich<br />
verfolgte Bellingrath auch eigene Interessen,<br />
wenn er die Bauaufträge für die Neckar-<br />
Kettendampfer <strong>und</strong> die Kapitalbeteiligung an<br />
der AG Mainkette nach Dresden vermittelte.<br />
An der KBKS war er insofern unmittelbar interessiert,<br />
als deren Kettendampfer von seiner<br />
Gesellschaft <strong>und</strong> vor allem nach seinen Patenten<br />
gebaut werden sollten.<br />
Im Elbegebiet war die Kettenschifffahrt<br />
Mitte der achtziger Jahre des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
auf dem Höhepunkt angelangt. Innerhalb weniger<br />
Jahre hatte sie die Jahrh<strong>und</strong>erte lang unveränderte<br />
Betriebsweise vollkommen umgewälzt.<br />
Erst ihre maschinelle Zugkraft, die jedermann<br />
zu staatlich genehmigten Tarifen zur<br />
Verfügung stand, konnte den Segel- <strong>und</strong> Treidelbetrieb<br />
ablösen. Ein Heer von Treidlern<br />
wurde entbehrlich, die Besatzung der Kähne<br />
um die Hälfte verringert. Beträchtliche soziale<br />
Wirkungen waren die Folge. Gleichzeitig wurden<br />
die Langsamkeit <strong>und</strong> die Unzuverlässigkeit<br />
des Gütertransports überw<strong>und</strong>en. Selbst<br />
große Fahrzeuge konnten jetzt mühelos fortbewegt<br />
werden. Die Abmessungen der Elbkähne<br />
wuchsen daher seit der Einführung der Kettenschifffahrt<br />
ständig. Der günstige Wirkungsgrad<br />
der Energieumwandlung führte außerdem zu<br />
einer anhaltenden Senkung der Schlepptarife<br />
<strong>und</strong> in ihrem Gefolge auch der Frachtraten.<br />
Damit war die Elbeschifffahrt gegenüber den<br />
Eisenbahnen wieder wettbewerbsfähig geworden.<br />
Insbesondere gewann sie bedeutende Anteile<br />
am Massengutverkehr. Der Bergverkehr<br />
in Hamburg, der zwischen 1855 <strong>und</strong> 1870 bei<br />
etwa 350.000 t jährlich stehen geblieben war,<br />
stieg nach dem Ausbau der Kettenschifffahrt<br />
zwischen 1872 <strong>und</strong> 1874 auf durchschnittlich<br />
550.000 t <strong>und</strong> erreichte zehn Jahre später bereits<br />
1,1 Mio. t. Schließlich ist nicht zu übersehen,<br />
dass die Kettenschifffahrt ein Kapital von<br />
solcher Höhe erforderte, wie es in der Elbeschifffahrt<br />
bisher nicht angelegt worden war.<br />
So wurde die KSO mit einem Kapital von 2,4<br />
Mio. Mark gegründet, das der KETTE betrug<br />
7,2 Mio. Mark. Das neue System förderte damit<br />
auch die Entstehung moderner großer<br />
Transportunternehmen.<br />
Aber bereits Ende der siebziger Jahre des<br />
19. Jahrh<strong>und</strong>erts begann sich eine zunehmende<br />
Leistungsfähigkeit der Radschleppdampfer abzuzeichnen.<br />
Zwischen 1880 <strong>und</strong> 1890 machte<br />
ihre technische Weiterentwicklung geradezu<br />
sprunghafte Fortschritte. Durch die Stromregelung<br />
war auch das Fahrwasser erheblich verbessert<br />
worden. Verglichen mit den Radschleppdampfern<br />
band die Kettenschifffahrt<br />
außerdem ein erhebliches Anlagekapital; allein<br />
die Elbe-Kette hatte 1888 einen Wert von<br />
knapp 2,9 Mio. Mark. Die Kettendampfer verloren<br />
dadurch sowohl in technischer als auch in<br />
wirtschaftlicher Hinsicht ihre einstige Überlegenheit.<br />
Bellingrath verfolgte diese Entwicklung<br />
mit großer Aufmerksamkeit <strong>und</strong> wachsender<br />
Besorgnis. Schon 1879 hatte er darauf hingewiesen,<br />
dass die Leistungsfähigkeit der Radschleppdampfer<br />
dank der Einführung der Verb<strong>und</strong>maschine<br />
<strong>und</strong> der Fahrwasserverbesserungen<br />
zugenommen habe. 1884 kam er dann<br />
zu dem ernüchternden Schluss, dass die Kettenschifffahrt<br />
für seine Gesellschaft wertlos<br />
geworden sei.<br />
Bellingrath verstärkte nunmehr seine Anstrengungen<br />
zur Aufhebung der den freien<br />
Wettbewerb hemmenden Kettenschifffahrts-<br />
Konzessionen der Uferstaaten sowie zur Diversifikation<br />
des Unternehmens <strong>und</strong> zur Erneuerung<br />
der Betriebsmittel. Insbesondere die<br />
Frachtschifffahrt <strong>und</strong> der Werftbetrieb wurden<br />
zielstrebig ausgebaut. 1898 hob die Gesellschaft<br />
die Kettenschifffahrt auf dem besonders<br />
unwirtschaftlichen Abschnitt zwischen Hamburg<br />
<strong>und</strong> Niegripp (unterhalb von Magdeburg)<br />
auf. Gleichzeitig versuchte Bellingrath, das<br />
System auf der verbleibenden Strecke zwischen<br />
Niegripp <strong>und</strong> Schmilka (348 km) weiterzuentwickeln,<br />
ohne das Gr<strong>und</strong>prinzip der Fortbewegung<br />
aufgeben zu müssen. Er ersetzte die<br />
Trommelwinde, die er als die Ursache des starken<br />
Kettenverschleißes erkannt hatte, durch<br />
das von ihm erf<strong>und</strong>ene „Greifrad“. Außerdem<br />
sollten die Kettendampfer zu Tal nicht mehr an<br />
der Kette fahren, um die Kette zu schonen <strong>und</strong><br />
die langwierigen Begegnungsmanöver der<br />
63
Kettendampfer zu vermeiden. Als Vortriebsmittel<br />
waren Turbinenpropeller vorgesehen.<br />
1895 wurde der erste Kettendampfer dieses<br />
Typs in Dienst gestellt. Anders als auf dem<br />
Main hatte die mit großer Zuversicht angekündigte<br />
Reform der Kettenschifffahrt auf der Elbe<br />
jedoch nicht den erhofften durchschlagenden<br />
Erfolg. Hier war der Radschleppdampfer<br />
um die Wende vom 19. zum 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
auf seiner höchsten Entwicklungsstufe angelangt<br />
<strong>und</strong> durch kein anderes mit Dampfkraft<br />
arbeitendes System mehr zu übertreffen.<br />
Die zunehmende Schwächung der Kettenschifffahrt,<br />
ihrer vormals stärksten Stütze,<br />
brachte die KETTE schon im letzten Jahrzehnt<br />
des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts in eine immer schwierigere<br />
Lage. Schließlich wurde sie durch die Wirtschaftskrise<br />
von 1901/02 derart angeschlagen,<br />
dass sie im Oktober 1903 gezwungen war, auf<br />
ein Fusionsangebot der Dampfschleppschifffahrts-Gesellschaft<br />
vereinigter Elbe- <strong>und</strong> Saale-Schiffer<br />
einzugehen. Am 12. Dezember<br />
1903 übertrug die KETTE ihr Vermögen unter<br />
hohem Verlust auf die „Vereinigten“ <strong>und</strong> löste<br />
sich auf.<br />
So sind Bellingraths letzte Lebensjahre von<br />
einer gewissen Tragik überschattet. Der frühe<br />
Tod seiner Frau Emilie am 17. März 1900 hatte<br />
ihn sehr erschüttert. Als er im Sommer 1900<br />
das letzte Mal an einem Treffen seiner Burschenschaft<br />
teilnahm, erschien er seinen B<strong>und</strong>esbrüdern<br />
gealtert <strong>und</strong> wusste „um die tückische<br />
Art seiner Krankheit“. 24 Vor allem belastete<br />
ihn der Niedergang der Kettenschifffahrt<br />
auf der Elbe. Bellingrath hatte diese Entwicklung<br />
rechtzeitig erkannt. Aber er konnte<br />
die Betriebsmittel der Kettenschifffahrt wegen<br />
ihres hohen Anlagekapitals nicht einfach zum<br />
alten Eisen werfen. So versuchte er, der Entwertung<br />
dieses Kapitals gegenzusteuern. Seine<br />
„Reform der Kettenschiffahrt“ hatte jedoch<br />
nicht den gewünschten Erfolg. Die unternehmerischen<br />
Entscheidungen Bellingraths zur<br />
Verlagerung des Schleppbetriebs auf Radschleppdampfer<br />
sowie zum Ausbau des Frachtgeschäfts<br />
<strong>und</strong> des Werftbetriebs als zusätzlichen<br />
Standbeinen der Gesellschaft konnten die<br />
zunehmende Schwächung des Gesamtunternehmens<br />
nur bremsen, aber schließlich nicht<br />
64<br />
verhindern. Den Zusammenbruch seines Lebenswerks<br />
erlebte Bellingrath nicht mehr; er<br />
war bereits am 22. August 1903 im Alter von<br />
65 Jahren nach einem „Herzschlag“ verstorben.<br />
Bellingrath war ins Berufsleben eingetreten,<br />
als die industrielle Revolution in Deutschland<br />
in die Phase der Hochindustrialisierung<br />
überging. Das Wirtschaftswachstum wurde<br />
stärker denn je durch neue Technologien, die<br />
anstelle der anfänglichen Empirie zunehmend<br />
auf naturwissenschaftlichen Gr<strong>und</strong>lagen beruhten,<br />
<strong>und</strong> durch Unternehmensstrategien getragen,<br />
denen neue Organisationsprinzipien<br />
<strong>und</strong> Leistungskriterien zugr<strong>und</strong>e lagen. Bellingrath<br />
stellte sich den Anforderungen der<br />
Zeit <strong>und</strong> trieb auf seinem Arbeitsgebiet die<br />
eben angedeuteten Entwicklungen voran. Als<br />
Ingenieur konnte er sich dabei auf eine solide<br />
Ausbildung an den besten Hochschulen seiner<br />
Zeit stützen, jedoch sind weniger seine eigenständigen<br />
Leistungen von Bedeutung, obwohl<br />
er mehrere Erfindungen gemacht <strong>und</strong> damit<br />
Originalität <strong>und</strong> Kreativität bewiesen hatte.<br />
Vielmehr sind sein Weitblick für die Entwicklungstendenzen<br />
der Schiffstechnik <strong>und</strong> des<br />
Schifffahrtsbetriebs <strong>und</strong> seine Rolle als Förderer<br />
<strong>und</strong> Organisator dieser Entwicklung zu<br />
würdigen.<br />
Erinnert sei an die Kettenschifffahrt, die er<br />
nicht erf<strong>und</strong>en, ja nicht einmal als Erster in<br />
Deutschland eingeführt hatte, durch deren<br />
Ausbau auf der Elbe <strong>und</strong> deren Einrichtung auf<br />
dem Neckar <strong>und</strong> dem Main jedoch die Leistungsfähigkeit<br />
der Schifffahrt auf diesen Flüssen<br />
so beträchtlich gesteigert wurde, dass ihr<br />
Fortbestand gesichert war. So ist Bellingrath in<br />
das Bewusstsein der Zeitgenossen als „Vater<br />
der Kettenschiffahrt“ eingegangen, <strong>und</strong> aus<br />
dem gleichen Gr<strong>und</strong>e ist am Postament des<br />
König-Johann-Denkmals auf dem Dresdner<br />
Theaterplatz neben anderen unter Johanns Regentschaft<br />
(1854–1873) erreichten Fortschritten<br />
auch die Kettenschifffahrt symbolisch dargestellt<br />
worden. Die Stadt Dresden ehrte Bellingrath,<br />
indem sie eine Straße im Stadtteil Tolkewitz<br />
nach ihm benannte.<br />
Erinnert sei weiter an die Einrichtung der<br />
Versuchsanstalt in Übigau <strong>und</strong> an die enge Zu-
sammenarbeit mit der Technischen Hochschule<br />
Dresden, die für beide Seiten Vorteile brachte,<br />
indem sie einerseits den Wissenschaftlern der<br />
Hochschule die praktische Erprobung <strong>und</strong> die<br />
Umsetzung ihrer Erkenntnisse ermöglichte<br />
<strong>und</strong> andererseits die Ingenieure der Gesellschaft<br />
unmittelbar am Fortschritt der Schiffs<strong>und</strong><br />
der Maschinentechnik teilhaben ließ. Bellingrath<br />
hat das aktiv gefördert. Hauptsächlich<br />
für diese Verdienste, aber auch für seine<br />
Beiträge zur Entwicklung der Binnenschifffahrt,<br />
der Binnenwasserstraßen <strong>und</strong> der<br />
Schiffstechnik verlieh ihm die Technische<br />
Hochschule Dresden am 23. April 1901 die<br />
Ehrendoktorwürde. 25<br />
Bellingrath war jedoch gleichzeitig <strong>und</strong> in<br />
hohem Maße ein Manager-Unternehmer. Dieser<br />
moderne Begriff bezeichnet am besten, was<br />
ihn von den zeitgenössischen Direktoren anderer<br />
Elbeschifffahrtsgesellschaften unterscheidet.<br />
Bellingraths beharrlich verfolgtes Ziel war<br />
die Konzentration der Elbeschifffahrt. Dabei<br />
ging er konsequent im Sinne der allgemeinen<br />
Tendenz zur Kartellierung <strong>und</strong> anschließenden<br />
Fusionierung kleinerer Unternehmen zu<br />
großen Konzernen vor. Eine originäre Leistung<br />
Bellingraths war die Zusammenfassung der<br />
Privatschiffer unter dem Dach seiner Gesellschaft.<br />
So entwickelte sich die von ihm geleitete<br />
Gesellschaft im Laufe eines Jahrzehnts zum<br />
führenden Unternehmen der deutschen Elbeschifffahrt.<br />
26<br />
Quellen <strong>und</strong> Literatur:<br />
- : Emilie Bellingrath-Wagner. In: Kutsch, K. J.;<br />
Riemens, Leo (Hrsg.): Großes Sängerlexikon. Bern<br />
<strong>und</strong> München 31997, Bd. 1, S. 247.<br />
- : Emilie Bellingrath-Wagner. In: Monatshefte<br />
für Musikgeschichte 33 (1901), S. 111.<br />
- : Ernennung Bellingraths zum Dr.-Ing. E.h. In:<br />
Zentralblatt der Bauverwaltung 21 (1901), S. 207 f.<br />
- : Ewald Bellingrath, Ehrendoctor der Technischen<br />
Hochschule Dresden. In: Zeitschrift für Gewässerk<strong>und</strong>e<br />
4 (1902), S. 119 f.<br />
- : Ewald Bellingrath. In: Franke, Paul-Gerhard;<br />
Kleinschroth, Adolf (Hrsg.): Kurzbiographien<br />
Hydraulik <strong>und</strong> Wasserbau. München 1991, S. 224.<br />
- : Nachruf Bellingrath. In: Jahrbuch der Schiffbautechnischen<br />
Gesellschaft 5 (1904), S. 73 f.<br />
- : Nachruf Bellingrath. In: Schiffahrts-Kalender<br />
für das Elbegebiet 22 (1904), S. 209 f.<br />
- : Nachruf Bellingrath. In: Zentralblatt der Bauverwaltung<br />
23 (1903), S. 440.<br />
- : Reform der Kettenschifffahrt auf der Elbe<br />
(Vortrag Bellingraths auf der Generalversammlung<br />
der KETTE am 24. April 1894). In: Das Schiff 15<br />
(1894), S. 217 f.<br />
Adressbuch für Dresden <strong>und</strong> seine Vororte,<br />
1903.<br />
Bellingrath, Ewald: Über den Elbe-Spree-Canal,<br />
seine bauliche Ausführung nebst Kosten-Anschlag,<br />
die Betriebsweise, Leistungsfähigkeit <strong>und</strong><br />
Rentabilität. Dresden o.J. (1872/73).<br />
Bellingrath, Ewald: Gutachten über die Einführung<br />
der Schleppschiffahrt an versenktem Tau<br />
oder Kette auf dem Neckar. Heilbronn 1873.<br />
Bellingrath, Ewald: Studien über Bau <strong>und</strong> Betriebsweise<br />
eines deutschen Kanalnetzes. Berlin<br />
1879.<br />
Bellingrath, Ewald: Die Reform der Mainschifffahrt.<br />
Dresden 1880.<br />
Bellingrath, Ewald: Memorandum, betreffend<br />
die Errichtung neuer Elbschiffahrts-Gesellschaften.<br />
Dresden 1881.<br />
Bellingrath, Ewald: Die Fortbewegung der<br />
Schiffe im Gebiet der Elbe <strong>und</strong> der Oder. Bericht<br />
zum 5. Internationalen Binnenschiffahrts-Kongress<br />
in Paris, 1892 (gemeinsam mit Geheimem Baurat<br />
Dieckhoff, Potsdam).<br />
Berninger, Otto: Die Kettenschiffahrt auf dem<br />
Main. Wörth/Main 1987 (Mitteilungsblatt Nr. 6 des<br />
Vereins zur Förderung des Schiffahrts- <strong>und</strong> Schiffbaumuseums<br />
Wörth am Main).<br />
Birk, A.: Bellingrath. In: Bettelheim, Anton<br />
(Hrsg.): Biographisches Jahrbuch <strong>und</strong> deutscher<br />
Nekrolog. Berlin 1905, Band 8, S. 146.<br />
C. P.: Nachruf Bellingrath. In: Zeitschrift des<br />
Vereins deutscher Ingenieure 47 (1903), S. 1390.<br />
Dörffel, Alfred: Festschrift zur h<strong>und</strong>ertjährigen<br />
Jubelfeier der Einweihung des Concertsaales im Gewandhause<br />
zu Leipzig. Leipzig 1881, Abt. 2, S. 95<br />
<strong>und</strong> S. 100.<br />
(Dresdner) Neueste <strong>Nachrichten</strong> Nr. 76 v. 20.<br />
März 1900, S. 1 (Der Tod der Frau Emilie Bellingrath-Wagner),<br />
Nr. 235 v. 25. August 1903, S. 2<br />
(Ewald Bellingrath †), Nr. 236 v. 26. August 1903,<br />
65
S. 3 (Trauerbeflaggung) <strong>und</strong> S. 16 (Traueranzeigen<br />
der KETTE), Nr. 237 v. 27. August 1903, S. 3 (Das<br />
Begräbnis des Herrn Generaldirektors Dr. Ewald<br />
Bellingrath).<br />
Eckoldt, Martin: Ewald Bellingrath<br />
(1838–1903). In: Richter, Helmut (Hrsg.): Sächsische<br />
Tüftler <strong>und</strong> Denker – Pionierleistungen Sachsens<br />
(Reihe „Der Neue Sachsenspiegel“). Stuttgart/Fellbach<br />
1986.<br />
Grosse, Friedrich Eduard Gustav: Der Elb-<br />
Spree-Kanal zwischen Dresden <strong>und</strong> Berlin. Berlin<br />
1868.<br />
Gründungskomitee der Kettenschleppschiffahrt<br />
der Oberelbe (Hrsg.): Prospect für die Ketten-<br />
Schleppschiffahrt auf der Ober-Elbe von Magdeburg<br />
bis Schandau. Dresden o.J. (1869).<br />
(Leipziger) Allgemeine Musikalische Zeitung<br />
Nr. 44 v. 31. Oktober 1866, S. 354 (2. Abonnements-Konzert<br />
im Gewandhaus), Nr. 6 v. 6. Februar<br />
1867, S. 51 (14. Abonnements-Konzert), Nr. 11 v.<br />
17. März 1869, S. 85 f. (17. Abonnements-Konzert),<br />
Nr. 14 v. 7. April 1869, S. 109 f. (17. Abonnements-<br />
Konzert; jeweils Kritiken der Auftritte von Emilie<br />
Wagner).<br />
Pönicke, Herbert: Bellingrath. In: Neue Deutsche<br />
Biographie. Berlin 1955, Bd. 2, S. 30 f.<br />
Register der Verwaltung des Elias-, Trinitatis<strong>und</strong><br />
Johannisfriedhofs in Dresden.<br />
Soll, Gustav: Ewald Bellingrath. In: Haupt, Herman;<br />
Wentzcke, Paul (Hrsg.): H<strong>und</strong>ert Jahre Deutscher<br />
Burschenschaft – Burschenschaftliche Lebensläufe.<br />
Heidelberg 1921, S. 204-211.<br />
Zesewitz, Sigbert; Düntzsch, Helmut; Grötschel,<br />
Theodor: Kettenschiffahrt. Berlin 1987.<br />
Zesewitz, Sigbert; Düntzsch, Helmut; Grötschel<br />
Theodor: Ewald Bellingrath – Ein Leben für die<br />
Schifffahrt. Lauenburg 2003 (Schriften des Vereins<br />
zur Förderung des Lauenburger Elbschiffahrtsmuseums,<br />
Bd. 4).<br />
Zimmermann, Willi: Kettenschleppschiffahrt<br />
auf dem Neckar 1878–1935. Zum 100. Geburtstag.<br />
Heilbronn 1978 (Heilbronner Museumshefte 6).<br />
Anmerkungen:<br />
1 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden: Wasserbaudirektion<br />
Nr. 716, Bl. 9 <strong>und</strong> Bl. 18.<br />
2 Adreß-Buch für Rheinland-Westphalen, Jg.<br />
1841, S. 92.<br />
66<br />
3 Gustav Anton Zeuner (1828–1907), von 1855<br />
bis 1871 Professor für Mechanik <strong>und</strong> Theoretische<br />
Maschinenlehre am Eidgenössischen Polytechnikum<br />
in Zürich, danach an der Bergakademie<br />
Freiberg/Sachsen, seit 1873 Direktor des<br />
Polytechnikums Dresden <strong>und</strong> Professor für das<br />
gleiche Fachgebiet (bis 1897).<br />
4 Privatschiffer sind Schiffseigner mit nicht mehr<br />
als drei Fahrzeugen. Am Rhein werden sie Partikuliere<br />
genannt.<br />
5 Die VHMDC hatte zwischen 1866 <strong>und</strong> 1874<br />
schrittweise eine Kettenschifffahrtsstrecke zwischen<br />
Magdeburg <strong>und</strong> Hamburg eingerichtet.<br />
6 Friedrich Harkort (1793–1880), Industrieller,<br />
Förderer von Eisenbahn- <strong>und</strong> Wasserstraßenprojekten,<br />
führender Vertreter der rheinischen Liberalen,<br />
1848 Mitglied der preußischen Nationalversammlung,<br />
seit 1867 Mitglied des (Norddeutschen,<br />
seit 1871 Deutschen) Reichstags.<br />
7 Soll, S. 208.–1883 war die Vorlage vom Abgeordnetenhaus<br />
angenommen, vom Herrenhaus<br />
jedoch abgelehnt worden. Erst eine zweite Vorlage<br />
wurde 1886 von beiden Häusern des<br />
preußischen Landtags genehmigt.<br />
8 Die Ergebnisse von Modellversuchen können<br />
mit Hilfe des von dem britischen Schiffbauer<br />
William Froude (1810–1879) gef<strong>und</strong>enen Ähnlichkeitsgesetzes<br />
auf die Großausführung übertragen<br />
werden. Froude führte seit 1870/71 Modellversuche<br />
in seiner Schlepprinne in Chelston<br />
Cross bei Torquay durch.<br />
9 Hubert Engels (1854–1945), Begründer des modernen<br />
wasserbaulichen Versuchswesens, seit<br />
1877 Professor für Hydraulik <strong>und</strong> Wasserbau an<br />
der Technischen Hochschule Braunschweig, von<br />
1890 bis 1924 an der Technischen Hochschule<br />
Dresden, wo er 1898 das erste deutsche Flussbaulaboratorium<br />
einrichtete.<br />
10 Bei beiden Vortriebsmitteln handelte es sich um<br />
Wasserstrahl-(Reaktions-)Antriebe.<br />
11 Die Pensions- <strong>und</strong> Unterstützungskasse der<br />
SBDG bestand seit dem 1. Januar 1865 (vgl.<br />
Denkschrift der SBDG zur Erinnerung ihres<br />
fünfzigjährigen Bestehens. Dresden 1886,<br />
S. 28 f.)<br />
12 Geschäftsbericht der KSO für 1874.<br />
13 1878 betrug die durchschnittliche Arbeitszeit<br />
bei der KSO 15 St<strong>und</strong>en 10 Minuten, im Jahre<br />
1880 sogar 16 St<strong>und</strong>en 25 Minuten (vgl. die Geschäftsberichte<br />
der betreffenden Jahre).<br />
14 Soll, S. 209. – Der Deutsche Nationalverein,<br />
1859 von dem hannoverschen Liberalen Rudolph<br />
v. Bennigsen gegründet, Vorgänger der
Fortschrittspartei <strong>und</strong> der Nationalliberalen Partei,<br />
forderte die nationale Einigung unter preußischer<br />
Führung, Gewerbefreiheit <strong>und</strong> den bürgerlichen<br />
Rechtsstaat.<br />
15 Geheimes Staatsarchiv – Preußischer Kulturbesitz,<br />
Berlin: Rep. 120 C XVII 2, Nr. 59, Bd. 3,<br />
Bl. 5 ff.<br />
16 Nachruf im Zentralblatt der Bauverwaltung;<br />
Birk.<br />
17 Generallandesarchiv Karlsruhe: Standesbücher<br />
der ev. Gemeinde Karlsruhe Nr. 390/1969. – Todestag:<br />
Friedhofsregister Dresden.<br />
18 Dresdner Neueste <strong>Nachrichten</strong> Nr. 76 vom<br />
20. März 1900, S. 1.<br />
19 Allgemeine Musikalische Zeitung 4 (1869), Nr.<br />
11, S. 85 f.; Dörffel, S. 95 <strong>und</strong> S. 100; Kutsch/<br />
Riemens, S. 247.<br />
20 Diese Vermutung stützt sich auf die ausdrückliche<br />
Erwähnung des Kammervirtuosen Böckmann<br />
als Grabredner bei der Beisetzung Bellingraths<br />
(vgl. Dresdner Neueste <strong>Nachrichten</strong><br />
Nr. 237 vom 27. August 1903, S. 3).<br />
21 Pönicke. – In keinem der Nachrufe <strong>und</strong> Lebensläufe<br />
werden Bellingraths familiäre Verhältnisse<br />
erwähnt. Lediglich Pönicke gibt einen kurzen<br />
Hinweis auf Bellingraths zweite Frau. Auch die<br />
<strong>Nachrichten</strong> über das künstlerische Schaffen<br />
Reiner Rhefus<br />
von Emilie Bellingrath-Wagner fließen nur<br />
spärlich. Ihr Geburtsdatum wird nirgends genannt,<br />
was auf eine gewisse Eitelkeit der Künstlerin<br />
hindeuten könnte.<br />
22 Zimmermann, S. 46.<br />
23 Adressbuch für Dresden; Nachruf in den Dresdner<br />
Neuesten <strong>Nachrichten</strong>.<br />
24 Soll, S. 211<br />
25 Eckoldt (S. 47) nennt auf Gr<strong>und</strong> einer missverständlichen<br />
Datierung in der Zeitschrift für Gewässerk<strong>und</strong>e<br />
(S. 119) 1902 als das Jahr der Ehrenpromotion.<br />
Einige spätere Autoren haben das<br />
übernommen. Die zeitgenössischen Quellen<br />
nennen übereinstimmend mit den Akten der TU<br />
Dresden den 23. April 1901.<br />
26 Anlässlich des 100. Todestages Bellingraths<br />
zeigt das Lauenburger Elbschifffahrtsmuseum<br />
in Zusammenarbeit mit der Technischen Universität<br />
Dresden <strong>und</strong> dem Verkehrsmuseum Dresden<br />
vom 22. August bis zum 31. Dezember<br />
2003 eine Sonderausstellung, zu der ein umfangreiches,<br />
reich illustriertes Begleitheft erschienen<br />
ist. Der Besuch der Ausstellung ist<br />
nicht nur Fre<strong>und</strong>en der Elbeschifffahrt zu empfehlen,<br />
sondern auch dem allgemein an der<br />
Technikgeschichte interessierten Publikum.<br />
Der Sozialdemokrat Hugo Landé (1859 – 1936) – Stationen aus seinem<br />
politischen Leben zwischen „Sozialistengesetz“ <strong>und</strong> Nationalsozialismus<br />
Im Oktober 2001 erinnerte die B<strong>und</strong>es-<br />
SPD an historischem Ort, im „Kaisersaal“ in<br />
Erfurt, an den 110. Jahrestag des „Erfurter Programms“.<br />
Mit einem Festakt <strong>und</strong> einer Ausstellung<br />
wurde der wichtige Meilenstein der<br />
Parteigeschichte gewürdigt. Die rheinische<br />
<strong>und</strong> insbesondere die Wuppertaler SPD hätte<br />
sich in diesem Zusammenhang auch an Hugo<br />
Landé, einen Mann aus ihren Reihen, erinnern<br />
können, der an diesem Programm maßgeblich<br />
beteiligt war. Alfred Dobbert, der legendäre<br />
Wuppertaler Sozialdemokrat <strong>und</strong> Vizepräsident<br />
des Landtages, formulierte zum Parteijubiläum<br />
1963, bezogen auf den lokalen Partei-<br />
gründer Hugo Hillmann (1823–1898): „100<br />
Jahre Geschichte der Sozialdemokratie in<br />
Deutschland sind (...) auch 100 Jahre Geschichte<br />
der organisierten Wuppertaler Sozialdemokratie.<br />
Wie in einem Brennspiegel gefaßt,<br />
vollzieht sich in unserem Wuppertal die gleiche<br />
Entwicklung wie in der SPD selbst, mit allen<br />
Hoffnungen, mit allen Enttäuschungen, mit<br />
Siegen <strong>und</strong> Niederlagen“. 1<br />
Dies trifft in besonderer Weise auf Hugo<br />
Landé zu, dessen Lebenslauf von den Zäsuren<br />
sozialdemokratischer Geschichte maßgeblich<br />
geprägt wurde. 1891 gestaltete er das „Erfurter<br />
Programm“ mit. In den folgenden Jahren<br />
67
gehörte er zu den programmatischen Wegbereitern<br />
sozialdemokratischer Kommunalpolitik<br />
im Rheinland. Über 40 Jahre begleitete er die<br />
sozialdemokratische Geschichte in Elberfeld<br />
<strong>und</strong> später in Wuppertal. Sein Leben ist bestimmt<br />
durch die zähen Kämpfe um politische<br />
Anerkennung während des Kaiserreiches.<br />
Nach der „Novemberrevolution“ übernimmt er<br />
1919 für kurze Zeit das Amt des ersten demokratischen<br />
Regierungspräsidenten in Düsseldorf.<br />
In den Jahren der „Weimarer Republik“<br />
widmet Landé sich ganz den „Mühen der Ebene“,<br />
der sozialdemokratischen Kommunalpolitik<br />
im Wuppertal. Bemerkenswert ist aber auch<br />
seine Herkunft: Als assimilierter Jude aus bürgerlich-wohlhabender<br />
Familie <strong>und</strong> Anwalt findet<br />
er zur deutschen Arbeiterbewegung. Damit<br />
steht er in einer Reihe mit berühmten Vorgängern<br />
wie Karl Marx <strong>und</strong> Ferdinand Lassalle.<br />
Diese Juristen jüdischer Herkunft wurden,<br />
Hugo Landé, ca. 1929. – Foto: Stadtarchiv<br />
Wuppertal.<br />
68<br />
durch die besondere Unterdrückungsgeschichte<br />
der Juden in Deutschland geprägt, zu Vorkämpfern<br />
für politische Gleichberechtigung<br />
<strong>und</strong> soziale Gerechtigkeit. Simon Katzenstein<br />
(1868–1945), wie Landé sozialdemokratischer<br />
Jurist jüdischer Herkunft <strong>und</strong> Lehrer an der<br />
zentralen Parteischule, bemerkte zu diesem<br />
Verhältnis: „Uralte Überlieferung, ein bis auf<br />
Propheten zurückreichender Gerechtigkeitsfanatismus,<br />
durch gemeinsame Not wachgehaltene<br />
Wohlfahrtspflege fanden sich zusammen<br />
mit den neuen Idealen bürgerlicher Freiheit.<br />
So sind aus geistig regen, wirtschaftlicher<br />
Erkenntnis zugänglichen jüdischen Bürgerkreisen,<br />
weit über ihr Klasseninteresse hinaus<br />
<strong>und</strong> nicht selten ihm zuwider, dem Sozialismus<br />
zahlreiche Anhänger <strong>und</strong> geistige Führer, von<br />
Moses Hess bis in die Gegenwart, erwachsen“.<br />
2 Ein weiteres Merkmal jüdischen Gefühlslebens<br />
spricht Gustav Mayer, der Biograph<br />
von Friedrich Engels an, wenn er von<br />
„gärenden, Vollendung <strong>und</strong> Erfüllung suchenden<br />
Kräften“ 3 spricht, die in der Heilserwartung<br />
des jüdischen Glaubens begründet sind.<br />
Auch in ihrem persönlichen Leben versuchen<br />
Hugo <strong>und</strong> seine Frau Thekla Landé, ihre<br />
politischen Ideale mit Leben zu füllen: Frauenemanzipation<br />
<strong>und</strong> -bildung, Kultur, Musik,<br />
Gastfre<strong>und</strong>schaft <strong>und</strong>, wenn es sein muss, mutiger<br />
politischer Widerstand prägen ihren Lebensweg<br />
<strong>und</strong> den ihrer Kinder.<br />
Beginn in Elberfeld<br />
Hugo Landé entstammt einer jüdischen<br />
Kaufmannsfamilie aus Schlesien. Er wird in<br />
dem kleinen Ort Ostrowo am 6.3.1859 geboren.<br />
Sein Vater Josef Landé ist ein liberal denkender<br />
Jude <strong>und</strong> Demokrat. Einige Vorfahren<br />
dienten als Rabbi jüdischer Gemeinden <strong>und</strong><br />
auch auf dem jüdischen Friedhof von Prag finden<br />
sich Gräber der Familie Landé. 4 Hugo<br />
Landé hat gut ausgeprägte mathematische<br />
Fähigkeiten <strong>und</strong> träumt davon, „Astronom“ zu<br />
werden. Doch die Familie fürchtet die hohen<br />
Ausgaben für eine wissenschaftliche Ausbildung.<br />
5 Sie ermöglicht ihm nach dem Gymnasi-
um das Studium der Rechtswissenschaften.<br />
Hierbei lernt er weite Teile Deutschlands kennen.<br />
Er studiert in Berlin, Leipzig, Breslau <strong>und</strong><br />
Heidelberg. Während seines Aufenthaltes in<br />
Heidelberg bereist er auch das Rheinland <strong>und</strong><br />
entschließt sich, dort später hinzuziehen. Im<br />
Anschluss an das juristische Examen im Februar<br />
1881 beginnt er sein Referendariat in Neuwied<br />
<strong>und</strong> Frankfurt, das er im Februar 1886<br />
mit dem Assessorexamen abschließt. 6<br />
Am 26.5.1886 findet sich im „Täglichen<br />
Anzeiger für Berg <strong>und</strong> Mark“ eine kleine Anzeige:<br />
„Ich habe mich hierorts als Rechtsanwalt<br />
niedergelassen. Mein Büreau befindet<br />
sich Zollstraße 5, parterre – Landé, Rechtsanwalt“.<br />
7 Mit 27 Jahren also eröffnete der junge<br />
Mann eine eigene Anwaltskanzlei in Elberfeld.<br />
Im folgenden Jahr heiratet er seine Kusine<br />
Thekla Landé. Thekla, fünf Jahre jünger als ihr<br />
Mann, entstammt dem Berliner Zweig der Familie<br />
Landé. Sie ist in einem vornehmen Haus<br />
am Kurfürstendamm aufgewachsen, wo sich<br />
die Eheleute schon als Kinder begegnet sind.<br />
Das junge Paar bezieht in diesen ersten Ehejahren<br />
eine Wohnung in der Elberfelder Herzogstraße<br />
40 8 , einem Wohn- <strong>und</strong> Geschäftshaus<br />
gleich gegenüber der damaligen Handwerker-<br />
<strong>und</strong> Kunstgewerbeschule <strong>und</strong> dem Geburtshaus<br />
von Else Lasker-Schüler (heute<br />
Buchhandlung Nettesheim).<br />
In diesen Jahren kommen Hugo <strong>und</strong> Thekla<br />
Landé in Kontakt mit verbotenen sozialistischen<br />
Schriften. Dies wird für ihren Lebensweg<br />
entscheidend. 9 Von 1879 bis 1890 gilt das<br />
„Sozialistengesetz“. Die politische Betätigung<br />
der sozialdemokratischen Partei, der Vertrieb<br />
sozialdemokratischer Bücher <strong>und</strong> Zeitungen,<br />
gewerkschaftliche Arbeit usw. steht unter Strafe.<br />
Die Städte Elberfeld <strong>und</strong> Barmen waren<br />
schon seit den ersten Anfängen der organisierten<br />
Arbeiterbewegung eine der Hochburgen<br />
der Sozialdemokratie. In diesen Jahren der politischen<br />
Repression werden sie zu Zentren der<br />
illegalen politischen Aktivitäten. In den Wupperstädten<br />
werden ca. 8% der Gesamtauflage<br />
der illegalen Parteizeitung „Sozialdemokrat“<br />
über geheime Wege aus der Schweiz eingeführt,<br />
unter Ladentischen vertrieben. Trotz<br />
Verbots der Partei wird hier der Weber <strong>und</strong> Sozialdemokrat<br />
Friedrich Harm als „unabhängiger“<br />
Kandidat in den Reichstag gewählt. Um<br />
diesen politischen Widerstand zu brechen, hatte<br />
der Elberfelder Staatsanwalt schon im Jahr<br />
1883 intensive Nachforschungen <strong>und</strong> Verfolgungen<br />
in Gang gesetzt. 10 Anwälte, die für sozialdemokratische<br />
Angeklagte stritten, waren<br />
selten <strong>und</strong> für die Betroffenen oft nicht zu bezahlen.<br />
Hier liegt wahrscheinlich der frühe<br />
Berührungspunkt zwischen dem Anwalt Landé<br />
aus wohlhabendem Hause <strong>und</strong> der diffamierten<br />
sozialdemokratischen Arbeiterbewegung.<br />
Im April 1888 begann in Elberfeld-Barmen<br />
eine regelrechte Verfolgungswelle gegen Sozialdemokraten.<br />
Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmungen<br />
von Schriftmaterial <strong>und</strong> Verhaftungen<br />
waren an der Tagesordnung. Im März<br />
1889 wurden schließlich 91 Personen vor dem<br />
Landgericht Elberfeld angeklagt, darunter fünf<br />
sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete.<br />
Dieser sogenannte „Elberfelder Geheimb<strong>und</strong>prozess“<br />
löste in ganz Deutschland Empörung,<br />
Spott für den Staatsanwalt <strong>und</strong> Solidarität mit<br />
den Angeklagten aus. 11 Als die Verhandlungen<br />
Mitte November 1889 vor der Elberfelder<br />
Strafkammer begannen <strong>und</strong> sich über volle<br />
sechs Wochen hinzogen, war der junge Rechtsanwalt<br />
Landé täglich ein aufmerksamer Zuhörer.<br />
12 Die Atmosphäre in der Stadt schildert der<br />
junge Drechslergeselle Wilhelm Keil, der sich<br />
damals auf Wanderschaft in Elberfeld aufhielt,<br />
in seinen Memoiren folgendermaßen: „Die<br />
Anklage richtete sich gegen 91 Angeklagte aus<br />
allen Teilen Deutschlands, die bis auf zwei<br />
sämtlich vor Gericht erschienen. Da der Staatsanwalt<br />
so unvorsichtig gewesen war, auch August<br />
Bebel in den Prozess zu verwickeln, wurde<br />
dieser hochbegabte Politiker <strong>und</strong> glänzende<br />
Redner der Hauptverteidiger der Angeklagten.<br />
Immer wieder verschaffte sich Bebel Gehör,<br />
<strong>und</strong> neben ihm fanden auch andere wortgewandte<br />
Angeklagte Gelegenheit, die Anklagen<br />
des Staatsanwaltes zu erschüttern <strong>und</strong> die Ziele<br />
<strong>und</strong> Ideen der Partei zu verkünden. Sie machten<br />
aus dem „Prozeß gegen die gemeingefährlichen<br />
Bestrebungen der Sozialdemokratie“<br />
eine Propagandatribüne für die sozialistischen<br />
Ideale. Man sprach vom Sozialisten-‚K o n -<br />
69
g r e ß‘ statt vom Sozialistenprozeß. Wir jungen<br />
Sozialisten waren natürlich leidenschaftlich<br />
interessiert am Verlauf der Verhandlungen.<br />
Die ‚Freie Presse‘ berichtete ausführlich darüber<br />
<strong>und</strong> in den Parteiwirtschaften saßen wir<br />
mitten unter den Angeklagten <strong>und</strong> ließen uns<br />
erzählen“. 13<br />
Der Prozess endete im Dezember 1889 mit<br />
der Verurteilung von lediglich 44 der 91 Angeklagten.<br />
Es gelang dem Staatsanwalt nicht, ein<br />
reichsweites Netz der Sozialdemokratie nachzuweisen.<br />
Vornehmlich bergische Sozialdemokraten<br />
wurden zu Haft- <strong>und</strong> Geldstrafen verurteilt.<br />
Der Elberfelder Reichstagsabgeordnete<br />
Friedrich Harm erhielt die Höchststrafe <strong>und</strong><br />
wurde zu einem halben Jahr Haft verurteilt.<br />
Dennoch wurde das Urteil als moralischer Sieg<br />
der Arbeiterbewegung gewertet: Der Prozess<br />
hatte das umfangreiche System von politischen<br />
Spitzeln <strong>und</strong> Denunzianten, das die preußische<br />
Polizei unterhielt, aufgedeckt <strong>und</strong> der Lächerlichkeit<br />
preisgegeben. Das war vor allem der<br />
geschickten Verteidigung von August Bebel zu<br />
danken, der in einem Brief an Friedrich Engels<br />
hierzu schrieb: „Den Prozeß anlangend, so darf<br />
ich wohl sagen, daß ich in meinem Leben keinen<br />
aufregenderen Verhandlungen beiwohnte<br />
<strong>und</strong> einer solchen, in welcher versucht wurde,<br />
einem mit allen, aber auch allen Mitteln den<br />
Genickstoß zu geben“. 14 Der grandiose juristisch-politische<br />
Sieg der Sozialdemokraten <strong>und</strong><br />
das Debakel der Staatsanwaltschaft läuteten<br />
das baldige Ende des „Sozialistengesetzes“ ein.<br />
Im März 1890 fanden Reichstagswahlen<br />
statt, die den Sozialdemokraten enormen Zuwachs<br />
brachten. Friedrich Harm, der nun im<br />
Elberfelder Gefängnis saß, wurde trotz Haft<br />
wieder in den Reichstag gewählt. Wenige Tage<br />
später wurde der „Volksbildungsverein zu Elberfeld“<br />
gegründet. Neben Goethe, Schiller<br />
<strong>und</strong> Heine wurden „die großen Forscher der<br />
Neuzeit“ Charles Darwin <strong>und</strong> Karl Marx in<br />
wissenschaftlichen <strong>und</strong> literarischen Vorträgen<br />
behandelt. 15 Thekla <strong>und</strong> Hugo Landé wurden<br />
engagierte Mitglieder. 16 Nicht selten traten sie<br />
bei Vortragsabenden als Dozenten auf. Wilhelm<br />
Keil berichtet über die Aktivitäten: „Dieser<br />
Verein wahrte nach außen parteipolitische<br />
Neutralität, bestand aber überwiegend aus So-<br />
70<br />
zialdemokraten <strong>und</strong> ließ regelmäßig Redner<br />
der Sozialdemokratie oder Naturwissenschaftler<br />
als Vortragende auftreten. Die Versammlungen<br />
des Vereins wurden polizeilich überwacht.<br />
Das hinderte nicht, daß sie zur Verteilung verbotener<br />
Schriften benutzt wurden. Unter den<br />
Tischen wurde neben anderen verbotenen<br />
Schriften der „Sozialdemokrat“ weitergereicht.<br />
Der Verein besaß auch eine kleine Bibliothek<br />
vor allem naturwissenschaftlicher Werke, die<br />
wir benützten.“ 17 August Bebels Buch „Die<br />
Frau <strong>und</strong> der Sozialismus“ war trotz Verbots<br />
eines der populärsten der Zeit. Es gilt als Meilenstein<br />
auf dem Weg zur Emanzipation der<br />
Frauen <strong>und</strong> wird auch Thekla Landés emanzipatorisches<br />
Engagement beeinflusst haben.<br />
Einer der ersten Vortragsredner im Elberfelder<br />
Vereinslokal am Hombüchel, dem späteren<br />
„Volkshaus“, war der Arzt <strong>und</strong> prominente<br />
Redner Prof. Ludwig Büchner 18 , der Bruder<br />
des Dichters Georg Büchner. Ludwig Büchner,<br />
der Vorsitzende <strong>und</strong> Begründer der Freidenkerbewegung,<br />
warb für das wissenschaftliche<br />
Weltbild Darwins <strong>und</strong> stritt gegen die „Verdummungspolitik“<br />
der Kirchen. Das Ehepaar<br />
Landé folgte dem atheistischen Weltbild der<br />
Freidenker <strong>und</strong> trat aus der jüdischen Gemeinde<br />
aus. Frau Landé ließ sich in der Tradition<br />
der Freidenker bestatten. 19 Trotzdem spricht<br />
die Tochter Lotte später von einer religiösen<br />
Erziehung, die die Eltern Landé den Kindern<br />
zukommen lassen 20 . Die Bibel wurde als<br />
„außerordentlich wertvolles Buch“ geschätzt<br />
<strong>und</strong> die Kinder, obschon konfessionslos, besuchten<br />
den jüdischen oder, wo dies nicht möglich,<br />
den christlichen Religionsunterricht, weil<br />
hier die biblische Geschichte gelehrt wurde. 21<br />
Der Parteitag in Erfurt <strong>und</strong> die Mitwirkung<br />
am „Erfurter Programm“<br />
Im Zusammenhang mit dem Elberfelder<br />
„Sozialistenprozeß“ entstanden möglicherweise<br />
erstmals Kontakte zur sozialdemokratischen<br />
Parteispitze, 22 die Hugo Landé zwei Jahre später<br />
als Delegierten der SPD auf den Parteitag in<br />
Erfurt führen sollten. Neben ihm wurden noch<br />
der prominente Reichstagsabgeordnete Fried-
ich Harm <strong>und</strong> zwei weitere Delegierte, der<br />
Kaufmann Carl Haberland aus Barmen <strong>und</strong> der<br />
Weber Emil Müller aus Elberfeld, entsandt. Es<br />
war der wichtigste Parteikongress seit dem<br />
Vereinigungsparteitag 1875 in Gotha. 23 Nach<br />
der Beendigung der Sozialistenverfolgung im<br />
Jahr 1890 <strong>und</strong> den neuen Bedingungen der Legalität<br />
war eine programmatische Neuorientierung<br />
der SPD nötig. Der erste Parteitag in Halle<br />
(1890) beschloss deshalb, eine Kommission<br />
aus den „tüchtigsten Kräften des Parteitages“ 24<br />
zu bilden, um einen Entwurf für dieses neue<br />
Programm zu erstellen. Die Kommission bestand<br />
aus 21 Genossen <strong>und</strong> wurde von Wilhelm<br />
Liebknecht (1826–1900) geleitet. Neben<br />
den wichtigsten Köpfen der Partei wie August<br />
Bebel, Hermann Molkenbuhr, Karl Kautsky<br />
gehörten ihr auch zwei Sozialdemokraten aus<br />
Elberfeld an: der Jurist Hugo Landé <strong>und</strong> der<br />
Weber Emil Müller. 25<br />
Hugo Landé zählte zu den bürgerlichen<br />
Gebildeten, die sich nach der erfolgreichen<br />
Entwicklung während des „Sozialistengesetzes“<br />
der Partei angeschlossen hatten. Friedrich<br />
Engels, der große Mentor der Partei in London,<br />
der sich maßgeblich an der Programmdebatte<br />
beteiligte, begrüßte im Gegensatz zu<br />
früheren Stellungnahmen die Einbeziehung<br />
der bürgerlichen Intellektuellen in die Parteiarbeit.<br />
26 „Über je mehr von diesen Elementen<br />
man im geeigneten Moment verfüge, um so<br />
glatter werde sich verhältnismäßig die Übernahme<br />
der Geschäfte abwickeln“, äußerte er in<br />
einem Brief an Bebel am 24. Oktober 1891. 27<br />
Der Jurist Landé unterstützte sicherlich die Erarbeitung<br />
des neuen Programms, zumal viele<br />
sozialdemokratische Forderungen äußerst vorsichtig<br />
formuliert werden mussten, da sie angesichts<br />
der unsicheren politischen Situation<br />
erneut zu Verbotsanträgen <strong>und</strong> Repressalien<br />
hätten führen können.<br />
Über Monate wurden verschiedene, z.T.<br />
gegensätzliche Entwürfe heftig diskutiert. Die<br />
bedeutenden Köpfe der SPD waren daran beteiligt.<br />
Neben dem Entwurf des Parteivorstandes<br />
hatten auch die Redakteure der Zeitschrift<br />
„Neue Zeit“, 28 Karl Kautsky <strong>und</strong> Eduard Bernstein,<br />
einen Entwurf vorgelegt. Daneben standen<br />
zwei weitere Entwürfe 29 zur Debatte, die<br />
sich auf den I. Teil, die Gr<strong>und</strong>satzerklärungen<br />
zum gesellschaftlichen Selbstverständnis, bezogen.<br />
Der Entwurf der „Neuen Zeit“ war von<br />
Friedrich Engels redigiert worden <strong>und</strong> wurde<br />
nun auch von ihm unterstützt. Als indirekten<br />
Diskussionsbeitrag veröffentlichte er zu diesem<br />
Zeitpunkt erstmals die Marx’sche „Kritik<br />
des Gothaer Programmentwurfs“. 30<br />
Als im Oktober 1891 der Parteitag in Erfurt<br />
zusammentrat, musste die Kommission über<br />
die endgültige Formulierung der konkurrierenden<br />
Entwürfe entscheiden. Hugo Landé als<br />
Mitglied der Programmkommission hatte sich<br />
nicht mit einzelnen Änderungsvorschlägen begnügt.<br />
Zu dem Forderungskatalog, der den<br />
zweiten Teil des Programmentwurfs umfasste,<br />
hatte er einen Gegenentwurf verfasst <strong>und</strong> zu<br />
Beginn dem Parteitag vorgelegt. Der Vorschlag<br />
Landés war, ganz im Sinne der Kritik von<br />
Friedrich Engels, knapper <strong>und</strong> in einer ganzen<br />
Reihe von Punkten konkreter gefasst. Neben<br />
der gr<strong>und</strong>sätzlichen Forderung nach Sozialisierung<br />
der Produktionsmittel (Bergwerke,<br />
Fabriken u.a.) enthielt er vor allem einen Maßnahmekatalog<br />
zur Demokratisierung der Verwaltung<br />
(Wahl der Beamten auf Zeit), des Justizwesens<br />
(direkte Gesetzgebung durch das<br />
Volk, Stärkung der Zivil- <strong>und</strong> Geschworenengerichte)<br />
<strong>und</strong> des Militärs (Volkswehr, kommunale<br />
Wehrverbände, Wahl der Führer) sowie<br />
zur Verbesserung des Schulwesens (obligatorischer<br />
Unterricht, Vermehrung der Zahl der<br />
Lehrer, Erhöhung der Lehrergehälter <strong>und</strong> bessere<br />
Ausbildung der Lehrkräfte). 31<br />
Zum Justizwesen wurden konkrete wie allgemeine<br />
Forderungen entwickelt: Unentgeltlichkeit<br />
der Rechtspflege, die Abschaffung der<br />
Todesstrafe, Wahl der Geschworenen <strong>und</strong> die<br />
Zulassung der Öffentlichkeit bei Militär-Strafverfahren.<br />
Einige wesentliche Themen wie die<br />
Arbeiterschutzgesetzgebung, die Forderung<br />
nach dem Acht-St<strong>und</strong>en-Tag <strong>und</strong> die weitere<br />
Beschränkung der Kinderarbeit fehlten jedoch<br />
gänzlich. Trotz der vorherigen Kontroversen<br />
wurde in der Kommission ein Entwurf einmütig<br />
angenommen, der überwiegend auf den<br />
weitergehenden Vorschlägen <strong>und</strong> Forderungen<br />
von Kautsky, Bernstein <strong>und</strong> Engels beruhte.<br />
Das neue Programm wurde danach fast ohne<br />
71
Gegenstimmen auf dem Parteitag verabschiedet.<br />
Neben der gr<strong>und</strong>legenden Forderung des<br />
„Übergang(s) der Produktionsmittel in den Besitz<br />
der Gesamtheit“ enthielt das Programm die<br />
politischen Forderungen, die bei der Gründung<br />
der ersten deutschen Republik zu einem<br />
großen Teil durchgesetzt werden konnten: gleiches<br />
<strong>und</strong> direktes Stimmrecht, Gleichberechtigung<br />
der Frauen, Weltlichkeit der Schule, Unentgeltlichkeit<br />
der Rechtspflege <strong>und</strong> der ärztlichen<br />
Hilfeleistung, selbstverwaltete Sozialversicherung<br />
sowie der Acht-St<strong>und</strong>en-Tag. Alle<br />
diese Rechte wurden zu Gr<strong>und</strong>pfeilern des demokratischen<br />
Staates. Gerade deshalb stellte<br />
dieses Programm einen der wichtigsten programmatischen<br />
Schritte der SPD dar <strong>und</strong> sollte<br />
über Jahrzehnte die Richtschnur der Partei<br />
bleiben.<br />
Auch an anderer Stelle waren Sozialdemokraten<br />
aus dem Wuppertal maßgeblich an programmatischen<br />
Weichenstellungen der Partei<br />
beteiligt: Der Elberfelder Hugo Hillmann war<br />
Mitbegründer des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins<br />
32 <strong>und</strong> zeitweise dessen Präsident.<br />
33 An der programmatischen Erneuerung<br />
der SPD in Godesberg (1959) wirkte der spätere<br />
Oberbürgermeister Wuppertals <strong>und</strong> heutige<br />
B<strong>und</strong>espräsident Johannes Rau mit. So ist eine<br />
Traditionslinie entstanden: von Friedrich Engels<br />
über Hillmann <strong>und</strong> Landé bis zu Johannes<br />
Rau spannt sie sich von den Anfängen der<br />
deutschen Arbeiterbewegung bis in die Gegenwart.<br />
Der Erfurter Parteitag wurde auch die Geburtsst<strong>und</strong>e<br />
der rheinisch-westfälischen Parteibezirke.<br />
Die Delegierten aus Rheinland <strong>und</strong><br />
Westfalen einigten sich bei einem separaten<br />
Treffen auf die politische Trennung der beiden<br />
bisher in einem „Agitationsbezirk“ vereinten<br />
Provinzen. Bisher war die Stadt Elberfeld Sitz<br />
des Agitationsbezirks Rheinland-Westfalen.<br />
Die Sozialdemokraten im Ruhrgebiet hatten<br />
vor allem durch den Bergarbeiterstreik 1889 an<br />
Kraft gewonnen <strong>und</strong> organisierten sich nun<br />
eigenständig. Die Stadt Dortm<strong>und</strong> wurde Sitz<br />
des neuen Bezirks Westfalen, während Elberfeld<br />
noch einige Jahrzehnte Sitz der (neuen)<br />
„Bezirksleitung Niederrhein“ blieb.<br />
72<br />
Kontroverse Debatten<br />
Der Religionsstreit<br />
In Hugo Landés Entwurf des „Erfurter Parteiprogramms“<br />
fehlte ein Passus, der zuvor in<br />
der Partei viel diskutiert worden war: die „Erklärung<br />
der Religion zur Privatsache“. Dieser<br />
Passus zielte auf die deutliche Trennung von<br />
Staat <strong>und</strong> Kirche. Er sollte neben der Einschränkung<br />
der Macht der Kirchen aber auch<br />
deutlich machen, dass gläubige Christen <strong>und</strong><br />
Juden die Möglichkeit der Mitwirkung in der<br />
sozialdemokratischen Partei hätten. Dies war<br />
nicht unumstritten. Viele Parteigenossen <strong>und</strong><br />
Freidenker vertraten nämlich die Auffassung,<br />
dass die SPD als marxistische Partei eine rein<br />
wissenschaftliche <strong>und</strong> atheistische Gr<strong>und</strong>auffassung<br />
vertreten müsse. 34 „Wir Sozialdemokraten<br />
haben die richtige Religion“, wurde<br />
propagiert <strong>und</strong> damit das Selbstverständnis<br />
weiter Parteikreise ausgedrückt. Sie erhoben<br />
den Anspruch einer neuen „modernen“ Glaubensgemeinschaft.<br />
35 In der Gründungserklärung<br />
des von Hugo <strong>und</strong> Thekla Landé mitgegründeten<br />
Elberfelder „Volksbildungsvereins“<br />
heißt es dann auch: „In der heutigen bewegten<br />
Zeit, welche dem hehren Befreiungskampfe<br />
der unteren Volksschichten aus materieller <strong>und</strong><br />
geistiger Knechtschaft geweiht ist, steht der<br />
Volksbildungsverein zu Elberfeld als Pionier<br />
der Neuzeit <strong>und</strong> Verfechter der modernen<br />
Weltanschauung mit in der ersten Reihe“. 36<br />
Die wissenschaftliche Auffassung der Welt<br />
<strong>und</strong> des Sozialismus stellte nach Hugo Landé<br />
eine sozialdemokratische Alternative zur Religion<br />
dar. Mit dem Marxismus als Wissenschaft<br />
wollte er auch die Kirchen bekämpft wissen.<br />
Mit dieser Auffassung löste der konvertierte<br />
Jude Landé eine lebhafte Diskussion in der<br />
Führung der Wuppertaler Sozialdemokraten<br />
aus. Im November 1891, nach Abschluss des<br />
Parteitages in Erfurt, wurde der Streit in der lokalen<br />
Parteipresse ausgetragen. Die Mehrzahl<br />
der Parteiführer hielt „daran fest, daß ein Sozialdemokrat<br />
auch religiös sein könne“. 37 Hugo<br />
Landé blieb mit seiner Haltung in der Minderheit.<br />
Auch in das „Erfurter Programm“ wurde<br />
der von Landé bekämpfte Passus aufgenommen.<br />
Die Religion blieb Privatsache <strong>und</strong> die
SPD eine für verschiedene Weltanschauungen<br />
offene Partei. Die Punkte sechs <strong>und</strong> sieben des<br />
„Erfurter Programms“ sollten jedoch noch oft<br />
in den folgenden Jahrzehnten Gegenstand leidenschaftlicher<br />
Vorträge <strong>und</strong> Diskussionen<br />
sein. 38<br />
Die Abspaltung der<br />
„unabhängigen Sozialisten“<br />
Die ersten Jahre nach dem Scheitern der<br />
„Sozialistengesetze“ waren eine Zeit intensiver<br />
politischer Debatten. Der Erfurter Parteitag<br />
war neben der Diskussion um das neue Parteiprogramm<br />
von dem Streit mit den oppositionellen<br />
„Jungen“ Sozialdemokraten geprägt.<br />
Sie, die „Jungen“, wie damals dieser syndikalistische<br />
Parteiflügel genannt wurde, plädierten<br />
für lokale, unabhängige Gewerkschaftsgruppen,<br />
sympathisierten mit direkten Aktionen<br />
<strong>und</strong> gefielen sich in radikalen Losungen. Die<br />
Unterdrückungsmaßnahmen der vorausgegangenen<br />
Jahre <strong>und</strong> das immer noch übliche Spitzelwesen<br />
hatten zu dieser Radikalisierung geführt.<br />
Die Polizei observierte auch nach Abschaffung<br />
der Verbotsgesetze noch jede politische<br />
Versammlung.<br />
Auf dem Parteitag hatte Hugo Landé in<br />
dieser Kontroverse zwischen den unterschiedlichen<br />
Flügeln vermittelnd eingegriffen. Das<br />
Protokoll verzeichnet zwei Redebeiträge Landés,<br />
bei denen er für eine Versachlichung der<br />
Diskussion plädiert. 39 Er wollte eine Blockbildung<br />
<strong>und</strong> Spaltung vermeiden. Vermutlich<br />
wusste er um die großen Sympathien, die diese<br />
Bewegung auch unter den Elberfelder Sozialdemokraten<br />
genoss. Trotzdem wurden einige<br />
Exponenten dieser Richtung vom Parteitag<br />
ausgeschlossen.<br />
In Elberfeld hatte diese Kontroverse weitreichende<br />
Folgen <strong>und</strong> setzte sich noch einige<br />
Jahre fort. Hier hatten sich die „Jungen“ Sozialdemokraten<br />
im „Diskutierklub unabhängiger<br />
Sozialisten“ zusammengeschlossen <strong>und</strong> 1892<br />
abgespalten. 40 In Barmen <strong>und</strong> Ronsdorf 41 drohten<br />
sie sogar, die Mehrheit der Parteigenossen<br />
in den sozialdemokratischen Volksvereinen<br />
hinter sich zu bringen. Unter anderem ging es<br />
auch um die Organisationsform der zukünftigen<br />
Gewerkschaften: lokal oder zentral, mit<br />
mehr oder weniger Autonomie. 42 Einer der Kritikpunkte<br />
der „Jungen“ war auch der wachsende<br />
Einfluss von „bürgerlichen“ Parteigenossen.<br />
In einem Flugblatt heißt es: „Als die Partei<br />
noch jung war <strong>und</strong> nur aus Proletariern bestand,<br />
da wäre eine Taktik wie die heutige ganz<br />
unmöglich gewesen. [Die Partei werde heute]<br />
aus Elementen geleitet (...), die zum Teil ganz<br />
andere Ziele verfolgen, keinesfalls aber identisch<br />
sind mit jenen, die Gut <strong>und</strong> Blut ihrer<br />
Überzeugung zu opfern stets bereit waren <strong>und</strong><br />
noch sind“. 43 Mit diesem Angriff war auch Hugo<br />
Landé gemeint, zumal der Jurist aus wohlhabendem<br />
Hause kurz zuvor einen wenig revolutionär<br />
klingenden Programmvorschlag unterbreitet<br />
hatte. In einem der Polizeiberichte vom<br />
Oktober 1892, kurz nach der Abspaltung des<br />
„Diskutier-Klubs“, wird Landés Auffassung<br />
wiedergegeben: „Landé ergreift das Wort <strong>und</strong><br />
bezeichnet die Anarchisten als Schwärmer,<br />
dieselben seien ohne Organisation, im übrigen<br />
seien sie ein Ausfluss des Liberalismus. (...)<br />
Die soviel gewünschten Revolutionen wären<br />
ohne alle Bedeutung, durch derartige Putsche,<br />
wie sie hie <strong>und</strong> da auftreten, sei die Schädigung<br />
größer als der Nutzen. Der Zweck des<br />
Socialismus solle nur der Aufklärung des<br />
Volkes dienen, erst wenn sie überall vorhanden,<br />
dann wisse jeder was er zu thun habe.“ 44<br />
Die Auseinandersetzung mit dem „Diskutierklub“<br />
dauerte noch bis ins Jahr 1895. Der<br />
Club selber wurde im Laufe der Jahre zu einer<br />
kräftigen syndikalistischen Bewegung. Bis in<br />
die zwanziger Jahre blieben die beiden Wupperstädte<br />
eine Hochburg des Arbeiter-Syndikalismus.<br />
Der Disput um das Marx’sche Wertgesetz<br />
Doch nicht nur auf lokaler Ebene beteiligte<br />
sich Landé an den Debatten. Seine Mitarbeit<br />
am „Erfurter Programm“ zeigt, dass er sich mit<br />
den Fragen der politischen Theorie beschäftigte<br />
<strong>und</strong> die politisch-wissenschaftliche Kontroverse<br />
suchte. Im Jahr 1885 hatte Friedrich Engels<br />
aus den fragmentarischen Unterlagen von<br />
73
Karl Marx den zweiten Band des „Kapitals“<br />
veröffentlicht. Engels hatte sich eng an die unvollständigen<br />
Marx’schen Manuskripte gehalten,<br />
<strong>und</strong> so mussten viele Fragen der weiteren<br />
wissenschaftlichen Klärung vorbehalten bleiben.<br />
Der sozialdemokratische Ökonom <strong>und</strong><br />
Philosoph Conrad Schmidt (1863–1932) hatte<br />
den Ehrgeiz, diese Lücken zu füllen. Conrad<br />
Schmidt war ein Bruder der namhaften Künstlerin<br />
Käthe Kollwitz (1867–1945). Eine Hochschullaufbahn<br />
als Ökonom hatte man dem<br />
Wissenschaftler aus politischen Gründen verwehrt.<br />
So arbeitete er u.a. als Redakteur des<br />
„Vorwärts“ <strong>und</strong> der „Sozialistischen Monatshefte“<br />
<strong>und</strong> widmete sich nationalökonomischen<br />
Untersuchungen. Seit einem Studienaufenthalt<br />
in England stand er mit Friedrich Engels<br />
in fre<strong>und</strong>schaftlicher Verbindung 45 <strong>und</strong><br />
pflegte mit ihm Briefkontakt zu philosophischen<br />
<strong>und</strong> ökonomischen Fragen. 46 Schmidts<br />
Publikation mit dem Titel „Die Durchschnittsprofitrate<br />
auf der Gr<strong>und</strong>lage der Marx’schen<br />
Werthgesetze“ (1889) wurde Gegenstand der<br />
Auseinandersetzung mit Hugo Landé. Landé<br />
nahm Anstoß an den ökonomischen Definitionen<br />
des Verfassers <strong>und</strong> an einer „zu engen Auffassung<br />
des Werthgesetzes“. 47<br />
Mit dem Widerspruch löst Landé eine Kontroverse<br />
aus, die sich durch die Jahre 1892 <strong>und</strong><br />
1893 hinzieht. Über mehrere Ausgaben der<br />
„Neuen Zeit“ hinweg disputierten die Kontrahenten<br />
über Warenwert <strong>und</strong> Preis <strong>und</strong> ihre Bestimmung<br />
durch die verschiedenen Faktoren<br />
wie aufgebrachte Arbeitszeit bzw. die Konkurrenzverhältnisse<br />
am Markt. 48<br />
Friedrich Engels arbeitete in den Jahren<br />
1892/93 in London an der Herausgabe des dritten<br />
Bandes des „Kapital“. Die Kontrahenten<br />
Schmidt <strong>und</strong> Landé, die hiervon wussten, erhofften<br />
sich durch die Veröffentlichung dieses<br />
Buches Aufschluss zu den von ihnen aufgeworfenen<br />
ökonomischen Fragestellungen.<br />
Friedrich Engels greift diesen Ball auf. In seinem<br />
Aufsatz „Ergänzung <strong>und</strong> Nachtrag zum<br />
III. Buche des „Kapital“ 49 setzt er sich u.a. mit<br />
den Thesen von Conrad Schmidt auseinander,<br />
der dem Marx´schen Wertgesetz lediglich den<br />
Rang einer Hypothese <strong>und</strong> „notwendigen Fiktion“<br />
zubilligt. „Solche Kontroversen sind nun<br />
74<br />
selbstverständlich bei einem Werk, das so viel<br />
Neues <strong>und</strong> dies nur in rasch hingeworfener <strong>und</strong><br />
teilweise lückenhafter erster Bearbeitung<br />
bringt“, kommentiert er die Debatte. In einem<br />
persönlichen Antwortschreiben an Conrad<br />
Schmidt beschwichtigt Engels jedoch auch den<br />
wissenschaftlichen Ehrgeiz des Diskutanten:<br />
„Aber seien Sie doch nur ja ruhig. Sie können<br />
wahrhaft zufrieden sein. Haben Sie doch die<br />
Ursache des tendenziellen Falls der Profitrate<br />
<strong>und</strong> die Bildung des Handelsprofits selbstständig<br />
gef<strong>und</strong>en, <strong>und</strong> das nicht zu 2 /3 wie Firemann<br />
50 die Profitrate, sondern ganz <strong>und</strong> gar.“ 51<br />
Engels kritisiert die Neigung Schmidts,<br />
„die sich auch in (Ihrem) brieflichen Exkurs<br />
über das Wertgesetz zeigt, sich in Einzelheiten<br />
zu vertiefen, wobei mir der Gesamtzusammenhang<br />
nicht mehr beachtet scheint, derart, das<br />
Sie das Wertgesetz zu einer Fiktion, einer notwendigen<br />
Fiktion, degradieren“. 52 Ähnlich lautete<br />
auch die Kritik von Hugo Landé. Sowohl<br />
der Aufsatz „Ergänzung <strong>und</strong> Nachtrag zum III.<br />
Buche des ‚Kapital‘“ als auch Engels’ Briefe<br />
an Schmidt fanden Eingang in die „Ausgewählten<br />
Werke“ <strong>und</strong> gehören wohl zu den<br />
gr<strong>und</strong>legenden Schriften marxistischer Wirtschaftswissenschaft.<br />
Conrad Schmidt <strong>und</strong> Hugo<br />
Landé zählen zu den wenigen zeitgenössischen<br />
Sozialdemokraten, die sich auf hohem<br />
Niveau mit dem Wertgesetz auseinandersetzten.<br />
53 Zu den Auffassungen Landés gibt es keine<br />
Bemerkungen von Engels, doch er wird die<br />
Debatte in der „Neuen Zeit“ lebhaft verfolgt<br />
haben. Conrad Schmidt wurde neben Eduard<br />
Bernstein später zu einem der maßgeblichen<br />
Theoretiker der Revisionisten in der SPD. Er<br />
wurde 1895 Mitbegründer der Zeitschrift „Der<br />
sozialistische Akademiker“ – ab 1897 „Sozialistische<br />
Monatshefte“ –, die bald zum Sprachrohr<br />
der Revisionisten in der Partei wurden. 54<br />
Auch Landé stand dieser Parteifraktion nahe.<br />
Der Streit mit den Antisemiten<br />
Im November 1890 wurde auch der „christlich-sociale<br />
Verein“ in Elberfeld gegründet.<br />
Diese Gruppierung trat als „antisemitische<br />
Partei“ zu den Wahlen an 55 <strong>und</strong> verfügte sogar
über ein eigenes Blatt, die „Rheinische<br />
Wacht“, das in Elberfeld gedruckt wurde. Rassistische<br />
Propaganda <strong>und</strong> Boykottaufrufe richteten<br />
sich gegen die jüdische Bevölkerung.<br />
Doch nicht nur die jüdischen Kaufleute wurden<br />
diffamiert, die Antisemiten versuchten in<br />
den ersten Jahren ihres Bestehens auch, in der<br />
Arbeiterschaft <strong>und</strong> der sozialdemokratischen<br />
Partei ihre Vorurteile zu verankern. Juden, die<br />
eine herausragende Stellung in der SPD innehatten,<br />
wurden angegriffen. So heißt es in<br />
einem Flugblatt: „Ihr unter Juden-Commando<br />
gerathenen Arbeiter seid – ohne daß ihr es<br />
selbst wißt – die größten Feinde des Socialismus!“<br />
56 Diese Angriffe zielten auf den Juden<br />
Hugo Landé, der mittlerweile ein prominentes<br />
Parteimitglied war. Die Wuppertaler Sozialdemokraten<br />
setzten sich mit den Anwürfen der<br />
„Christlich-Socialen“ offensiv auseinander<br />
<strong>und</strong> scheuten auch nicht, in deren Versammlungen<br />
aufzutreten. Diese Strategie hatte Erfolg:<br />
Während es in den Anzeigen der antisemitischen<br />
Partei zunächst nur hieß, „Juden haben<br />
keinen Zutritt“, wurden später auch Sozialdemokraten<br />
von der Teilnahme an den öffentlichen<br />
Parteiversammlungen ausgeschlossen. 57<br />
Die angestrebte scharfe Trennung zwischen<br />
Antisemitismus <strong>und</strong> Sozialdemokratie war gelungen.<br />
Die Arbeiterpartei blieb frei von Rassenhass.<br />
Erst durch die NSDAP sollte diese unglückselige<br />
Verknüpfung zwischen Arbeitersozialismus<br />
<strong>und</strong> Antisemitismus wiederhergestellt<br />
werden.<br />
Die antisemitische Partei blieb für ca. 15<br />
Jahre in Elberfeld eine relevante politische<br />
Kraft, die über Stadtverordnete <strong>und</strong> Reichstagskandidaten<br />
verfügte. Die Saat dieser Partei<br />
ging auf. Für Jahrzehnte blieben die Sozialdemokratie<br />
<strong>und</strong> das Judentum das Feindbild in<br />
diesen deutsch-völkischen Kreisen. Immer<br />
wieder im Laufe seines Lebens sollte Hugo<br />
Landè mit diesen politischen Kräften konfrontiert<br />
werden.<br />
Besuch von Wilhelm Liebknecht<br />
In den neunziger Jahren zieht Hugo Landé<br />
um. Am 28.4.1890 verkündet eine Anzeige in<br />
der sozialdemokratischen „Freien Presse“,<br />
dass das „Büreau“ in die Casinogartenstraße<br />
15 a (heute Kolpingstraße) verlegt wird. Die<br />
Familie Landé bezog auch eine neue Wohnung.<br />
1888 wurde der älteste Sohn Alfred (1888–<br />
1975) geboren, es folgten Charlotte (1890–<br />
1977), Franz (1893–1942) <strong>und</strong> Eva (1901–<br />
1977). Die Familie Landé erwarb oder erbaute<br />
ein stattliches Wohnhaus am unteren Ende der<br />
Luisenstraße, das sie allein bewohnte. 58 Das<br />
Haus Luisenstraße 85 hat neun Zimmer <strong>und</strong> ist<br />
umgeben von einem großen Garten mit einer<br />
hohen Mauer. Das Viertel ist gutbürgerlich –<br />
auch die Familie Landé hat zwei Dienstmädchen<br />
<strong>und</strong> eine Putzfrau als Hausangestellte.<br />
59 Das Haus liegt jedoch am Fuß des Elberfelder<br />
Ölbergs, einem ausgeprägten Arbeiterviertel.<br />
Seine politische Tätigkeit <strong>und</strong> auch die<br />
Werbeanzeige in der Arbeiterzeitung „Freie<br />
Presse“ legen nahe, dass Hugo Landé seine<br />
Klienten auch in Arbeiterkreisen hatte. Sein<br />
Beruf ermöglichte ihm jedoch einen bemerkenswerten<br />
Wohlstand.<br />
Wilhelm Liebknecht, der populäre sozialdemokratische<br />
Redner, besuchte im Jahr 1894<br />
das Wuppertal. Vor einer Versammlung von<br />
2000 Menschen auf dem Johannisberg setzte er<br />
sich mit den anarchistischen Tendenzen der<br />
„unabhängigen Sozialisten“ auseinander. 60 Im<br />
Anschluss gab es ein fre<strong>und</strong>schaftliches Wiedersehen<br />
mit Hugo Landé. Es gehört zu den<br />
frühesten Erinnerungen der Tochter Charlotte,<br />
bei einer Kaffeetafel im Garten des Hauses auf<br />
dem Schoß von Wilhelm Liebknecht gesessen<br />
zu haben. 61 Wilhelm Liebknecht hatte schon<br />
im Jahr zuvor Kontakte in das Wuppertal geknüpft.<br />
Er schenkte seinem Fre<strong>und</strong> Friedrich<br />
Engels in London Fotografien von dessen Elternhaus<br />
am Barmer Bruch, die er zuvor hier<br />
besorgen ließ. 62<br />
Der Anwalt Landé <strong>und</strong> der Prozess<br />
Garschagen<br />
Recht <strong>und</strong> Rechtsprechung stehen häufig in<br />
engem Zusammenhang mit gesellschaftspolitischen<br />
Kontroversen <strong>und</strong> gesellschaftlichem<br />
Fortschritt. So fanden sich auch immer wieder<br />
75
Anwälte <strong>und</strong> Juristen in den Reihen der sozialdemokratischen<br />
Partei. Die berühmtesten unter<br />
ihnen waren sicherlich Karl Marx, Ferdinand<br />
Lassalle, Karl Liebknecht <strong>und</strong> Hugo Haase.<br />
Einige ihrer Prozesse, so z.B. der Scheidungsprozess<br />
der Gräfin Sophie von Hatzfeld, 63 gingen<br />
als Meilensteine in die Rechtsgeschichte<br />
ein. Auch der Anwalt Hugo Landé erwarb sich<br />
einen Ruf als Verteidiger, der ihn weit über seine<br />
Heimatstadt hinaus bekannt machte. Seine<br />
Tochter schrieb, dass er oftmals als Anwalt<br />
nach auswärts gerufen wurde. 64 Allerdings<br />
wurde sein Name nicht mit bedeutenden Prozessen<br />
in Verbindung gebracht. Einer der Prozesse<br />
Landés, der zumindest in Elberfeld<br />
großes Aufsehen erregte, war der um die „Naturheilärztin“<br />
Sophie Garschagen <strong>und</strong> ihre<br />
„Privat-Krankenanstalt“ im Zooviertel.<br />
Im Zusammenhang mit den radikalen Veränderungen<br />
in Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft zu<br />
Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts entfalteten sich<br />
auch vielfältige lebensreformerische Bewegungen:<br />
Kleider- <strong>und</strong> Ernährungsreformer, Anti-<br />
Alkohol-Bewegung, Freikörperkultur, Siedlungs-<br />
<strong>und</strong> Gartenstadtbewegung <strong>und</strong> nicht zuletzt<br />
ges<strong>und</strong>heitsreformerische Vereine. Diese<br />
Ideen wurden auch in der sozialdemokratischen<br />
Arbeiterbewegung aufgegriffen <strong>und</strong><br />
führten oft zu eigenen Vereinsgründungen. Allein<br />
in Elberfeld bestanden um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende<br />
zwölf homöopathische <strong>und</strong> Naturheil-Vereine.<br />
65<br />
Von Seiten der Behörden <strong>und</strong> der etablierten<br />
Ärzteschaft wurden diese Bestrebungen<br />
auf vielfältige Weise bekämpft <strong>und</strong> behindert.<br />
Die „Naturheilärztin“ Sophie Garschagen<br />
(1856–1938) eröffnete im Jahr 1904 eine erste<br />
„Privat-Krankenanstalt“ für Naturheilmedizin<br />
mit acht Angestellten in ihrem Wohnhaus auf<br />
der Wotanstraße im Elberfelder Zooviertel.<br />
Hier wurden Kranke mit Bädern verschiedenster<br />
Art, mit Massagen <strong>und</strong> Ernährungsumstellung<br />
therapiert. Schon nach wenigen Wochen<br />
wurde das Unternehmen von den städtischen<br />
Behörden gerichtlich belangt. Sophie Garschagen<br />
beauftragte den Anwalt Hugo Landé, eine<br />
Konzession für ihr Haus bei dem zuständigen<br />
Ausschuss in Düsseldorf zu erstreiten. Über<br />
ein Jahr ging es hier um Heilerfolge, mögliche<br />
76<br />
Todesursachen 66 <strong>und</strong> bauliche Auflagen für<br />
Krankenhäuser. 67 Im Jahre 1906 mußte die<br />
„Pension Sophie Garschagen“ denn auch kurzzeitig<br />
geschlossen werden. Während Landé die<br />
medizinisch-fachlichen Vorwürfe entkräften<br />
konnte, scheiterte jedoch sein Versuch, die<br />
baulichen Auflagen auf ein machbares Maß<br />
abzumildern. 68 Die nun verordneten Veränderungen<br />
<strong>und</strong> Auflagen waren in dem vorhandenen<br />
Gebäude nicht durchzuführen. Doch immerhin<br />
erhielt Frau Garschagen, wenn auch<br />
unter bestimmten Auflagen, eine Konzession<br />
für den Betrieb ihres Hauses. Die „Naturheilärztin“<br />
verfügte mittlerweile über kapitalkräftige<br />
Unterstützer unter den Elberfelder<br />
Fabrikanten, die sich meist selbst von den Heilerfolgen<br />
der Naturheilmedizin überzeugt hatten.<br />
69 Mit deren Hilfe entstand nicht weit vom<br />
alten Standort, am Boltenberg am Rande des<br />
Burgholz, ein neues Krankenhaus, das „Kurhaus<br />
Waldesruh“. Dieses modern ausgestattete<br />
Kurhaus genoss einige Jahre später auch die<br />
Anerkennung der städtischen Würdenträger<br />
<strong>und</strong> der Presse. Als das Haus 1912 in wirtschaftliche<br />
Schwierigkeiten geriet <strong>und</strong> Sophie<br />
Garschagen nach Bonn umsiedelte, wurde es<br />
von Unterstützern als GmbH weitergeführt.<br />
Der Erste Weltkrieg bedeutete für dieses ges<strong>und</strong>heitspolitische<br />
Experiment in Elberfeld<br />
jedoch das endgültiges Aus. 70<br />
Das erste Kommunalwahlprogramm<br />
Die Städte Elferfeld-Barmen als Hochburgen<br />
der Sozialdemokratie übernahmen auch eine<br />
Vorreiterrolle bei der Entwicklung einer sozialdemokratischen<br />
Kommunalpolitik. An dieser<br />
Entwicklung war der Jurist Landé maßgeblich<br />
beteiligt. In den ersten Jahrzehnten der<br />
Parteigeschichte galt die Kommunalpolitik als<br />
unwichtig <strong>und</strong> wurde völlig vernachlässigt.<br />
Zum einen waren tatsächliche Einflussmöglichkeiten<br />
durch das Dreiklassenwahlrecht in<br />
den Kommunen ausgeschlossen, zum anderen<br />
ging es der Partei um die großen gesellschaftlichen<br />
Veränderungen: den Umsturz der kapitalistischen<br />
Gesellschaft.
Erstmals im Jahr 1893, im Zusammenhang<br />
mit der Reichstagswahl, wurden zu den parallel<br />
anstehenden Barmer Stadtverordnetenwahlen<br />
sozialdemokratische Kandidaten in der<br />
dritten Abteilung aufgestellt. Zu dieser Wahl<br />
war der Steuerzensus für die dritte Abteilung,<br />
die Voraussetzung zur Wahlberechtigung, von<br />
zwölf auf sechs Mark gesenkt worden, so dass<br />
erstmals eine nennenswerte Anzahl von Arbeitern<br />
wahlberechtigt wurde. Die beiden sozialdemokratischen<br />
Führer Eberle (Barmen) <strong>und</strong><br />
Landé (Elberfeld) erarbeiten hierzu ein Kommunalwahlprogramm<br />
mit vielen sozialpolitischen<br />
Anliegen. 71 Dieses erste SPD-Kommunalwahlprogramm<br />
im Rheinland umfasste 13<br />
Forderungen wie die Unentgeltlichkeit der<br />
Lehrmittel, die Einrichtung einer kostenfreien<br />
kommunalen Arbeitsvermittlung <strong>und</strong> eines<br />
städtischen Arbeitsprogramms zur Beseitigung<br />
der Arbeitslosigkeit. Ein kommunaler Friedhof<br />
sollte das Monopol der christlichen Gemeinden<br />
auf diesem Sektor brechen. Das<br />
Wahlrecht selbst <strong>und</strong> damit die Gleichberechtigung<br />
der unteren Volksklassen war auch ein<br />
wichtiges Thema. Die Bezieher öffentlicher<br />
Unterstützung sollten endlich auch das Wahlrecht<br />
erhalten. Die Einrichtung von Stimmlokalen<br />
im Stadtgebiet 72 sollte den Arbeitern den<br />
oft langen Fußweg ersparen <strong>und</strong> damit die Teilnahme<br />
an der Wahl erleichtern. 73<br />
Die Erfahrungen waren positiv. Mit diesem<br />
Programm leitete die Partei ihren Angriff auf<br />
das Honoratiorenregiment ein. 74 Erstmals zeigten<br />
auch die Arbeiter Interesse an dieser Wahl,<br />
<strong>und</strong> die sozialdemokratischen Kandidaten kamen<br />
in die Stichwahl. Das Beispiel wurde in<br />
anderen Städten (Dortm<strong>und</strong>, 1897) aufgegriffen.<br />
75 Von Elberfeld ging einige Jahre später<br />
auch die Initiative aus, sich an den Kommunalwahlen<br />
generell zu beteiligen. Im Jahr 1900<br />
unterbreitete der Elberfelder Sozialdemokrat<br />
Hermann Grimpe (1850–1907) den Vorschlag<br />
für ein „Niederrheinisches Kommunalwahlprogramm“.<br />
Es wurde auf dem Bezirksparteitag<br />
für den Niederrhein in Ronsdorf im Jahr<br />
1901 auch beschlossen. 76<br />
Das bezirksweite Programm enthielt eine<br />
Reihe von Forderungen, die Landé schon auf<br />
dem Erfurter Parteitag 1891 eingebracht hatte.<br />
So die kommunale Selbstverwaltung, eine Armenpflege<br />
ohne politische Entmündigung, die<br />
„Einheitsschule“, die Einstellung <strong>und</strong> Qualifizierung<br />
von Lehrern <strong>und</strong> freie Lehrmittel.<br />
Andere Forderungen wie Kommunalisierung<br />
der öffentlichen Aufgaben 77 , Errichtung von<br />
Schulbädern <strong>und</strong> -kantinen <strong>und</strong> die Anstellung<br />
von Schulärzten waren dem Barmen-Elberfelder<br />
Katalog von 1893 entnommen. Ein neuer<br />
Punkt war eine städtische Wohnungsbaupolitik,<br />
mit der die Sozialdemokraten die allgemeine<br />
Wohnungsnot zu lindern suchten. 78<br />
Hugo Landé, als Anwalt an öffentliches<br />
Reden gewöhnt, entwickelte wie seine Frau ein<br />
„allseits gerühmtes Rednertalent“. 79 Er stellte<br />
sich seiner Partei als Reichstagskandidat zur<br />
Verfügung <strong>und</strong> wurde im Wahlkreis Bielefeld<br />
nominiert. Dort, in der Provinz, waren Sozialdemokraten<br />
weitaus stärker stigmatisiert als in<br />
den bergischen Industriestädten <strong>und</strong> wurden<br />
als vaterlandslose Gesellen ausgegrenzt. Landé<br />
beschwerte sich später über die dortige<br />
„Saalabtreiberei“ 80 : überall, wo Gastwirte den<br />
Sozialdemokraten Räumlichkeiten zur Verfügung<br />
gestellt hatten, wurden sie von den<br />
Behörden massiv unter Druck gesetzt. Diese<br />
Praxis zwang auch Landé, „unter freiem Himmel<br />
<strong>und</strong> von einem Leiterwagen herunter zu<br />
reden“. 81 Als 1898 der Reichstagsabgeordnete<br />
Friedrich Harm (1844–1905), der seit 1884<br />
viermal hintereinander das Mandat im Wahlkreis<br />
Elberfeld-Barmen gewonnen hatte, nicht<br />
mehr kandidierten wollte, 82 wurde Hugo Landé<br />
vom Parteivorstand für die Kandidatur in seiner<br />
Heimatstadt ins Gespräch gebracht. Diese<br />
Nominierung war bei den örtlichen Sozialdemokraten<br />
jedoch umstritten. Hier dominierten<br />
linke Sozialdemokraten die örtliche Parteiorganisation.<br />
Schon Friedrich Harm sei, so ein<br />
Behördendossier, „von der radikalen Richtung,<br />
der er nicht scharf genug sei, zur Aufgabe moralisch<br />
gezwungen worden“. 83 Ähnlich lag es<br />
bei Hugo Landé: Er hätte wegen seiner bürgerlichen<br />
Herkunft <strong>und</strong> seiner Nähe zu dem damals<br />
noch recht schwachen reformistischen<br />
Flügel ebenfalls schnell in die parteiinterne<br />
Kritik geraten können. So lehnte er aus „beruflichen<br />
Gründen“ – wie es offiziell hieß – das<br />
Angebot zur Kandidatur ab. 84<br />
77
Stattdessen wurde der bekannte Hamburger<br />
Sozialdemokrat Hermann Molkenbuhr (1851–<br />
1927) vom Parteivorstand vorgeschlagen <strong>und</strong><br />
nominiert. Er sollte für 14 Jahre den Wahlkreis<br />
im Reichstag vertreten <strong>und</strong> eine prägende Person<br />
der örtlichen Sozialdemokratie werden.<br />
Noch heute ist die parteieigene Verlagsgesellschaft<br />
„Molkenbuhr & Cie.“ nach ihm benannt.<br />
Im Jahr 1908 gab die SPD erstmals auch<br />
den Boykott 85 der preußischen Landtagswahlen<br />
auf. Hugo Landé entschied sich diesmal anders<br />
als bei der Reichstagswahl 1898 <strong>und</strong> kandidierte<br />
in seinem Heimatwahlkreis. Aber bei<br />
diesen Wahlen galt das Dreiklassenwahlrecht,<br />
<strong>und</strong> somit war kein Direktmandat zu erwarten.<br />
Die Entscheidung hatte also (noch) keine Konsequenzen<br />
für sein Berufsleben.<br />
Der erste kommunale Wahlsieg in Elberfeld<br />
Ein umso erfreulicheres politisches Ereignis<br />
wurde für Hugo Landé der lang erhoffte<br />
Durchbruch der Elberfelder Sozialdemokraten<br />
bei den Kommunalwahlen im Jahr 1909.<br />
In Preußen herrschte bei allen Wahlen, mit<br />
Ausnahme der Reichstagswahlen, das Dreiklassenwahlrecht.<br />
Das Wahlrecht hing von der<br />
Höhe der Steuer ab.<br />
So waren auch bei den Kommunalwahlen<br />
die Wähler in drei Steuerklassen eingeteilt. Der<br />
Stadtrat bestand aus 36 Personen, die in drei<br />
verschiedene Abteilungen (Steuerklassen) gegliedert<br />
waren. Jedes zweite Jahr wurde ein<br />
Drittel der Stadtverordneten, jeweils vier in jeder<br />
Abteilung, für sechs Jahre neu gewählt. 86<br />
Doch selbst in der dritten Klasse war ein hoher<br />
Steuersatz nötig, so dass nur ca. 20–25 % der<br />
männlichen Bevölkerung wahlberechtigt war.<br />
Da jedoch 12% der Wahlberechtigten 66% der<br />
Abgeordneten wählten, waren die gering verdienenden<br />
Bevölkerungsklassen, die Wähler<br />
der dritten Abteilung, nur schwer zu motivieren,<br />
an den Wahlen teilzunehmen. Diese Bedingungen<br />
hatten bisher einen Erfolg der Sozialdemokraten<br />
in der Kommune unmöglich gemacht.<br />
Seit Jahrzehnten hatten deshalb die Sozialdemokraten<br />
das <strong>und</strong>emokratische Wahlrecht<br />
angegriffen.<br />
78<br />
Zu den Wahlen im Jahr 1909 war es ihnen<br />
jedoch gelungen, zumindest partielle Verbesserungen<br />
zu erreichen. Der erforderliche Mindeststeuerbetrag<br />
in der dritten Abteilung wurde<br />
in Elberfeld <strong>und</strong> Barmen von 6 auf 4 Mark gesenkt.<br />
Erstmals stieg die Zahl der Wahlberechtigten<br />
auf insgesamt 28.578 Personen bzw.<br />
35,2 % der männlichen Bevölkerung. 87 Nun<br />
konnten 25.378 Wahlberechtigte die vier neuen<br />
Abgeordneten der dritten Abteilung wählen. 88<br />
In der zweiten Abteilung entsandten 2.905<br />
Wahlberechtigte die gleiche Anzahl von Abgeordneten.<br />
89 Auf Drängen der Sozialdemokraten<br />
war es auch gelungen, das einzige Wahlbüro<br />
im Elberfelder Rathaus an fünf Tagen, statt wie<br />
bisher an einem Tag, geöffnet zu halten. Auch<br />
dies kam vornehmlich den Sozialdemokraten<br />
zugute. Der oft lange Fußweg <strong>und</strong> die knappe<br />
Zeit hatte viele der armen Wähler aus den Vorstadtbezirken<br />
abgehalten, zur Wahl zu gehen.<br />
Die Wahlbeteiligung stieg auf bisher unerreichte<br />
62,5%.<br />
Hugo Landé <strong>und</strong> der Redakteur Oskar<br />
Hoffmann (1877–1953) führten die Kandidatenliste<br />
der SPD-Elberfeld in der dritten Abteilung<br />
an. Nach der Wahlordnung musste mindestens<br />
die Hälfte der Abgeordneten in jeder<br />
Abteilung Hausbesitzer sein. Diese Bestimmung<br />
warf für die Kandidatensuche des sozialdemokratischen<br />
Volksvereins erhebliche Probleme<br />
auf 90 <strong>und</strong> begünstigte möglicherweise<br />
die Aufstellung des Kandidaten Hugo Landé.<br />
Die Liberalen, Konservativen <strong>und</strong> Zentrumsleute<br />
hatten zum Schutz der „Honoratiorenbastion“<br />
ein Bündnis der „Vereinigten Parteien“<br />
gebildet <strong>und</strong> dachten, so den Wahlsieg der Sozialdemokraten<br />
zu verhindern.<br />
Die SPD startete im Sommer 1909 im<br />
ganzen Deutschen Reich eine Kampagne gegen<br />
das <strong>und</strong>emokratische Dreiklassenwahlrecht<br />
in Preußen. In vielen Städten im Rheinland<br />
gab es große Massendemonstrationen.<br />
Unter anderen war Karl Liebknecht (1871–<br />
1919), der Sohn von Wilhelm Liebknecht <strong>und</strong><br />
der jüngste Reichstagsabgeordnete, im Juli<br />
1909 als Redner auf einer Versammlung der<br />
sozialdemokratischen Jugend auf dem Königsplatz<br />
(heute Laurentiusplatz) zu hören. 91 Mög-
licherweise war Karl Liebknecht bei dieser Gelegenheit<br />
auch im nahegelegenen Hause Landé<br />
zu Gast, wie sein Vater schon einige Jahre zuvor.<br />
92 Diese Kampagne wird auch die sozialdemokratischen<br />
Wähler im Wuppertal erreicht<br />
<strong>und</strong> mobilisiert haben. Während der heißen<br />
Wahlkampfzeit im September 1909 sprach Hugo<br />
Landé im dichtbesetzten „Volkshaus“. 93 Bei<br />
diesen Auftritten forderte er u.a. das Wahlrecht<br />
auch für Frauen <strong>und</strong> Unterstützungsempfänger.<br />
Ein städtisches Wohnungsbauprogramm sollte<br />
die Wohnungsnot mildern <strong>und</strong> den Mietwucher<br />
bekämpfen. Ein weiteres Thema war eine gerechte<br />
Berücksichtigung der ärmeren Bevölkerungsschichten<br />
bei den städtischen Kulturausgaben.<br />
94<br />
Unter den neuen günstigeren Bedingungen<br />
<strong>und</strong> nach langjährigen Vorarbeiten gelang den<br />
Sozialdemokraten endlich der Durchbruch.<br />
Die Liste der SPD verdoppelte ihre Stimmzahl<br />
<strong>und</strong> erreichte die Mehrheit in der dritten Klasse.<br />
Damit waren erstmals Sozialdemokraten im<br />
Stadtrat vertreten. 95 Hugo Landé erzielte mit<br />
8.583 Stimmen das Spitzenergebnis. 96 In den<br />
Reden von Hugo Landé kam zum Ausdruck,<br />
dass ihm die Entscheidung für die parlamentarische<br />
Arbeit durchaus schwergefallen ist. Die<br />
beruflichen Konsequenzen <strong>und</strong> die nun knappere<br />
Zeit für die Familie wogen schwer. Doch<br />
die politische Leidenschaft prägte sein weiteres<br />
Leben. Die Wahl hatte Hugo Landé gemeinsam<br />
mit dem Redakteur der „Freien Presse“<br />
Oskar Hoffmann gewonnen. Oskar Hoffmann<br />
war seit 1905 in Elberfeld. Von nun an<br />
bis zur Zäsur von 1933 sollten diese beiden Sozialdemokraten<br />
die kommunale Politik <strong>und</strong> die<br />
Geschicke der Elberfelder Partei prägen.<br />
Das Dreiklassenwahlrecht wurde erst durch<br />
die Revolution im Jahr 1918 abgeschafft. Daher<br />
verfügte die SPD noch im Jahr 1912 im<br />
Regierungsbezirk Düsseldorf insgesamt nur<br />
über 208 kommunale Mandatsträger. Allerdings<br />
waren die Sozialdemokraten in den bergischen<br />
Gemeinden schon vergleichsweise<br />
früh in die Stadtverordnetenversammlungen<br />
gelangt. 97 So auch in den damals selbstständigen<br />
Städten des heutigen Wuppertals: in Ronsdorf<br />
<strong>und</strong> Cronenberg 1904, in Elberfeld <strong>und</strong><br />
Barmen 1909. Das bergische Städtedreieck<br />
war auch kommunalpolitisch zu einer sozialdemokratischen<br />
Hochburg geworden.<br />
Der Familienvater Hugo Landé<br />
Das parteipolitische Engagement <strong>und</strong> die<br />
Wahl zum Stadtverordneten blieben nicht ohne<br />
Folgen für das Familienleben 98 <strong>und</strong> die Entwicklung<br />
der Kinder. Sohn Franz 99 ging in das<br />
Realgymnasium Elberfeld an der Aue. Das besuchte<br />
auch Martin Niemöller 100 (1892–1984),<br />
Sohn des Pfarrers Niemöller an der lutherischen<br />
Trinitatiskirche im benachbarten Stadtteil<br />
Arrenberg. Aus den Jahren von 1900 bis<br />
1910 berichtet Martin Niemöller: „Wir hatten<br />
damals einen sozialdemokratischen Stadtverordneten,<br />
einen Rechtsanwalt, <strong>und</strong> dessen<br />
Sohn war eine Klasse tiefer als ich <strong>und</strong> war<br />
Dissident. Denn ein Sozialdemokrat, der damals<br />
überzeugter Sozialist war, glaubte, daß<br />
man als Sozialist eben nicht Christ sein könne.<br />
– Es war ganz selbstverständlich. Mit dem Jungen<br />
sprach kein Mensch. Er hatte in seiner<br />
Klasse keinen Menschen, der sich mit ihm unterhielt.<br />
Und der ganze Gr<strong>und</strong> dafür war: sein<br />
Vater ist sozialdemokratischer Stadtverordneter.<br />
Mit solchen Leuten redet man nicht. (…)<br />
Ich erinnere mich noch, wie wir damals bei<br />
den Reichstagswahlen, die während meiner<br />
Schulzeit stattfanden, ohne überhaupt eine politische<br />
Überzeugung zu haben, die Werbeplakate<br />
für die sozialdemokratischen Abgeordneten<br />
abrissen. Und das galt als gute christliche<br />
Tat, denn auf diese Weise traf man beide, die<br />
Feinde des Thrones <strong>und</strong> die Feinde des Altars.“<br />
101 Diese Ausgrenzung durch die Kinder<br />
der „besseren“ Kreise scheinen jedoch ohne<br />
nachhaltige Schäden überstanden worden zu<br />
sein.<br />
Die Berichte der Kinder Landé jedenfalls<br />
heben immer wieder die glückliche <strong>und</strong> erfüllte<br />
Kindheit im Haus in der Luisenstraße hervor.<br />
Daran hatte neben Thekla auch der Vater<br />
Hugo einen gewichtigen <strong>und</strong> bewussten Anteil.<br />
Er war zwar regelmäßig an zwei Abenden der<br />
Woche auf politischen Sitzungen im Rathaus,<br />
doch fand er trotz des Engagements genügend<br />
Zeit für die Kinder. Die Tochter Lotta 102 be-<br />
79
ichtet: „Ich möchte aber nicht vergessen, davon<br />
auch zu berichten, daß mein Vater also ein<br />
ausgesprochener Familienmensch war. Er wurde<br />
mal eine Zeitlang nach auswärts gerufen als<br />
bekannter Verteidiger <strong>und</strong> hat das dann einfach<br />
immer abgelehnt <strong>und</strong> (…) hat gesagt, ‚Zum<br />
Wochenende gehöre ich nach Hause‘. (…) Papa<br />
hat mit uns jeden Samstagnachmittag (…) weite<br />
Spaziergänge in unsere w<strong>und</strong>erschöne Umgebung<br />
gemacht, ins Gelpetal, Burgholz. (…)<br />
Auf diesen Spaziergängen, als wir noch klein<br />
waren, hat er uns erst Märchen erzählt, später<br />
(…) die griechischen Sagen, <strong>und</strong> noch später<br />
haben wir uns über alle Dinge, die uns betrafen,<br />
mit ihm unterhalten können <strong>und</strong> er hat an<br />
allem teilgenommen <strong>und</strong> es war sehr schön.<br />
(…) Wir machten auch w<strong>und</strong>erschöne Radtouren<br />
an den Rhein mit unserem Vater (…). Meine<br />
Mutter war nicht so ges<strong>und</strong>, so leistungsfähig.“<br />
103<br />
Die Kinder erhielten alle eine musische Erziehung<br />
<strong>und</strong> abends gab es Hausmusik mit<br />
Klavier <strong>und</strong> Geige. An anderen Abenden saß<br />
man um den großen Esstisch, las Geschichten<br />
oder knobelte „mit großem Vergnügen“ 104 an<br />
mathematischen Aufgaben, die der Vater gestellt<br />
hatte. Aufgr<strong>und</strong> des sozialistischen<br />
Selbstverständnisses der Eltern hatte aber auch<br />
die ethische Erziehung eine große Bedeutung.<br />
Die Tochter Charlotte hierzu: „Wir Kinder sind<br />
konfessionslos erzogen worden. Aber das bedeutete<br />
nicht etwa unreligiös, sondern meinem<br />
Gefühl nach sind wir besonders religiös erzogen<br />
worden. Wir [wurden dazu angehalten]<br />
duldsam zu sein, anderen Menschen zu helfen<br />
<strong>und</strong> immer die Wahrheit zu sagen, <strong>und</strong> nichts<br />
Schlechtes über andere Menschen zu reden.“ 105<br />
Die Kinder reisten oft zu den Großeltern<br />
<strong>und</strong> Verwandten nach Berlin <strong>und</strong> anderswo.<br />
Später unternahm Hugo Landé mit seinen<br />
erwachsenen Kindern auch sommerliche<br />
Ferienreisen. So berichtet Lotta Landé von einer<br />
Reise an die Nordsee im Jahr 1911 oder<br />
von einer dreiwöchigen Schiffsreise im Jahr<br />
1927 ans Nordkap – zur Mitternachtssonne.<br />
Unterwegs habe sie so viel getanzt wie nie<br />
mehr in ihrem Leben, habe viele Wanderungen<br />
in die Berge <strong>und</strong> Ausflüge ins Land der Fjorde<br />
mit ihrem Vater unternommen. Tochter Lotta<br />
80<br />
berichtet auch von einer Reise in ein elegantes<br />
belgisches Seebad „wo [es] Papas größte Freude<br />
war, nachmittags am Strand vor einem kleinen<br />
Cafe zu sitzen, wo eine Sängerin klassische<br />
Musik sang“. 106<br />
Der Stein des Anstoßes<br />
in der Novemberrevolution<br />
In den Vorkriegsjahren waren die wichtigsten<br />
Führungspersönlichkeiten der Elberfelder<br />
Sozialdemokraten, die Generation der Veteranen<br />
aus der Zeit des „Sozialistengesetzes“ wie<br />
Friedrich Harm (1905), Hermann Grimpe<br />
(1907) <strong>und</strong> Wilhelm Gewehr (1913) gestorben.<br />
Hugo Landé war nun neben Otto Ibanez 107<br />
(1858–?) der letzte Vertreter dieser Generation<br />
<strong>und</strong> somit dienstältester lokaler Parteiführer.<br />
Der Krieg unterbrach die sozialdemokratische<br />
Erfolgsgeschichte im Wuppertal jäh. Die Bewilligung<br />
der Kriegskredite durch die sozialdemokratische<br />
Reichtagsfraktion entzweite die<br />
Partei. Im Juli 1917 spalteten sich die entschiedenen<br />
Kriegsgegner ab. Diese „Unabgängige“<br />
SPD (USPD) bildete in der Gesamtpartei eine<br />
Minderheit, im Bezirk Niederrhein <strong>und</strong> in Elberfeld-Barmen<br />
vertrat sie jedoch eine deutliche<br />
Mehrheit von 60–80% der örtlichen Sozialdemokraten.<br />
Hugo Landé blieb bei den „Regierungssozialisten“,<br />
während seine alten Mitstreiter<br />
Otto Ibanez <strong>und</strong> Oskar Hoffmann Führer<br />
der USPD wurden. 108 Hunger, enorme Kindersterblichkeit,<br />
109 Trauer über die Gefallenen<br />
<strong>und</strong> die Winter ohne Heizmaterial führten<br />
zunächst zu Streiks, ab dem Winter 1917 sogar<br />
zu Straßenunruhen. Die „Mehrheitssozialdemokraten“<br />
– nun auch „Regierungssozialisten“<br />
genannt – versuchten zu beschwichtigen, wo es<br />
ging. Landé hatte den stellvertretenden Vorsitz<br />
des „Mieteinigungsamtes“, das während des<br />
Krieges gegründet worden war <strong>und</strong> versuchte<br />
in dieser Funktion, die ärgsten Wohnraummissstände<br />
der ärmeren Bevölkerungsschichten<br />
zu lindern. Doch mit zunehmendem Elend<br />
verlor diese Politik die Zustimmung in der angestammten<br />
sozialdemokratischen Wählerschaft.
Der alte Staatsapparat machte den „Regierungssozialisten“<br />
nun Zugeständnisse <strong>und</strong><br />
Avancen. So wurde Hugo Landé im Jahr 1917,<br />
im Alter von fast 60 Jahren, endlich der Titel<br />
des „Justizrates“ verliehen. Diesen Titel erhielten<br />
praktizierende Anwälte üblicherweise<br />
schon viel früher, doch Hugo Landé hatte man<br />
diese Ehrung bis dahin aus politischen Gründen<br />
verweigert. Seine Parteigenossen von der<br />
USPD, die wie Oskar Hoffmann <strong>und</strong> andere 110<br />
aktiv gegen den Krieg auftraten, erhielten in<br />
dieser Zeit aus den gleichen Amtszimmern der<br />
Justiz weniger erfreuliche Schreiben: Vorladungen,<br />
Einberufungen aus politischen Gründen<br />
<strong>und</strong> Haftbefehle. 111 Noch am 8. November<br />
– in Kiel hatten die Matrosen schon mit der<br />
Meuterei begonnen – bildete der Elberfelder<br />
Stadtrat eine ständige Kommission, die der<br />
städtischen Verwaltung bei den zu erwartenden<br />
Unruhen zur Seite stehen sollte. Hugo Landé<br />
vertrat die (M)SPD in dieser Kommission 112<br />
<strong>und</strong> wurde für die Revolutionäre so zur<br />
Hauptangriffsperson unter den „Regierungssozialisten“.<br />
Die Revolution war nicht mehr aufzuhalten.<br />
Am Nachmittag des 8. Novembers zogen<br />
100 Kieler Matrosen einer riesigen Menschenmenge<br />
voran von Elberfeld nach Barmen,<br />
die „Internationale“ auf den Lippen. Am<br />
Abend wurde die Republik ausgerufen. Ein<br />
„Arbeiter- <strong>und</strong> Soldatenrat“ wurde gebildet<br />
<strong>und</strong> übernahm die Macht. „Bloß kein Bruderstreit“,<br />
hieß die Parole. So wurde der Rat von<br />
den Vertretern beider sozialdemokratischen<br />
Parteien paritätisch besetzt. Während die<br />
USPD den Vorsitzenden des Rates stellte, wurde<br />
Hugo Landé in das zweitwichtigste Amt gewählt.<br />
113 Als „städtischer Kommissar“ hatte er<br />
die Aufgabe, die städtische Verwaltung, den<br />
Oberbürgermeister <strong>und</strong> die Stadtverordnetenversammlung<br />
zu kontrollieren. Landé leitete<br />
auch den „Demobilisierungsausschuss“, der<br />
sich um die Arbeitsplätze für die heimkehrenden<br />
Soldaten, die Einführung des Achtst<strong>und</strong>entages<br />
(des wichtigsten sozialpolitischen Ergebnisses<br />
der Revolution) <strong>und</strong> andere beschäftigungspolitische<br />
Aufgaben kümmerte. Dieser<br />
Ausschuss bildete ab Januar 1919 den Gr<strong>und</strong>stein<br />
des späteren Elberfelder Arbeitsamtes. 114<br />
Die Einigkeit der beiden sozialdemokratischen<br />
Parteien währte nicht lange. Schon im<br />
Dezember kam es in Elberfeld zu einem handgreiflichen<br />
Streit um die Verfügungsgewalt<br />
über die sozialdemokratische Parteizeitung<br />
„Freie Presse“ <strong>und</strong> um die Delegiertenmandate<br />
zur Reichskonferenz der Arbeiter- <strong>und</strong> Soldatenräte<br />
in Berlin. Auch in Berlin wuchsen die<br />
politischen Spannungen. Der sozialdemokratische<br />
Volksbeauftragte Friedrich Ebert hatte ein<br />
geheimes Bündnis mit den kaiserlichen Generälen<br />
geschlossen. Freikorps schossen auf<br />
radikale Anhänger der Revolution. Hugo Landé<br />
<strong>und</strong> Ernst Dröner (1878–1951) 115 drängten<br />
auch in Elberfeld zunehmend, „die Institution<br />
der Arbeiter- <strong>und</strong> Soldatenräte zu überwinden“.<br />
116 Landé forderte sogar den Boykott des<br />
Bezirksarbeiter- <strong>und</strong> Soldatenrates, „weil dort<br />
die große Mehrheit (…) einen Standpunkt einnehme,<br />
dem er sich nicht anschließen könne“.<br />
117 Die anstehende Wahl zur Nationalversammlung<br />
am 19. Januar 1919 verschärfte die<br />
Spannungen. Auf einer Versammlung des Arbeiter-<br />
<strong>und</strong> Soldatenrates am 4. Januar in der<br />
Stadthalle erstattete der Rat seinen Rechenschaftsbericht.<br />
Carl Drescher (USPD) sprach<br />
trotz mehrfacher Ermahnung zu dem umstrittenen<br />
Thema „Freie Presse“.<br />
Der Besitz der alten Parteizeitung „Freie<br />
Presse“ war der heftigste Streitpunkt der beiden<br />
Parteien. Während die MSPD juristische<br />
Argumente anführte, konnte die USPD auf die<br />
örtliche Mehrheit der übergetretenen Parteimitglieder<br />
verweisen. Im November war es<br />
sogar zu einer nächtlichen Besetzungsaktion<br />
im Zeitungsgebäude gekommen. 118 Die „Freie<br />
Presse“ war „Offizielles Organ der Arbeiter<strong>und</strong><br />
Soldatenräte“. Die MSPD verfügte weiter<br />
über die Zeitung. Hugo Landé ließ sich bei diesem<br />
Thema zu einem heftigen Wortwechsel<br />
hinreißen, sprang ans Rednerpult <strong>und</strong> entriss<br />
dem Redner das Notizblatt. Es kam zu Handgreiflichkeiten.<br />
Auch von den Parteifre<strong>und</strong>en<br />
wurde das Verhalten nicht gebilligt, <strong>und</strong> Landé<br />
verfasste eine öffentliche Entschuldigung: „Ich<br />
bedaure (…) mein Vorgehen, das durch meinen<br />
Ärger über die ganze unmotivierte Störung der<br />
bis dahin tadellos verlaufenen Versammlung<br />
<strong>und</strong> durch meine auf die Überarbeitung der<br />
81
letzten Wochen zurückzuführende Nervosität<br />
erklärlich erscheinen wird.“ 119<br />
Doch die Stimmung war angeheizt. Am<br />
nächsten Tag demonstrierten mehrere h<strong>und</strong>ert<br />
Menschen nach einer Versammlung der USPD<br />
vor dem Haus der Familie Landé in der Luisenstraße<br />
<strong>und</strong> verlangten den Rücktritt Landés<br />
von allen politischen Ämtern. Linke USPD-<br />
Anhänger wie Heinrich Drewes (1876–<br />
1958) 120 führten die Demonstration an. 121 Doch<br />
auch Otto Ibanez (USPD), der Vorsitzende des<br />
Arbeiter- <strong>und</strong> Soldatenrates, war unter den Demonstranten.<br />
Man drohte sogar, das Haus zu<br />
stürmen. Landé sah keine andere Möglichkeit<br />
<strong>und</strong> erklärte: „Der Gewalt weichend lege ich<br />
mein Amt als Mitglied des Arbeiter- <strong>und</strong> Soldatenrates<br />
nieder <strong>und</strong> stelle meine Tätigkeit in<br />
der Arbeiterbewegung ein.“ 122 Zwar wurde die<br />
Aktion am folgenden Tag von beiden Fraktionen<br />
des Arbeiter- <strong>und</strong> Soldatenrates missbilligt<br />
<strong>und</strong> die Erklärung Landés annulliert – das<br />
USPD-Mitglied Drewes wurde später zu einem<br />
Monat Haft verurteilt 123 – doch nun verließen<br />
die führenden Mehrheitssozialdemokraten 124<br />
den Arbeiter- <strong>und</strong> Soldatenrat. Man hatte einen<br />
Vorwand gef<strong>und</strong>en, das missliebige Organ<br />
der Revolution ohne Gesichtsverlust zu<br />
schwächen. Oskar Hoffmann, gerade erst aus<br />
dem Krieg zurückgekehrt, übernahm am 7. Januar<br />
das Amt Landés als „städtischer Kommissar“.<br />
125 Dieser Bruch kündigte das Ende der<br />
Revolution in Elberfeld an. Sie konnte nicht<br />
von den „Unabhängigen“ allein gegen die starken<br />
kaisertreuen <strong>und</strong> nationalistischen Kräfte<br />
getragen werden.<br />
Die bis dahin gewaltfrei gebliebene Revolution<br />
sollte wenige Wochen später blutig enden.<br />
Am 18./19. Februar rief man die Arbeiter<br />
zum Generalstreik. In Münster war der „Generalsoldatenrat“<br />
aufgelöst worden. Die kaiserlichen<br />
Generäle hatten in der Armee wieder das<br />
Sagen. Im Ruhrgebiet streikten die Bergleute.<br />
Am Bahnhof Elberfeld entfachte sich der Streit<br />
an einem Plakat, das der Bahnhofsvorsteher<br />
nicht aufhängen lassen wollte. Die Bahnpolizei<br />
rief das Freicorps Niederrhein gegen aufgebrachte<br />
Anhänger der Revolution. Es kam zu<br />
erbitterten Kämpfen am Bahnhof <strong>und</strong> im Gebäude<br />
der Eisenbahndirektion. Das Freikorps<br />
82<br />
hinterließ zwölf tote Elberfelder. 126 Die Anhänger<br />
der Revolution waren entsetzt <strong>und</strong> verbittert,<br />
ihr Mut war gebrochen. Der Graben zwischen<br />
den sozialistischen Fraktionen war tiefer<br />
geworden.<br />
Der Sturz des Oberbürgermeisters<br />
Bei den ersten demokratischen Kommunalwahlen<br />
im März 1919 traten die sozialdemokratischen<br />
Parteien getrennt an. Gegen Hugo<br />
Landé <strong>und</strong> seine Partei kandidierte die USPD<br />
mit der „Liste Oskar Hoffmann“. Aufgr<strong>und</strong> ihres<br />
„Bruderstreits“ blieben beide sozialdemokratischen<br />
Listen weit hinter den Erwartungen<br />
zurück <strong>und</strong> erreichten nicht die erhoffte Mehrheit.<br />
Erstmals konnten auch Frauen zur Wahl<br />
gehen, <strong>und</strong> so wurde Thekla Landé eine der<br />
ersten Frauen der Elberfelder Stadtverordnetenversammlung.<br />
Vier Wochen nach der Wahl der neuen demokratischen<br />
Stadtverordnetenversammlung<br />
kam es zum Eklat zwischen dem langjährigen<br />
Oberbürgermeister Wilhelm Funck <strong>und</strong> Hugo<br />
Landé, dem Sprecher der (mehrheits-) sozialdemokratischen<br />
Stadtratsfraktion. Anlass war<br />
die beschlossene Einrichtung von vier neuen<br />
Kindergärten <strong>und</strong> die Einstellung von zwei<br />
Schulärzten. Bürgermeister Funck wollte nur<br />
die Hälfte des nötigen Geldes bewilligen. Landé<br />
sprach namens seiner Fraktion das schärfste<br />
Misstrauen aus. Er habe von der Revolution<br />
nichts gelernt <strong>und</strong> sei noch immer der Reaktionär<br />
von früher. Seit den zehn Jahren, die<br />
Landé dem Stadtverordnetenkollegium angehöre,<br />
sei fast jeder Antrag der Sozialdemokraten<br />
von ihm in rücksichtsloser Weise<br />
bekämpft worden. 127 Bürgermeister Funck war<br />
für seine Frontstellung gegen die Sozialdemokraten<br />
bekannt. So war er es, der dafür sorgte,<br />
dass die Stadthalle über viele Jahre den Arbeitervereinen<br />
als Versammlungsort verwehrt<br />
worden war.<br />
Walter Stoecker (1891–1939), 128 damals<br />
der Fraktionssprecher der „Unabhängigen“<br />
Stadtverordneten <strong>und</strong> später Fraktionssprecher<br />
der KPD-Reichstagsfraktion, unterstützte die<br />
Ausführungen Landés. Wenige Tage später
eichte Bürgermeister Funk sein Rücktrittsgesuch<br />
ein. In seiner Erklärung heißt es: „Nachdem<br />
nunmehr in der Stadtverordnetensitzung<br />
(…) die stärkste Partei des Kollegiums, der<br />
sich die Unabhängige Sozialdemokratische<br />
Partei angeschlossen hat, durch Herrn Justizrat<br />
Landé, noch dazu in verletzender Form, die Erklärung<br />
abgegeben hat, daß die sozialdemokratische<br />
Partei mir kein Vertrauen mehr schenken<br />
könne, sondern von jetzt ab mir mit dem allergrößten<br />
Misstrauen begegne, ist diese Voraussetzung<br />
für ein gedeihliches Zusammenarbeiten<br />
der Verwaltung mit der Verordnetenversammlung<br />
nicht mehr gegeben <strong>und</strong> ein alsbaldiger<br />
Wechsel in der Leitung der Verwaltung<br />
im Interesse der Stadt geboten.“ 129<br />
Nach 20 Jahren verließ Funck die politische<br />
Bühne. Zu den Abschiedsfeierlichkeiten<br />
in der Elberfelder Stadthalle erschienen keine<br />
Vertreter der Arbeiterparteien. Während das<br />
bürgerliche Lager seine Verdienste für die „zuverlässige<br />
Beamtenschaft“ in Elberfeld hervorhob,<br />
geißelte die sozialdemokratische „Freie<br />
Presse“ den scheidenden Oberbürgermeister.<br />
Er sei ein „echter Reaktionär der alten Schule“,<br />
der „schärfste Gegner des Koalitionsrechts für<br />
städtische Arbeiter“, 130 ein „Durchschnittsbeamter“,<br />
der durch „seine herrischen <strong>und</strong> rechthaberischen<br />
Allüren <strong>und</strong> seine unverwüstliche<br />
Abneigung gegen Demokratie <strong>und</strong> Sozialismus<br />
unangenehm abstach“. 131 Der bisherige<br />
Beigeordnete Dr. Paul Hopf wurde wenige Wochen<br />
später mit den Stimmen der Sozialdemokraten<br />
zum Oberbürgermeister der Stadt Elberfeld<br />
gewählt. Damit war nach der Revolution<br />
ein halbherziger neuer Anfang in der Kommunalpolitik<br />
gemacht. Der oberste kaiserliche<br />
Verwaltungsbeamte <strong>und</strong> Oberbürgermeister<br />
ging – ein liberalerer Beigeordneter der bisherigen<br />
Verwaltungsspitze rückte an seine Stelle.<br />
Ergänzt wurde diese Spitze durch den sozialdemokratischen<br />
Dezernenten Ernst Dröner –<br />
die übrige Beamtenschaft blieb weitgehend unverändert<br />
auf ihrem Posten.<br />
Als kommissarischer Regierungspräsident<br />
Schon auf der ersten Volksversammlung<br />
der Revolution am 9. November in der Elber-<br />
felder Stadthalle lauteten einige der wichtigsten<br />
Forderungen der sozialdemokratischen<br />
Redner:<br />
• Demokratisierung der preußischen Verwaltung<br />
• Ersatz der Regierungspräsidenten <strong>und</strong> Landräte<br />
durch Personen aus Arbeiter- <strong>und</strong> Bürgerkreisen.<br />
132<br />
Im Mai 1919 wurde Hugo Landé vom sozialdemokratischen<br />
preußischen Innenminister<br />
Wolfgang Heine (1861–1944) gebeten, das<br />
Amt eines Regierungspräsidenten zu übernehmen.<br />
Der gesamte Verwaltungsapparat war von<br />
kaiserlichen Beamten – oft adliger Herkunft –<br />
geprägt, die der Republik <strong>und</strong> einer sozialdemokratisch<br />
geführten Regierung nur widerwillig<br />
dienten. Die Umgestaltung des Staatsapparates<br />
<strong>und</strong> der Reichswehr war eine der schwierigsten<br />
Aufgaben der Revolution <strong>und</strong> der Republik.<br />
Ihre halbherzige Bewältigung erwies<br />
sich später als einer der entscheidenden Fehler,<br />
die zum Scheitern der Weimarer Republik<br />
führten. So wurde auch erst ein Jahr nach dem<br />
Sieg der Revolution der alte Regierungspräsident<br />
in Düsseldorf, Francis Kruse, abgelöst,<br />
der seit 1909 im Amt gewesen war.<br />
Horst Romeyk, der sich intensiv mit der<br />
Geschichte der Regierungspräsidenten beschäftigt<br />
hat, schildert die Umstände der kommissarischen<br />
Amtszeit Landés als Regierungspräsident<br />
folgendermaßen: „Am 30. September<br />
ging Landé die offizielle Mitteilung der<br />
kommissarischen Ernennung zu, ab dem 1.<br />
Oktober sein Amt anzutreten. Schon an diesem<br />
Tage wurde er telefonisch zur Präsidentenkonferenz<br />
am 3. Oktober in Berlin beordert.“ 133<br />
Der Innenminister äußerte sich sehr zufrieden,<br />
„daß er die Ernennung eines Rechtsanwaltes,<br />
der zugleich geborener Jude war, durchsetzen<br />
konnte“. 134 Er kannte die antisemitischen<br />
Kräfte aus eigenem Erleben: kam er doch<br />
selbst aus der „guten Gesellschaft“ <strong>und</strong> gehörte<br />
als Student einer konservativ-antisemitischen<br />
Verbindung an. 135<br />
Die Übernahme der Düsseldorfer Präsidentengeschäfte<br />
bedeutete für Landé in der Tat<br />
keine Annehmlichkeit. Er klagte: „Hätte ich<br />
geahnt, dass schon die Vorbereitung zur Über-<br />
83
nahme eines Regierungspostens mit derartigen<br />
Unannehmlichkeiten verknüpft sind, ich hätte<br />
die Sache mir doch wohl anders überlegt“. 136<br />
Der definitiven Ernennung Landés standen<br />
jedoch erhebliche Schwierigkeiten entgegen,<br />
die sich aus der Besetzung der Rheinlande ergaben.<br />
„Die Besatzungsmächte hatten sich ein<br />
Einspruchsrecht bei Beamtenernennungen vorbehalten.<br />
Trotz mehrfacher <strong>und</strong> intensiver<br />
Bemühungen des rheinischen Oberpräsidiums<br />
zögerte sich eine positive Entscheidung der<br />
Besatzungsbehörden immer mehr hinaus <strong>und</strong><br />
brachte Landé auch innerhalb seiner Behörde<br />
in Schwierigkeiten. In der Erwartung einer baldigen<br />
offiziellen Diensteinführung hatte er<br />
nicht von sich aus eine förmliche Vorstellung<br />
bei den höheren Beamten der Regierung unternommen,<br />
was diese als einen Affront deuteten<br />
<strong>und</strong> sich deswegen bei dem Innenminister beschwerten.“<br />
Bei der Amtseinführung des neugewählten<br />
Düsseldorfer Oberbürgermeisters Emil Köttgen<br />
kam es gar zu deutlichen spöttischen Bemerkungen<br />
aus der Beamtenschaft gegenüber<br />
dem angeblich „kaiserbüstenscheuen“ Regierungspräsidenten<br />
– weil die Sozialdemokraten<br />
zuvor die Büsten der deutschen Kaiser aus dem<br />
Saal der Düsseldorfer Tonhalle entfernen lassen<br />
wollten. 137 Doch sie hatten sich in solchen<br />
symbolischen Fragen nicht durchsetzen können<br />
<strong>und</strong> auch die Situation Landés innerhalb<br />
der Behörde wurde immer prekärer. Die mangelnde<br />
Amtsautorität aufgr<strong>und</strong> des schwebenden<br />
Verfahrens nutzten konservative <strong>und</strong> antisemitische<br />
Kräfte, um die Ernennung Landés<br />
zu hintertreiben.<br />
Am 10. Dezember 1919 unterbreitete deshalb<br />
Hugo Landé dem Minister den Vorschlag,<br />
ihn sofort definitiv zum Regierungspräsidenten<br />
zu ernennen <strong>und</strong> ihn gegebenenfalls auf eine<br />
Stelle außerhalb des besetzten Gebietes zu<br />
versetzen. Hierzu fehlte jedoch dem sozialdemokratischen<br />
Innenminister der Mut. Ähnlich<br />
wie der Reichspräsident Ebert (1871–1925)<br />
oder der Reichwehrminister Noske (1868–<br />
1946) setzte er auf den Ausgleich <strong>und</strong> den<br />
Kompromiss mit den monarchistisch-konservativen<br />
Kreisen. Wenige Monate später, im<br />
März 1920, wurde er wegen dieser Politik sei-<br />
84<br />
nes Amtes enthoben. Die quälende Bestellung<br />
Landés zum Regierungspräsidenten fand<br />
schließlich am 16. Dezember 1919 ihr Ende:<br />
Die belgische Besatzungsbehörde sprach sich<br />
gegen seine Ernennung aus. Die Belgier beriefen<br />
sich darauf, dass laut Erk<strong>und</strong>igungen in der<br />
Bevölkerung der Kandidat „ungünstig aufgenommen<br />
werden könnte“. 138 Gegen Landé<br />
wurde geltend gemacht, dass er aus der preußischen<br />
Provinz Posen <strong>und</strong> kein Rheinländer sei.<br />
Die formellen <strong>und</strong> fachlichen Voraussetzungen<br />
hätte der Sozialdemokrat Landé mitgebracht:<br />
eine solide juristische Ausbildung <strong>und</strong> anwaltliche<br />
Praxis <strong>und</strong> einen starken Idealismus. 139<br />
Als Neuling in der Verwaltung fehlte ihm „Vertrautheit<br />
mit den Amtsgeschäften“, 140 die notwendigerweise<br />
auftritt, wenn ein bestehender<br />
Apparat gr<strong>und</strong>legend reformiert werden soll.<br />
Letztlich war jedoch die erfolgreiche Wühlarbeit<br />
des kaisertreuen Beamtenapparates der<br />
Gr<strong>und</strong>, warum sich seine Gegner gegen ihn<br />
durchgesetzten konnten. Sicherlich spielte die<br />
entscheidende Rolle, dass er Jude <strong>und</strong> Sozialdemokrat<br />
war. 141 Ohne Verbitterung beendete<br />
Landé zum 31. Dezember 1919 seinen Dienst<br />
<strong>und</strong> widmete sich wieder seiner Kanzlei <strong>und</strong><br />
der Elberfelder Kommunalpolitik.<br />
Der Generalstreik gegen den Kapp-Putsch<br />
Schon zweieinhalb Monate später musste<br />
sich Hugo Landé erneut mit den reaktionären<br />
Kräften im Beamtenapparat <strong>und</strong> in der Reichswehr<br />
auseinandersetzen. In Berlin hatten General<br />
Lüttwitz <strong>und</strong> Generallandschaftsdirektor<br />
142 Kapp aus Königsberg geputscht <strong>und</strong> die<br />
verfassungsgemäße Regierung vertrieben. Elberfeld<br />
war der Sitz der Bezirksleitungen von<br />
(M)SPD <strong>und</strong> der USPD im Bezirk Niederrhein<br />
<strong>und</strong> hatte dadurch eine besondere strategische<br />
Bedeutung. An dem Morgen des 13.3.1920<br />
sollte eine regionale Konferenz im Rathaus Elberfeld<br />
stattfinden, zu der die sozialdemokratischen<br />
Stadtverordneten der umliegenden Gemeinden<br />
eingeladen waren. Es sollte über die<br />
Versorgung der Gemeinden mit „elektrischer<br />
Kraft“ beraten werden. Doch als die Gerüchte<br />
vom Putsch des Militärs in Berlin aufkamen,
wurde diese Konferenz der Ausgangspunkt<br />
einer Bewegung mit weittragender politischer<br />
Bedeutung. Die SPD-Bezirksleitung ergriff<br />
nach dem Eintreffen der ersten <strong>Nachrichten</strong><br />
vom drohenden Putsch die Initiative <strong>und</strong> bat<br />
die anderen Arbeiterparteien, USPD <strong>und</strong> KPD,<br />
<strong>und</strong> die Gewerkschaften, an der anberaumten<br />
Sitzung teilzunehmen.<br />
Der SPD-Bezirkssekretär <strong>und</strong> Abgeordnete<br />
der Nationalversammlung Ernst Dröner hob<br />
einleitend hervor, „daß alle Sozialisten sich in<br />
der Abwehr einig sein müssten“. Justizrat Landé<br />
ergriff die Initiative <strong>und</strong> schlug eine gemeinsame<br />
Plattform aller Sozialisten mit weitergehenden<br />
Forderungen an die wieder ins<br />
Amt zu hebende verfassungsmäßige Regierung<br />
vor:<br />
„1. Sofortige Entfernung aller Monarchisten<br />
aus dem Heere.<br />
2. Sofortige Amtsenthebung aller monarchistischen<br />
Beamten in Reich, Ländern<br />
<strong>und</strong> Gemeinden.<br />
3. Sofortige Zurückziehung der Vorlage<br />
zur Abfindung der Hohenzollern; statt<br />
dessen sofortige entschädigungslose<br />
Enteignung der Hohenzollern.<br />
4. Die Sozialisierung ist energischer zu betreiben,<br />
besonders in der Großeisenindustrie<br />
<strong>und</strong> im Großgr<strong>und</strong>besitz.“<br />
„Erfülle die Regierung diese Forderungen<br />
nicht, so müsse sie durch ein ‚sozialistisches<br />
Ministerium‘ ersetzt werden.“ 143<br />
Diese Forderungen kamen denjenigen entgegen,<br />
die schon seit geraumer Zeit durchgreifende<br />
Reformen von der Regierung erwarteten.<br />
Landé betonte am Ende seiner Rede: „Die erste<br />
Vorbedingung gemeinsamen erfolgreichen<br />
Wirkens sei allerdings, daß man nicht mehr<br />
über die Vergangenheit rede, sondern lediglich<br />
in die Zukunft schaue.“ 144 Hiermit schuf er die<br />
Voraussetzung für den gemeinsamen Aufruf.<br />
USPD, KPD <strong>und</strong> die Gewerkschaften erklärten<br />
ihre Solidarität im Kampf gegen die Reaktion.<br />
Nach weiteren Beratungen kam es zu einem<br />
gemeinsamen Aufruf der Bezirksleitungen<br />
zum Generalstreik. Darin heißt es:<br />
„Nachdem durch einen vorläufig gelungenen<br />
Putsch in Berlin es der Reaktion gelungen<br />
ist, eine gegenrevolutionäre Regierung aufzu-<br />
richten, verpflichten sich die sozialistischen<br />
Parteien des Bezirks Niederrhein, den Kampf<br />
gegen die neugebildete Kapp-Regierung mit<br />
allen Kräften geschlossen aufzunehmen.<br />
Der einheitliche Kampf ist zu führen mit<br />
dem Ziele:<br />
1. Erringung der politischen Macht, durch<br />
die Diktatur des Proletariats bis zum Siege<br />
des Sozialismus, auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />
des Rätesystems.<br />
2. Sofortige Sozialisierung der dazu reifen<br />
Wirtschaftszweige.“ 145<br />
Dieser Aufruf hatte eine enorme mobilisierende<br />
Wirkung weit über den Bezirk Niederrhein<br />
hinaus. Erstmals seit der Jahreswende<br />
1918/19 waren die Sozialisten wieder vereint.<br />
In Elberfeld, Remscheid <strong>und</strong> im Ruhrgebiet<br />
kam es zu heftigen Kämpfen, <strong>und</strong> überall wurden<br />
die Freikorps bzw. die Reichswehr vertrieben.<br />
Doch der Aufruf wird in der Parteigeschichte<br />
der SPD auch als „Elberfelder Sündenfall“<br />
146 bezeichnet. Die Mehrheitssozialdemokraten<br />
hatten aufgr<strong>und</strong> des starken Drängens<br />
der Arbeiterschaft nach gemeinsamem<br />
Vorgehen der Arbeiterparteien <strong>und</strong> der starken<br />
Präsenz der „Unabhängigen“ in den örtlichen<br />
Gewerkschaften den Forderungen der USPD<br />
zugestimmt. „Diktatur des Proletariats“ <strong>und</strong><br />
„Rätesystem“ sollten die Ziele des Generalstreiks<br />
sein. Der „Reformist“ Landé setzte vermutlich<br />
das gemeinsame praktische Handeln<br />
zur Rettung der Republik über den gesellschaftstheoretischen<br />
Streit. So war er als einer<br />
der wichtigsten SPD-Repräsentanten an diesem<br />
„Sündenfall“ maßgeblich beteiligt.<br />
Die Arbeiterwehren konnten das Bergische<br />
Land <strong>und</strong> das gesamte Ruhrgebiet von den putschenden<br />
Militäreinheiten befreien. Nach diesem<br />
Sieg kam es in Bielefeld zu Verhandlungen<br />
zwischen der zurückgekehrten Regierung,<br />
den Militärs <strong>und</strong> den Arbeitereinheiten, die<br />
nun politische Zugeständnisse erwarteten. Die<br />
Losungen des Aufrufes waren jedoch nicht<br />
mehr das Thema. Die Arbeiter forderten Garantien<br />
für eine demokratische Entwicklung<br />
der Republik, ganz im Sinne der von Landé<br />
vorgeschlagenen Plattform.<br />
In 17 Punkten wurden der Arbeiterschaft<br />
viele Zugeständnisse gemacht, u.a. bei der Ent-<br />
85
lassung der monarchistisch gesonnenen Beamten<br />
<strong>und</strong> Offiziere. Die Entlassung der kompromittierten<br />
sozialdemokratischen Minister Gustav<br />
Noske (Reichswehr) <strong>und</strong> Wolfgang Heine<br />
(Innenminister), deren politische Fahrlässigkeit<br />
wesentlich für die entstandene Situation<br />
verantwortlich war, wurde ebenfalls in den<br />
Verhandlungen durchgesetzt.<br />
Am 24. März 1920, als man in Elberfeld-<br />
Barmen die Kommissionäre aus Bielefeld<br />
zurückerwartete, legte Hugo Landé vor ca.<br />
300 Arbeitervertretern im Hotel Hegelich 147<br />
dar, „welche furchtbare Situation eintreten<br />
würde, wenn sich die Verhandlungen zerschlagen<br />
<strong>und</strong> es nochmals zu einer blutigen Auseinandersetzung<br />
zwischen der zusammengezogenen<br />
Reichswehr <strong>und</strong> den bewaffneten rheinisch-westfälischen<br />
Arbeitern kommen sollte.<br />
Wenn bei dieser Auseinandersetzung die<br />
Reichswehrtruppen siegen würden, so werde<br />
dieser Sieg fürchterliche Folgen haben. Der<br />
Kampf würde ungeheure Opfer erfordern (…)<br />
<strong>und</strong> ein Sieg der Reichswehrtruppen werde<br />
höchstwahrscheinlich zur Militärdiktatur der<br />
Generäle führen, zumal der größte Teil der alten<br />
Behörden der Gegenrevolution keinen Widerstand<br />
entgegensetzte“. 148 Wie recht Hugo<br />
Landé mit einzelnen Punkten seiner Befürchtungen<br />
haben sollte, zeigte sich später, als das<br />
unterzeichnete Bielefelder Abkommen vom<br />
Militär missachtet wurde 149 .<br />
Hugo Landé schlug den Versammelten vor,<br />
sich mit der „intensiven Kleinarbeit“ zu beschäftigen,<br />
„mit der ja im Wuppertal schon begonnen“<br />
worden sei, um „die Republik zu sichern<br />
<strong>und</strong> das Errungene festzuhalten“. 150 Die<br />
Behörden müssten von reaktionären Beamten<br />
gesäubert werden. Die höheren Schulen seien<br />
eine Brutstätte der Reaktion <strong>und</strong> auch in „den<br />
Volksschulen stecke noch viel reaktionärer<br />
Geist“. „Zahlreiche Kräfte seien am Werke, die<br />
die Errungenschaften der Revolution lächerlich<br />
zu machen <strong>und</strong> als minderwertig zu bezeichnen<br />
suchen“. 151 Die hier angesprochene<br />
Kleinarbeit für die Republik <strong>und</strong> den Sozialismus<br />
sollte die politische Tätigkeit von Hugo<br />
<strong>und</strong> Thekla Landé bis zu ihrem Lebensende<br />
prägen.<br />
86<br />
Kommunalpolitiker in der Weimarer Zeit<br />
Als Listen- <strong>und</strong> Fraktionsführer der SPD<br />
musste Hugo Landé sich mit allen gr<strong>und</strong>sätzlichen<br />
Themen der Kommunalpolitik befassen.<br />
Als Stadtverordneter bearbeitete er Fragen der<br />
Steuergerechtigkeit, der Demokratisierung des<br />
Schulwesens <strong>und</strong> der Kultur. Er saß im Aufsichtsrat<br />
der Theater-Aktien-Gesellschaft <strong>und</strong><br />
engagierte sich für die Entwicklung der städtischen<br />
Betriebe. Er setzte die Beheizung der<br />
Straßenbahnen durch <strong>und</strong> verhinderte in Krisenzeiten<br />
größere Entlassungen bei den städtischen<br />
Verkehrsbetrieben, der „Bergischen<br />
Kleinbahnen AG“.<br />
Seit dem Zusammenschluss der USPD mit<br />
der (M)SPD im Jahr 1922 saßen die beiden alten<br />
Sozialdemokraten Hugo Landé <strong>und</strong> Oskar<br />
Hoffmann wieder in der gleichen Ratsfraktion.<br />
Die Funktionen der verschiedenen sozialdemokratischen<br />
Spitzenpolitiker lassen auf<br />
eine bestimmte Aufgabenverteilung schließen:<br />
Oskar Hoffmann als Landtagabgeordneter <strong>und</strong><br />
hauptverantwortlicher Redakteur der Parteizeitung<br />
„Freie Presse“, Robert Daum als Gewerkschaftssekretär<br />
<strong>und</strong> Führer des örtlichen<br />
„Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold“, Ernst<br />
Dröner als Dezernent für Soziales <strong>und</strong> Geschäftsführer<br />
in der Konsumgenossenschaft<br />
„Befreiung“. Wilhelm Ullenbaum leitete zeitweise<br />
den Parteibezirk Niederrhein <strong>und</strong> hatte<br />
parteiinterne Aufgaben. Die Hauptverantwortung<br />
für die Kommunalpolitik oblag somit dem<br />
Fraktionsführer Landé. Diese Verantwortung<br />
wog schwer in der alten sozialdemokratischen<br />
Hochburg, in der die SPD zwar immer die<br />
stärkste Fraktion stellte, jedoch mit ihren Stimmenanteilen<br />
deutlich unter dem Reichsdurchschnitt<br />
lag. 152 Ein Großteil der alten sozialdemokratischen<br />
Wählerschaft gerade im Bergischen<br />
Land war nach den Erfahrungen des<br />
Kapp-Putsches von der Republik enttäuscht<br />
<strong>und</strong> unterstützte nun die KPD. Die KPD jedoch<br />
war nur wenig an konkreten kommunalpolitischen<br />
Fortschritten interessiert oder wurde von<br />
der entsprechenden Arbeit ausgeschlossen.<br />
In Zusammenarbeit mit einigen bürgerlichen<br />
Parteien wurde in diesen Jahren ein<br />
ehrgeiziges Wohnungsbauprogramm 153 umge-
setzt, eine alte sozialdemokratische Forderung.<br />
Vorbildliche Sportstätten wie das europaweit<br />
beachtete Stadion am Zoo 154 <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitseinrichtungen<br />
wie die „Lichtheilstätte“ der<br />
AOK 155 oder die städtische Zahnklinik wurden<br />
errichtet. Ein ständiger Streitpunkt der Kommunalpolitik<br />
war die städtische Wohlfahrtspflege.<br />
Sie machte in den Jahren der Weimarer<br />
Republik selbst in den wirtschaftlich relativ<br />
„guten“ Jahren“ 1925/26 fast ein Viertel der<br />
ordentlichen Ausgaben aus. Hugo Landé beklagte,<br />
dass durch die Reichsfinanzpolitik „die<br />
Gemeinde nur noch eine Wohlfahrtsanstalt ist“<br />
<strong>und</strong> „keine politischen Aufgaben mehr habe“<br />
156 – eine Kritik, die auch heute wieder aktuell<br />
ist. Die Auffassungen zu den Spielräumen<br />
städtischer Wohlfahrtspolitik gingen auch innerhalb<br />
der sozialdemokratischen Fraktion<br />
auseinander. Während Oskar Hoffmann für die<br />
Erhöhung der Fürsorgesätze plädierte, um die<br />
Arbeitgeber zu zwingen, die „Hungerlöhne“<br />
auf ein erträgliches Maß zu steigern, näherten<br />
sich andere Fraktionsmitglieder, wie Robert<br />
Daum, den Auffassungen der bürgerlich dominierten<br />
Stadtverwaltung. 157 Dank des Drucks<br />
der beiden Arbeiterparteien (KPD <strong>und</strong> SPD)<br />
<strong>und</strong> des sozialdemokratischen Beigeordneten<br />
Ernst Dröner lagen die Elberfelder Unterstützungssätze<br />
während dieser Jahre im reichsweiten<br />
Vergleich im vorderen Bereich. 158<br />
In der lokalen SPD-Spitze wurde ein<br />
fre<strong>und</strong>schaftlicher Umgang gepflegt. So waren<br />
Hugo Landé <strong>und</strong> Robert Daum häufig Gast bei<br />
Oskar Hoffmann <strong>und</strong> seiner Familie. Die Kinder<br />
der Familie Hoffmann mochten <strong>und</strong> achteten<br />
den alten sympathischen Herrn. Das Verbindende<br />
der langen gemeinsamen politischen<br />
Kämpfe stand im Vordergr<strong>und</strong>, auch wenn sie<br />
öfter in unterschiedlichen politischen Lagern<br />
innerhalb der Sozialdemokratie standen. 159 Das<br />
beherrschende Thema gegen Ende der zwanziger<br />
Jahre war die vom Staat erzwungene Fusion<br />
der beiden Schwesterstädte Elberfeld-Barmen<br />
<strong>und</strong> der Anschluss weiterer umliegender<br />
Städte. Die Sozialdemokraten standen diesem<br />
Zusammenschluss positiv gegenüber <strong>und</strong> wirkten<br />
als konstruktive Kraft. Oskar Hoffmann<br />
hatte namens der Fraktion den Namen „Wup-<br />
pertal“ vorgeschlagen, der dann auch angenommen<br />
wurde.<br />
Welches Ansehen der Kommunalpolitiker<br />
Hugo Landé in diesen Jahren genoss, wird daran<br />
deutlich, dass er auch nach dem Zusammenschluss<br />
der bis dahin selbständigen fünf Städte<br />
im November 1929 zum Fraktionsvorsteher<br />
der neuen gemeinsamen Wuppertaler SPD-<br />
Stadtratsfraktion gewählt wurde.<br />
Die Wuppertaler Kommunalpolitik war wie<br />
die Reichspolitik von zunehmend scharfen<br />
Auseinandersetzungen zwischen der sich radikalisierenden<br />
kommunistischen Partei <strong>und</strong> der<br />
Verantwortung tragenden SPD gekennzeichnet.<br />
Diese Konflikte führten im Jahr 1929 bei<br />
der Wahl des neuen Oberbürgermeisters der<br />
Stadt Wuppertal zu handgreiflichen Tumulten.<br />
Als der KPD-Stadtverordnete Nellessen,<br />
Landé schon aus den Kapp-Putsch-Tagen bekannt,<br />
160 von vier „Schuposchakos“ gewaltsam<br />
entfernt werden sollte, kam es zum Handgemenge.<br />
„Stadtverordneter Justizrat Landé<br />
rettet seine Gattin, die ebenfalls Stadtverordnete<br />
ist, aus dem Knäuel der sich balgenden<br />
Menschenleiber“ – so berichtet der „General-<br />
Anzeiger“. 161<br />
Die parteipolitischen Auseinandersetzungen<br />
drangen bis in die Familien. So stand Franz<br />
Landé, der jüngste Sohn der Familie Landé,<br />
der als einziges Kind im Hause der Eltern wohnen<br />
blieb, in engem Kontakt zu linkssozialistisch-kommunistisch<br />
orientierten Künstlerkreisen<br />
in Düsseldorf. 162 Auch die Söhne von<br />
Oskar Hoffmann sympathisierten nun – durch<br />
die Erfahrung der Weltwirtschaftskrise radikalisiert<br />
– mit der KPD.<br />
Ein verzweifeltes Ende<br />
Bei der letzten freien Kommunalwahl im<br />
März 1933 war Hugo Landé von seiner Partei<br />
nicht mehr aufgestellt worden. Seit der Ernennung<br />
Hitlers zum Reichkanzler am 30. Januar<br />
herrschte offener Terror der Nationalsozialisten.<br />
Ob diese Entscheidung der freie Wille<br />
Landés oder eine würdelose Konzession an die<br />
rassistische Propaganda <strong>und</strong> die Repressalien<br />
der NSDAP war, ist ungeklärt. Möglicherweise<br />
87
haben auch der Tod seiner Frau im Jahr zuvor<br />
oder das Alter den 73jährigen zu diesem Entschluss<br />
bewogen.<br />
Wenige Wochen später, noch vor dem Verbot<br />
der SPD im Juni 1933, erfolgte ein Parteibeschluss,<br />
alle jüdischen Parteimitglieder aus<br />
dem Parteivorstand zu entfernen. 163 So hoffte<br />
man, dem drohenden Verbot zu entgehen. Als<br />
dieser beschämende Beschluss gefasst wurde,<br />
war Landé schon im Exil. Am 5. März 1933,<br />
dem Tag der letzten Reichstagswahl <strong>und</strong> einen<br />
Tag vor seinem 74. Geburtstag, war er Hals<br />
über Kopf aus seinem Haus geflüchtet. Nachbarn<br />
hatten ihm berichtet, SA-Männer hätten<br />
in der Nacht versucht, die Gartenmauer zu<br />
übersteigen. Zwei Tage später wurde sein Parteigenosse,<br />
der Jude <strong>und</strong> Reichsbannermann<br />
Oswald Laufer auf offener Straße erschossen.<br />
Wie recht Hugo Landé mit dieser Entscheidung,<br />
das Land zu verlassen, hatte, zeigt das<br />
Schicksal seines Nachbarn Samuel Zuckermann.<br />
Samuel Zuckermann besaß gleich gegenüber<br />
dem Haus Landé ein Wohn- <strong>und</strong> Geschäftshaus<br />
<strong>und</strong> betrieb einen Handel mit Nähmaschinen.<br />
Seine beiden Söhne waren wie die<br />
Kinder der Landés auf Seiten der politischen<br />
Linken aktiv. Sie flüchteten im März 1933<br />
nach Frankreich <strong>und</strong> holten später ihre Mutter<br />
nach. Der Vater Samuel konnte sich nicht entschließen,<br />
in Elberfeld alles aufzugeben <strong>und</strong><br />
blieb. 1939 wurde er nach Lodz deportiert.<br />
Dort verlor sich seine Spur. 164<br />
Hugo Landé flieht in die Schweiz <strong>und</strong><br />
wohnt in dem kleinen Ort Montreux am Genfer<br />
See. Zwei Monate später, im Mai 1933, folgt<br />
ihm sein Sohn Franz nach, der als einziges der<br />
Kinder bis zuletzt im Hause des Vaters wohnte.<br />
Im August 1933 gibt es in Finhaut, einem<br />
Schweizer Ort an der französischen Grenze,<br />
ein letztes Familientreffen. Auch die Töchter<br />
Charlotte <strong>und</strong> Eva sind mittlerweile aus<br />
Deutschland geflüchtet. Die Wintermonate<br />
verbringt Hugo Landé in St. Remo an der italienischen<br />
Riviera. „Aber die Entwicklung in<br />
seinem Heimatland, der scheinbar unaufhaltsame<br />
Aufstieg des Faschismus in Europa, hat den<br />
alten Mann <strong>und</strong> Kämpfer gebrochen.“ 165 Sein<br />
Sohn Franz geht nach Paris, um dort am poli-<br />
88<br />
tisch-kulturellen Leben <strong>und</strong> dem Widerstand<br />
der deutschen Emigranten teilzuhaben. 166 Auch<br />
die Töchter mit ihren Familien suchen anderswo<br />
ihren Platz im Exil. Dem ältesten Sohn Alfred<br />
war die Auswanderung in die USA gelungen,<br />
<strong>und</strong> er bemühte sich dort um Einreisepässe<br />
für weitere Familienangehörige.<br />
Am 14. September 1936 rudert Hugo Landé<br />
allein mit einem kleinen Boot auf den Genfer<br />
See <strong>und</strong> kehrt nicht wieder zurück. Vermutlich<br />
hat der 77jährige seinem Leben ein Ende<br />
gesetzt. Sein Grab findet er in Nyon bei Genf,<br />
das erst vor wenigen Jahren, 1996, nach zwei<br />
gesetzlichen Verlängerungen, eingeebnet wurde.<br />
167 Während an den einen oder anderen Zeitgenossen<br />
<strong>und</strong> politischen Gegner Hugo Landés<br />
heute noch Straßennamen erinnern – u.a. die<br />
„Funckstraße“ im Briller Viertel an den Oberbürgermeister<br />
aus der Kaiserzeit oder die „Lettow-Vorbeck-Straße“<br />
an den Kapp-Putsch General<br />
von 1920 – kamen der Sozialist <strong>und</strong> Demokrat<br />
Landé <strong>und</strong> seine Familie bisher nicht<br />
zu solchen Ehren. Eine Erinnerungstafel an<br />
dem noch erhaltenen Wohnhaus auf der Luisenstraße<br />
wäre eine Geste des Gedenkens <strong>und</strong><br />
der Anerkennung.<br />
Anmerkungen:<br />
1 Herberts, Hermann: Zur Geschichte der SPD in<br />
Wuppertal, Wuppertal 1963, S. 6, Vorwort Alfred<br />
Dobbert.<br />
2 In: Osterroth, Franz: Biographisches Lexikon<br />
des Sozialismus, Bd. I, Hannover 1960, S. 154.<br />
3 Mayer, Gustav: Friedrich Engels – Eine Biographie,<br />
Bd. I, Frankfurt/M – Berlin – Wien 1975,<br />
S. 102.<br />
4 Charlotte Czempin, geb. Landé hat kurz vor<br />
ihrem Tod im Sommer 1977 Tonbänder mit<br />
ihren Lebenserinnerungen besprochen, im Folgenden:<br />
Czempin: Tonbandaufzeichnungen<br />
1977.<br />
5 Czempin: Tonbandaufzeichnungen 1977.<br />
6 Romeyk, Horst: Hugo Landé – ein führender<br />
Elberfelder Sozialdemokrat, in: Mitteilungen<br />
des Stadtarchivs, des Historischen Zentrums<br />
<strong>und</strong> der Bergischen Geschichtsvereins – Abteilung<br />
Wuppertal, Wuppertal 1982, Heft 2, S. 6.<br />
7 Täglicher Anzeiger, Elberfeld, 26.5.1886.
8 Huttel, Klaus-Peter: Wuppertaler Bilddokumente<br />
– Ein Geschichtsbuch zum 19. Jahrh<strong>und</strong>ert,<br />
Bd. 1, Wuppertal 1985, S. 48<br />
9 Romeyk, H.: Landé, S. 6.<br />
10 Bergmann, Günther: Das Sozialistengesetz im<br />
rechtsrheinischen Industriegebiet – Ein Beitrag<br />
zur Auseinandersetzung zwischen Staat <strong>und</strong><br />
Sozialdemokratie im Wuppertal <strong>und</strong> im Bergischen<br />
Land 1878–1890, Schriftenreihe des Forschungsinstituts<br />
der Friedrich-Ebert-Stiftung,<br />
Bd. 77, Hannover 1970, S. 41 ff.<br />
11 Bartels, Horst, Wolfgang Schröder, Gustav Seeber:<br />
Das Sozialistengesetz 1878–1890, Berlin<br />
1980, S. 294.<br />
12 Romeyk, H.: Landé, S. 6.<br />
13 Keil, Wilhelm: Erlebnisse eines Sozialdemokraten,<br />
Stuttgart 1947, S. 85.<br />
14 Brief vom 2.1.1890, in: Herrmann, Ursula<br />
(Hg.): August <strong>und</strong> Julie Bebel, Briefe einer<br />
Ehe, Bonn 1997, S. 555.<br />
15 Freie Presse, Elberfeld, 10.3.1890.<br />
16 Romeyk, H.: Landé, S. 6.<br />
17 Keil, W.: Erlebnisse, S. 80.<br />
18 Am 29.4.1890 mit dem Vortrag „Der vorgeschichtliche<br />
Mensch“; Anzeige Freie Presse<br />
28.4.1890. Ludwig Büchner war Arzt, Teilnehmer<br />
der Revolution von 1848 <strong>und</strong> Autor mehrerer<br />
philosophisch-naturwissenschaftlicher Bücher.<br />
Er gründete 1881 den „Freidenkerverband“<br />
<strong>und</strong> war sein langjähriger Vorsitzender.<br />
19 Ihr Leichnam wurde im November 1932 im<br />
Krematorium Hagen, dem ersten in Preußen,<br />
verbrannt <strong>und</strong> auf dem (konfessionsfreien)<br />
kommunalen Friedhof in Ronsdorf beigesetzt.<br />
Der Sozialdemokrat <strong>und</strong> Redner der Barmer<br />
Freidenker Rudolf Bamberger hielt hierbei die<br />
Trauerrede.<br />
20 Hierzu gehörte die Lektüre der Bibel <strong>und</strong> der<br />
Besuch des christlichen Religionsunterricht,<br />
mit der die humanistische <strong>und</strong> ethische Bildung<br />
<strong>und</strong> Erziehung der Kinder gefördert wurde.<br />
Vgl. Czempin: Tonbandaufzeichnungen 1977.<br />
21 Czempin: Tonbandaufzeichnungen 1977. S. 2.<br />
22 Im Brief von August Bebel vom 21.11.1889 aus<br />
Elberfeld an seine Frau heißt es: „Es war spät,<br />
12 Uhr durch. Grillo <strong>und</strong> ich waren zu einem<br />
unserer Verteidiger zu Gaste geladen <strong>und</strong> trafen<br />
dort eine kleine Gesellschaft von Herren <strong>und</strong><br />
Damen.“ Möglicherweise war auch Hugo Landé<br />
darunter, in: Herrmann, Ursula: S. 554.<br />
23 In Gotha hatten sich die konkurrierenden Parteien<br />
der Arbeiterbewegung, die „Eisenacher“<br />
<strong>und</strong> die „Lassallianer“, vereinigt <strong>und</strong> auf ein<br />
gemeinsames Programm verständigt.<br />
24 Braun, Bernd: Hermann Molkenbuhr (1851–<br />
1927). Eine politische Biographie, Düsseldorf<br />
1999, S. 135.<br />
25 Der Webermeister Emil Müller zählt in diesen<br />
Jahren zu den wichtigen Parteifunktionären. Im<br />
Oktober 1887 vertrat er die Elberfelder Sozialdemokraten<br />
auf dem illegalen Parteitag in St.<br />
Gallen. 1891 war er Vertreter der Orte Haan, Elberfeld<br />
<strong>und</strong> Mettmann auf dem Gründungskongreß<br />
der Textilarbeitergewerkschaft in Pößnek.<br />
26 Mayer, Gustav: Friedrich Engels – eine Biographie,<br />
Bd. II, Frankfurt/F – Berlin – Wien 1975,<br />
S. 488.<br />
27 Mayer, G.: Engels, Bd. II, S. 488.<br />
28 Die „Neue Zeit“ ist das theoretische Organ der<br />
SPD.<br />
29 Entwurf von J. Stern aus Stuttgart <strong>und</strong> von Auerbach/Kampfmeyer/Lux<br />
aus Magdeburg, In:<br />
Dowe, Dieter (Hg.): Protokoll des SPD-Parteitages<br />
Erfurt 1891, Berlin 1891, Reprint, Berlin,<br />
Bonn 1978, S. 19–25.<br />
30 Diese Kritik aus dem Jahre 1875 anlässlich des<br />
Gothaer Parteitages war lange unterdrückt worden<br />
<strong>und</strong> nun endlich der Öffentlichkeit zugänglich.<br />
In: Dowe, Dieter, Kurt Klotzbach (Hg.):<br />
Programmatische Dokumente der deutschen<br />
Sozialdemokratie, Bonn 1990, S. 185.<br />
31 Dowe, Dieter. (Hg.) Prokokoll 1891, S. 28 f.<br />
32 Der ADAV ist die wichtigste Vorläuferorganisation<br />
der SPD, gegründet 1863 in Leipzig.<br />
33 Rhefus, Reiner: Hugo Hillmann (1823–1898)<br />
Die Anfänge der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung<br />
im Wuppertal, in: Geschichte im<br />
Wuppertal 1998, S. 25.<br />
34 Damals wurden Wissenschaft <strong>und</strong> religiöse<br />
Auffassungen als Gegensätze betrachtet.<br />
35 zitiert nach: Köllmann, Wolfgang: Sozialgeschichte<br />
der Stadt Barmen im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert,<br />
Tübingen 1960, S. 151.<br />
36 Gründungserklärung vom 6.5.1890; in: Freie<br />
Presse 7.5.1890.<br />
37 Köllmann, W.: Sozialgeschichte, S. 151 f.<br />
38 So beispielsweise am 25.11.1895 ein Vortrag<br />
des Reichstagsabgeordneten <strong>und</strong> Redakteurs<br />
der Freien Presse, Dr. August Erdmann im Parteilokal<br />
„Wilhelmshöhe“ zu diesem Thema<br />
statt. Stadtarchiv Wuppertal: TII 6 BI. 78 f.<br />
39 Dowe, D.(Hg.): Protokoll 1891, S. 142 <strong>und</strong> 150.<br />
40 Vgl. Stadtarchiv Wuppertal, Akte T II (10)<br />
(Diskutier-Klub unabhängiger Sozialisten).<br />
41 Stadtarchiv Wuppertal Akte T II (43) („Anarchisten<br />
1895 – 1910“).<br />
42 Freie Presse 14.10.1891 zu einer Versammlung<br />
im Volkshaus.<br />
89
43 Flugblatt der Opposition der „Jungen“ 1891, in:<br />
Weber, Hermann: Das Prinzip Links – Beiträge<br />
zur Diskussion des demokratischen Sozialismus<br />
in Deutschland 1848 – 1990, Berlin 1991, S. 66.<br />
44 Stadtarchiv Wuppertal, Akte T II (8), Polizeibericht<br />
vom 25.10.1892; in: Kaminski, Andrej:<br />
Vom Polizei zum Bürgerstaat, Wuppertal 1976,<br />
S. 137 f.<br />
45 Osterroth, F.: Lexikon, S. 267.<br />
46 Briefe <strong>und</strong> Antworten Friedrich Engels 1890<br />
<strong>und</strong> 1894 in: Marx, Karl, Engels, Friedrich:<br />
Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Bd. VI,<br />
Berlin 1972, S. 548 ff, 558 ff, 623 ff.<br />
47 Neue Zeit, 11. Jg. Nr. 3 <strong>und</strong> 4.<br />
48 Neue Zeit, 11. Jg., Nr. 19, 20, 32, 33 <strong>und</strong> 37.<br />
49 Neue Zeit, 14. Jg. 1895/96 Nr. 1 <strong>und</strong> 2, in:<br />
Marx K., Engels, F.: AW , B. VI, S. 474.<br />
50 Firemann war ein weiterer Ökonom, der sich an<br />
dieser Debatte beteiligte.<br />
51 Engels an Conrad Schmidt 12.3.1895 in: Marx,<br />
K., Engels, F.: A W, Bd. VI, S. 623.<br />
52 Engels an Conrad Schmidt 12.3.1895 in: Marx,<br />
K.; Engels, F.: A W, Bd. VI, S. 624.<br />
53 vgl. Owetschkin, Dimitrij: Conrad Schmidt, der<br />
Revisionismus <strong>und</strong> die sozialdemokratische<br />
Theorie. Zur theoretischen Entwicklung der<br />
Sozialdemokratie vor 1914, Essen 2003.<br />
54 Osterroth, Franz, Dieter Schuster: Chronik der<br />
deutschen Sozialdemokratie, Hannover 1963,<br />
S. 90.<br />
55 Bei den Kommunalwahlen im Jahr 1893 erreichte<br />
die Partei mehr Stimmen als die SPD.<br />
56 Stadtarchiv Wuppertal (Elberfeld) Acta spezialia<br />
betreffend: Zensur <strong>und</strong> Beaufsichtigung der<br />
Presse, 1. 2.1884-31. 5.1891, zitiert nach: Kaminski,<br />
A.: Bürgerstaat, S. 339.<br />
57 Anzeige Rheinische Wacht 1.4.1893: Vortrag<br />
am 5.4.1893 „Juden <strong>und</strong> Sozialdemokraten haben<br />
keinen Zutritt”.<br />
58 Das Adressbuch Elberfeld 1897 verzeichnet<br />
Hugo Landé als Eigentümer <strong>und</strong> Bewohner des<br />
Hauses Luisenstraße 85.<br />
59 Czempin: Tonbandaufzeichnungen 1977.<br />
60 Freie Presse 7.7.1894.<br />
61 Czempin: Tonbandaufzeichnungen 1977.<br />
62 Gemkow, Heinrich: Familie <strong>und</strong> Heimat in<br />
Friedrich Engels Schriften <strong>und</strong> Briefen, in: Geschichte<br />
im Wuppertal 1994, S. 112. Nach:<br />
Marx Engels Werke (MEW), Bd. 39, Berlin<br />
1968, S. 110.<br />
63 Der Anwalt Ferdinand Lassalle setzte hier erstmals<br />
das Scheidungsbegehren einer Frau durch.<br />
64 Czempin: Tonbandaufzeichnungen 1977.<br />
90<br />
65 vgl.: Speer, Florian: Sophies heilende Hände –<br />
Von einer frühen Naturheilklinik in Elberfeld;<br />
in: Geschichte in Wuppertal 2000, S. 59.<br />
66 von schwer Erkrankten, die bei Frau Garschagen<br />
Hilfe erhofft hatten.<br />
67 Speer, F.: Sophies Hände, S. 61 ff.<br />
68 Speer, F.: Sophies Hände, S. 69.<br />
69 Der Hauptförderer war der Fabrikant Richard<br />
Dunkelnberg.<br />
70 nach verschiedenen anderen Nutzungen wurde<br />
das Gebäude 1972 zu Gunsten der Schule für<br />
Bahnbeamte abgerissen. Vgl. Speer, F.: Sophies<br />
Hände, S. 71.<br />
71 Köllmann, W.: Sozialgeschichte, S. 262 f.<br />
72 Bis dahin gab es nur ein Wahlbüro, das nur eine<br />
kurze Zeit geöffnet war.<br />
73 Barmer Zeitung: 22.10. 1893. Zitiert nach<br />
Köllmann, W.: Sozialgeschichte, S. 262 f.<br />
74 Freie Presse Elberfeld 14.10 1893. Zitiert nach<br />
Köllmann, W.: Sozialgeschichte, S. 262.<br />
75 Kurt Koszyk nimmt irrtümlicherweise an, dass<br />
die Sozialdemokraten von Rheinland-Westfalen<br />
in Dortm<strong>und</strong> erstmals für ein Stadtparlament<br />
kandidierten. In: Koszyk, Kurt: Die sozialdemokratische<br />
Arbeiterbewegung 1890 bis<br />
1914, in: Reulecke, Jürgen (Hg.) Arbeiterbewegung<br />
an Rhein <strong>und</strong> Ruhr, Beiträge zur Geschichte<br />
der Arbeiterbewegung in Rheinland-<br />
Westfalen, Wuppertal 1974, S. 160 f.<br />
76 Koszyk, K., Arbeiterbewegung, S. 160 f.<br />
77 Damit ist vermutlich die Einrichtung von städtischen<br />
Werkstätten zur Ausführung öffentlicher<br />
Arbeiten gemeint.<br />
78 Koszyk, K.: Arbeiterbewegung, S. 160 f.<br />
79 Romeyk, H.: Landé, S. 10 f.<br />
80 Romeyk, H.: Landé, S. 7.<br />
81 Romeyk, H.: Landé, S. 7.<br />
82 Offiziell hatte er geschäftliche Gründe angegeben,<br />
tatsächlich hatten wohl parteiinterne Streitigkeiten<br />
zu seinem Entschluss geführt; in:<br />
Braun, B.: Molkenbuhr, S. 206 f.<br />
83 Braun, B.: Molkenbuhr, S. 207.<br />
84 Romeyk, H.: Landé, S. 8.<br />
85 aus Protest gegen das Dreiklassenwahlrecht.<br />
86 Maaß, Dr. L.: Das neue Elberfeld, Verfassung<br />
<strong>und</strong> Verwaltung, in: Die Stadt Elberfeld, Festschrift<br />
zur Dreih<strong>und</strong>ert-Feier 1910, Elberfeld<br />
1910, S. 251.<br />
87 Ca. 170.000 Einwohner hatte die Stadt Elberfeld.<br />
88 Maaß, L.: Elberfeld, S. 251.<br />
89 General-Anzeiger Elberfeld-Barmen, 27.10.<br />
1909.
90 Beyer, Heinz: Arbeit steht auf unserer Fahne<br />
<strong>und</strong> das Evangelium – Sozialer Protestantismus<br />
<strong>und</strong> bürgerlicher Antisozialismus im Wuppertal<br />
1880 – 1914, Reinbeck 1985, S. 123.<br />
91 Wülfrath, August: Mit Karl Liebknecht in der<br />
Stadt der Wupper, in: Deutschlands junge Garde<br />
– Erlebnisse aus der Geschichte der deutschen<br />
Arbeiterjugendbewegung von den Anfängen<br />
bis zum Jahr 1945, Berlin 1959, S. 60 ff.<br />
92 Übernachtet hat Karl Liebknecht allerdings im<br />
Hotel Kaiserhof. Liebknecht war zu einer Veranstaltung<br />
der örtlichen Arbeiterjugend geladen<br />
worden, die als Gegenveranstaltung zum<br />
Treffen des Weltkongresses der christlichen<br />
Jünglingsvereine im Juli 1909 in Elberfeld gedacht<br />
war.<br />
93 General-Anzeiger 27.10.1909. Das Elberfelder<br />
Volkshaus befand sich in der Nordstadt, Hombüchel<br />
8 -10.<br />
94 Es wurden vornehmlich Konzerte gefördert,<br />
die fast ausschließlich von Wohlhabenden besucht<br />
wurden.<br />
95 Neben Hugo Landé <strong>und</strong> Oskar Hoffmann wurden<br />
die Sozialdemokraten Aloys Groll <strong>und</strong> Paul<br />
Kösser gewählt.<br />
96 General-Anzeiger 30.11.1909.<br />
97 Koszyk, K: Arbeiterbewegung, S. 170 f.<br />
98 Die Lebensgeschichte <strong>und</strong> das politische Wirken<br />
Thekla Landés als sozialdemokratische<br />
Frauenpolitikerin kann <strong>und</strong> soll im Rahmen<br />
dieses Aussatzes nicht behandelt werden. Die<br />
einzelnen, von den politischen Ereignissen der<br />
Zeit gezeichneten Biographien der Kinder werden<br />
im Rahmen einer Buchpublikation zusammengetragen.<br />
In der Zeitschrift „Geschichte im<br />
Wuppertal“ erschienen Artikel zu Franz Landé<br />
(1993 S. 102) <strong>und</strong> Charlotte Landé (2001,<br />
S. 107).<br />
99 Eckardt, Uwe: Franz Landé (1893-1942) in:<br />
Geschichte im Wuppertal 1993, S. 102.<br />
100 Martin Niemöller war im ersten Weltkrieg U-<br />
Bootkommandant, wurde Pfarrer <strong>und</strong> war 1934<br />
einer der führenden Köpfe der „Bekennenden<br />
Kirche“. In der späteren B<strong>und</strong>esrepublik trat er<br />
mit antifaschistischem <strong>und</strong> friedenspolitischem<br />
Engagement hervor.<br />
101 Niemöller, Martin: Christ <strong>und</strong> Welt, in Dirx,<br />
Ruth: Von Engels bis Böll – Respektlose Stimmen<br />
aus dem Wuppertal, Oberhausen 1988, S.<br />
123 f.<br />
102 Böhm, Kristina: Kinderärztin <strong>und</strong> Sozialpolitikerin:<br />
Charlotte (Lotte) Landé, verh. Czempin:<br />
in: Geschichte im Wuppertal 2001, S. 107.<br />
103 Czempin: Tonbandaufzeichnungen 1977.<br />
104 Czempin: Tonbandaufzeichnungen 1977.<br />
105 Czempin: Tonbandaufzeichnungen 1977.<br />
106 Czempin: Tonbandaufzeichnungen 1977.<br />
107 Otto Ibanez war Buchdrucker. Er gründete<br />
während der „Sozialistengesetze“ den Arbeitergesangverein<br />
Gutenberg als sozialdemokratische<br />
Tarnorganisation. 1917 schloss er sich der<br />
USPD an <strong>und</strong> war bis zu ihrer Auflösung 1922<br />
einer der wichtigen lokalen Funktionäre. Von<br />
1922 bis 1929 gehörte er der SPD-Fraktion in<br />
der Elberfelder Stadtverordnetenversammlung<br />
an.<br />
108 Otto Ibanez wurde 1919 Vorsitzender des Arbeiterrates<br />
Elberfeld; Oskar Hoffmann wurde<br />
wegen einer Flugblattaffäre verhaftet, beim<br />
Reichsgericht Leipzig angeklagt <strong>und</strong> an die<br />
russische Front geschickt.<br />
109 Im Jahr 1916 betrug die Kindersterberate<br />
14,3%; im Jahr 1918 wegen der grassierenden<br />
Unterernährung schon 37%.<br />
110 Rhefus, Reiner: Spurensicherung 1920 – Der<br />
Arbeiteraufstand gegen den Kapp-Putsch <strong>und</strong><br />
die damalige Arbeiterkultur im Bergischen<br />
Land, Essen 2000, S. 256.<br />
111 Vgl. Herbers, Winfried: Jagd auf Flugblätter,<br />
in: Geschichte im Wuppertal 1999, S. 97 ff.<br />
112 Knies, Hans-Ulrich: Arbeiterbewegung <strong>und</strong><br />
Revolution im Wuppertal. Entwicklung <strong>und</strong><br />
Tätigkeit der Arbeiter- <strong>und</strong> Soldatenräte in<br />
Elberfeld <strong>und</strong> Barmen, in: Rürup, Reinhard<br />
(Hg.): Arbeiter- <strong>und</strong> Soldatenräte im rheinisch-westfälischen<br />
Industriegebiet, Wuppertal<br />
1975, S. 93.<br />
113 Knies, H.-U.: Arbeiterbewegung, S. 100 f.<br />
114 Knies, H.-U.: Arbeiterbewegung, S. 98 f. Die<br />
Einrichtung eines Arbeitsamtes <strong>und</strong> die unentgeltliche<br />
Arbeitsvermittlung in öffentlicher<br />
Hand war schon eine Forderung des „Erfurter<br />
Programms“.<br />
115 Ernst Dröner war Leiter der sozialdemokratischen<br />
Konsumgenossenschaft <strong>und</strong> wurde im<br />
Januar 1919 für die MSPD in die Nationalversammlung<br />
gewählt. 1919–1933 war er Beigeordneter<br />
in Elberfeld.<br />
116 Knies, H.-U.: Arbeiterbewegung, S. 122.<br />
117 Rede am 21.11.1918 in: Knies, H.-U.: Arbeiterbewegung,<br />
S. 109.<br />
118 Die USPD- Führung mit einer Abordnung von<br />
Soldaten übernahmen für eine Nacht das Verlagsgebäude.<br />
In: Knies, H.-U.: Arbeiterbewegung,<br />
S. 110.<br />
119 Freie Presse 6.1.1919.<br />
91
120 Heinrich Drewes war vor dem Krieg Mitglied<br />
einer anarchistischen Organisation <strong>und</strong> im November<br />
1918 für kurze Zeit Vertreter der USPD<br />
im Arbeiter- <strong>und</strong> Soldatenrat.<br />
121 Schneider, Jochen: Das Leben, politische Wirken<br />
<strong>und</strong> der Tod des Wuppertaler Rechtsanwaltes<br />
Bernhard Lamp im zeitgeschichtlichen<br />
Kontext des 1. Weltkrieges, der Weimarer Republik<br />
<strong>und</strong> des Kapp-Putsches, Hausarbeit Magister<br />
Artium, GHS Wuppertal, Wuppertal<br />
1995, S. 129.<br />
122 Knies, , H.-U.: Arbeiterbewegung, S. 129. Freie<br />
Presse 6.1.1919.<br />
123 Heinrich Drewes wurde wegen Nötigung im<br />
März 1919 zu einem Monat Haft verurteilt<br />
(Freie Presse 22.3.1919).Er trat später der KPD<br />
<strong>und</strong> der anarchistischen FAUD bei. In: Schneider,<br />
J.: Lamp, S. 129 f.<br />
124 u. a. Hugo Landé, Ernst Dröner <strong>und</strong> Wilhelm<br />
Ullenbaum.<br />
125 Volkstribüne, Elberfeld, 14.1.1919.<br />
126 Knies, H.-U.: Arbeiterbewegung, S. 135.<br />
127 Freie Presse 3.5.1919.<br />
128 Walter Stoecker (1891–1939) Chefredakteur<br />
der „Volkstribüne“ (USPD), später Fraktionssprecher<br />
der KPD-Reichstagsfraktion, 1939 in<br />
Buchenwald ermordet.<br />
129 Freie Presse 7.5.1919.<br />
130 Freie Presse 12.5.1919.<br />
131 Freie Presse 2.6.1919.<br />
132 Müller, Wolfgang: Sechs Jahrzehnte Zeitgeschichte<br />
im Spiegel der Heimatzeitung General-Anzeiger<br />
der Stadt Wuppertal 1887 – 1945,<br />
Wuppertal 1954, S. 220 f.<br />
133 Romeyk, H.: Landé, S. 9.<br />
134 Romeyk, H.: Landé, S. 9.<br />
135 Osterroth, F: Lexikon, S. 121.<br />
136 Romeyk, H.: Landé, S. 9.<br />
137 Romeyk, H.: Landé, S. 9 f.<br />
138 Romeyk, H.: Landé, S. 9 f.<br />
139 Romeyk, H.: Landé, S. 10<br />
140 Romeyk, H.: Die leitenden staatlichen <strong>und</strong><br />
kommunalen Verwaltungsbeamten der Rheinprovinz<br />
1816 – 1945, Düsseldorf 1994, S. 102.<br />
141 Romeyk, H.: Die leitenden staatlichen <strong>und</strong><br />
kommunalen Verwaltungsbeamten der Rheinprovinz<br />
1816 – 1945, Düsseldorf 1994, S. 92.<br />
142 Vergleichbar dem Regierungspräsidenten.<br />
143 Lucas, Erhard: Märzrevolution 1920, Bd. 1,<br />
Freiburg 1974, S. 125.<br />
144 Lucas. E.: Märzrevolution 1920, Bd. 1, S. 125.<br />
145 Lucas. E.: Märzrevolution 1920, Bd. 1, S. 127.<br />
146 Lucas. E.: Märzrevolution 1920, Bd. 1, S. 124.<br />
92<br />
147 Hotel Hegelich war ein traditionsreiches Hotel<br />
an der Allee in Unterbarmen, heute Friedrich<br />
Engels Allee 163.<br />
148 Freie Presse, 25.3.20.<br />
149 Bei der anschließenden Besetzung des Ruhrgebietes<br />
kam es zu Racheakten der Militärs, die<br />
mehr als 1000 Tote forderten.<br />
150 Freie Presse, 25.3.20.<br />
151 Freie Presse, 25.3.20.<br />
152 Ergebnisse: 1919 – 32,2%, 1924 – 18,7%, 1929<br />
– 22,7%, 1933 – 13,9%; Herberts, H.: SPD, S.<br />
166.<br />
153 Auf den Nord- <strong>und</strong> Südhöhen, am Zoo <strong>und</strong> am<br />
Ostersbaum entstanden Siedlungen unterschiedlicher<br />
Wohnungsbaugenossenschaften.<br />
154 Das Stadion Elberfeld, fertiggestellt 1926, galt<br />
seinerzeit als die beste Radrennbahn Europas,<br />
auf der viele Rekorde gefahren wurden.<br />
155 Hofkamp 187, vgl.: Novy, Klaus, Arno Mersmann,<br />
Bodo Hombach: Reformführer NRW,<br />
Köln 1984, S. 88.<br />
156 Stadtarchiv Wuppertal, D V 466,8.4.1924 in:<br />
Gupta, Milon: Die städtische Wohlfahrtspflege<br />
in Elberfeld – Zwänge <strong>und</strong> Möglichkeiten in<br />
den Jahren 1924 bis 1929, In: Geschichte im<br />
Wuppertal 1993, S. 49.<br />
157 Gupta, M.: Wohlfahrtspflege, S. 53.<br />
158 Gupta, M.: Wohlfahrtspflege, S. 58.<br />
159 Prof. Ernst Hoffmann, Jg. 1912, im Telefonat<br />
am 4.1.2002.<br />
160 Nellessen, schon 1920 ein bekannter Kommunist,<br />
vertrat die Stadt Elberfeld bei den Verhandlungen<br />
in Münster am 31.März 1920: in<br />
Lucas, E.: Märzrevolution 1920, Bd. 3, S. 243.<br />
161 Zitiert nach: Müller, W.: Sechs Jahrzehnte, S.<br />
314.<br />
162 Franz Landé arbeitete als Musiker in Düsseldorf<br />
<strong>und</strong> gehörte gemeinsam mit dem KP-O<br />
Führer Dagobert Lubinski, in Auschwitz ermordet,<br />
zu den führenden Köpfen des „Weltbühnenkreis“.<br />
Vgl.: Schabrod, Karl: Widerstand<br />
gegen Flick <strong>und</strong> Florian – Düsseldorfer<br />
Antifaschisten über ihren Widerstand<br />
1933–1945, Frankfurt 1978, S. 132; Bergmann,<br />
Theodor: Gegen den Strom – Die Geschichte<br />
der Kommunistischen Partei-Opposition, Hamburg<br />
1987, S. 403.<br />
163 Den Beschluss traf eine sozialdemokratische<br />
Funktionärversammlung unter Leitung von<br />
Paul Löbe. Alle jüdischen Parteimitglieder sollten<br />
ihre Vorstandspositionen niederlegen. In:<br />
Deutsche Geschichte, Bd. 3, VEB Verlag der<br />
Wissenschaften, Berlin 1968, S. 180.
164 Kießling, Wolfgang: Absturz in den kalten<br />
Krieg – Rudolf <strong>und</strong> Leo Zuckermanns Leben<br />
zwischen nazistischer Verfolgung, Emigration<br />
<strong>und</strong> stalinistischer Maßregelung, Heft zur<br />
DDR-Geschichte, Berlin 1999, S.18.<br />
Ulrike Schrader<br />
165 Romeyk, H.: Landé, S. 11.<br />
166 Er wurde im September 1942 nach Auschwitz<br />
deportiert <strong>und</strong> ermordet.<br />
167 Aufzeichnungen von Bettina Lande Tergeist,<br />
Ermont, Juli 2000.<br />
„Dem ältesten aber bin ich ein fremdes Kind geblieben …“<br />
Neuigkeiten über den Maler Alfred Jacob Schüler,<br />
den Bruder der Dichterin Else Lasker-Schüler<br />
Bekannt ist, dass die Dichterin Else Lasker-<br />
Schüler (1869–1945), das „Nesthäkchen“ der<br />
Elberfelder jüdischen Familie Schüler, ihre<br />
Eltern über alles liebte. Den Vater Aron<br />
(1825–1897) verklärte sie vor allem in ihrer<br />
Prosa zum ewig streichespielenden <strong>und</strong> junggebliebenen,<br />
weißhaarigen Schelm, die melancholische<br />
Mutter Jeanette, geb. Kissing<br />
(1838–1890) darüber hinaus in zahlreichen<br />
Gedichten zum eigentlichen dichterischen Genie<br />
der Familie. Unter ihren fünf älteren Geschwistern<br />
waren es vor allem der jüngste der<br />
drei Brüder, Paul Carl (1861–1882) <strong>und</strong> die<br />
zweite der Schwestern, die fünf Jahre ältere<br />
Anna (1863–1912), zu denen sie ein besonders<br />
inniges Verhältnis hatte. Paul widmete sie z.B.<br />
die beiden mit Bew<strong>und</strong>erung <strong>und</strong> Zuneigung<br />
gezeichneten Prosaskizzen „Die Eisenbahn“<br />
<strong>und</strong> „Die Eichhörnchen“ sowie das Gedicht<br />
„Du, mein.“, das einem Gebet gleichkommt.<br />
Der frühe Tod Paul Schülers, der eine geplante<br />
Konversion zum Katholizismus verhinderte, 1<br />
hat für die damals Dreizehnjährige vermutlich<br />
einen ersten lebensgeschichtlichen Bruch bedeutet<br />
– sie sollte ihr 1899 geborenes Kind<br />
später nach dem Bruder nennen <strong>und</strong> diesem<br />
über alles geliebten, ebenfalls früh, 1927 gestorbenen<br />
Sohn ein Grabmal setzen, das dem<br />
ihres Bruders auf dem Elberfelder jüdischen<br />
Friedhof an der Weißenburgstraße fast zum<br />
Verwechseln ähnlich ist. 2<br />
Zu ihrer Schwester Anna, die wie sie in Berlin<br />
lebte, pflegte Else Lasker-Schüler ein<br />
schwesterlich-vertrautes Verhältnis. Die beiden<br />
jungen Ehefrauen <strong>und</strong> Mütter halfen sich gegenseitig,<br />
wenn die Kinder beaufsichtigt werden<br />
mussten, bei Umzügen, in Krankheitsfällen<br />
<strong>und</strong> bei akuten finanziellen Problemen. 3 Auch<br />
nach Annas Tod 1912 fühlte sich Else dem<br />
Schwager, dem Opernsänger Franz Lindwurm-<br />
Alfred Schüler (1858-1938). – Foto: Stadtbibliothek<br />
Wuppertal.<br />
93
„Zwei Segelboote“, Aquarell <strong>und</strong> Guache von Alfred Schüler, 1920. – Hamburger Kunsthalle, Bildarchiv<br />
Preußischer Kulturbesitz. – Foto: Elke Walford.<br />
Lindner (1857–1937) eng verb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> versuchte,<br />
ihn zu unterstützen, wo sie konnte.<br />
Die Beziehungen zum zweitältesten Bruder<br />
Maximilian Moritz (1859–1907) 4 <strong>und</strong> zu Martha<br />
Theresia (1862–1920), die nach 1902 mit<br />
ihrer Tochter Alice nach Chicago auswanderte<br />
<strong>und</strong> dort auch starb, waren vermutlich nicht<br />
sehr intensiv, aber doch nicht so schlecht, dass<br />
Lasker-Schüler sich darüber kritisch geäußert<br />
hätte. Im Gegenteil: Alle diese vier Geschwister<br />
<strong>und</strong> dazu die geliebten Eltern bildeten für<br />
Else Lasker-Schülers zahlreiche poetische<br />
Kindheitserinnerungen den personellen Rahmen,<br />
gleichsam die Wächter ihres Paradieses. 5<br />
Darin stört – zu ihrem Kummer – nur eine Figur:<br />
die des ältesten Bruders. So schreibt sie:<br />
Dem ältesten aber bin ich ein fremdes Kind<br />
geblieben, er war viel älter als ich, <strong>und</strong> da er<br />
sich selten im Elternhause aufhielt, gelang es<br />
mir nicht, ihn zwischen uns auf eine Schnur zu<br />
94<br />
reihen. Ich phantasierte mit Hilfe meines Märchenbuchs<br />
vom verirrten Königssohn, denn seine<br />
Bruderschaft gestaltete sich mir in jedem<br />
Jahr schleierhafter <strong>und</strong> mysteriöser. Bis er mich<br />
einmal bei seiner Ankunft zu Hause zwischen<br />
Portieren hervorzog, hinter denen ich mich, von<br />
seinem faszinierenden Wesen behext, versteckt<br />
hatte <strong>und</strong> mir einen Schlag wegen meiner Unhöflichkeit<br />
ins Gesicht gab. „Zum Andenken“.<br />
Die Ursache gänzlicher Entfremdung zwischen<br />
ihm <strong>und</strong> mir, zwischen Schwester <strong>und</strong> Bruder,<br />
der Eltern gleichgeliebten Kindern. 6<br />
Mit welcher Leidenschaft <strong>und</strong> Selbstlosigkeit<br />
allerdings die Schwester Jahrzehnte später<br />
für ihren verarmten, in Hamburg lebenden<br />
Bruder Fürsprache bei der Hamburger Stadtprominenz<br />
leisten sollte, bezeugen die Briefe,<br />
die sich im Hamburger Staatsarchiv fanden. 7<br />
Im Mai 1930 traf sie ihn sogar persönlich in<br />
Hamburg <strong>und</strong> schrieb am 25.11.1930 an Baro-
nin Selma von der Heydt über diese Begegnung:<br />
Auch traf ich vor ungefähr einem halben<br />
Jahr meinen ältesten noch einzig lebenden<br />
Bruder Alfred in Hamburg – den Maler. Ich<br />
hatte ihn seit Kind nicht gesehen. Es ging ihm<br />
bitter schlecht. Das Museum in Hamburg hat<br />
ihm nun einige große Aquarelle abgekauft, das<br />
erhebt ihn wieder. 8 Diese Hilfeleistung für Alfred<br />
Schüler durch den Kauf der Bilder war auf<br />
die dringende Bitte Else Lasker-Schülers hin<br />
geschehen. In den Hamburger Senatsakten,<br />
„betreffend Maler Alfred Schüler 1930“, befindet<br />
sich ein Brief von Edgar von Schmidt-<br />
Pauli, Berlin, an den Hamburger Bürgermeister<br />
Dr. Petersen vom 30.8.1930: Die Dichterin<br />
Else Lasker-Schüler, zurzeit in Kolberg/ Pommern,<br />
hat sich hilfeflehend für ihren 71 Jahre<br />
alten Bruder, den Maler Alfred Schüler-Kissing,<br />
Hamburg, Andreasstraße 20, an mich gewandt.<br />
Er lebt schon, wie sie mir schreibt, seit<br />
einem halben Leben in Hamburg <strong>und</strong> sie fand<br />
ihn einsam <strong>und</strong> fast verhungert vor. Er soll die<br />
goldene Medaille des Pariser Salons erhalten<br />
haben <strong>und</strong> im goldenen Buch von Berlin stehen.<br />
Sein Sohn ist im Krieg gestorben, von seiner<br />
Frau ist er geschieden. Er soll auch chemische<br />
Erfindungen gemacht haben, über die die<br />
Hamburger Presse geschrieben hat. 9 Und in<br />
einer weiteren Notiz, einer Zusammenfassung<br />
eines Briefes des Direktors der Hamburger<br />
Kunsthalle, Professor Dr. Pauli, vom 8.11.1930<br />
steht: Herr Alfred Schüler, der Bruder der<br />
Schriftstellerin Else Lasker-Schüler, wohnhaft<br />
Hamburg 39, Andreasstraße 20 V, ist ein begabter,<br />
intelligenter <strong>und</strong> sympathischer alter Herr<br />
von 72 Jahren. Er lebt in äußerster Armut <strong>und</strong><br />
wurde in den letzten zwei Jahrzehnten von vielem<br />
Unglück verfolgt. Eine interessante <strong>und</strong><br />
sehr wertvolle Erfindung von elastischem<br />
Email ist für ihn ohne Frucht geblieben, da er<br />
inzwischen total verarmte <strong>und</strong> in die Hände<br />
eines ungetreuen Geschäftsmannes geriet. 10<br />
Im Zusammenhang mit den Recherchen für<br />
das Buch „Niemand hat mich wiedererkannt<br />
…“ 11 konnten nach <strong>und</strong> nach mehr Details über<br />
diesen Bruder herausgef<strong>und</strong>en werden, der für<br />
Kenner <strong>und</strong> Kennerinnen Else Lasker-Schülers<br />
vor allem deshalb mysteriös ist, weil seine Biografie<br />
weitgehend unerschlossen ist – bis jetzt<br />
noch nicht einmal sein Todesdatum bekannt<br />
war, 12 obwohl er als Kunstmaler einige Werke<br />
hinterlassen hat <strong>und</strong> in Paris 1898 sogar mit der<br />
„Mention honorable“ ausgezeichnet wurde. 13<br />
Auch über die Zeit seines Studiums, vor allem<br />
an der Münchener Akademie, müsste noch<br />
mehr herauszufinden sein. Einen kleinen Hinweis<br />
auf die Münchener Zeit gibt ein Brief<br />
Else Lasker-Schülers vom 17.5.1911 aus München<br />
an Karl Kraus: Lieber Dalai-Lama, hier<br />
ist eine Baronesse kernges<strong>und</strong> im Irrenhaus,<br />
die frühere Braut meines Bruders. Ich muß sie<br />
erst erlösen. Ihr Vorm<strong>und</strong> glaubt es selbst<br />
nicht, daß sie irr sei. 14<br />
Im „Täglichen Anzeiger für Berg <strong>und</strong><br />
Mark“ vom 24.9.1886 wird ein Ölbild („altes<br />
Mütterchen in der bekannten bergischen<br />
Tracht“) von Alfred Schüler beschrieben, das<br />
in der Kunsthandlung Löwenstein an der Wallstraße<br />
ausgestellt war, <strong>und</strong> der Elberfelder<br />
Dichter Otto Hausmann (1837-1916) würdigte<br />
den Maler in der Monatsschrift des Bergischen<br />
Geschichtsvereins <strong>und</strong> erwähnt darin einen<br />
„Studienkopf einer alten Frau“, der sich damals<br />
im Besitz des Bergischen Geschichtsvereins<br />
bef<strong>und</strong>en habe. 15 In den im Hamburger<br />
Staatsarchiv befindlichen Senatsakten für die<br />
Kunstpflege existiert ein Brief Else Lasker-<br />
Schülers, der Portraits des kleinen Sohn(es) des<br />
ehem. Botschafters von Richthofen <strong>und</strong> des<br />
ehemaligen Vizepräsidenten der Bürgerschaft:<br />
Johannes Halben erwähnt. 16 Das Lexikon von<br />
Singer erwähnt einen Besuch bei den Ursulinerinnen.<br />
17 Keines dieser namentlich nachgewiesenen<br />
Bilder konnte bislang gef<strong>und</strong>en werden,<br />
nur zwei Aquarelle, beides Motive mit Segelschiffen,<br />
sind im Bestand der Hamburger<br />
Kunsthalle erhalten. 18<br />
Mit großer, fre<strong>und</strong>licher Hilfe von Herrn<br />
Jürgen Sielemann, Mitarbeiter des Hamburger<br />
Staatsarchivs <strong>und</strong> aktives Mitglied des Hamburgischen<br />
Vereins für jüdische Genealogie,<br />
konnten einige Informationen zusammengetragen<br />
werden, die über das hinausgehen, was in<br />
dem oben genannten neueren Buch über Else-<br />
Lasker-Schüler bereits publiziert ist.<br />
Zum ersten Mal meldete sich Alfred<br />
Schüler am 26.7.1899 in Neuengamme Nr. 87<br />
bei Herm. Stahlbecheck zum vorübergehenden<br />
95
Aufenthalt an. 19 Ein zweiter Vermerk vom<br />
28.2.1900 besagt, dass der p. Schüler (…) anfangs<br />
October 1899 ohne Abmeldung verzogen<br />
sei. Weitere Eintragungen auf dieser Meldekarte,<br />
deren Kartei bis 1925 geführt wurde, gibt es<br />
nicht. 20 Im Hamburger Adressbuch von 1902<br />
ist der „Kunstmaler“ Alfred Schüler zum ersten<br />
Mal erwähnt, <strong>und</strong> zwar mit der Adresse<br />
Rothenbaumchaussee 1. 1903 <strong>und</strong> 1904 ist dieselbe<br />
Adresse angegeben, zusätzlich aber noch<br />
eine „Wohnung“ in der Hudtwalckerstraße 22.<br />
In späteren Jahrgängen tauchen auch die<br />
Adressen Andreasstraße 20 (1926, 1927, 1931)<br />
auf, die Adresse, die auch Else Lasker-Schüler<br />
in ihrem Brief von 1930 nennt <strong>und</strong> die offensichtlich<br />
die Firmen- bzw. Atelieradresse war.<br />
Die zweite, 1932 von der Schwester angegebene<br />
Adresse, Sierichstraße 168 bei Friedrichson,<br />
konnte in den entsprechenden Adressbüchern<br />
nicht verifiziert werden.<br />
Am 1.6.1897 hatte Alfred Schüler die am<br />
27.9.1859 in Hamburg geborene Jüdin Louise<br />
Goldzieher geheiratet. 21 Ob er mit seiner Frau<br />
auch Kinder hatte, kann anhand der Dokumente<br />
im Hamburger Archiv ebensowenig nachgewiesen<br />
werden wie eine Scheidung. Allenfalls lässt<br />
sich feststellen – wiederum anhand der Adressbücher<br />
– dass Louise Schüler, „Frau A.<br />
Schüler“, zuweilen als Haushaltsvorstand (Sierichstraße<br />
40) <strong>und</strong> ihr Mann mit anderen Adressen<br />
eingetragen sind (1929 bis 1931: Frau A.<br />
Schüler: Sierichstraße 40, Alfred Schüler,<br />
Kunstmaler, Andreasstraße 20, Wohnung: Hudtwalckerstraße<br />
22). Denkbar ist, dass das Ehepaar<br />
zumindest zeitweise getrennt gelebt hat.<br />
Am 26.1.1917 meldete Schüler unter dem<br />
Namen „Alfred Jacques Schüler“ ein Gewerbe<br />
als „Fabrikant“ an – womöglich ist damit seine<br />
Tätigkeit als „Erfinder“ gemeint, denn in<br />
den Bemerkungen des „Gewerbeanmeldungsscheins“<br />
ist notiert: Inhaber eines Emaillierwerkes.<br />
Noch am 2.5.1929 (Schüler war bereits<br />
70 Jahre alt!) meldete er nochmals ein Gewerbe<br />
an, offensichtlich getrieben durch akute Geldnot:<br />
Eingetragen wurde das Gewerbe: Beurteilung<br />
des Charakters auf Gr<strong>und</strong> von Handschriften<br />
sowie der Kopf- <strong>und</strong> Gesichtsformen. 22<br />
Das zumindest vorläufig letzte gef<strong>und</strong>ene<br />
Dokument zur Biografie des ältesten Bruders<br />
96<br />
Else Laskers-Schülers ist seine Todesbescheinigung.<br />
Aus ihr geht hervor, dass der „Kunstmaler“<br />
Alfred Schüler, wohnhaft Hudtwalckerstraße<br />
22, im Universitäts-Krankenhaus Eppendorf<br />
am 3. Juli 1938 um 23.30 Uhr an Anämie,<br />
Greisentum <strong>und</strong> Herzschwäche im Alter<br />
von fast 80 Jahren gestorben ist. 23 Da es keinen<br />
Hinweis auf die Zugehörigkeit zu einer jüdischen<br />
Gemeinde gibt, Alfred Schüler also entweder<br />
konvertiert, aus der jüdischen Gemeinschaft<br />
ausgetreten ist oder sich einfach gar<br />
nicht bei der Gemeinde angemeldet hat, ist es<br />
unwahrscheinlich, dass er auf einem jüdischen<br />
Friedhof in Hamburg beerdigt wurde <strong>und</strong> deshalb<br />
womöglich noch ein Grab zu finden wäre.<br />
Louise Schüler, geb. Goldzieher, die spätestens<br />
seit Alfreds Tod in der Hudtwalckerstraße<br />
22 lebte, wurde, obwohl irgendwann zum Protestantismus<br />
übergetreten, mit Schreiben vom<br />
17. Mai 1940 Zwangsmitglied der „Reichsvereinigung<br />
der Juden in Deutschland“, hatte die<br />
entsprechenden Sonderabgaben zu entrichten<br />
<strong>und</strong> alle anderen judenfeindlichen Diskriminie-<br />
Die Zeichnung Alfred Schülers stellt die Pflegerin<br />
seiner Schwester Anna Lindwurm-Lindner<br />
dar, 1912 – Foto: Stadtbibliothek Wuppertal.
ungen zu ertragen, die das nationalsozialistische<br />
Regime für die ihm verhasste Minderheit<br />
erfand. Zwei mit zittriger Hand geschriebene<br />
Briefe von ihr mit der Bitte um Erlassung der<br />
zusätzlichen Zahlungen sind im Hamburger Archiv<br />
erhalten. Am 24. März 1943 wurde sie aus<br />
dem „Judenhaus“ Beneckestraße 6 nach Theresienstadt<br />
deportiert <strong>und</strong> ist dort oder in einem<br />
Vernichtungslager, 84jährig, umgekommen.<br />
Von den sechs Geschwistern der Familie<br />
Schüler haben der älteste Bruder <strong>und</strong> die<br />
jüngste Schwester am längsten gelebt – Alfred<br />
wurde fast 80 Jahre alt, Else fast 76. Seit 1920,<br />
nachdem die Schwester Martha Theresia gestorben<br />
war, waren sie die einzigen noch lebenden<br />
<strong>und</strong> auch die einzigen, die die Zeit des Nationalsozialismus<br />
noch erlebten. Beide waren<br />
künstlerisch begabt – wobei die Schwester sich<br />
vermutlich kaum auf ein künstlerisches Gespräch<br />
eingelassen hätte – zu sehr unterschied<br />
sich ihre Auffassung von der eher traditionellen<br />
akademischen Landschafts- <strong>und</strong> Portraitmalerei<br />
des Bruders. Was aber auch immer<br />
zwischen Schwester <strong>und</strong> Bruder gestanden haben<br />
mag: Dass die Dichterin auch nicht den ältesten<br />
vergessen hat, beweist nicht nur ihre<br />
Großherzigkeit in den Jahren 1930 <strong>und</strong> 1932,<br />
sondern durchaus auch ihre Dichtung. Melancholisch<br />
erinnert sich Else Lasker-Schüler in<br />
dem 1942 erschienenen Gedicht Ueber glitzernden<br />
Kies: 24<br />
Könnt ich nach Haus …<br />
Die Lichte gehen aus,<br />
Erlischt ihr letzter Gruss.<br />
Wo soll ich hin?<br />
O Mutter mein, weißt du’s?<br />
Auch unser Garten ist gestorben.<br />
Es liegt ein grauer Nelkenstrauss<br />
Im Winkel wo im Elternhaus –<br />
Er hatte grosse Sorgfalt sich erworben.<br />
Umkraenzte das Willkommen an den Toren<br />
Und gab sich ganz in seiner Farbe aus.<br />
O liebe Mutter! …<br />
Versprühte Abendrot,<br />
Am Morgen weiche Sehnsucht aus _<br />
Bevor die Welt in Schmach <strong>und</strong> Not.<br />
Ich habe keine Schwestern mehr;<br />
Und keine Brüder.<br />
Der Winter spielte mit dem Tode in den Nestern –<br />
Und Reif erstarrte alle Liebeslieder.<br />
Anmerkungen:<br />
1 Bauschinger, Sigrid: Else Lasker-Schüler. Ihr<br />
Werk <strong>und</strong> ihre Zeit, Heidelberg 1980, S. 25.<br />
2 Auch der zweite Sohn der Familie Schüler, Maximilian<br />
Moritz, hatte seinen Sohn „Paul“ genannt.<br />
Vielfach wurde das Foto aus dem Bestand<br />
der Stadtbibliothek Wuppertal, das Moritz mit<br />
seinem Sohn zeigt, als Moritz mit seinem Neffen<br />
Paul Lasker-Schüler identifiziert, z.B. in:<br />
Klüsener Erika/Pfäfflin, Friedrich: Else Lasker-<br />
Schüler 1869–1945. Marbacher Magazin 71/<br />
1995 (Doppelheft), Marbach 1995, Abb. Nr. 13.<br />
Das Kind auf dem 1897 gemachten Bild ist aber<br />
etwa zwei Jahre alt <strong>und</strong> kann daher nicht Paul<br />
Lasker-Schüler sein, der erst 1899 geboren<br />
wurde.<br />
3 Vgl. dazu die Briefe an Anna Lindwurm-Linder<br />
aus der Berliner Zeit vor allem bis 1907.<br />
4 Mit fre<strong>und</strong>licher Hilfe von Herrn Peter Elsner,<br />
Stadtarchiv Wuppertal, konnte herausgef<strong>und</strong>en<br />
werden, dass Moritz in Godesberg gestorben<br />
<strong>und</strong> auf dem jüdischen Friedhof in Köln-Deutz<br />
beerdigt worden ist (Täglicher Anzeiger vom<br />
14.1.1907, StAW). Der Grabstein existiert noch<br />
<strong>und</strong> ist gut erhalten. Vgl. Schrader, Ulrike: „Niemand<br />
hat mich wiedererkannt“. Else Lasker-<br />
Schüler in Wuppertal, hrsg. vom Trägerverein<br />
Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal<br />
e.V., Wuppertal 2003, hier: S. 109.<br />
5 Moritz kommt sogar einmal an entscheidender<br />
Stelle vor – wenn auch nur in Gestalt des typisch<br />
schwesterlichen Wunsches nach einem „großen<br />
Bruder“. Lasker-Schüler schreibt in einem Brief<br />
vom 6.10.1900 an Ludwig Jacobowski: Ich bin<br />
so schändlich <strong>und</strong> zwar öffentlich von Herrn<br />
Houben beleidigt worden, daß ich nur im Moment<br />
gewünscht habe, daß mein Bruder dagewesen<br />
wäre, der hätte ihn sicherlich geohrfeigt.<br />
(Lasker-Schüler, Else: Werke <strong>und</strong> Briefe. Kritische<br />
Ausgabe, hg. von Norbert Oellers, Heinz<br />
Rölleke <strong>und</strong> Itta Shedletzky, (hier: KA) Band 5,<br />
S. 21). Problematisch war wohl das Verhältnis<br />
zur Familie von Moritz Frau Anna, geb. Philipp.<br />
Am 5.1.1907, wenige Tage vor Moritz Tod,<br />
schrieb Lasker-Schüler an ihre Schwester, offensichtlich<br />
besorgt auch wegen finanzieller An-<br />
97
gelegenheiten: Liebe Anna. Unter strengster<br />
Discretion – Du weißt also nichts davon: Ich<br />
schrieb heute an Anna Ph. Zunächst nach Elberfeld.<br />
Adressiert. Wenn nicht dort nachzusenden<br />
oder zurück. Herrlicher ruhiger, liebenswürdiger<br />
Brief. Es muß Jemand in die Hand nehmen.<br />
Pass mal auf. – Dein Glück so. (…) Wie geht es<br />
Moritz bitte genau schreiben. (KA 5, S. 75f).<br />
6 aus: der Versöhnungstag (1925), in: KA 4.1.,<br />
S. 100f.<br />
7 Sie sind vollständig erstmals abgedruckt in:<br />
„Niemand hat mich wiedererkannt …“, s. Anm. 4,<br />
S. 38f.<br />
8 Zitiert nach: Marbacher Magazin, a.a.O., S. 215.<br />
9 Staatsarchiv Hamburg (hier: StAH), Senatskommission<br />
für die Kunstpflege, Eb. 305.<br />
10 Ebd.<br />
11 s. Anm. 4.<br />
12 So auch nicht in einer der jüngeren Publikationen:<br />
Garweg, Udo: Wuppertaler Künstlerverzeichnis,<br />
hg. vom Von der Heydt-Museum Wuppertal,<br />
Wuppertal 2000 (S. 361).<br />
13 Dresslers Kunstjahrbuch, hg. von Oskar Dressler,<br />
7. Jg., Rostock 1913, S. 870. Andere Erwähnungen<br />
finden sich in: Allgemeines Lexikon der<br />
Bildenden Künstler, begr. von Ulrich Thieme<br />
<strong>und</strong> Felix Becker, 30. Bd., Leipzig 1936; Allgemeines<br />
Künstler-Lexicon. Leben <strong>und</strong> Werke der<br />
berühmtesten Bildenden Künstler, hg. von Hans<br />
Wolfgang Singer, 4. Band, Frankfurt am Main<br />
1920.<br />
Sigrid Lekebusch<br />
98<br />
14 KA 5, S. 196.<br />
15 Jahrgang 13 (1906), S. 87f. Beide Texte sind abgedruckt<br />
in: „Niemand hat mich wiedererkannt<br />
…“, a.a.O., S. 37. Ob es sich bei dem Bild um<br />
die Zeichnung handelt, die sich heute in der<br />
Stadtbibliothek befindet, ist wohl nicht zu<br />
klären.<br />
16 Brief Else Lasker-Schülers vom 22.10.1930, abgedruckt<br />
in: „Niemand hat mich wiedererkannt<br />
…“, a.a.O., S. 38.<br />
17 S. Anm. 13.<br />
18 Abgedruckt in: „Niemand hat mich wiedererkannt<br />
…“, a.a.O., S. 36f.<br />
19 StAH: 332–8 Meldewesen, A 30, Einwohnermeldekartei<br />
1892–1925.<br />
20 Das ist eigentlich ein Hinweis darauf, dass<br />
Schüler bis 1925 nicht mehr nach Hamburg<br />
zurückgekommen ist. Das ist aber nicht der Fall,<br />
wie Einsichten in die Hamburger Adressbücher<br />
ergeben.<br />
21 StAH: Meldekarte der Mutter Marianne Goldzieher,<br />
geb. Meyer (4.2.1831 in Svendborg, Dänemark<br />
– 25.10.1907 in Hamburg), 332–9 Meldewesen,<br />
A 30, Einwohnermeldekartei 1892–<br />
1925.<br />
22 StAH: 376–4, Zentralgewerbekartei VIII Cc1.<br />
23 StAH: 352–7 Ges<strong>und</strong>heitsbehörde, Todesbescheinigungen,<br />
1938 3c, Nr. 914.<br />
24 KA 1.1., Nr. 370.<br />
Reformierte Stimmen aus dem Wuppertal<br />
zu den staatlichen <strong>und</strong> kirchlichen Neuordnungen 1918/19<br />
Vor 75 Jahren etablierte sich das erste demokratische<br />
System in Deutschland. Die Ziele<br />
der jungen Republik, Bollwerk gegen die Revolution<br />
zu sein, zur Überwindung des Militarismus<br />
beizutragen, mit dem gleichen Wahlrecht<br />
den Abstand zwischen den sozialen<br />
Schichten zu verringern, hatten keine Chance,<br />
sie gingen in den mächtigen, immer lauter artikulierten<br />
Gruppeninteressen unter. Der ‚Rufmord‘,<br />
der sich in den Schlagworten „Verrat“,<br />
„Dolchstoßlegende“, „Versailles“ manifestierte,<br />
wurde von fast allen gesellschaftlichen<br />
Gruppen mitgetragen. Die evangelische Kirche,<br />
deren Glieder dem national-konservativen<br />
Bürgertum zugerechnet werden müssen, teilte<br />
diese Einstellung weitgehend. Doch für sie verschärfte<br />
sich die Situation insoweit, als die Kirche<br />
mit dem Untergang der Monarchie obendrein<br />
ihre kirchliche Spitze verloren hatte,<br />
denn das Kaiserhaus <strong>und</strong> die Landesfürsten<br />
hatten bis 1918 außerdem die oberste Kirchengewalt<br />
(Summepiskopat) inne. Die historisch<br />
bedingte enge Verflechtung zwischen evangelischer<br />
Kirche <strong>und</strong> Staat zwang nun die Kirche,
sich um eine Neuordnung zu bemühen. Emotional<br />
<strong>und</strong> engagiert wurden die Diskussionen<br />
auch in den Wuppertaler Gemeinden geführt.<br />
Mit einigen Nuancen können die reformierten<br />
Stimmen des Wuppertals, die Reaktionen aus<br />
den beiden größten reformierten Gemeinden<br />
Deutschlands, als pars pro toto gelten.<br />
Die Weimarer Republik<br />
Am 27.1.1919, dem 60. Geburtstag Wilhelms<br />
II., klagte Karl Dick, reformierter Pfarrer<br />
in Barmen-Gemarke, im Barmer Sonntagsblatt:<br />
„Mit wehem w<strong>und</strong>em Herzen werden Unzählige<br />
in Deutschland diesen Tag verleben. Es<br />
wird ihnen sein, als ständen sie an einem frischen<br />
Grabe. Ja mehr, sie werden im Geist aus<br />
diesem Grabe eine Hand sich emporstrecken<br />
sehen, […]. Es ist schon so: der Zusammenbruch<br />
der Kaisertreue <strong>und</strong> der Monarchie<br />
bleibt ein dunkelster Schatten auf dem dunklen<br />
Bilde der deutschen Revolution.“ 1<br />
Solche u.ä. Äußerungen, die den Verlust<br />
des evangelischen Kaiserhauses beklagten <strong>und</strong><br />
die Revolution brandmarkten, beschreiben generell<br />
die Stimmung der Kirche nach dem verlorenen<br />
Krieg. Auch die Gemeinden im Wuppertal<br />
gehörten zu dem Teil des Volkes, die an<br />
dem „Leiden <strong>und</strong> Ringen unseres Volkes“ 2<br />
ebenso Anteil nahmen <strong>und</strong> in dem neuen politischen<br />
System eine Katastrophe sahen. Es war<br />
für die Kirche unstrittig, nicht das hoch gerüstete<br />
Deutsche Reich, nicht Kaiser Wilhelm II.,<br />
der sich in den Krieg hatte hineinziehen lassen,<br />
zeichneten verantwortlich für die unseligen<br />
Folgen, sondern die Revolution, die ‚linke‘ Regierung<br />
<strong>und</strong> die Alliierten mit dem Versailler<br />
Diktat. Diese ideologisch-politische Blockierung<br />
bestimmte das Handeln der Kirche in der<br />
Zeit bis 1933.<br />
In diesen Punkten unterschied sich die Einstellung<br />
der Reformierten im Wuppertal nicht<br />
von der Mehrheit des kirchlichen Protestantismus.<br />
Dennoch sind auch differenziertere Töne<br />
zu hören. Karl Dick sprach in dem obigen Artikel<br />
auch von einer Schuld, da schließlich „ohne<br />
erstes Wehren von einer handvoll Menschen<br />
das Reich zerschlagen“ worden sei. Gleichzeitig<br />
rief er zur Besinnung auf: „Dennoch haben<br />
wir als Christen die Pflicht zu fragen: wie kam<br />
es doch? Es muß doch tiefere Ursachen haben,<br />
unser Unglück! Wird der Schaden erkannt,<br />
kann man auf Heilung denken.“ 3<br />
Nach einer kurzen Replik auf das mit<br />
Deutschland fest verwachsene Kaisertum, dem<br />
neben der langen Vergangenheit auch eine<br />
glückliche Zukunft hätte beschieden sein können,<br />
stellte Dick vorsichtig die kritische Frage,<br />
ob nicht das System an sich eine problematische<br />
Entwicklung hervorgerufen habe, da den Menschen<br />
in diesem Obrigkeitsstaat zu wenig Verantwortungsbewusstsein<br />
zugetraut worden sei 4 .<br />
Auch Hermann Albert Hesse, Pfarrer in der<br />
reformierten Gemeinde Elberfeld <strong>und</strong> Schriftleiter<br />
der RKZ (Reformierte Kirchenzeitung),<br />
rief angesichts des verlorenen Krieges eher zur<br />
Buße auf, als in die allgemeine Klage über die<br />
untergegangene Monarchie <strong>und</strong> dem damit<br />
verb<strong>und</strong>enen verlorenen Summepiskopat einzustimmen<br />
5 . Theologisch eingebettet wurde<br />
dieses politische Urteil in eine heilsgeschichtliche<br />
Konzeption, die von der Überzeugung getragen<br />
war, Gottes Heilsplan erfülle sich auch<br />
durch die Sünden der Menschen. Hinzu kam,<br />
dass die reformierte Tradition mit den demokratieähnlichen<br />
Gremien der Presbyterien <strong>und</strong><br />
Synoden schon immer im weltlichen Kirchenregiment<br />
ein verzichtbares Instrument sah, die<br />
nun angesichts der Veränderungen einen neuen<br />
Wert gewann.<br />
„Daß die äußere Form der Kirche durch den<br />
Wegfall des landesherrlichen Kirchenregimentes<br />
ins Schwanken geraten, macht uns Reformierten<br />
weniger Sorge. Wir erinnern uns mit<br />
Stolz, daß unsere synodalen Überlieferungen<br />
älter sind als das Kirchenregiment. Diese Überlieferungen<br />
gilt es jetzt hochzuhalten <strong>und</strong> sich<br />
um sie zusammenzuschließen.“ 6<br />
Doch dem Verdacht, dass hier eine Gleichsetzung<br />
mit den politischen demokratischen<br />
Strukturen vorliege, wollten sich die reformierten<br />
Theologen nicht aussetzen. Sie lehnten dies<br />
als vehementes Missverständnis ab: „Der altreformierte<br />
Presbyterianismus war nicht demokratisch,<br />
sondern rein aristokratisch seinem<br />
Wesen nach.“ 7<br />
99
Maßgeblich blieb – die Reformierten hatten<br />
sich mit der evangelischen Monarchie arrangiert,<br />
<strong>und</strong> nun waren sie ebenso bereit, in den<br />
neuen Verhältnissen ihren Platz zu suchen <strong>und</strong><br />
zu behaupten.<br />
Trennung von Staat <strong>und</strong> Kirche<br />
Am 16. November 1918 trat der Leiter des<br />
Kultusministeriums, Adolf Hoffmann, mit den<br />
ersten Erlassen an die Öffentlichkeit. Er war<br />
bisher als Atheist <strong>und</strong> Propagandist für eine<br />
umfassende Kirchenaustrittsbewegung aus der<br />
Freidenkerszene bekannt <strong>und</strong> nun verfügte er<br />
die radikale Trennung von Staat <strong>und</strong> Kirche sowie<br />
die Einstellung aller Staatszuschüsse für<br />
die Kirche zum 1. April 1919 8 . Damit initiierte<br />
er eine hektische Betriebsamkeit in den kirchlichen<br />
Gremien. Zehn Tage später, am 26.11.<br />
1918 tagte in Barmen-Gemarke eine neuernannte<br />
Kommission zur Kirchenfrage, die<br />
sich ausschließlich mit der Frage der Neuordnung<br />
der kirchlichen Verhältnisse <strong>und</strong> anfangs<br />
vor allem mit der Trennung von Staat <strong>und</strong> Kirche<br />
beschäftigte 9 . Bis zum 9.5.1919 tagte das<br />
Gremium insgesamt 13 mal, im Dezember sogar<br />
wöchentlich.<br />
Das erste Protokoll weist in einer willkürlichen<br />
Aneinanderreihung drei Punkte auf:<br />
„Aufklärung“, „nichts übereilen“ <strong>und</strong> „Zusammenschluss<br />
mit den Elberfelder Gemeinden“.<br />
Ein propagandistischer Feldzug schien den Gemarkern<br />
das geeignete Mittel zu sein, den ersten<br />
Punkt in Angriff zu nehmen. In Gemeindeversammlungen<br />
wurde aufgeklärt <strong>und</strong> für eine<br />
Kampagne geworben, um sich in breiter Front<br />
gegen eine Trennung von Staat <strong>und</strong> Kirche auszusprechen.<br />
„Kirchlich interessierte Persönlichkeiten“<br />
wurden aufgefordert, mit ihrer Unterschrift<br />
der Kirche ihre Loyalität <strong>und</strong> ihre<br />
Unterstützung zu erklären 10 . In den Pfarrhäusern,<br />
in den Bezirksvereinen <strong>und</strong> Kirchen lagen<br />
Listen aus: „Alle erwachsenen Gemeindeglieder,<br />
ohne Unterschied des Geschlechts,<br />
werden herzlich <strong>und</strong> dringend um das Zeugnis<br />
der Treue gebeten“ 11 . Die Diskussionen endeten<br />
überall mit dem einhelligen Ergebnis, eine<br />
100<br />
einseitige Trennung von Staat <strong>und</strong> Kirche<br />
müsse abgelehnt werden.<br />
Gestärkt durch diese Voten versuchte Gemarke<br />
mit Eingaben an den Vertrauensrat in<br />
Berlin, der die Kirchenordnung vorbereitete,<br />
Einfluss auf die Entwicklung zu gewinnen.<br />
Doch wie bei jeder kirchlichen Neuordnung<br />
befürchteten die Reformierten, dass dem reformierten<br />
„Sondergepräge“ nicht der entsprechende<br />
Raum gewährt würde 12 . Die Gefahr,<br />
dass die reformierte Stimme nicht ausreichend<br />
gewürdigt würde, wurde so hoch eingeschätzt,<br />
dass es immer wieder zu verschiedenen Gedankenspielen<br />
kam <strong>und</strong> Alternativen diskutiert<br />
wurden 13 bis hin zu der Überlegung, sich aus<br />
dem synodalen <strong>und</strong> landeskirchlichen Verband<br />
zu lösen <strong>und</strong> den Weg in eine Freikirche zu suchen<br />
14 .<br />
Die Widerstände im ganzen Deutschen<br />
Reich gegen Hoffmanns antikirchliche Politik<br />
führten zu dessen Absetzung. Damit war die<br />
Trennung von Staat <strong>und</strong> Kirche obsolet. Nun<br />
wandten sich die kirchlichen Gremien den Detailproblemen<br />
einer kirchlichen Neuordnung<br />
zu. In der Weimarer Verfassung waren zwei<br />
gravierende Neuerungen verankert, die in die<br />
Kirchenordnung übernommen werden müssten,<br />
das Mehrheits- <strong>und</strong> das Frauenwahlrecht.<br />
Die Frage des Mehrheitswahlrechts wurde<br />
nicht als brennend empf<strong>und</strong>en. Die Diskussion<br />
darüber begann in der RKZ erst, nachdem die<br />
Meinungsbildung über das staatliche <strong>und</strong><br />
kirchliche Frauenwahlrecht abgeschlossen war.<br />
Das staatliche Frauenwahlrecht<br />
Die Auseinandersetzung um eine Beteiligung<br />
der Frauen in Staat <strong>und</strong> Kirche war nicht<br />
neu. Bis 1918 lehnte der weitaus größte Teil der<br />
Kirche jede Form der Mitbestimmung von<br />
Frauen in Gesellschaft <strong>und</strong> Kirche definitiv ab.<br />
Eine Mitarbeit in politischen Gremien war<br />
r<strong>und</strong>weg <strong>und</strong>enkbar <strong>und</strong> für die Mitarbeit der<br />
Frauen in der Kirche galt, evangelische Frauen<br />
<strong>und</strong> Jungfrauen für alle die Arbeiten zu sammeln,<br />
„welche weibliche Hände <strong>und</strong> Herzen<br />
zum Wohle der evangelischen Gemeinde in<br />
Angriff zu nehmen berufen sein können“ 15 .
Derartige Ziele vertrugen sich nicht mit der<br />
‚männlichen‘ Wahrnehmung einer wie immer<br />
gearteten Mitsprache.<br />
Doch nun, mit der politischen Neuordnung<br />
der Weimarer Republik wurde auch das in der<br />
Vorkriegszeit heißumkämpfte Thema, das abgelehnte<br />
Frauenwahlrecht, Realität. Es wurden<br />
zwar weiterhin die früheren ablehnenden Argumente<br />
gegen eine Mitbestimmung der Frau<br />
geäußert, dennoch wuchs auch bei den Männern<br />
die Erkenntnis, dass mit dem politischen<br />
Wahlrecht 16 neue Möglichkeiten der Beteiligung<br />
<strong>und</strong> Einflussnahme mit Hilfe der Frauen<br />
gegeben waren. Wahlrecht wurde nunmehr als<br />
Wahlpflicht deklariert. Auch Hermann Albert<br />
Hesses reformierte Stimme äußerte sich dazu:<br />
„Die Frauen sind berufen, über diejenigen<br />
mitzubestimmen, die über Deutschlands Wohl<br />
<strong>und</strong> Wehe entscheiden, die unser <strong>und</strong> unserer<br />
Kinder Los in der Hand haben. Darum evangelische<br />
Frauen <strong>und</strong> Mädchen, rüstet euch, sucht<br />
euch zu unterrichten über die Lage, lernt die<br />
Programme der politischen Parteien kennen.<br />
[…] Ob ihr das Stimmrecht gewünscht habt<br />
oder nicht, ob es euch Glück bedeutet oder<br />
Last, jetzt ist es eure Pflicht, es auszuüben,<br />
wenn ihr euer Vaterland liebt, wenn euch eurer<br />
Kinder Zukunft am Herzen liegt.“ 17<br />
Zu diesem Zeitpunkt – im Januar 1919 –<br />
bestanden in bezug auf das politische Wahlrecht<br />
zwischen den einzelnen kirchlichen<br />
Richtungen kaum Meinungsdifferenzen. Die<br />
Mobilisierung der Frauen mit dem Ziel, die Bestandssicherung<br />
der Kirche <strong>und</strong> die Verteidigung<br />
der christlichen Werte durch eine Stärkung<br />
der christlich-konservativen Parteien zu<br />
erreichen, hatte insoweit Erfolg, als die Wahlen<br />
zur Nationalversammlung <strong>und</strong> zur preußischen<br />
Landesversammlung den Parteien DNVP <strong>und</strong><br />
DVP sowie dem Zentrum einen Überschuss an<br />
Frauenstimmen bescherte im Gegensatz zu den<br />
sozialdemokratischen Parteien 18 . Doch mit der<br />
Einführung des staatlichen <strong>und</strong> kommunalen<br />
Wahlrechts für Frauen <strong>und</strong> Männer 19 kam die<br />
Kirche in Zugzwang. Wie sollte sie den Frauen<br />
im kirchlichen Bereich etwas verweigern, was<br />
der Staat ihnen zugebilligt hatte?<br />
Kirchliches Frauenwahlrecht<br />
Die Debatte um das kirchliche Frauenwahlrecht<br />
wurde auf allen Ebenen geführt, in den<br />
kirchlichen Gremien ebenso wie in der kirchlichen<br />
Presse. Dabei stand die Interpretation des<br />
paulinischen Zitats: „Das Weib schweige in der<br />
Gemeinde“ (mulier taceat in ecclesia) 20 im<br />
Mittelpunkt.<br />
Den konservativen Gegnern, die ein Katastrophenszenarium<br />
mit dem Untergang der<br />
Kirche entwarfen, standen moderate Befürworter<br />
gegenüber, die in einer Differenzierung von<br />
aktivem <strong>und</strong> passivem Wahlrecht einen Kompromiss<br />
sahen. Ein Stimmzettel in Frauenhand<br />
war an sich schon eine problematische Aktion<br />
ohne paulinische Rechtfertigung, doch die weitere<br />
Vorstellung, mit dem passiven Wahlrecht<br />
Frauen in den Gemeindegremien als gewählte<br />
Mitglieder beteiligen zu müssen, löste bei vielen<br />
Männern Ängste aus, wie auch Frauen dies<br />
als „Danaergeschenk“ ablehnten. Uneingeschränkt<br />
befürwortende Stimmen wie im<br />
Deutsch-Evangelischen Frauenb<strong>und</strong>, der schon<br />
seit Jahren für eine politische <strong>und</strong> kirchliche<br />
Beteiligung der Frauen kämpfte 21 , waren einsame<br />
Rufer in der Wuppertaler Szene. Doch<br />
die Atmosphäre veränderte sich, die Frauen<br />
wurden nun gehört. Sie erhielten Raum für ihre<br />
Meinung. So ist es nicht erstaunlich, dass sich<br />
gerade Emma Frowein 22 , Mitglied im Deutsch-<br />
Evangelischen Frauenb<strong>und</strong>, mit „Gedanken<br />
über Frauenstimmrecht <strong>und</strong> Frauenmitarbeit in<br />
der Gemeinde“ zu Wort meldete. Dieser viel<br />
beachtete Artikel löste in den folgenden Wochen<br />
vielschichtige Reaktionen in der RKZ<br />
aus:<br />
Für die theologische Interpretation der<br />
Textstelle – „mulier taceat in ecclesia“ – führte<br />
Emma Frowein als Kronzeugen die beiden<br />
größten Reformatoren, Johannes Calvin <strong>und</strong><br />
Martin Luther, auf, die beide das Schweigen<br />
der Frau nur auf das Predigtamt beschränkt hätten.<br />
Für ein Eintreten der Frau in der Gemeindevertretung<br />
<strong>und</strong> dem Presbyterium finde sich<br />
nirgendwo in der Bibel ein entsprechendes Verbot<br />
23 .<br />
Ganz pragmatisch wies sie im folgenden<br />
auf alle von den Frauen schon wahrgenomme-<br />
101
nen Aufgaben in der Gemeinde hin. Als Konsequenz<br />
dieses realistischen Bildes – Gemeindearbeit<br />
werde fast ausschließlich von den Frauen<br />
geleistet, wohingegen die Entscheidungsbefugnis<br />
in den Händen der Männer liege – forderte<br />
sie eine Mitarbeit bzw. eine Wählbarkeit der<br />
Frauen in die entscheidenden Gremien der Kirche,<br />
denn die Frauen seien als Stützen der Gemeinde<br />
besonders berechtigt, auch die volle<br />
Verantwortung mitzutragen 24 . Ahnend, dass bei<br />
einer Wahl wenige Frauen die Hürde in einen<br />
kirchlichen Ausschuss schaffen würden, schlug<br />
sie vor, man möge „dem Presbyterium sofort<br />
eine Anzahl Frauen beiordnen zur Mitleitung<br />
der kirchlichen Einrichtungen“ 25 .<br />
In Gegendarstellungen mit Titeln wie:<br />
„Frauendienst in der Gemeinde“, „Gedanken<br />
über Frauenstimmrecht <strong>und</strong> Frauenmitarbeit in<br />
der Gemeinde“ 26 , „Ein Wort gegen das Frauenwahlrecht“<br />
27 , „Das kirchliche Frauenwahlrecht<br />
<strong>und</strong> die Frauen“ 28 , „Des Mannes Gehilfin“ 29<br />
setzten sich die männlichen Autoren mit Emma<br />
Froweins Artikel auseinander. Beide, die theologische<br />
sowie auch die faktische Argumentationsebene<br />
wurden kritisiert: Paulus habe an Timotheus<br />
(1, 2, 12–14) geschrieben, er erlaube<br />
einer Frau nicht zu lehren <strong>und</strong> auch nicht den<br />
Mann zu regieren; aus der Rangfolge – Adam<br />
sei schließlich vor Eva gebildet worden – resultiere<br />
eine primäre Position; große Theologen<br />
wie Adolf Schlatter wurden bemüht; Calvin interpretiert,<br />
die Interpretation der Textstellen sei<br />
eindeutig zu kurz gegriffen usw. Der praktischen<br />
Auslegung, denjenigen, die die Arbeit erledigen,<br />
auch Mitsprache einzuräumen, wurde<br />
die Andersartigkeit der Frau entgegengehalten 30 .<br />
Dass die Natur Frauen andere Aufgaben zuweise,<br />
war ein Argument, dem sich auch viele<br />
Frauen anschlossen <strong>und</strong> somit in das Konzert<br />
der Gegner einstimmten. Eine der ersten Kirchen,<br />
die den Frauen uneingeschränktes Wahlrecht<br />
einräumte, war die württembergische<br />
Landeskirche. Psychologisch geschickt brachte<br />
D. Hermann Albert Hesse die Erklärung einer<br />
„einfachen Frau“, wie die Schreiberin sich untertreibend<br />
selbst nannte, die in einem ausführlichen<br />
Artikel „Das kirchliche Wahlrecht ein<br />
Geschenk für die Frau?“ diese Gabe der Männer<br />
dankend ablehnte, <strong>und</strong> damit schloss, dass<br />
102<br />
sie „denjenigen Vertretern der Kirche in der<br />
Landessynode warmen herzlichen Dank<br />
[sage], die in ritterlicher Weise unsere Eigenart<br />
erkannt <strong>und</strong> versucht haben, uns zu schützen,<br />
indem sie uns unter das Apostelwort stellten:<br />
das Weib schweige in der Gemeinde.“ 31<br />
Neben diesen breit diskutierten Erklärungsversuchen<br />
tauchte immer wieder die Warnung<br />
auf, dass mit der Übernahme des demokratischen<br />
Wahlrechts die Revolution in die Kirche<br />
getragen werde 32 .<br />
Mit einem solch teilweise kontroversen Erkenntnisstand<br />
diskutierten im Juni 1919 die<br />
Männer auf den Kreissynoden in Elberfeld <strong>und</strong><br />
Barmen den Entwurf der Rheinischen Kirchenordnung.<br />
Noch einmal wurde die Ablehnung<br />
einer Mitbestimmung der Frauen <strong>und</strong> die große<br />
Skepsis gegenüber dem Verhältniswahlrecht<br />
geäußert. In Barmen lieferte Gemarke das<br />
Konzept, dem sich die Synode insgesamt anschloss:<br />
Sie waren bereit, die Mitwirkung der<br />
Frauen in der größeren Gemeindevertretung zu<br />
dulden, desgleichen wurde eine Mitarbeit der<br />
Frauen in den verschiedenen vom Presbyterium<br />
eingesetzten Arbeitsausschüssen als sinnvoll<br />
angesehen 33 , aber im „Presbyterium <strong>und</strong><br />
auch in den höheren Verwaltungskörpern<br />
möchte Gemarke die Frauen als Mitglieder<br />
nicht sehen“ 34 . Außerdem forderten die Gemeindevertreter,<br />
die Entscheidung über Annahme<br />
oder Ablehnung des neuen Wahlrechts<br />
müsse der einzelnen Gemeinde überlassen<br />
bleiben, denn – nun folgte eine unmissverständliche<br />
Drohung – Gemarke lege Wert darauf,<br />
„im Zusammenhang der Landeskirche zu<br />
bleiben“ 35 , d.h. im anderen Fall überlege sich<br />
die Gemeinde den Austritt aus der Landeskirche.<br />
In Elberfeld führte der scharfe Protest der<br />
reformierten Gemeinde Cronenberg – „Die<br />
Annahme des Frauenstimmrechts gehe schnurstracks<br />
gegen das klare Wort Gottes“ – zu<br />
einem Verweis durch den Superintendenten 36 .<br />
Auch die reformierte Gemeinde Elberfeld versuchte<br />
mit einem Antrag – die Einführung<br />
müsse freigestellt werden – den Neuerungen zu<br />
entkommen 37 .<br />
Trotz aller Widerstände wurde das Frauenwahlrecht<br />
auf der Rheinischen Provinzial-
synode im Oktober 1919 mit 90 gegen 34 Stimmen<br />
angenommen 38 , womit die Frauen schon<br />
für die 1921 anstehende Wahl zur außerordentlichen<br />
Kirchenversammlung das allgemeine<br />
Wahlrecht ausüben konnten, das in der am<br />
1.9.1923 in Kraft tretenden Kirchenordnung<br />
dann endgültig verankert wurde 39 . Trotz der<br />
Drohungen blieben die Gemeinden, die mit<br />
Austritt gedroht hatten, in der Landeskirche.<br />
Kirchliche Wahl 1921<br />
Die Zulassung zur Wahl beschränkte sich<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich auf diejenigen, die in der Wählerliste<br />
ihrer Gemeinde eingetragen waren oder<br />
sich die Mühe machten, sich eintragen zu<br />
lassen. In die Wahlliste wurden die Personen<br />
aufgenommen, die sich nach einer Zuverlässigkeitsprüfung<br />
durch einen Presbyter als kirchen<strong>und</strong><br />
gemeindetreu erwiesen hatten.<br />
Trotz dieser Barriere gingen am 7.2.1921 in<br />
Gemarke 19,12 % der 25.000 Gemeindeglieder<br />
zur Wahl, mit einer deutlich höheren Beteiligung<br />
der Frauen. In die Liste hatten sich 2.902<br />
Männer <strong>und</strong> 3.579 Frauen eintragen lassen.<br />
Davon hatten 1.900 Männer ihr Wahlrecht<br />
wahrgenommen, aber 2.669 Frauen d.h.<br />
72,59% 40 .<br />
Die in vielen Gemeinden üblichen Einheitslisten,<br />
die den verschiedenen Richtungen<br />
Rechnung trugen, lehnte Gemarke ab, stattdessen<br />
wurde hier eine „Charakterliste“ aufgestellt,<br />
die „keine irgendwie gegnerischen Kandidaten“<br />
<strong>und</strong> auch „keine Frauen“ enthielt 41 .<br />
So sind weder bei dieser noch bei den folgenden<br />
Wahlen bis 1968 in Gemarke Frauen<br />
ins Presbyterium gerufen worden. In der größeren<br />
Gemeindevertretung, von den jeweils 60<br />
Gemeindeverordneten, fehlte in den zwanziger<br />
Jahren in Gemarke die Weiblichkeit vollständig<br />
42 . Noch 1929 erklärte Karl Immer auf der<br />
Kreissynode von Barmen, dass die Beteiligung<br />
der Frauen an der Leitung der Gemeinde eine<br />
Krankheit der Zeit sei.<br />
„Die Aufgaben der Frauen liegen auf anderem<br />
Gebiet. Solange Gott unserer Gemeinde<br />
Männer nach seinem Herzen erweckt, liegt<br />
kein Gr<strong>und</strong> vor, die Frau nach Art der Welt an<br />
die Öffentlichkeit dieser Welt zu zerren.“ 43<br />
Der Weg war lang <strong>und</strong> steinig, bis 1968 in<br />
Gemarke die erste Frau in das Presbyterium<br />
einziehen konnte.<br />
Anmerkungen:<br />
1 Barmer Sonntagsblatt vom 27.1.1919.<br />
2 Werth, Adolf; Lauffs, Adolf: Geschichte der<br />
Evangelisch-Reformierten Gemeinde Barmen –<br />
Gemarke 1702–1927. Barmen – Gemarke o.J.<br />
[1927], S. 496.<br />
3 Barmer Sonntagsblatt vom 27.1.1919.<br />
4 Ebd.<br />
5 RKZ Nr. 43 vom 20.10.1918, S. 179.<br />
6 RKZ Nr. 2 vom 12.1.1919, S. 12.<br />
7 RKZ Nr. 32 vom 7.8.1921, S. 189. Auch im<br />
April 1933 begrüßte der reformierte Theologe<br />
Otto Weber (1928–1933 Dozent der Theologischen<br />
Schule in Elberfeld) freudig die nationale<br />
Revolution <strong>und</strong> distanzierte sich gleichzeitig<br />
von einer möglichen Parallele zwischen dem<br />
presbyterialen System <strong>und</strong> den demokratischen<br />
Strukturen. Vgl. dazu Lekebusch, Sigrid: Die<br />
Reformierten im Kirchenkampf. Das Ringen<br />
des Reformierten B<strong>und</strong>es, des Coetus reformierter<br />
Prediger <strong>und</strong> der reformierten Landeskirche<br />
Hannover um den reformierten Weg in<br />
der Reichskirche. SVRKG 113, Köln 1994,<br />
S. 35 f.; zu Otto Weber: Bülow, Vicco von: Otto<br />
Weber (1902–1966). Reformierter Theologe<br />
<strong>und</strong> Kirchenpolitiker. AKZ Reihe B, Bd. 34.<br />
Göttingen 1999.<br />
8 Vgl. dazu u.a. Nowak, Kurt, Evangelische Kirche<br />
<strong>und</strong> Weimarer Republik. Zum politischen<br />
Weg des deutschen Protestantismus zwischen<br />
1918 <strong>und</strong> 1932. Göttingen 1981, S. 23.<br />
9 Protokolle der „Verhandlungen der Kommission<br />
zur Kirchenfrage in der Gemarker Gemeinde“,<br />
KKA Barmen.<br />
10 Verhandlungen der Kommission zur Kirchenfrage<br />
in der Gemarker Gemeinde, Protokoll vom<br />
6.12.1918, KKA Barmen; RKZ Nr. 6, vom<br />
9.2.1919, S.33.<br />
11 RKZ Nr. 6 vom 9.2.1919, S. 33.<br />
12 In den zwanziger <strong>und</strong> dreißiger Jahren standen<br />
den 40.200.000 Lutheranern <strong>und</strong> Unierten<br />
380.000 Reformierte in der reformierten Landeskirche<br />
Hannover <strong>und</strong> der reformierten lippischen<br />
Landeskirche gegenüber. Hinzu kamen<br />
noch 26 reformierte Gemeinden in den konfes-<br />
103
sionell gemischten bzw. unierten Kirchengebieten<br />
wie dem Rheinland <strong>und</strong> Westfalen u.a. Der<br />
Anteil der Reformierten im Deutschen Reich<br />
betrug somit etwa 1%. (Vgl. dazu Bekenntnisstand<br />
nach einer Umfrage, EZA 50/13; Umlageberechnung<br />
für die Jahre 1931–1933, ebd.<br />
7/4091). Im Laufe der Jahrh<strong>und</strong>erte hatten die<br />
Reformierten immer wieder vehement ihren Bekenntnisstand<br />
gegen diese Übermacht verteidigt.<br />
13 Verhandlungen der Kommission zur Kirchenfrage<br />
in der Gemarker Gemeinde, Protokoll vom<br />
12.12.1918, KKA Barmen.<br />
14 Ebd. Protokoll vom 7.2.1919.<br />
15 Frauenhülfe 1 (1912), abgedr. bei Kaiser, Jochen-Christoph:<br />
Frauen in der Kirche. Evangelische<br />
Frauenverbände im Spannungsfeld von<br />
Kirche <strong>und</strong> Gesellschaft 1890–1945. Quellen<br />
<strong>und</strong> Materialien. hg.v. Annette Kuhn. Düsseldorf<br />
1985 (Geschichtsdidaktik: Studien Materialien<br />
Bd. 27) S. 55 ff.<br />
16 Zum politischen Frauenwahlrecht vgl. Baumann,<br />
Ursula: Protestantismus <strong>und</strong> Frauenemanzipation<br />
in Deutschland. 1850 bis 1920.<br />
Reihe: Geschichte <strong>und</strong> Geschlechter. Hg. v. Gisela<br />
Bock, Karin Hausen <strong>und</strong> Heide W<strong>und</strong>er,<br />
Bd. 2. Frankfurt/New York 1992, S. 195 ff;<br />
Bremme, Gabriele: Die politische Rolle der Frau<br />
in Deutschland. Eine Untersuchung über den<br />
Einfluss der Frauen bei Wahlen <strong>und</strong> ihre Teilnahme<br />
in Partei <strong>und</strong> Parlament. Göttingen 1956.<br />
17 RKZ Nr. 1, 5.1.1919, S. 6 f.<br />
18 Vgl. dazu die Wahlanalyse bei Bockermann,<br />
Dirk: „Wir haben in der Kirche keine Revolution<br />
erlebt“. Der kirchliche Protestantismus in<br />
Rheinland <strong>und</strong> Westfalen 1918/1919. SVRKG<br />
129, Köln 1998, S. 127.<br />
19 Am 11.8.1919 wurde die Verfassung des Deutschen<br />
Reiches verabschiedet.<br />
20 Die entsprechende Textstelle 1. Kor. 14, 34–35<br />
lautet: „Wie in allen Gemeinden der Heiligen<br />
lasset die Frauen schweigen in der Gemeinde;<br />
denn es soll ihnen nicht zugelassen werden, daß<br />
sie reden, sondern sie sollen sich unterordnen,<br />
wie auch das Gesetz sagt. Wollen sie etwas lernen,<br />
so lasset sie daheim ihre Männer fragen. Es<br />
steht der Frau übel an, in der Gemeinde zu<br />
reden.“<br />
21 Vgl. dazu u.a. Lekebusch, Sigrid, Die Evangelische<br />
Frauenhilfe im Rheinland <strong>und</strong> der Deutsch-<br />
Evangelische Frauenb<strong>und</strong>. Ein Vergleich von<br />
Aufbau, Zielvorstellung <strong>und</strong> Frauenbild in der<br />
Weimarer Republik. In: Monatshefte für Evan-<br />
104<br />
gelische Kirchengeschichte des Rheinlandes<br />
2001. Köln. S. 141–174.<br />
22 Emma Frowein (21.7.1874–16.3.1936), verheiratet<br />
mit Rudolf Frowein, Kirchmeister der reformierten<br />
Gemeinde Elberfeld, wurde später in<br />
das Presbyterium der reformierten Gemeinde<br />
gewählt. Das Datum war leider nicht rekonstruierbar.<br />
Diese Hinweise verdanke ich Dr. Uwe<br />
Eckardt, Leiter des Stadtarchivs,<br />
23 RKZ Nr. 8, 23.2.1919, S. 48.<br />
24 Ebd.<br />
25 Ebd., S. 49.<br />
26 RKZ Nr. 9 vom 2.3.1919.<br />
27 RKZ Nr. 13 vom 30.3.1919.<br />
28 RKZ Nr. 16 vom 20.4.1919.<br />
29 RKZ Nr. 20 vom 18.5.1919.<br />
30 Vgl. dazu die obigen Textstellen.<br />
31 RKZ Nr. 9, 2.3.1919, S. 57 f.<br />
32 Diesen ‚Geburtsfehler‘ ist das Frauenwahlrecht<br />
nicht wieder losgeworden. Als 1945 wieder über<br />
eine neue Kirchenordnung beraten wurde, sollte<br />
das passive Frauenwahlrecht nicht mehr verankert<br />
werden, da es 1918 auf den unbiblischen<br />
Einbruch demokratischen Gedankenguts zurückzuführen<br />
sei. Die Aufnahme des entsprechenden<br />
Passus scheiterte an dem Protest der<br />
drei weiblichen Synodalen, unterstützt von Otto<br />
Ohl, dem Leiter der Inneren Mission., vgl. dazu<br />
Norden, Günther van; Faulenbach, Heiner: Die<br />
Entstehung der Evangelischen Kirche im Rheinland<br />
in der Nachkriegszeit. Köln 1998 (SVRKG<br />
134) S. 67.<br />
33 Verhandlungen der Kreissynode Barmen vom<br />
26. Juni 1919, S. 33.<br />
34 Verhandlungen der Kreissynode Barmen vom<br />
26. Juni 1919, S, 32. Gemarke stand mit dieser<br />
Drohung nicht allein da. Mit einem Schreiben<br />
des „B<strong>und</strong>es bekenntnistreuer Gemeinden“ wird<br />
1920 die 16. rheinische Provinzialsynode auf<br />
den möglichen Austritt dieser Gemeinden hingewiesen,<br />
vgl. Kordula Schlösser-Kost: Evangelische<br />
Kirche <strong>und</strong> soziale Fragen 1918–1933.<br />
Die Wahrnehmung sozialer Verantwortung<br />
durch die rheinische Provinzialkirche. Köln<br />
1996, SVRKG 120, S. 278.<br />
35 Verhandlungen der Kreissynode Barmen vom<br />
26. Juni 1919, S. 32.<br />
36 Verhandlungen der Kreissynode Elberfeld vom<br />
22. Juni 1919, 33.<br />
37 Ebd.<br />
38 Verhandlungen der Kreissynode Elberfeld vom<br />
29.6.1920, S. 23.<br />
39 Die Verfassungsurk<strong>und</strong>e für die altpreußische
Union vom 29. September 1923 wurde am<br />
2. Mai 1924 durch den Landeskirchenrat verkündet<br />
<strong>und</strong> die neue Kirchenordnung für das<br />
Rheinland <strong>und</strong> Westfalen am 1.10.1924 verabschiedet.<br />
40 Wahlergebnisse abgedr. in: Verhandlungen der<br />
Kreissynode Barmen vom 23. Juni 1921, S. 3.<br />
Von der Kreissynode Elberfeld liegen keine Ergebnisse<br />
vor.<br />
Renate Jäckle<br />
41 Werth, Adolf; Lauffs, Adolf: Geschichte der<br />
Evangelisch-Reformierten Gemeinde Barmen –<br />
Gemarke 1702–1927. Barmen – Gemarke o.J.<br />
[1927], S. 496.<br />
42 Verhandlungen der Kreissynode Barmen von<br />
1926, S. 18 f.<br />
43 Verhandlungen der Kreissynode von Barmen<br />
1929.<br />
In dubio pro libertate!<br />
Mosaiksteinchen aus dem Leben des Barmer Beigeordneten <strong>und</strong><br />
Wuppertaler Stadtkämmerers Dr. Wilhelm Bragard (1887–1963) *<br />
Wilhelm Bragard 1 wurde am 25. Juni 1887<br />
in Raeren (Kreis Eupen) geboren. 2 Sein Vater<br />
war der 1852 ebenfalls in Raeren geborene<br />
Bauunternehmer Johann Bragard; auch seine<br />
Dr. Wilhelm Bragard, ca. 1960 – Foto: Verfasserin<br />
1853 geborene Mutter Anna Maria Bragard,<br />
geb. Kalff stammte von dort. Die Großeltern<br />
väterlicher- <strong>und</strong> mütterlicherseits waren Landwirte<br />
in Raeren. Wilhelm Bragard wuchs in einer<br />
wahrlich kinderreichen Familie auf. Seine<br />
Eltern hatten 1881 geheiratet <strong>und</strong> zogen Ende<br />
der 80er Jahre nach Aachen. Anna Maria Bragard<br />
brachte zwischen 1882 <strong>und</strong> 1899 dreizehn<br />
Kinder zur Welt. Zwei davon, ein 1891 <strong>und</strong> ein<br />
1895 geborenes Töchterchen, starben bereits<br />
im ersten Jahr nach der Geburt. Das Ehepaar<br />
Bragard hatte also im wilhelminischen Kaiserreich<br />
elf Kinder großzuziehen, sieben Söhne<br />
<strong>und</strong> vier Töchter.<br />
Studium, Erster Weltkrieg<br />
Wilhelm Bragard besuchte das Kaiser-<br />
Karls-Gymnasium in Aachen <strong>und</strong> erhielt dort<br />
1907 das Reifezeugnis. Von 1907 bis 1910 studierte<br />
er Rechts- <strong>und</strong> Staatswissenschaften an<br />
den Universitäten Straßburg, München <strong>und</strong><br />
Berlin. Am 16. Juli 1910 bestand er die Referendarprüfung<br />
am Kammergericht in Berlin<br />
(mit Prädikat Gut). Anschließend war er bis<br />
1914 Referendar im Oberlandesgerichtsbezirk<br />
Köln. Durch Patent vom 16. März 1915 wurde<br />
er nach großer (in Berlin ebenfalls mit Prädikat<br />
Gut bestandener) Staatsprüfung zum Gerichtsassessor<br />
ernannt. 3<br />
105
Etwa gleichzeitig erlangte Wilhelm Bragard<br />
den juristischen Doktortitel. Das Thema<br />
seiner in dunkelgrünem Leinenumschlag fest<br />
geb<strong>und</strong>enen Dissertation 4 lautete: Darf die Polizei<br />
Auskunft verlangen? Als Motto stellte der<br />
28jährige Gerichtsassessor seinen Ausführungen<br />
voran: In dubio pro libertate! Im Zweifel<br />
für die Freiheit! Fettgedruckt, mit Ausrufezeichen,<br />
auf einer ansonsten völlig leeren Seite.<br />
Mitten im Ersten Weltkrieg. In einer Zeit, in<br />
der Deutschland noch einen Kaiser hatte – <strong>und</strong><br />
Bürger Untertanen waren.<br />
Die Doktorarbeit umfasste 93 Seiten <strong>und</strong><br />
19 (mit kleinen „§“ versehene) Kapitel. § 2 war<br />
überschrieben: Gesetzliche Gr<strong>und</strong>lagen der<br />
Polizeigewalt <strong>und</strong> begann so: Der moderne<br />
Staat ist ein Rechtsstaat. Die Befugnisse der<br />
Verwaltung gegenüber dem Untertan sind<br />
durch das Gesetz fest begrenzt. Ein Eingriff in<br />
die Freiheit des Untertanen darf im Rechtsstaat<br />
nicht deshalb geschehen, weil die Erfüllung<br />
der Staatsaufgaben ihn fordert, sondern nur,<br />
weil <strong>und</strong> soweit das Gesetz den Eingriff gestattet;<br />
die Befugnis des Staates, von jemand ein<br />
Tun oder Unterlassen zu fordern, muß durch einen<br />
Rechtssatz anerkannt sein. Dadurch ist<br />
dem Untertan eine Sphäre gesichert, in welche<br />
die Verwaltung nicht eingreifen darf.<br />
Auf der letzten Seite resümierte Wilhelm<br />
Bragard seine Arbeit knapp in drei Thesen. Die<br />
erste These lautete: Der Bürger ist nicht verpflichtet,<br />
sich einer staatlichen Maßnahme zu<br />
unterwerfen, weil diese durch das Staatsinteresse<br />
geboten ist, sondern nur, weil <strong>und</strong> insoweit<br />
das Gesetz sie zuläßt. Die zweite These stellte<br />
in etwas gew<strong>und</strong>enem Juristendeutsch fest,<br />
dass der Polizei kein Recht auf Erteilung von<br />
Auskunft gegenüber jedermann zustehe, sondern<br />
dass nur der, der polizeilich haftbar wäre,<br />
ihr gegenüber auskunftspflichtig sei. Dies aber<br />
betreffe nur den Störer. Die dritte These besagte,<br />
dass der Kriminalpolizei gegenüber weder<br />
eine Aussage- noch eine Erscheinungspflicht<br />
bestehe, weder nach Reichs- noch nach<br />
Landesrecht, weder von Seiten des Beschuldigten,<br />
noch von Seiten des Zeugen.<br />
Mit dieser Arbeit wurde Wilhelm Bragard<br />
cum laude Doktor. Nach seinem Prädikatsexamen<br />
wurde er sogleich als Assessor ins<br />
106<br />
Preußische Justizministerium berufen 5 , unmittelbar<br />
anschließend aber, im April 1915, zum<br />
Feld-Artillerie-Regiment Prinz August v.<br />
Preußen Nr. 1 in Königsberg eingezogen. Bis<br />
1918 musste er nun am ersten mörderischen<br />
Krieg in seinem Leben teilnehmen, zunächst<br />
als Kanonier, zuletzt als Leutnant d. R. <strong>und</strong><br />
Batteriechef. Als Kriegsauszeichnungen erhielt<br />
er das Eiserne Kreuz 1. <strong>und</strong> 2. Klasse sowie das<br />
Württembergische Friedrichskreuz 2. Kl. m.<br />
Schw. Darauf jedenfalls wies Wilhelm Bragard<br />
1944, im zweiten Weltkrieg des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />
an dem er teilnehmen musste, in einem<br />
Lebenslauf hin. 6<br />
Jener kategorische Imperativ<br />
der Pflichterfüllung<br />
Im November 1918 war der Erste Weltkrieg<br />
zu Ende. Kaiser Wilhelm II. verzichtete auf den<br />
Thron <strong>und</strong> ging ins holländische Exil; Philipp<br />
Scheidemann rief die Republik aus; der Waffenstillstand<br />
wurde verkündet. Im Dezember<br />
1918 fragte der Leutnant d. R. <strong>und</strong> Gerichtsassessor<br />
Dr. jur. Wilhelm Bragard unangemeldet<br />
im Barmer Rathaus an, ob dort vielleicht ein<br />
Jurist benötigt werde. Oberbürgermeister Dr.<br />
Hartmann schilderte seine erste Begegnung<br />
mit dem Stellensuchenden ein knappes Jahr<br />
später in einer Barmer Stadtverordnetenversammlung:<br />
Ich erinnere mich noch, wie Sie eines<br />
Sonnabends im Dezember 1918 als ein<br />
gänzlich Unbekannter ins Rathaus hineingeschneit<br />
kamen <strong>und</strong> bei mir um Arbeit anfragten,<br />
wie Sie dann bereits am Montag darauf hier an<br />
der Arbeit saßen <strong>und</strong> immer mehr in die Verwaltungsarbeit<br />
hineingezogen wurden. 7<br />
Eigentlich war Wilhelm Bragard zu diesem<br />
Zeitpunkt immer noch Assessor im Preußischen<br />
Justizministerium. Nach Barmen hatte es<br />
ihn geführt, weil dort seine zukünftige Frau<br />
lebte. Am 30. Mai 1919 ließen sich der katholische<br />
Dr. jur. Wilhelm Bragard <strong>und</strong> die evangelisch-lutherische,<br />
am 1. Juni 1896 in Ruppichteroth<br />
geborene Elfriede Willach standesamtlich<br />
in Barmen trauen (obwohl der streng katholische<br />
Vater Wilhelm Bragards die Heirat<br />
seines Sohnes mit einer evangelischen Frau
wohl heftig mißbilligt hatte. Die kirchliche katholische<br />
Trauung fand erst am 14. August<br />
1924 statt, ebenfalls in Barmen, in der Kirche<br />
St. Antonius 8 ).<br />
Wilhelm Bragard hatte in der Barmer Stadtverwaltung<br />
im Dezember 1918 zunächst als<br />
unbesoldeter Hilfsarbeiter begonnen, dann<br />
wurde er besoldeter Stadtassessor. 9 Am 30. August<br />
1919 bat er den Barmer Oberbürgermeister<br />
in einem Brief, mich als Beigeordneten zur<br />
Wahl zu stellen. (…) Seit Januar führe ich ununterbrochen<br />
die Geschäfte eines Beigeordneten,<br />
<strong>und</strong> zwar mit wechselndem Dezernat. Als<br />
Assessor kann ich die Dienstinteressen, besonders<br />
nach außen <strong>und</strong> gegenüber amtlichen<br />
Stellen, nicht wirksam genug vertreten. (…) Ich<br />
war dreieinhalb Jahre an der Front, erst Kanonier,<br />
zuletzt Batterieführer. Ich bin viereinhalb<br />
Jahre Assessor. Meine Frau wohnt seit 14 Jahren<br />
in Barmen. Wir wohnen jetzt noch bei den<br />
Schwiegereltern. Ich stamme aus dem Aachener<br />
Bezirk <strong>und</strong> bin im 33 Lebensjahr; ich bin<br />
ges<strong>und</strong>. 10<br />
Der Bitte wurde entsprochen <strong>und</strong> am 9.<br />
September 1919 wählte die Barmer Stadtverordnetenversammlung<br />
Wilhelm Bragard zum<br />
besoldeten Beigeordneten. Das Protokoll 11 vermerkte<br />
vor der Wahl eine kurze Erklärung des<br />
Stadtverordneten Paul Sauerbrey: Wir können<br />
Herrn Dr. Bragard unsere Stimme nicht geben,<br />
<strong>und</strong> zwar aus gr<strong>und</strong>sätzlichen Erwägungen<br />
heraus. Wir sind der Überzeugung, daß das<br />
bürgerliche Element in der Stadtverwaltung<br />
viel zu stark vertreten ist, <strong>und</strong> daß die Stadtverwaltung,<br />
der Zeit entsprechend, durch Vertreter<br />
aus der Arbeiterklasse verstärkt werden muß.<br />
Darauf ergriff der Oberbürgermeister das Wort<br />
<strong>und</strong> schilderte kurz <strong>und</strong> prägnant den bisherigen<br />
Lebenslauf Wilhelm Bragards <strong>und</strong> die Verdienste,<br />
die sich dieser bereits in der Barmer<br />
Stadtverwaltung erworben habe. Nun erwiderte<br />
Paul Sauerbrey: Ich will nur noch erklären, daß<br />
ich gegen die Person des Herrn Dr. Bragard<br />
natürlich nichts einzuwenden <strong>und</strong> vor seinen<br />
geistigen Kenntnissen alle Achtung habe. Bei<br />
der direkt anschließenden Wahl wurden 51<br />
Stimmzettel abgegeben; 44 Stimmen für Herrn<br />
Dr. Bragard, 6 weiße Zettel <strong>und</strong>, so das Protokoll,<br />
eine Stimme zersplittert [? RJ].<br />
Anläßlich seiner Amtseinführung am 28.<br />
Oktober 1919 sprach der neugewählte Beigeordnete<br />
Dr. Wilhelm Bragard der Barmer<br />
Stadtverordnetenversammlung seinen Dank<br />
aus: Das tue ich mit um so wärmerem Gefühl,<br />
weil Ihre Wahl schon nach kurzer Lehrlingszeit<br />
auf mich gefallen ist. Im Dezember vorigen<br />
Jahres kehrte ich aus dem Felde zurück <strong>und</strong><br />
kam nach Barmen. Wie sagt der Dichter?<br />
„Errötend folgt er ihren Spuren“. Seitdem habe<br />
ich in dieser Stadt eine Heimat gef<strong>und</strong>en, nämlich<br />
ein Heim <strong>und</strong> einen Beruf. Den Beruf<br />
werde ich, das verspreche ich Ihnen allen,<br />
meine Damen <strong>und</strong> Herren, stets so ausüben,<br />
wie es die Gr<strong>und</strong>sätze der Billigkeit, des Rechtes<br />
<strong>und</strong> der Menschlichkeit verlangen. Vor allem<br />
aber will ich stets bemüht sein, die Unparteilichkeit<br />
zu wahren. Ich weiß, diese Ansicht<br />
gilt heute hie <strong>und</strong> da als etwas hausbacken.<br />
Aber ich mache sie mir bewußt zu eigen. Und<br />
zweitens verspreche ich Ihnen Herr Oberbürgermeister,<br />
<strong>und</strong> Ihnen, meine sehr verehrten<br />
Damen <strong>und</strong> Herren, daß ich stets meine Pflicht<br />
<strong>und</strong> Schuldigkeit tun werde, mit jenem kategorischen<br />
Imperativ der Pflichterfüllung, der<br />
auch in Zukunft die Gr<strong>und</strong>lage der deutschen<br />
Verwaltung bilden muß (das Protokoll vermerkt<br />
an dieser Stelle: Bravo!). Und mögen Sie<br />
dermaleinst, so viele von Ihnen dann noch dieser<br />
hohen Versammlung angehören, mir das<br />
Zeugnis nicht versagen, daß ich mein Wort gehalten<br />
<strong>und</strong> es in die Tat umgesetzt habe (ein<br />
neuerliches, protokollarisch festgehaltenes<br />
Bravo!). 12<br />
Der nach Barmen zugereiste Beigeordnete<br />
Bragard scheint sich an seinem neuen Wirkungskreis<br />
wohl gefühlt zu haben. Als im März<br />
1921 das neue Barmer Rathaus feierlich eingeweiht<br />
wurde, verfasste er für diesen Ehrentag<br />
ein Lied Senatus Populus-Que Barmensis 13 mit<br />
elf Strophen, zu singen nach der Melodie O<br />
alte Burschenherrlichkeit – <strong>und</strong> sämtliche Festtagsteilnehmer<br />
sangen begeistert 14 :<br />
Hoch ragt das Haus der Bürgerschaft,<br />
Des Tales schöne Zierde,<br />
ein echtes Zeichen deutscher Kraft<br />
in schwerer Zeiten Bürde.<br />
Wem danken wir die grosse Tat?<br />
107
Senat <strong>und</strong> dem wohlweisen Rat.<br />
Ihr Loblied will ich singen.<br />
Ihr Loblied will ich singen.<br />
Es folgten neun Strophen, <strong>und</strong> dann der<br />
Schluss:<br />
Sagt Eueren Bänckchen nun Lebwohl,<br />
Stadtmütter <strong>und</strong> Stadtväter,<br />
bringt Meister Roth des Dankes Zoll,<br />
denn seine Kunst versteht er:<br />
der hohe Saal gibt goldnen Schein,<br />
Senat <strong>und</strong> Volk schauen fre<strong>und</strong>lich drein:<br />
Stadt Barmen, sie soll leben,<br />
Stadt Barmen, sie soll leben!<br />
Nach der Städtevereinigung im Jahre 1929<br />
wurde Wilhelm Bragard am 17. Januar 1930<br />
auch von der Stadtverordnetenversammlung<br />
der neuen Großstadt Wuppertal zum besoldeten<br />
Beigeordneten gewählt, daselbst auf die gesetzliche<br />
Amtsdauer von 12 Jahren, wie es ihm<br />
am 27. Januar 1930 durch eine Urk<strong>und</strong>e des<br />
Preußischen Staatsministeriums des Innern bestätigt<br />
wurde. 15 Handschriftlich fügte Wilhelm<br />
Bragard ganz unten am Rand der Urk<strong>und</strong>e mit<br />
Bleistift ein kleines Kästchen hinzu. Darin notierte<br />
er: Einführung: 28.1.30. Ablauf der Wahlperiode<br />
= Ablauf des – 28.1.42.<br />
Die Anstellungsurk<strong>und</strong>e der Stadt Wuppertal<br />
nahm etwas Zeit in Anspruch; sie wurde am<br />
10. Januar 1931 vom Oberbürgermeister unterzeichnet.<br />
Auch darin wurde die gesetzliche<br />
Amtsdauer von 12 Jahren festgehalten <strong>und</strong> des<br />
weiteren Ausführungen zu Gr<strong>und</strong>gehalt, Ruhegehalts-<br />
<strong>und</strong> Hinterbliebenenversorgung gemacht.<br />
16<br />
Bis zum Frühjahr 1933 leitete der Wuppertaler<br />
Beigeordnete Dr. jur. Wilhelm Bragard<br />
unterschiedliche Dezernate. Summa summarum<br />
konnte er bis zu diesem Zeitpunkt, so der<br />
Wuppertaler General-Anzeiger 20 Jahre <strong>und</strong><br />
ein tausendjähriges Reich später 17 , reiche Erfahrung<br />
in beinahe allen kommunalpolitischen<br />
Ressorts der früheren Stadt Barmen wie der<br />
späteren Großgemeinde Wuppertal erwerben.<br />
So als juristischer Sachbearbeiter für das Bauwesen<br />
wie arbeitsrechtlicher Fragen [wörtlich<br />
zitiert, RJ], als Dezernent für die Polizei, Berufsfeuerwehr,<br />
Verkehrs- <strong>und</strong> Straßenwesen,<br />
108<br />
Badeanstalten <strong>und</strong> Personalfragen – um seine<br />
Hauptaufgaben zu nennen. Auch in der heftigen<br />
Auseinandersetzung um die Städtezusammenlegung<br />
fehlt er mit einer klugen Denkschrift<br />
nicht.<br />
In der Schlussphase der Weimarer Republik<br />
war Wilhelm Bragard zudem, so der General-<br />
Anzeiger weiter, Vorsitzender des staatlichen<br />
Schlichtungsausschusses für das gesamte Bergische<br />
Land (…). Nach den Gr<strong>und</strong>sätzen, zu<br />
denen er sich bei seiner Einführung als Beigeordneter<br />
bekannt hatte, übte er auch dieses<br />
nicht weniger verantwortungsreiche als gefährliche<br />
Amt aus, ohne nach rechts oder links<br />
zu sehen. Selbst ein Attentat, bei dem in den<br />
turbulenten Jahren der Massenarbeitslosigkeit<br />
zwei Dutzend Schüsse auf seine Wohnung abgegeben<br />
wurden, konnte ihn in dieser Haltung<br />
nicht irre machen, obwohl damals der Tod hart<br />
an ihm vorbeiging.<br />
Tausendjähriger Ruhestand<br />
Anfang 1933 lebte das Ehepaar Bragard<br />
mit seinen drei Kindern, der 1920 geborenen<br />
Tochter Annemarie, dem 1926 geborenen Sohn<br />
Karl <strong>und</strong> der 1928 geborenen Tochter Eva in einem<br />
gediegen-gutbürgerlichen Haus, das nach<br />
den Vorstellungen des Paares 1927 in der Hebbelstraße<br />
gebaut worden war. Die Kinder liebten<br />
insbesondere den Garten, der sich über drei<br />
Etagen am Hang hinzog. Die Gesamtkosten für<br />
Gr<strong>und</strong>stück <strong>und</strong> Bau hatten 84.500 Reichsmark<br />
betragen, die Finanzierung war 1927 mit<br />
Hypotheken von Stadtsparkasse <strong>und</strong> Stadt <strong>und</strong><br />
einer Hauszinssteuerhypothek möglich gewesen<br />
(1937 betrug die Belastung noch 46.500<br />
Reichsmark). 18<br />
Die Bragards hatten viele Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Bekannte<br />
in, wie man so schön sagt, besseren<br />
Wuppertaler Kreisen, für die sie gerne Feste in<br />
ihrem Haus gaben. Auch sie selbst wurden häufig<br />
eingeladen. Sie gingen oft <strong>und</strong> gerne ins<br />
Konzert, ins Theater, in die Oper. Die älteste<br />
Tochter besuchte bereits die Schule, der kleine<br />
Sohn stand kurz vor der Einschulung. Kurzum,<br />
die Familie fühlte sich wohl in Wuppertal, der<br />
Stadt zugehörig.
Das alles änderte sich schlagartig nach der<br />
nationalsozialistischen Machtübernahme. Am<br />
12. März 1933 fanden in Wuppertal Kommunalwahlen<br />
statt. Unmittelbar danach begannen<br />
auch im Wuppertaler Rathaus, wie überall im<br />
Deutschen Reich, bereits vielfach angekündigte<br />
Säuberungen. Im Amtsblatt (<strong>und</strong> auch in<br />
der Wuppertaler Presse) wurden am 28. März<br />
1933 die Namen von 23 beurlaubten Beamten<br />
<strong>und</strong> Angestellten veröffentlicht. An der Spitze<br />
der Namensliste standen die Beigeordneten Dr.<br />
Bragard <strong>und</strong> Prof. Geßler. Dr. Bragard, der wegen<br />
seiner engen Beziehungen zum Zentrum<br />
von den Nationalsozialisten immer wieder angegriffen<br />
wurde, verwaltete seit 1930 das Personaldezernat;<br />
ferner unterstanden ihm das<br />
Organisationsamt <strong>und</strong> die Verkehrsbetriebe. 19<br />
In den ersten Wochen seiner Zwangsbeurlaubung<br />
renovierte der Ex-Beigeordnete Bragard<br />
zusammen mit seinem Nachbarn Hanns<br />
Krusenotto, einem von den Nationalsozialisten<br />
sofort entlassenen staatlichen Polizeihauptmann,<br />
die Häuser der beiden Familien. Zum<br />
krönenden Abschluss strichen die beiden Männer<br />
partnerschaftlich vom Dach bis zum Keller<br />
alles neu. Für die jeweiligen Waschküchen<br />
wählten sie die Farbe grasgrün. Decke, Wände,<br />
Regale, Waschzuber, alles wurde Grasgrün gestrichen.<br />
Der Polizeihauptmann Krusenotto<br />
war aus dem Amt entfernt worden, weil er, vor<br />
der Machtübernahme, eine turbulente Versammlung<br />
der Nationalsozialisten in einem<br />
Wuppertaler Lokal mit Polizeiknüppeln hatte<br />
auflösen lassen. Eine Tat, die ihm nicht vergessen<br />
worden war. Seine Frau erhielt dennoch<br />
vom Führer das goldene Mutterkreuz, für immerhin<br />
sieben Söhne <strong>und</strong> eine Tochter. 20<br />
Am 5. September 1933 veröffentlichte die<br />
Barmer Zeitung unter der zweispaltigen Überschrift<br />
Beig. Dr. Bragard wieder im Amt einen<br />
Artikel. Neben einem Photo Wilhelm Bragards<br />
war zu lesen, dass die Zwangsbeurlaubung des<br />
Beigeordneten Dr. Bragard vom 1. September<br />
ab aufgehoben worden sei. In dem kurzen Artikel<br />
folgte eine Art Fleckerlteppich an Zuständigkeiten,<br />
die der wieder eingesetzte Beigeordnete<br />
zukünftig zu übernehmen habe: Städtische<br />
Polizei mit Ausnahme der Bau-, Wege- <strong>und</strong> Wasserpolizei,<br />
ferner das Meldeamt, Eichwesen<br />
<strong>und</strong> das Chemische Untersuchungsamt, Handwerker,<br />
gewerbliche <strong>und</strong> landwirtschaftliche<br />
Angelegenheiten, Verwaltungsbücherei <strong>und</strong> die<br />
Schlacht- <strong>und</strong> Viehhöfe einschl. Fleischversorgung.<br />
Aus seinem alten Dezernat behält Dr.<br />
Bragard sämtliche Straßenbahn- <strong>und</strong> Autobusangelegenheiten.<br />
Er bleibt schließlich Vorstandsmitglied<br />
der Barmer Bergbahn A.G. Sein<br />
Amtszimmer befindet sich in Elberfeld. Die<br />
hier nicht genannten früheren Ressorts Dr.<br />
Bragards sind an den Oberbürgermeister bzw.<br />
an Beig. Dr. Beitzen gefallen. 21<br />
Diese Wiedereinsetzung beziehungsweise<br />
Abschiebung aus dem (in dem Artikel nicht genannten)<br />
Personaldezernat in politisch weniger<br />
brisante Aufgabenbereiche hatte allerdings nur<br />
kurzzeitig aufschiebende Wirkung. Am 18.<br />
Mai 1934 wurde dem Stadtrat Herrn Dr. Wilhelm<br />
Bragard in Wuppertal-Oberbarmen, Hebbelstr.<br />
9, ein Schreiben mit dem Briefkopf des<br />
Preußischen Ministers des Inneren zugestellt.<br />
Datum des Schreibens: Berlin, den 8. Mai<br />
1934. Der Inhalt war kurz <strong>und</strong> bündig: Auf<br />
Gr<strong>und</strong> des § 6 des Gesetzes zur Wiederherstellung<br />
des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933<br />
(RGBl. I S.175) in der Fassung des Gesetzes<br />
vom 23. Juni 1933(RGBl. I S.389) versetze ich<br />
Sie in den Ruhestand. In Vertretung (Unterschrift).<br />
22<br />
Das war’s! Wie mag es wohl in Wilhelm<br />
Bragard ausgesehen haben, als er diesen Bescheid<br />
in Händen hielt? Wie reagierte Elfriede<br />
Bragard, als ihr Mann ihr den Brief aus Berlin<br />
zeigte? Ein Schreiben, wie es so oder ähnlich<br />
lautend, damals zigtausendfach im Deutschen<br />
Reich verschickt worden war. Das berüchtigte,<br />
nicht zuletzt Intrigen <strong>und</strong> Denunziationen Tür<br />
<strong>und</strong> Tor öffnende Gesetz zur Wiederherstellung<br />
des Berufsbeamtentums ermöglichte nämlich<br />
den nationalsozialistisch gewordenen Behörden<br />
fließbandartig die fristlose Entlassung,<br />
umgehende Versetzung oder sofortige Pensionierung<br />
von politisch mißliebigen <strong>und</strong> nichtarischen<br />
Beamten <strong>und</strong> Angestellten im öffentlichen<br />
Dienst; also in Ämtern, Universitäten,<br />
Krankenhäusern, Justizbehörden usw.<br />
Zu seinen Kindern sagte der 46jährige Wilhelm<br />
Bragard: Ich gehe nun für tausend Jahre<br />
in den Ruhestand. 23 Hinter ihm dürfte ein ner-<br />
109
venaufreibendes, zermürbendes Jahr gelegen<br />
haben. Nach der Beurlaubung im März 1933<br />
bis zur endgültigen Amtsenthebung im Mai<br />
1934 war ihm von verschiedensten Seiten nahegelegt<br />
worden: Geh doch in die Partei! Sei<br />
doch nicht so stur. Mach doch dieses Zugeständnis.<br />
Denk doch an Deine Karriere, an<br />
Deine Frau, Deine Familie. Mach doch, wie so<br />
viele andere auch, nach außen, zum Schein wenigstens,<br />
Deinen Frieden mit den neuen Herren<br />
im Rathaus. Du vergibst Dir doch nicht viel damit.<br />
Aber er weigerte sich, in die Partei einzutreten.<br />
Das kam für ihn schlichtweg nicht in<br />
Frage.<br />
Viele Jahre später hat Wilhelm Bragard<br />
selbst die Gründe, die zu seiner zwangsweisen<br />
Pensionierung führten, so auf den Punkt gebracht:<br />
…wobei der Kreisleiter <strong>und</strong> der Gauleiter<br />
als Begründung ausdrücklich hervorhoben,<br />
dass der Beigeordnete Dr. Bragard nach<br />
der ganzen Art seiner Persönlichkeit keinerlei<br />
Gewähr für eine harmonische oder auch nur<br />
erträgliche Zusammenarbeit zwischen der<br />
Stadtverwaltung <strong>und</strong> der NSDAP verbürgt. 24<br />
Wilhelm Bragard dürfte, wenn man zu politischen<br />
Kategorisierungen greifen möchte,<br />
dem Zentrum nahegestanden haben. Ein Arrangement<br />
mit den neuen Machthabern im<br />
Wuppertaler Rathaus widersprach aber möglicherweise<br />
einfach seinem ausgeprägten Ehrgefühl,<br />
an das sich seine beiden Töchter noch<br />
fast vierzig Jahre nach dem Tod ihres Vaters<br />
eindringlich erinnerten. Dieser habe sich auch<br />
nie davor gescheut, seine Meinung laut <strong>und</strong><br />
deutlich zu sagen. Ob sein Gegenüber nun politisch<br />
rechts oder links gestanden sei. Ob es<br />
sich um einen Vorgesetzten oder sonst eine<br />
wichtige Persönlichkeit gehandelt habe.<br />
Wilhelm Bragard dürfte 1933 auch das<br />
Motto In dubio pro libertate! seiner Promotion<br />
von 1915 nicht vergessen haben. Und es war<br />
ihm offensichtlich mit jenem kategorischen Imperativ<br />
der Pflichterfüllung, den er 1919 vor<br />
der Barmer Stadtverordnetenversammlung als<br />
Maßstab seiner Arbeit genannt hatte, bitter<br />
ernst gewesen. Allerdings rief in Wuppertal<br />
jetzt niemand mehr laut Bravo!<br />
Im Gegenteil. Nachdem endgültig feststand,<br />
dass zwischen dem Beigeordneten Bra-<br />
110<br />
gard <strong>und</strong> den neuen Herren im Rathaus offenbar<br />
keine gütliche Einigung möglich war,<br />
wurde es für die Bragards in Wuppertal von<br />
Tag zu Tag schwieriger. Alte Bekannte <strong>und</strong><br />
gute Fre<strong>und</strong>e der Familie wechselten plötzlich<br />
auf die andere Straßenseite, damit sie den geschassten<br />
Beigeordneten ohne Parteibuch 25<br />
<strong>und</strong>/oder seine Frau nicht mehr grüßen mussten.<br />
Die Einladungen blieben aus. Die Fre<strong>und</strong>e<br />
der Kinder zogen sich zurück. Allerdings gab<br />
es wenige Ausnahmen. Lisa von Einern gehörte<br />
dazu. Die hochgebildete Fabrikantenehefrau<br />
mit Berliner Schnauze, so die Erinnerung<br />
der jüngsten Tochter Bragard Jahrzehnte später,<br />
hätte sich durch nichts davon abbringen<br />
lassen, weiter Kontakt zu den Bragards zu halten.<br />
Sie hätte immer zu der Familie gestanden.<br />
Die Situation wurde rasch so unerträglich,<br />
dass die Bragards im Herbst 1934 ihr Haus in<br />
der Hebbelstraße vermieteten <strong>und</strong> nach Aachen,<br />
der Heimatstadt Wilhelm Bragards, umzogen.<br />
In sehr viel kleinere Verhältnisse. Ihre<br />
Mutter sei an der Situation fast zerbrochen, erinnerten<br />
sich beide Töchter fast siebzig Jahre<br />
später.<br />
Wilhelm Bragard verbrachte den ihm aufgezwungenen<br />
Ruhestand bis Kriegsbeginn<br />
1939 mit dem Lesen der Schriften griechischer<br />
<strong>und</strong> lateinischer Autoren im Original: Homer,<br />
Epikur, Cicero. Er ging regelmäßig ins<br />
Schwimmbad <strong>und</strong> brachte seinem kleinen<br />
Sohn <strong>und</strong> seiner jüngsten Tochter das Schwimmen<br />
bei. Er überwachte kontinuierlich <strong>und</strong><br />
strikt die Schularbeiten seiner Kinder. Er besuchte<br />
regelmäßig seine in Aachen lebenden<br />
Geschwister <strong>und</strong> traf sich mit ihnen zu<br />
wöchentlichen Bridge-Abenden. Er las viel<br />
<strong>und</strong> zitierte oft Heinrich Heine, dessen gelegentlich<br />
beißender Humor dem seinen verwandt<br />
gewesen sein dürfte. Auch sonst dürfte<br />
ihn einiges mit dem ab 1933 in Deutschland<br />
verfemten Dichter verb<strong>und</strong>en haben, der lebenslang<br />
an Deutschland, ein Wintermärchen<br />
gelitten <strong>und</strong> bereits 1820 geschrieben hatte:<br />
Das war ein Vorspiel nur, dort, wo man Bücher<br />
verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.<br />
Wilhelm Bragard sprach nach 1945 kaum<br />
noch über die Zeit zwischen 1933 <strong>und</strong> 1945.
Auch diesbezügliche schriftliche Äußerungen<br />
fehlen weitgehend. Eine der wenigen Ausnahmen<br />
war wohl ein Brief an seine Schwester<br />
Inge Wollny vom 12. April 1947:<br />
In diesem Jahre werde ich 60 Jahre. Mit 45<br />
wurde ich von den Nazis aus Amt <strong>und</strong> Brot geworfen.<br />
Als ich nach Aachen kam, wollte ich<br />
Rechtsanwalt werden, weil ich ja die Befähigung<br />
zum Richteramt habe, die dazu erforderlich<br />
ist. Aber ich wurde zur Gestapo geladen.<br />
Dort fragte man mich, warum ich so nahe an<br />
die Reichsgrenze ziehe, <strong>und</strong> was ich in Aachen<br />
wollte. Dann sagte man mir, man würde mir<br />
von der Gestapo alle Schwierigkeiten machen,<br />
damit ich nicht die Rechtsanwaltspraxis ausüben<br />
könnte. Was nützten mir da meine Vorbildung<br />
<strong>und</strong> meine Befähigung? Was nützten mir<br />
Gesetz <strong>und</strong> Recht? Hermann Göring hatte befohlen:<br />
„Recht ist, was dem Staate nützt.“ In all<br />
den Jahren in Aachen habe ich versucht, eine<br />
Beschäftigung zu bekommen, als Gr<strong>und</strong>stücksverwalter<br />
oder irgend eine andere Beschäftigung,<br />
die in normalen Fällen für mich als Jurist<br />
leicht zu finden gewesen wäre. Die Verhandlungen<br />
mit den Firmen gelangen immer<br />
bis zu dem Punkte, wo mein Verhältnis zu den<br />
Nazis zur Sprache kam. Dann zog man sich mit<br />
Bedauern von mir zurück. Auf diese Weise bin<br />
ich die ganzen Jahre arbeitslos gewesen. Ich<br />
hatte nur die kleine Pension für mich <strong>und</strong><br />
meine Familie. Außerdem zogen sich alle meine<br />
Bekannten von mir zurück. Es hätte ihnen geschadet,<br />
wenn sie mit mir verkehrt hätten. 26<br />
1945 lag Deutschland in Trümmern <strong>und</strong> der<br />
grauenvolle Krieg war zu Ende, zu dem Wilhelm<br />
Bragard, inzwischen 52 Jahre alt, am 28.<br />
August 1939 einberufen worden war. Zuerst als<br />
Hauptmann der Reserve in Idar-Oberstein,<br />
schließlich als Verbindungsoffizier für Luftschutz<br />
des Luftgaukommandos Westfrankreich<br />
bei der Einheit Feldpost Nr. 0661. Im Felde<br />
schrieb er im Juni 1944 einen Lebenslauf, in<br />
dessen Briefkopf er Stadtrat a. D. – Major<br />
setzte, in dieser Reihenfolge. 27<br />
In den allerletzten Kriegswochen verschlug<br />
es Wilhelm Bragard ins Bayerische, wo er in<br />
den allerletzten Tagen des Krieges, 57jährig,<br />
beinahe noch als Volkssturmmann am Endkampf<br />
hätte teilnehmen müssen. 28 Am 5. April<br />
1945 wurde der Major d. R. Stadtrat a. D. Dr.<br />
Wilhelm Bragard dann aber im Luftwaffenlazarett<br />
in München-Oberföhring begutachtet. 29<br />
Der dortige Oberstabsarzt attestierte ihm<br />
(möglicherweise durch Vermittlung des jüngeren<br />
Bruders Prof. Karl Bragard 30 ): Eine geregelte<br />
normale Dienstleistung ohne besondere<br />
Anstrengung ist möglich. Zusätzliche Belastungen<br />
sind kontraindiziert. 31<br />
Wann <strong>und</strong> wie erfuhren Wilhelm Bragard<br />
<strong>und</strong> seine Frau, weit voneinander entfernt, in<br />
den Turbulenzen der letzten Kriegszeit von der<br />
schweren Verw<strong>und</strong>ung ihres einzigen Sohnes?<br />
32 Der am 21. Juni 1926 geborene Schüler<br />
Karl Eugenius Servas Bragard war Kanonier in<br />
einer Flak-Sturmabteilung, als er am 23. Januar<br />
1945 bei Blankenheim in der Eifel durch<br />
Kreuzbein- <strong>und</strong> Bauchschuß schwer verw<strong>und</strong>et<br />
wurde. Die letzten Monate seines Lebens verbrachte<br />
er in einem Lazarett in Bad Königstein<br />
im Taunus <strong>und</strong> wartete auf seinen Vater. Dieser<br />
setzte in den Wochen nach Kriegsende Himmel<br />
<strong>und</strong> Hölle in Bewegung, um zu seinem Sohn zu<br />
gelangen. Aber einfach so irgendwo hin fahren<br />
war im Frühsommer 1945 in Deutschland nicht<br />
möglich. Die Infrastruktur des Landes war<br />
vollkommen zerstört. Man benötigte Genehmigungen<br />
der Militärregierungen <strong>und</strong> Passierscheine<br />
für Sektorengrenzen, man brauchte<br />
Mitfahrgelegenheiten <strong>und</strong> Organisationstalent.<br />
Wilhelm Bragard schaffte es schließlich irgendwie,<br />
nach Bad Königstein zu kommen. In<br />
der gleichen Nacht noch starb sein Sohn, im<br />
Beisein des Vaters, am 5. August 1945. Karl<br />
Bragard wurde auf einem Soldatenfriedhof bei<br />
Bad Königstein bestattet. Ein schlichtes Kreuz<br />
in endlosen Reihen weiterer Kreuze.<br />
Stadtkämmerer in Wuppertal<br />
Ende August 1945 nahm Wilhelm Bragard,<br />
inzwischen 58 Jahre alt geworden, seine Arbeit<br />
in der Wuppertaler Stadtverwaltung wieder<br />
auf. Der von der amerikanischen Militärregierung<br />
bestellte Wuppertaler Oberbürgermeister<br />
Eugen Thomas beauftragte ihn als Stadtkämmerer<br />
mit der Verwaltung des Geldwesens der<br />
Stadt Wuppertal <strong>und</strong> übertrug ihm zusätzlich<br />
111
das Dezernat für das Bildungswesen. 33 Am 21.<br />
Juli 1947 erhielt Wilhelm Bragard eine von<br />
Oberbürgermeister Robert Daum <strong>und</strong> Bürgermeister<br />
Dr. Klaus Brauda unterzeichnete Anstellungsurk<strong>und</strong>e<br />
der Stadt Wuppertal, nachdem<br />
ihn die Stadtvertretung am 16. Juli 1947<br />
zum Beigeordneten <strong>und</strong> Stadtkämmerer für die<br />
in der Satzung für den Stadtkreis Wuppertal<br />
festgesetzte Amtsdauer von 12 Jahren gewählt<br />
hatte. 34 Wieder einmal, wie 1930 schon, kurz<br />
vor Beginn des schließlich 12 Jahre dauernden<br />
Tausendjährigen Reiches.<br />
Zu den ersten Aufgaben des Stadtkämmerers<br />
gehörte ein Vorbericht zum Haushaltsplan<br />
1947, in dem er die Bestandsaufnahmen verschiedener<br />
Referate über das Ausmaß der Zerstörung<br />
Wuppertals zusammenstellte, unter anderem<br />
in den Bereichen Fürsorge-, Ges<strong>und</strong>heits-<br />
<strong>und</strong> Kulturwesen oder Wiederaufbau. 35<br />
Die Bilanzen sahen so aus:<br />
6. Wiederaufbau, 671 Trümmerbeseitigung:<br />
Die Trümmerbeseitigung hat im Rechnungsjahr<br />
1946 weitere Fortschritte gemacht.<br />
In der Zeit vom 1. April bis 31. Dezember 1946<br />
wurden 65000 cbm Trümmermassen bewältigt.<br />
Hiervon sind 1 000 cbm durch Brecheranlagen,<br />
die an sechs Stellen der Stadt aufgestellt sind,<br />
verarbeitet worden. An wiederverwendungsfähigen<br />
Baustoffen wurden hierbei gewonnen:<br />
Ziegelsteinen r<strong>und</strong> 4 Millionen Stück, Sand <strong>und</strong><br />
Splitt r<strong>und</strong> 13000 cbm, Schrott r<strong>und</strong> 530 Tonnen,<br />
Nutzeisen r<strong>und</strong> 200 Tonnen.<br />
672 Instandsetzung von Wohnhäusern:<br />
Von den im Jahre 1938 vorhanden gewesenen<br />
29600 privaten Wohngebäuden mit 133000<br />
Wohnungen wurden 19338 Gebäude durch<br />
Kriegseinwirkung teils zerstört, teils beschädigt.<br />
In diesen Gebäuden befanden sich 86545<br />
Wohnungen. Bis Ende Dezember 1946 konnten<br />
31683 größtenteils leicht beschädigte Wohnungen<br />
wieder instandgesetzt werden. Hiervon<br />
entfallen auf winterfest gemachte Wohnungen<br />
im Kalenderjahr 1946 7602.<br />
Das Bragardsche Haus hatte den Krieg einigermaßen<br />
überstanden <strong>und</strong> Wilhelm Bragard<br />
konnte am 2. August 1947 seinem Bruder Hans<br />
mitteilen: Das Haus Hebbelstr. 9 ist erhalten<br />
geblieben. Mein Bestreben ist es gewesen, es<br />
wieder instand zu setzen. R<strong>und</strong>herum ist fast<br />
112<br />
ganz Oberbarmen zerstört. Die Straße zum Tölleturm<br />
mit den zahlreichen schönen Villen ist<br />
gänzlich zerstört. Man sieht sie gar nicht, die<br />
Trümmer, wenn man nicht selbst drin wohnt.<br />
Aber unser Haus ist wieder in Ordnung. Der<br />
Garten ist 20 Jahre alt <strong>und</strong> sieht w<strong>und</strong>erbar<br />
aus. Effi hat ihn jetzt zum großen Teil mit<br />
Gemüse angepflanzt. Das ist uns eine große<br />
Hilfe. Ich habe noch im unteren Garten ein<br />
Stück dazu erworben, um den Garten zu vergrößern.<br />
36<br />
Ende 1947 veröffentlichte die Wuppertaler<br />
Stadtverwaltung ein 167 Seiten umfassendes<br />
Buch: Wuppertal im Kampf gegen die Not. 37<br />
Der vorletzte Beitrag Gemeindefinanzen in der<br />
Krisenzeit stammte vom Stadtkämmerer Beigeordneten<br />
Dr. Bragard <strong>und</strong> begann:<br />
Deutschland ist arm <strong>und</strong> ruiniert aus dem<br />
Krieg herausgegangen. Es laboriert an den<br />
Schlüsselpositionen Ernährung <strong>und</strong> Kohle.<br />
(…) Die Zerstörungen materieller <strong>und</strong> ideeller<br />
Art sind grauenvoll. Konstruktive Gedanken<br />
sind in den Nachkriegstrümmern noch nicht zu<br />
entdecken. In Deutschland ist die Stimmung<br />
verzweifelter als alles, was man in den<br />
schlimmsten Zeiten des Krieges hörte <strong>und</strong> flüsterte.<br />
Die ganze Ruhr ist ein Inferno, <strong>und</strong> seine<br />
Teufel heißen: Hunger, Trümmer, Schwindsucht<br />
<strong>und</strong> Kummer.<br />
Es folgte ein Gedicht von Heinrich Heine:<br />
Im hungrigen Magen Eingang finden<br />
Nur Suppenlogik mit Knödelgründen,<br />
Nur Argumente von Rinderbraten,<br />
Begleitet mit schweinernen Wurst-Zitaten<br />
Ein schweigender Stockfisch, in Butter gesotten,<br />
Behagt den darbenden Rotten<br />
Viel besser als ein Mirabeau<br />
Und alle Redner seit Cicero.<br />
Dann fuhr der Stadtkämmerer fort:<br />
In Wuppertal waren im Mai 1947 aufgerufen<br />
täglich nur 215 Gramm Brot <strong>und</strong> 14 Gramm<br />
Zucker. Keine Nährmittel, kein Fett, kein<br />
Fleisch, kein Fisch, keine Kartoffeln, kein<br />
Gemüse. Nichts. Hingegen bedroht ein neues<br />
Gesetz jeden Austausch von bewirtschafteten<br />
Gütern mit Zuchthaus. Kann man aber den<br />
heutigen Notstand mit einer kalten juristischen
Formel erfassen? Moralisch jedenfalls nicht:<br />
Was lehrt uns die Schrift? Das fünfte Gebot<br />
Gottes lautet: Du sollst nicht töten. Das siebente<br />
Gebot lautet: Du sollst nicht stehlen. Wer<br />
zusieht, wie seine Kinder Hungers sterben, tötet.<br />
Wer sich Lebensmittel verschafft, entgegen<br />
den Bewirtschaftungsgesetzen, stiehlt. Beide<br />
Gebote Gottes streiten miteinander. Das stärkere<br />
Gebot aber ist das Gebot: Du sollst nicht<br />
töten!<br />
Dass auch die Bragards nach Kriegsende<br />
zunächst hungerten, geht aus dem bereits weiter<br />
oben zitierten Brief hervor, den Wilhelm<br />
Bragard im April 1947 an seine Schwester Inge<br />
Wollny schrieb: Kein Fleisch, kein Fett, keine<br />
Nährmittel, kein Zucker, keine Marmelade,<br />
kein Gemüse, garnichts. Hier in den Großstädten<br />
ist es am schlimmsten. Wenn man dazu noch<br />
Beamter ist, dann hat man auch nichts zu kompensieren<br />
(wie ein Geschäftsmann). Deswegen<br />
hungert meine Familie nun schon seit über 1<br />
Jahr, das heißt, seitdem sie aus Aachen hierher<br />
gezogen ist. In Aachen war es damals, wie<br />
meine Frau mir erzählte, nicht so schlimm.<br />
Mittlerweile wird es ja wohl auch schlimmer<br />
geworden sein. 38<br />
Das Schlußwort in der Publikation Wuppertal<br />
im Kampf gegen die Not von 1947 hatte<br />
Oberbürgermeister Robert Daum. Er endete<br />
mit den Worten: Not <strong>und</strong> Elend füllen die Seiten<br />
dieses Buches. Not <strong>und</strong> Elend als Folge von<br />
beispiellosen Verbrechen einer Volksführung.<br />
Die nachfolgende Generation soll die Seiten<br />
dieses Buches weiterschreiben <strong>und</strong> berichten<br />
von den Lehren, die die heutige Jugend aus dieser<br />
Zeit gezogen hat. Die nachfolgende Generation<br />
soll berichten über Humanität <strong>und</strong> Toleranz,<br />
soll berichten über die neue Eroberung<br />
des Ansehens Wuppertals in der ganzen Welt.<br />
An der Schwelle der neuen Zeit, des neuen Anfangs,<br />
grüßen wir die kommende Generation.<br />
Zweiter Ruhestand<br />
Am 30. Juni 1951 schrieb Wilhelm Bragard<br />
an den Oberstadtdirektor von Wuppertal:<br />
Gemäß Artikel 131 des B<strong>und</strong>es-Gr<strong>und</strong>gesetzes<br />
<strong>und</strong> dem B<strong>und</strong>esgesetz zur Regelung der Wie-<br />
dergutmachung nationalsozialistischen Unrechts<br />
für Angehörige des öffentlichen Dienstes<br />
vom 11. Mai 1951 melde ich vorsorglich meinen<br />
Wiedergutmachungsanspruch an, weil ich<br />
als Beamter vorzeitig in den Ruhestand versetzt<br />
wurde. Im März 1933 wurde ich aus dem<br />
Amt entfernt <strong>und</strong> im Mai 1934 nach § 6 des Gesetzes<br />
„zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“<br />
in den Ruhestand versetzt. 39<br />
Die Wiedergutmachung schien sich hingezogen<br />
zu haben. Am 28. November 1958 erhielt<br />
Wilhelm Bragard dann einen abschließenden<br />
Bescheid des Regierungspräsidenten aus<br />
Düsseldorf. 40 Demzufolge bekam er aufgr<strong>und</strong><br />
mehrseitiger, hochkomplizierter Berechnungen<br />
eine Kapitalentschädigung von 391,38<br />
DM, in Worten: Dreih<strong>und</strong>ertein<strong>und</strong>neunzig<br />
Deutsche Mark 38 Pfg. Die Entscheidung ergeht<br />
auslagen- <strong>und</strong> gebührenfrei. Gegen den<br />
Bescheid hätte man innerhalb einer Frist von<br />
drei Monaten vom Tage der Zustellung an<br />
Klage gegen das Land Nordrhein-Westfalen erheben<br />
können. Wilhelm Bragard schickte aber<br />
am 18. Dezember 1958 nur eine schlichte Postkarte:<br />
An den Herrn Regierungspräsidenten<br />
Düsseldorf. 14 A (13) Z K 236 043, Bescheid v.<br />
28.11.58. Bitte überweisen Sie den Betrag von<br />
391,38 DM auf mein Postscheckkonto Köln.<br />
Hochachtungsvoll! Wilhelm Bragard. 41<br />
Zwanzig Jahre nach dem Frühjahr 1933<br />
ging der Stadtkämmerer Dr. Bragard am 30.<br />
September 1953 zum zweiten Mal in den Ruhestand.<br />
Diesmal aus Altersgründen <strong>und</strong> ehrenvoll<br />
von der Stadt Wuppertal verabschiedet.<br />
Seine Mitarbeiter überreichten ihm eine Urk<strong>und</strong>e,<br />
in der es in zierlicher Sütterlinschrift<br />
hieß: Wir werden aber eingedenk bleiben unseres<br />
allerbesten langjährigen Chefs, der nicht<br />
nur Vorgesetzter war, sondern als Mensch uns<br />
nahestand, der in echter väterlicher Weise stets<br />
besorgt war um das Wohlergehen <strong>und</strong> das Weiterkommen<br />
seiner Beamten <strong>und</strong> Angestellten;<br />
der nicht anders konnte als zu helfen, wo immer<br />
auch nur der Schein einer Notlage ihm erkennbar<br />
wurde. 192 Frauen <strong>und</strong> Männer, Beamte<br />
<strong>und</strong> Angestellte, hatten handschriftlich<br />
unterzeichnet <strong>und</strong> ihren Abschiedsgruß mit<br />
dem Wunsch verb<strong>und</strong>en, dass dem hochverehrten<br />
Stadtkämmerer noch viele Jahre bei bester<br />
113
Ges<strong>und</strong>heit in geistiger <strong>und</strong> körperlicher Frische<br />
beschieden sein mögen. 42<br />
Am 8. Mai 1956 veröffentlichte die Neue<br />
Rhein Zeitung ein mit –ve unterzeichnetes Interview<br />
43 :<br />
„Alles im Leben ist Eitelkeit, nur nicht die<br />
Heiterkeit“, dieses Zitat schwebt über dem Gespräch<br />
des Chronisten mit Dr. Wilhelm Bragard,<br />
„abgestandener Stadtkämmerer“, wie er<br />
selbst schmunzelnd seinen Ruhestand umschreibt.<br />
Und der Ruhestand bekommt dem<br />
68jährigen, der eine anziehende <strong>und</strong> menschlich<br />
immer noch wachsende Kultiviertheit in<br />
den Lebensstil eines Mannes der Muße zu bringen<br />
weiß, besonders gut.<br />
„Seit ich meinen Leichenwagen los bin,<br />
habe ich ohne Pillen zehn Kilo abgenommen<br />
<strong>und</strong> fühle mich ausgezeichnet“, plaudert der<br />
weißhaarige Pensionär, <strong>und</strong> mit dem „Leichenwagen“<br />
meint er seinen Dienstwagen, einen<br />
schwarzen Mercedes. Ohne ihn auch nur<br />
einmal zurückzuwünschen, steigt der zitatenbeschlagene<br />
Anhänger humanistischer Bildung,<br />
wie er selbst berichtet, nach einem Besuch in<br />
den „Thermen der Caracalla“ (Städtische Badeanstalt,<br />
Kleine Flurstraße) über Barmens<br />
„Kurfürstendamm“ (Höhne) zur Höhe der Barmer<br />
Anlagen herauf. An der Talstraße überkommen<br />
den früheren Wächter über Wuppertals<br />
Finanzen wonnige Ruhestandsgefühle,<br />
denn „ich freue mich, daß die teure Straße so<br />
weit vorangebracht worden ist, ich bin aber<br />
auch ebenso froh, daß ich es nicht bin, der sich<br />
um weitere Millionen für dieses Projekt sorgen<br />
muß.“<br />
Die D-Mark verschlingenden Leistungen<br />
der Architekten wertet Dr. Bragard im großen<br />
<strong>und</strong> ganzen als „entweder aufrecht stehende<br />
oder liegende Zigarrenkisten“. Vorbei an zwei<br />
solcher Zigarrenkisten führt ihn sein regelmäßiger<br />
Spazierweg auf die Höhe des Toelleturmes.<br />
„Auf diesem 180-Meter-Gipfel blicke<br />
ich mich in dem Bewußtsein um, daß ich jetzt<br />
immerhin 30 Meter höher hinaufgeklettert bin,<br />
als die Turmspitze des Kölner Domes reicht.“<br />
Vom Stadtgetöse dagegen wendet Wilhelm Bragard<br />
sich mit Grausen. Er liebt die Landschaft,<br />
die dem Menschen Stille gewährt. Stille zur inneren<br />
Sammlung, zur Ruhe nach Hast <strong>und</strong><br />
114<br />
Lärm <strong>und</strong> Anregung zu einem nicht außenbedingten<br />
Denken.<br />
„Wofür ich mich alles interessiere ist<br />
schwer aufzuzählen“, nimmt Dr. Bragard eine<br />
Frage des Chronisten vorweg, „wenn man es<br />
genau feststellen wollte, wäre es methodisch<br />
leichter zu fragen, wofür ich mich nicht interessiere.“<br />
Aber den rüstigen 68jährigen mit den<br />
hellen Augen interessiert gr<strong>und</strong>sätzlich alles.<br />
Und seine Klassiker liebt er ganz besonders.<br />
Aus ihnen schöpft er einen Teil jener gelassenen<br />
Heiterkeit, die seinem Ruhestand einen so<br />
sinnvollen <strong>und</strong> menschlich so sympathischen<br />
Zug gibt.<br />
Seinen 70. Geburtstag verbrachte Wilhelm<br />
Bragard mit seiner Frau im autofreien, weltabgeschiedenen<br />
Braunwald in der Schweiz <strong>und</strong><br />
entging damit jeglichem Jubiläumstrubel in<br />
Wuppertal. An Pfingsten 1959 stiftete er (sich)<br />
eine Bank für die Barmer Anlagen, durch die<br />
ihn sein täglicher Spaziergang führte. Die Stiftung<br />
enthielt eine Auflage, die er dem Barmer<br />
Verschönerungs-Verein machte: Hierdurch<br />
stifte ich die Bank neben der Bank von Robert<br />
Daum am Carl-Neumann-Weg 44 , mit der Auflage,<br />
daß beide Bänke nebeneinander bleiben<br />
müssen <strong>und</strong> höchstens zusammen verrückt werden<br />
dürfen. Bitte schreiben Sie auf das<br />
Schildchen: Gestiftet von Dr. Bragard – <strong>und</strong><br />
schicken Sie mir bitte die Rechnung.<br />
Am 29. Mai 1959 informierte der Verschönerungs-Verein<br />
den sehr geehrten Herrn Dr.<br />
Bragard: Dieser Brief wird Ihnen sicherlich in<br />
den Urlaub nachgesandt. Daher wünschen wir<br />
Ihnen <strong>und</strong> Ihrer Gattin recht gute Erholung<br />
<strong>und</strong> vom Guten das Beste in der bunten, fernen<br />
Welt. Heute haben wir „Ihre“ Bank, neben derjenigen<br />
von Herrn Daum, beschildert <strong>und</strong> wünschen<br />
Ihnen, dass Sie noch manche Jahre in<br />
Ges<strong>und</strong>heit dieses schöne Fleckchen Erde, am<br />
Paul-Neumann-Weg 45 , besuchen können.<br />
Wilhelm Bragard konnte seine Bank in den<br />
Barmer Anlagen noch vier Jahre lang genießen.<br />
Vielleicht las er dort im September<br />
1962 in seiner Zeitung einen kleinen Artikel<br />
mit der Überschrift: Keine Aussagepflicht vor<br />
der Polizei. Der Artikel lautete:<br />
Der B<strong>und</strong>esgerichtshof hat sich vor kurzem<br />
mit einer Frage befaßt, die alle Staatsbürger
angeht: Darf die Polizei auch dann einen Beschuldigten<br />
oder Zeugen zur polizeilichen Vernehmung<br />
vorführen, wenn keine Gründe für<br />
eine vorläufige Festnahme vorliegen? Da jeder<br />
einmal in diese Lage kommen kann, ist es wichtig,<br />
die Antwort der Richter zu kennen.<br />
Nach der Strafprozeßordnung, so stellte der<br />
B<strong>und</strong>esgerichtshof in Karlsruhe fest, ist niemand<br />
verpflichtet, vor der Polizei auszusagen.<br />
Deshalb hat auch die Polizei kein Recht, einen<br />
Verdächtigen oder Zeugen zwangsweise zur<br />
polizeilichen Vernehmung vorzuführen. Wenn<br />
auch bisweilen die Ansicht vertreten werde,<br />
meinte der B<strong>und</strong>esgerichtshof, die zwangsweise<br />
Vorführung sei erlaubt, solange es der<br />
Beschuldigte oder Zeuge nicht ausdrücklich<br />
abgelehnt habe, vor der Polizei auszusagen, so<br />
werde verkannt, daß die Weigerung zur Vernehmung<br />
zu kommen, gewöhnlich die Erklärung<br />
enthalte, vor der Polizei nicht aussagen zu wollen.<br />
Eine dennoch vorgenommene Vorführung<br />
sei gesetzwidrig. Nur ein Richter sei dann zur<br />
Vernehmung berechtigt (Aktz.: IV STR 511/61).<br />
Wo auch immer Wilhelm Bragard diesen<br />
Artikel gelesen haben mag, er schnitt ihn jedenfalls<br />
aus <strong>und</strong> klebte ihn, sorgfältig mit der<br />
Quellenangabe Generalanzeiger 15.9.62 versehen,<br />
auf Seite 75 in seine Doktorarbeit Darf die<br />
Polizei Auskunft verlangen? In das Exemplar,<br />
das er 45 Jahre zuvor seiner damals noch<br />
zukünftigen Frau mit Widmung überreicht<br />
hatte: Fräulein Elfriede Willach gewidmet,<br />
Flandern, im Dezember 1917. Wilhelm Bragard,<br />
Leutnant d. R.<br />
„Ich habe es doch gleich gesagt“, mag sich<br />
Wilhelm Bragard im September 1962 in den<br />
Barmer Anlagen über der Stadt gedacht haben.<br />
Und vielleicht philosophierte er auf seiner<br />
Bank neben der Bank von Rob Daum ein bisschen<br />
darüber, wie wenig sich doch in mancher<br />
Hinsicht Zeiten respektive Fragestellungen zu<br />
ändern scheinen. Er konnte das ja beurteilen,<br />
nachdem er ein Kaiserreich, den Ersten Weltkrieg,<br />
die Weimarer Republik, ein zwölf lange<br />
Jahre dauerndes, auf tausend Jahre angelegtes<br />
Drittes Reich sowie einen zweiten, noch mörderischeren<br />
Weltkrieg durch- <strong>und</strong> überlebt<br />
hatte <strong>und</strong> in der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland<br />
angekommen war.<br />
Dr. Wilhelm Bragard starb am 1. Juli 1963<br />
im Freudenstädter Kreiskrankenhaus. Er wurde<br />
wenige Tage später auf dem Evangelischen<br />
Friedhof in Wuppertal-Barmen bestattet. In unmittelbarer<br />
Nähe seines Hauses in der Hebbelstraße.<br />
Seine Frau Elfriede Bragard, geb. Willach,<br />
mit der er 44 Jahre lang verheiratet gewesen<br />
war, folgte ihm am 18. Dezember 1965.<br />
Postskriptum<br />
Lieber Herr Bragard! Dieser Tage fand ich<br />
zufällig das niedliche Lied, das anlässlich der<br />
Einweihung des Barmer Rathauses im März<br />
1921 von allen Festteilnehmern so begeistert<br />
mitgesungen worden ist, als dessen Verfasser<br />
Sie wohl in Frage kommen. Für den Fall, dass<br />
Sie den Text nicht mehr besitzen sollten, habe<br />
ich Ihnen diese Abschrift zugedacht; sie ist<br />
auch dem Herrn Landtagspräsidenten Dr.<br />
Neinhaus zugegangen, der mich vor einigen<br />
Monaten daraufhin angesprochen hat. Ich<br />
hoffe, Ihnen eine Freude gemacht zu haben.<br />
Diesen Brief46 schrieb Alfred Dobbert, Direktor<br />
bei den Provinzial-Versicherungsanstalten<br />
der Rheinprovinz Düsseldorf, am 14. April<br />
1959 an den Beigeordneten i. R. Wilhelm Bragard.<br />
Bevor dieser das Schreiben <strong>und</strong> das<br />
elfstrophige Lied auf vier Seiten dünnem<br />
Durchschlagpapier in seinem Aktenordner unter<br />
Stadtverwaltung einsortierte, antwortete er<br />
am 16. April 1959 dem Vizepräsidenten des<br />
Landtags (<strong>und</strong> tippte den Durchschlag seines<br />
Schreibens auf die Rückseite des vierten Liedblattes):<br />
Lieber Herr Dobbert! Mit Ihrer fre<strong>und</strong>lichen<br />
Übersendung meines Gedichts von 1921<br />
bereiteten Sie mir eine große Freude; denn ich<br />
habe es nicht mehr. Es klang mir nun gleich<br />
einer halbverklungenen alten Sage, <strong>und</strong> ich<br />
kann beinahe dem diesjährigen Jubilar Schiller<br />
kongenial auf die Schulter klopfen <strong>und</strong><br />
wenn demnächst mein letztes Stündlein schlägt,<br />
mit Nero ausrufen:<br />
„Welch ein Künstler geht mit mir zugr<strong>und</strong>e“<br />
„Qualis poeta pereo!“<br />
Mit herzlichen Grüßen von Haus zu Haus.<br />
Ihr Ihnen ganz ergebener Wilhelm Bragard.<br />
115
Anmerkungen:<br />
* Meiner Schwester Dr. Irene Kappler, geb. Jäckle<br />
gewidmet. Sie starb am 7. Juni 1996 gerade 50jährig<br />
in Freudenstadt-Baiersbronn. Seit 1977<br />
hatte sie am Starnberger See gelebt <strong>und</strong> als Ärztin<br />
zunächst in der Klinik Höhenried <strong>und</strong> dann in<br />
eigener Praxis in München gearbeitet. Vor ihrem<br />
Tod wünschte sie, dass ihre Urne nach Wuppertal<br />
überführt <strong>und</strong> im großelterlichen Grab auf<br />
dem Evangelischen Friedhof in Wuppertal-Barmen<br />
beigesetzt werde. Ihr Mann <strong>und</strong> ihre drei<br />
Kinder entsprachen diesem Wunsch.<br />
1 Die Verfasserin ist die Enkelin von Dr. Wilhelm<br />
Bragard (<strong>und</strong> gebürtige Wuppertalerin).<br />
2 Die biographischen Angaben zu Herkunft <strong>und</strong><br />
Studium Wilhelm Bragards sind weitgehend einer<br />
Stammtafel der Familie Bragard <strong>und</strong> einem<br />
Lebenslauf entnommen, den Dr. Wilhelm Bragard<br />
am 28.6.1944 geschrieben hat.<br />
3 Bescheinigung (XV.B.116.20) vom 13.2.1918,<br />
unterzeichnet vom Oberlandesgerichtspräsident<br />
des Koen. Preuss. Oberlandesgerichts Cöln.<br />
Diese Bescheinigung war notwendig geworden,<br />
da Dr. Wilhelm Bragard seine Originalurk<strong>und</strong>en<br />
im Ersten Weltkrieg verloren hatte.<br />
4 W. Bragard: Darf die Polizei Auskunft verlangen?<br />
Inaugural-Dissertation zur Erlangung der<br />
Doktorwürde der Hohen Juristischen Fakultät<br />
der Königlich Preußischen Friedrich-Wilhelms-<br />
Universität in Berlin. Borna-Leipzig, Großbetrieb<br />
für Dissertationsdruck 1915.<br />
5 Brief von Dr. Wilhelm Bragard vom 30.8.1919<br />
an den Barmer Oberbürgermeister Dr. Hartmann.<br />
6 Lebenslauf von Dr. Wilhelm Bragard vom<br />
28.6.1944.<br />
7 Protokoll der Barmer Stadtverordnetenversammlung<br />
vom 28.10.1919.<br />
8 Familien-Stammbuch für die Familie Bragard<br />
Willach; mündliche Mitteilung von Eva Löher,<br />
geb. Bragard.<br />
9 Protokoll der Barmer Stadtverordnetenversammlung<br />
vom 9.9.1919.<br />
10 Wie Anm. 5.<br />
11 Wie Anm. 9.<br />
12 Wie Anm. 7.<br />
13 Die vier Blätter Durchschlagpapier, auf denen<br />
dieses Lied steht, fanden sich im Aktenordner<br />
von Dr. Wilhelm Bragard unter Stadtverwaltung.<br />
14 Erinnerung von Alfred Dobbert, Direktor bei<br />
den Provinzial-Versicherungsanstalten der<br />
Rheinprovinz Düsseldorf in einem Brief vom<br />
14.4.1959 an Dr. Wilhelm Bragard.<br />
116<br />
15 Bestätigungsurk<strong>und</strong>e des Preussischen Ministeriums<br />
des Innern vom 27.1.1930 (Original).<br />
16 Anstellungsurk<strong>und</strong>e der Stadt Wuppertal für Dr.<br />
Wilhelm Bragard als besoldeter Beigeordneter<br />
der Stadt Wuppertal vom 10.1.1931 (Original).<br />
17 General-Anzeiger der Stadt Wuppertal vom 26.<br />
9. 1953.<br />
18 Unterlagen in Familienbesitz.<br />
19 Bei der Schilderung der Situation im Wuppertaler<br />
Rathaus nach der Machtübernahme durch die<br />
Nationalsozialisten bezieht sich die Verfasserin<br />
auf den Aufsatz von Uwe Eckardt: „Der Bonzentraum<br />
ist ausgeträumt, im Rathaus wird nun aufgeräumt!“<br />
Zur Verwaltungsgeschichte 1933 bis<br />
1937. In: Klaus Goebel (Hrsg.): Wuppertal in<br />
der Zeit des Nationalsozialismus. Peter Hammer<br />
Verlag, Wuppertal 1984.<br />
20 Der Abschnitt basiert auf Erinnerungen von Eva<br />
Löher, geb. Bragard <strong>und</strong> einem Brief von Dr.<br />
Wilhelm Bragard vom 17.12.1962 an das B<strong>und</strong>esamt<br />
für Wehrtechnik <strong>und</strong> Beschaffung.<br />
21 Barmer Zeitung vom 5.9.1933.<br />
22 Schreiben des Preußischen Ministers des Innern<br />
vom 8.5.1934 an Dr. Wilhelm Bragard (Original).<br />
23 Dieses Zitat <strong>und</strong> die folgenden Schilderungen<br />
der familiären Situation der Bragards 1933/34<br />
beruhen auf Erinnerungen von Dr. Annemarie<br />
Jäckle <strong>und</strong> Eva Löher, beide geb. Bragard.<br />
24 Kopie einer beglaubigten Abschrift des Briefes<br />
von Dr. Wilhelm Bragard an den Oberstadtdirektor<br />
von Wuppertal vom 30.6.1951 (Wuppertaler<br />
Stadtarchiv).<br />
25 vgl. Anm. 23.<br />
26 Brief von Dr. Wilhelm Bragard an seine Schwester<br />
Inge Wollny vom 12. 4. 1947 (Kopie von<br />
Eckhard Bragard).<br />
27 Lebenslauf von Dr. Wilhelm Bragard vom<br />
28.6.1944.<br />
28 Brief von Prof. Karl Bragard vom 24.4.1948 an<br />
den Kassationshof München (Staaatsarchiv<br />
München SpKA Karton 182, Prof. Dr. Bragard).<br />
29 Gutachten des Luftwaffenlazaretts Abteilung I<br />
Nr. 80177 in München-Oberföhring vom<br />
5.4.1945.<br />
30 Der unter Anm. 28 zitierte Brief legt nahe, dass<br />
Dr. Wilhelm Bragard durch Vermittlung seines<br />
Bruders Prof. Karl Bragard dieses Attest erhalten<br />
hat, nennt das Gutachten aus dem Luftwaffenlazarett<br />
München-Oberföhring aber nicht.<br />
Der 1890 in Aachen geborene Orthopäde Prof.<br />
Dr. med. Karl Bragard war im April 1945 noch<br />
Klinikchef an der Orthopädischen Universitäts-
poliklinik <strong>und</strong> Staatlichen Orthopädischen Klinik<br />
in München.<br />
31 Wie Anm. 29.<br />
32 Erinnerungen von Dr. Annemarie Jäckle <strong>und</strong><br />
Eva Löher, beide geb. Bragard.<br />
33 Brief des Oberbürgermeisters der Stadt Wuppertal<br />
an Herrn Stadtrat Dr. Bragard vom 11.10.<br />
1945; unterzeichnet: Thomas.<br />
34 Anstellungsurk<strong>und</strong>e der Stadt Wuppertal für<br />
Herrn Dr. Wilhelm Bragard als Beigeordneter<br />
<strong>und</strong> Stadtkämmerer der Stadt Wuppertal. Unterzeichnet<br />
am 21.7.1947 für den Rat der Gemeinde<br />
von Oberbürgermeister Robert Daum<br />
<strong>und</strong> Bürgermeister Dr. Klaus Brauda.<br />
35 Vorbericht zum Haushaltsplan 1947. Unterzeichnet<br />
vom Oberstadtdirektor i.V.: Dr. Bragard,<br />
Stadtkämmerer <strong>und</strong> Beigeordneter (in Familienbesitz).<br />
36 Brief von Dr. Wilhelm Bragard an seinen Bruder<br />
Hans Bragard vom 2.8.1947.<br />
37 Wuppertal im Kampf gegen die Not. Herausgegeben<br />
im Auftrage der Stadtverwaltung von<br />
Oberverwaltungsrat Stephan Schön. Hans Putty<br />
Verlag Wuppertal, 1947.<br />
38 Brief von Dr. Wilhelm Bragard an seine Schwester<br />
Inge Wollny vom 12.4.47 (wie Anm. 26).<br />
39 Vgl. Anm. 24.<br />
Siegfried Kley<br />
Briefe aus Wuppertal-Barmen im Mai 1943<br />
Im Mai 1943, also vor 60 Jahren, fand der<br />
verheerende Brandbombenangriff auf Barmen<br />
statt. Die hier wiedergegebene Korrespondenz<br />
aus dem Mai des Jahres kann nachempfinden<br />
lassen, wie dieses furchtbare Geschehen unvermittelt<br />
tief in das Leben der Menschen eingegriffen<br />
hat.<br />
Die im Auszug wiedergegebenen Briefe<br />
von Emil Garschagen sind an seine Tochter<br />
Elisabeth in Schötmar gerichtet, in gewissen<br />
Passagen auch an seinen Schwiegersohn Karl<br />
Thiele, der dort als Pfarrer wirkte. Die Tochter<br />
besuchte den Vater in den letzten Tagen des<br />
Mai 1943. Auf Postkarten an ihre Familie beschreibt<br />
sie ihre Fahrt mit der Bahn nach Wuppertal<br />
<strong>und</strong> grüßt gemeinsam mit ihren zwei<br />
40 Bescheid des Regierungspräsidenten von Nordrhein-Westfalen<br />
(14 A 13 ZK 236043) vom<br />
28.11.1958.<br />
41 Durchschlag der Postkarte von Dr. Wilhelm Bragard<br />
vom 18.12.1958.<br />
42 Original der Abschiedsurk<strong>und</strong>e mit 192 Unterschriften.<br />
43 Neue Rhein Zeitung vom 8.5.1956.<br />
44 Kopie des Schreibens von Dr. Wilhelm Bragard<br />
an den Barmer Verschönerungs-Verein mit Datum<br />
Pfingsten 1959; bezüglich des Wege-Namens<br />
siehe Anm. 45.<br />
45 Schreiben des Barmer Verschönerungs-Vereins<br />
vom 29.5.1959 an Dr. Wilhelm Bragard. Im Juni<br />
2003 versuchte Dr. Uwe Eckardt vom Wuppertaler<br />
Stadtarchiv, das Schicksal der beiden Bänke<br />
zu klären. In diesem Zusammenhang schrieb er<br />
der Verfasserin am 12.6.2003: Der Name „Paul-<br />
Neumann-Weg“ ist richtig. Der Namengeber<br />
war in den dreißiger Jahren Vorsitzender des<br />
Barmer Verschönerungsvereins. Carl Neumann<br />
war ein anderer Fabrikant, der ebenfalls eine<br />
wichtige Rolle im Wuppertal spielte.<br />
46 Brief von Alfred Dobbert, Direktor bei den Provinzial-Versicherungsanstalten<br />
der Rheinprovinz<br />
Düsseldorf vom 14.4.1959 an Dr. Wilhelm<br />
Bragard (wie Anm. 14).<br />
Schwestern von einem Ausflug. Diese Briefe<br />
sind Emil Garschagens letzte überlieferte<br />
Äußerungen, ebenso die seiner Tochter Bertha,<br />
denn in der Nacht zum 30. Mai kam er zusammen<br />
mit ihr <strong>und</strong> seinem Sohn Emil durch den<br />
Bombenangriff zu Tode. Seine Töchter Elisabeth<br />
<strong>und</strong> Grete überlebten, weil sie den Luftschutzkeller<br />
in seinem Hause in der Krautstraße<br />
während des Angriffes verließen; Grete<br />
war Luftschutzwart <strong>und</strong> wollte das Haus mit<br />
Hilfe der Schwester auf Brandbomben überprüfen.<br />
Die Schwestern gerieten in ein Inferno,<br />
dem sie nur durch schnelle Flucht entrinnen<br />
konnten. Der Weg zurück in den Keller, um die<br />
dort Verbliebenen zu warnen, war durch Flammen<br />
versperrt. Sie überlebten im Schutze einer<br />
117
Friedhofsmauer. Die Korrespondenz endet mit<br />
dem Telegramm, in dem Elisabeth ihrem Mann<br />
den Tod ihres Vaters <strong>und</strong> ihrer Geschwister<br />
mitteilt.<br />
Im ersten Brief beschreibt Emil Garschagen<br />
Abschied <strong>und</strong> Heimkehr seiner Tochter<br />
Elisabeth, die ihrem 1923 in die USA ausgewanderten<br />
Bräutigam folgte. Der Bräutigam<br />
war in Wuppertal zum Missionar ausgebildet<br />
worden, aber nach dem Ersten Weltkrieg war<br />
für ihn keine Missionsarbeit möglich, weil<br />
Deutschland seine Kolonien abgeben mußte;<br />
die Übernahme einer Pfarrstelle in den USA<br />
bot sich als Ausweg an. Anfang der 30er Jahre<br />
kehrte Karl Thiele mit seiner Familie nach<br />
Deutschland zurück. Er wurde Pfarrer in<br />
Schötmar bei Bad Salzuflen.<br />
Emil Garschagen lebte nach dem Tode seiner<br />
Frau im Jahre 1931 mit zwei Töchtern zusammen<br />
in seinem Haus in Barmen. Bertha<br />
war Lehrerin, Grete führte den Haushalt. Seine<br />
Tochter Martha war zu der Zeit an eine Schule<br />
in der Nähe von Danzig versetzt, der Sohn<br />
Emil, ungewöhnlich musikalisch begabt, aber<br />
vom Vater in einen „bürgerlichen“ Beruf gezwungen,<br />
hatte zum Vater ein gespanntes Verhältnis,<br />
hielt sich aber in jenen Tagen ebenfalls<br />
in dessen Haus auf – der Bombenkrieg hatte<br />
den Konflikt zwischen Vater <strong>und</strong> Sohn offensichtlich<br />
entschärft.<br />
Die Briefe vermitteln in üblicher familiärer<br />
Art ein Bild von den Lebensverhältnissen, den<br />
Einschränkungen, den Ansichten <strong>und</strong> Auffassungen<br />
von Menschen in Wuppertal während<br />
des Krieges. So ist etwa die Wertschätzung des<br />
Muttertages als eines „Ehrentages der deutschen<br />
Mutter“ zu erkennen, wobei der Briefschreiber<br />
unkritisch den Jargon des Nationalsozialismus<br />
übernimmt. Die Frau ist danach<br />
Dienende, die durch die Erziehung der Kinder<br />
schwere Mutterpflichten erfüllt. Die Tochter<br />
Grete ist wegen ihres Parteiamtes – vermutlich<br />
Ortsgruppenleiterin der Reichsfrauenhilfe – an<br />
der Ehrung von Frauen mit dem Mutterkreuz<br />
beteiligt. In diesem Amt hatte sie auch Bombenschäden<br />
zu prüfen, um Ansprüche auf Entschädigung<br />
feststellen zu können. 1<br />
Die Ideen des Nationalsozialismus zeigten<br />
bei Emil Garschagen <strong>und</strong> seiner Familie schon<br />
118<br />
früh Wirkung. Auch die Urteile über die<br />
Kriegsgegner Deutschlands lassen diese Wirkung<br />
<strong>und</strong> den Einfluß der deutschen Propaganda<br />
erkennen. Dabei war die Familie Garschagen<br />
„gut christlich“ <strong>und</strong> fromm. Von der<br />
Tochter Bertha Garschagen ist eine handschriftliche<br />
Sammlung von Gedichten vorwiegend<br />
religiösen Inhalts überliefert, in die sie<br />
gleichfalls eigene Gedichte aufnahm, die sie<br />
sensibel <strong>und</strong> feinfühlig vornehmlich zu kirchlichen<br />
Feiertagen verfaßte. Gelegentlich reflektierte<br />
sie in ihren Gedichten das Zeitgeschehen,<br />
<strong>und</strong> dabei ließ sie sich von nationalen Motiven<br />
besonders inspirieren. Zwei Gedichte aus ihrer<br />
Feder zeigen dies beispielhaft:<br />
Am Totensonntag 1918<br />
Heut’ neid’ ich euch das Sterben,<br />
ihr Kameraden mein,<br />
die ihr so früh gesunken<br />
ins dunkle Grab hinein.<br />
Begeist’rung, rein <strong>und</strong> lodernd,<br />
ging mit euch in den Tod,<br />
<strong>und</strong> sterbend saht ihr leuchten<br />
des Sieges Morgenrot.<br />
Wir haben ausgehalten<br />
vier Jahre, blutig, schwer,<br />
sind euer wert gewesen<br />
im Kampf um Deutschlands Ehr’.<br />
Nun ist das Ende kommen,<br />
die Ehre liegt im Staub,<br />
die stolzen Siegesträume<br />
sind ganz des Windes Raub.<br />
Deutschland, das freie, starke,<br />
vier Jahre siegreich rang,<br />
der Feind im eignen Lande<br />
es jählings niederzwang.<br />
Die ihr so früh gesunken<br />
ins dunkle Grab hinein,<br />
heut neid ich euch das Sterben,<br />
ihr Kameraden mein!<br />
Zum Totensonntag 1933 war der Ton ein<br />
anderer:<br />
Die ihr so früh gesunken<br />
ins dunkle Grab hinein,
heut weiß ich, euer Sterben<br />
wird nicht vergeblich sein.<br />
Denn was in stillen Träumen<br />
ihr ahnend nicht geschaut:<br />
ein starkes, freies Deutschland –<br />
heut ist es aufgebaut.<br />
Gebaut durch einen Führer,<br />
den Gottes Hand uns gab.<br />
Und heut, am Tag der Toten<br />
stehn wir an eurem Grab.<br />
Und rufen euch in Liebe<br />
<strong>und</strong> stolzer Freude zu:<br />
„Ihr halft den Gr<strong>und</strong> mit legen,<br />
die ihr nun schlaft in Ruh’.“<br />
Es sollte euer Sterben<br />
Deutschland zum Leben sein,<br />
im dritten deutschen Reiche<br />
steht ihr in unsern Reih’n.<br />
Die ihr so früh gesunken<br />
ins dunkle Grab hinein,<br />
heut weiß ich, euer Sterben<br />
wird nicht vergeblich sein!<br />
Brief Emil Garschagens an seine Tochter<br />
Elisabeth, mit Zusätzen ihrer beiden Schwestern:<br />
W.-Barmen, den 12. Mai 1943<br />
Meine liebe Lisbeth!<br />
Kommender Sonntag ist wieder der Ehrentag<br />
der deutschen Mutter, der wohl verdient, in<br />
unserem deutschen Vaterland gefeiert zu werden,<br />
auch in dieser so ernsten Kriegszeit. Da<br />
gehen unsere Gedanken zunächst zurück zu unserer<br />
längst heimgegangenen, so treuen Mutter.<br />
In 17 Tagen sind schon 12 Jahre vergangen,<br />
daß sie ihre lieben Augen schloß, daß sie für<br />
immer von uns schied: Wie lang <strong>und</strong> schwer<br />
waren die Leidensjahre, die sie so tapfer, so<br />
klaglos getragen hat! Wie schön war es für sie,<br />
daß sie Dich, unsere liebes Kind <strong>und</strong> ihre Enkelkinder<br />
nach 10 Jahren wenn auch nicht<br />
mehr sehend schauen, aber noch sprechen<br />
hören durfte. Immer noch gedenken wir in<br />
Liebe ihrer Treue, ihres nimmermüden Fleißes,<br />
ich der Vater ganz besonders, um dessen Wohl<br />
sie immer besorgt war. Aber doch ist es gut,<br />
daß sie diese neue, schwere Kriegszeit nicht<br />
mehr miterlebt, ihre schwache Kraft wäre diesen<br />
Jahren nicht mehr gewachsen gewesen,<br />
auch nicht den Sorgen der letzten Zeit, eines<br />
ganzen Jahres durch den (Sohn) Emil, der sie<br />
gar nicht wert ist. Dann gedenken wir auch<br />
Deiner, mein liebes Kind, der Du auch eine so<br />
treue, fleißige Mutter Deiner fünf Kinder bist,<br />
die Du auch im fernen Land so manch Schweres<br />
hast ertragen müssen, so oft Heimweh nach<br />
dem lieben deutschen Vaterland getragen hast.<br />
Um so mehr haben wir uns Eurer Heimkehr vor<br />
nunmehr 10 Jahren von Herzen gefreut. Gott<br />
hat alles so fre<strong>und</strong>lich geführt, daß Ihr hier<br />
sein dürft, daß Ihr nicht noch im fernen Lande<br />
seid, das nun in Gier <strong>und</strong> Haß die ganze Welt<br />
mit Krieg überzogen hat. Nun sind auch Deine<br />
Haare schon weiß geworden, es war auch gar<br />
viel, was Du erlebt hast seit dem 17. Oktober<br />
1923, als Du aus dem Elternhause schiedst.<br />
Noch oft weilen meine Gedanken an diesen Tagen<br />
in Bremen, an die Abfahrt des Schiffes von<br />
Bremerhaven, wo ich meiner Tränen nicht wehren<br />
konnte. Gott segne Dich weiter, meine liebe<br />
Lisbeth, er schenke Dir weiter Kraft zur Erfüllung<br />
Deiner schweren Mutterpflichten, zur Erziehung<br />
Deiner Kinder <strong>und</strong> zum Besten Deines<br />
lieben Mannes, dem Du doch so viel warst in<br />
dem langen Zeitraum von 20 Jahren. Wie gerne<br />
möchte ich noch den Tag Eurer Silberhochzeit<br />
erleben! Wenn auch meine Kraft immer mehr<br />
scheidet, besonders nach den Sorgen der letzten<br />
Monate. Vielleicht schenkt unser Gott doch<br />
noch diese wenigen Jahre. Wie schnell eilt doch<br />
immer die Zeit dahin! So freue ich mich schon<br />
von Herzen auf Deinen Besuch, sobald es Dir<br />
möglich sein wird, für ein paar Wochen aus<br />
dem Haushalt zu scheiden.<br />
Sonntag erhielten wir Deine lieben Zeilen.<br />
Es ist immer noch kühl, im Wohnzimmer sind es<br />
nur 13° R, was an sich zu wenig ist für mich,<br />
wenn ich still sitze <strong>und</strong> schreibe oder male.<br />
Wohl haben wir in den letzten Tagen st<strong>und</strong>enlang<br />
den Gasofen angemacht, da ich doch nicht<br />
mehr Innenwärme habe. Aber man soll ja an<br />
Gas <strong>und</strong> Strom sparen, täglich wird darauf hingewiesen.<br />
Und der elektr. Ofen kann nur im<br />
Luftschutzkeller angemacht werden, er ist ja<br />
nur als Notdurft gedacht, kann nicht in anderen<br />
Zimmern gebraucht werden.<br />
119
Möge Dir das mitfolgende Buch „Frau <strong>und</strong><br />
Mutter“ zu Deinem Ehrentage eine kleine<br />
Freude machen. Du weißt ja, wie es immer<br />
schwerer wird, irgend etwas zu erlangen.<br />
Nun sende ich Dir <strong>und</strong> allen Deinen Lieben<br />
die herzlichsten Grüße zum Muttertage, an<br />
dem auch die Kinder Dir gewiß irgend eine bescheidene<br />
Freude machen werden.<br />
In treuer Liebe Dein Vater.<br />
Liebes Lisalein! Nun bin ich mit Bügeln fertig<br />
u. grüße Dich nun zum Muttertag recht<br />
herzlich. Möchtest Du den deinen noch recht<br />
lange in Frische u. Kraft erhalten bleiben! Gott<br />
der Herr, der Euch bisher sichtlich leitete,<br />
schenke es Dir. (Gerade schrillen die Sirenen<br />
um 1 /4 n. 6) (...)<br />
Wie wird sich Dor(othea) über Euer Kommen<br />
gefreut haben! Wir denken viel an sie. Die<br />
Zeit bei dem Bauern Droste war sicher für sie<br />
eine gute Vorübung für den Arbeitsdienst. –<br />
Nun Dir, Karl <strong>und</strong> allen Kindern recht herzliche<br />
Grüße. Deine Bertha.<br />
Liebes Lisalein! Zum Muttertag auch von<br />
mir herzliche Grüße <strong>und</strong> gute Wünsche. Für die<br />
gesandten Milchtütchen danke ich Dir herzlich,<br />
sie kamen vorgestern an. Du darfst es<br />
aber nicht wieder tun. Wir bekommen ja auch<br />
alle 2 T(age) 1 1 /2 Liter u. jetzt, gegen Abtrennung<br />
von 100 gr. Fleischmarken wöchentlich<br />
für Vater täglich 1 /2 Ltr. Vollmilch für 8 Wochen<br />
Dauer. Du weißt ja nicht, wie lange Du selber<br />
noch Milch bekommst. Wir haben Sonntag 28<br />
Mütter zu ehren mit dem Mutterkreuz. Euch allen<br />
herzliche Grüße. Deine Grete<br />
Brief Emil Garschagens an die Familie seiner<br />
Tochter Elisabeth, mit Zusatz der beiden<br />
Schwestern:<br />
W.-Barmen, den 20. Mai 1943<br />
Ihr Lieben allesamt!<br />
Habt herzlichen Dank für Eure l(ieben) Zeilen<br />
vom 15. zum Muttertage. Ja, wir haben<br />
recht bedauert, daß Eure Reise nach Bramsche<br />
von so schlechtem, bösem Regenwetter begleitet<br />
war. (...)<br />
Wir konnten unseren „Mein Kampf“ nicht<br />
gut entbehren, da war es gut, daß ich noch den<br />
120<br />
guten Band kaufen konnte. In den meisten<br />
Buchläden war er vergriffen. Wie ich hörte, sollen<br />
vor Oktober überhaupt Bücher nicht mehr<br />
verkauft werden. (...)<br />
Ja, wir Alten müssen dankbar sein für jeden<br />
guten Tag, den Gott uns schenkt. Bei mir liegt<br />
vieles an der oft schlechten Nachtruhe. Wie ich<br />
des nachts schlafe, so ist dann mein Tagesbefinden.<br />
Wir hatten ja mehrfach sehr böse<br />
Nächte, obgleich die beiden letzten Nächte<br />
ganz still waren. In der Nacht des so schweren<br />
Angriffs auf besonders Dortm<strong>und</strong> schwirrten<br />
1 /2 St<strong>und</strong>en lang die Flugzeuge immerfort unheimlich<br />
über Wuppertal. 2 Es zeigt eine so niederträchtige<br />
Gesinnung der angloamerikanischen<br />
Feindstaaten in dieser Kriegführung, wie<br />
sie die Weltgeschichte noch nicht sah! Und das<br />
Vernichtungswerk wird noch schlimmer, da der<br />
Haß <strong>und</strong> die Gier nach der Weltherrschaft gar<br />
zu groß ist. Hat sich doch die Ruchlosigkeit<br />
wieder gezeigt in dem so schweren Angriff auf<br />
unsere beiden größten Talsperren. Aber die<br />
Verluste sind doch nicht so hoch, als Gerüchte<br />
wahrhaben wollen, sie sind aber doch recht<br />
schwer. Und wieder ein Jude ist der Antreiber<br />
zu dieser Tat gewesen, wie die Engländer sich<br />
selbst rühmen! Die Vergeltung wird <strong>und</strong> darf<br />
nicht ausbleiben!<br />
Dir, lieber Karl, danke ich für Deine<br />
fre<strong>und</strong>liche Einladung, Euch in diesen schönen<br />
Sommertagen zu besuchen. Hier ist die Blütezeit<br />
schon dahin, nur Weißdorn <strong>und</strong> Ziersträucher<br />
stehen noch in voller Pracht. So reich war<br />
die Blüte wohl schon lange nicht wie in diesem<br />
Jahr. Auch Euer Garten steht nun in seiner<br />
Herrlichkeit, hoffentlich bringt er auch nach<br />
aller Arbeit <strong>und</strong> Mühe, die er von Euch, besonders<br />
von Dir erfordert, demnächst reiche<br />
Ernte. Aber so dankbar ich Dir für die liebe<br />
Einladung bin, so ist es doch für mich alten<br />
Mann, dessen Kräfte doch nicht wiederkommen<br />
werden, wohl besser, daheim zu bleiben.<br />
Hier fahre ich am Nachmittag oft zur Höhe,<br />
sitze dann lange in stiller Waldesluft <strong>und</strong> gehe<br />
dann langsam wieder heimwärts. (...) Aber<br />
herzlich freuen würde ich mich, wenn mein liebes<br />
Kind einmal wieder bei uns im Elternhause<br />
in der alten lieben Heimat sein würde, so lange<br />
es ihr möglich ist, von dort fortzukommen. (...)
Heute ist unserer treuen Mutter Todestag.<br />
Schon 12 Jahre sind dahin, daß sie von uns<br />
schied. Und doch ist es gut, daß sie diese<br />
schweren Kriegsjahre nicht mehr erlebt, sie<br />
wäre in ihrer schwachen Kraft solchen Zeiten<br />
nicht gewachsen. Wir können wohl ahnen, daß<br />
sie nochweit schwerer sein werden, wir wollen<br />
aber starken Mutes bleiben <strong>und</strong> der Zuversicht<br />
eines guten Endes unserer gerechten Sache.<br />
Nehmt Alle in treuer Liebe herzliche Grüße<br />
Euer Vater <strong>und</strong> Großvater<br />
Ihr Lieben in Schötmar!<br />
(...)<br />
Für Deine Wünsche zum Muttertag danke<br />
ich Dir auch noch herzlich, lieber Karl! Ich<br />
kann das nur nicht mehr für mich allein beanspruchen,<br />
denn Bertha macht ebenso viel wie<br />
ich, weil ich doch so oft ausgehen muß. Augenblicklich<br />
habe ich viel mit der Prüfung von<br />
Bombenschäden vom vorigen Jahre zu tun <strong>und</strong><br />
muß darum manchen Weg machen, da die Leute<br />
ja nicht mehr alle in unserer Ortsgruppe wohnen.<br />
(...)<br />
Euch allen viele herzliche Grüße, auch von<br />
Bertha, <strong>und</strong> Eurer Grete.<br />
(An die Ränder geschrieben):<br />
Vater hatte für Tante Else in Ch. ein Bild gemalt,<br />
weil sie damals den Wunsch geäußert<br />
hatte, nun schickte sie als Dank ein Säckchen<br />
Mehl, Fett-, Fleisch- <strong>und</strong> Käsemarken <strong>und</strong> 10,für<br />
Vaters Auslagen. Das Geld geht natürlich<br />
zurück, über alles andere haben wir uns sehr<br />
gefreut u. werden beim Kuchenessen an T. Else<br />
denken.<br />
Postkarte von Elisabeth Thiele geb. Garschagen<br />
an ihre Familie in Schötmar<br />
Barmen, 28.5.43<br />
Ihr Lieben alle! Nun hab ich schon die erste<br />
Nacht hinter mir. Zwischen den Schlafst<strong>und</strong>en<br />
saßen wir etwa 2 Std. im Keller. Gestern ist<br />
Martin wohl wieder gut heimgekommen. Er hat<br />
Euch gewiß von der drangvollen Enge des D-<br />
Zuges berichtet. Ich bin ja so eben nur reingekommen<br />
u. hab Martin nicht mal „Lebewohl“<br />
sagen können. In den andern Zügen war’s nicht<br />
so voll. In Hagen kam Alarm <strong>und</strong> alles mußte in<br />
die Unterführung. Nach einiger Zeit wurde gerufen,<br />
daß ein Zug nach W.-Barmen einliefe.<br />
Die Reisenden, die nach dort wollten, könnten<br />
einsteigen. So bin ich schnell eingestiegen,<br />
mußte dann aber in Rittershausen durchsausen,<br />
wo Grete <strong>und</strong> Bertha u. Vater vergeblich<br />
warteten. So bin ich dann mit Hilfe der<br />
Straßenbahn allein in d. Krautstraße angekommen<br />
u. habe dann noch die beiden in Oberbarmen<br />
abgeholt. Wie habt Ihr die Nacht verbracht?<br />
Was mag Friedrich heute machen?<br />
Nun seid von uns allen herzlich gegrüßt,<br />
besonders von Eurer Mutti (...)<br />
Ansichtskarte vom „Terrassen-Restaurant<br />
Jagdhaus Mollenkotten“ von Elisabeth Thiele<br />
geb. Garschagen an ihre Familie, mit Zusätzen<br />
ihrer Schwestern<br />
Wupp.Barmen, 29.5.43<br />
Ihr Lieben! Von einem kl. Ausflug in die<br />
schöne Umgebung unserer Wupperstadt sende<br />
ich Euch allen herzliche Grüße. Wir schauen<br />
über Wälder u. Felder über Berge u. Täler hinweg.<br />
Auf dem Rückweg gehen Bertha <strong>und</strong> ich<br />
ins Kränzchen. Großv. blieb daheim, weil er<br />
am Morgen schon einen Weg machte. – Frdr.<br />
hat nun wohl auch bald 2 Tage hinter sich. –<br />
Geht alles gut daheim in Sch.?<br />
In herzl. Gedenken! Eure Mutti<br />
Euch allen viele Grüße! Eure Bertha<br />
Von mir auch herzliche Grüße. Eure Grete<br />
Telegramm von Elisabeth Thiele geb. Garschagen<br />
an Pfarrer Karl Thiele in Schötmar,<br />
30. Mai 43, aufgegeben 20.20<br />
Vater, Bertha, Emil diese Nacht verschieden.<br />
Meine Abreise unmöglich<br />
Lisbeth<br />
Anmerkungen:<br />
1 vgl. Herbert Pogt (Hg.): Vor fünfzig Jahren.<br />
Bomben auf Wuppertal. Aufsätze <strong>und</strong> Zeitzeugenberichte.<br />
Wuppertal 1993 (Beiträge zur Geschichte<br />
<strong>und</strong> Heimatk<strong>und</strong>e des Wuppertals, Bd.<br />
36).<br />
121
2 vgl. Norbert Krüger: Die Großangriffe der<br />
Royal Air Force von März bis Juli 1943. In: Pogt<br />
(wie Anm. 1), S. 21 ff.; Dortm<strong>und</strong> war in der<br />
Hinrich Heyken<br />
Das große Wohnungsbauprojekt Nächstebreck 1971.<br />
Wendepunkt für Stadtplanung <strong>und</strong> Stadtentwicklung<br />
Das Projekt Nächstebreck, konkret die Entscheidung,<br />
diesen über Jahre geplanten neuen<br />
Stadtteil im Nordosten der Stadt nicht zu<br />
bauen, war ein Wendepunkt der Wuppertaler<br />
Stadtentwicklungspolitik der Nachkriegszeit.<br />
Sie beendete in Wuppertal die Zeit der städtebaulichen<br />
Großprojekte <strong>und</strong> der expansiven<br />
122<br />
Nacht vom 4. auf den 5. Mai <strong>und</strong> vom 23. auf<br />
den 24. Mai 1943 das Ziel britischer Fliegerangriffe.<br />
Siedlungsentwicklung <strong>und</strong> kostete die Stadt<br />
einen Oberstadtdirektor. Das Projekt ist zudem<br />
typisch für kommunale Planungs- <strong>und</strong> Entscheidungsprozesse.<br />
Auch deshalb ist es durchaus<br />
interessant, den Planungsverlauf nochmals<br />
nachzuvollziehen.<br />
Modell des Neubauprojektes Nächstebreck mit der geplanten Streckenführung der Schwebebahn.<br />
Blickrichtung: von der Beule nach Norden. – Foto: Verfasser.
I. Vorgeschichte<br />
1. Prof. Friedrich Hetzelt – der Initiator<br />
Die meist relativ flach geneigten, der Sonne<br />
zugewandten Hänge des Höhenrückens, der<br />
das Tal der Wupper nach Norden abschließt,<br />
die sog. „Sonnenterrasse“ des Tales, war in den<br />
Augen der Planer des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts, als<br />
den Städten Elberfeld <strong>und</strong> Barmen angesichts<br />
des ständigen Bevölkerungszuzugs allmählich<br />
das Tal zu eng wurde, das bevorzugte Stadterweiterungsgebiet.<br />
Die Stadt Elberfeld plante<br />
hier bereits in den 20er Jahren große neue<br />
Wohngebiete. Der große städtebauliche Wettbewerb<br />
von 1939 der neuen Stadt Wuppertal<br />
sah hier einen Kranz von „nationalsozialistischen<br />
Gemeinschaftssiedlungen“ vor. Der nach<br />
dem 2. Weltkrieg aufgestellte Leitplan von<br />
1952 enthielt den Bereich Uellendahl als<br />
großes neues Wohngebiet 1 . Im 10 Jahre später<br />
erarbeiteten <strong>und</strong> aufgestellten Flächennutzungsplan<br />
der Stadt werden die bestehenden<br />
Siedlungsansätze <strong>und</strong> Planungen aufgegriffen<br />
<strong>und</strong> zu einem Siedlungsband von Katernberg<br />
über Uellendahl <strong>und</strong> Stahlsberg/Schraberg/<br />
Sternenberg bis hin nach Nächstebreck weiter<br />
entwickelt. In Nächstebreck sind im Plan beiderseits<br />
des Bachtales Mählersbeck um Haarhausen<br />
<strong>und</strong> am Nächstebrecker Berg drei neue<br />
Siedlungsflächen dargestellt. Es handelt sich<br />
um insgesamt rd. 60 ha, die hier als mögliche<br />
Wohnbaufläche für etwa 1700 Wohnungen<br />
oder ca. 5.100 Bewohner vorgesehen werden 2 .<br />
Der Flächennutzungsplan von 1963 markiert<br />
die Zeit der Expansion der Stadt nach dem<br />
Jahrzehnt des Wiederaufbaus. Ab Ende der<br />
50er Jahre wird die Erschließung <strong>und</strong> Besiedlung<br />
des Uellendahls in Angriff genommen.<br />
Als erste größere Neubausiedlung entsteht hier<br />
ab 1959 der Domagkweg. Die Stadt boomte:<br />
Die Wirtschaft wächst <strong>und</strong> klagt schon bald<br />
über fehlende Arbeitskräfte; die ersten „Gastarbeiter“<br />
werden 1960 mit großem Empfang am<br />
Bahnhof Elberfeld begrüßt 3 . Die Einwohnerzahl<br />
wächst von Jahr zu Jahr, 1963 wird mit<br />
423.450 Einwohnern der geschichtlich höchste<br />
Bevölkerungsstand in der Stadt gezählt. Die<br />
Nachfrage nach Wohnungen kann bei weitem<br />
nicht befriedigt werden, obwohl Anfang der<br />
60er Jahre noch über 3.000 Wohnungen jährlich<br />
fertiggestellt wurden. Das Statistische Amt<br />
veröffentlicht 1968 eine Analyse der Wanderungsmotive<br />
<strong>und</strong> kommt darin zu dem Ergebnis,<br />
dass die steigende Zahl der Fortzüge in erster<br />
Linie durch die schlechte Wohnungsversorgung<br />
verursacht wird <strong>und</strong> dass der Anteil junger<br />
qualifizierter Familien dabei besonders<br />
groß ist. Zugleich wird darauf hingewiesen,<br />
dass die Wohnungsbauleistung geringer ist als<br />
in vergleichbaren Großstädten 4 . Der Drang der<br />
Wohnungsbaugesellschaften nach neuem Bauland<br />
ist dementsprechend groß.<br />
Prof. Friedrich Hetzelt, seit 1953 Baudezernent<br />
der Stadt, ist immer bemüht, neue Projekte<br />
anzustoßen. Da die Stadt kaum Bodenvorratspolitik<br />
betreibt, müssen Wohnungsbaugesellschaften<br />
interessiert werden. Dies gelingt<br />
ihm auch für Nächstebreck. Nach Vorgesprächen<br />
findet am 15. Juli 1966 ein Gespräch<br />
bei OStD Werner Stelly mit Vertretern einer<br />
Trägergemeinschaft von mehreren Wohnungsbaugesellschaften<br />
statt, die auf privater Gr<strong>und</strong>lage<br />
Gr<strong>und</strong>stückserwerb, Erschließung <strong>und</strong><br />
Bebauung in Nächstebreck übernehmen will.<br />
OStD Stelly begrüßt zwar das Vorhaben, ist allerdings<br />
zurückhaltend beim Angebot konkreter<br />
Unterstützung. Die Stadt sei angesichts ihres<br />
Engagements in Uellendahl <strong>und</strong> Gennebreck<br />
zu keiner finanziellen Förderung oder zu<br />
Gr<strong>und</strong>stückskäufen in der Lage. Möglich sei<br />
allenfalls die alsbaldige Aufstellung eines BebauungspIanes.<br />
Vorab müsse aber dafür ein<br />
städtebaulicher Wettbewerb durchgeführt werden,<br />
um ein städtebaulich gutes Konzept zu<br />
entwickeln. 5 .<br />
Daraus werden zahlreiche weitere Gespräche.<br />
Im Mai 1967 werden dann auch die<br />
Fraktionen von Prof. Hetzelt auf das Konturen<br />
gewinnende Projekt eingestimmt. Er veranstaltet<br />
mit Ratsmitgliedern eine R<strong>und</strong>fahrt durch<br />
den Nordosten der Stadt <strong>und</strong> skizziert bei dieser<br />
Gelegenheit das Bild einer in Nächstebreck<br />
möglichen neuen Siedlung für 7.000 Einwohner<br />
6 . Im November 1967 beantragt dann<br />
die SPD im Bauausschuss im Rahmen der<br />
Haushaltsplanberatungen die Aufnahme von<br />
150.000 DM in den Haushalt für die Vergabe<br />
123
von Gutachten für das Nächstebreck-Projekt.<br />
Damit ist nun das Projekt „eingestielt“.<br />
2. Städtebauliches Gutachten 1968<br />
Noch im Dezember 1967 werden die Professoren<br />
Angerer (München), Kühn (Aachen)<br />
<strong>und</strong> Spengelin (Hannover) mit der Erarbeitung<br />
städtebaulicher Gutachten beauftragt. Für ein<br />
Honorar von jeweils 22.000 DM soll für das<br />
Gebiet zwischen der im Bau befindlichen<br />
B 326 (heute A 46) 7 , Mählersbeck <strong>und</strong> DB-<br />
Strecke nach Hattingen mit ca. 85 ha Wohnbauland<br />
<strong>und</strong> – östlich der DB – ca. 60 ha Gewerbegebiete<br />
eine geschlossene Gesamtkonzeption<br />
entwickelt werden.<br />
Eine Obergutachterkommission unter Vorsitz<br />
von Prof. Machtemes (Düsseldorf) beurteilt<br />
im Januar 1969 die eingegangenen Vorschläge<br />
8 . Sie kommt zu dem Ergebnis, dass das<br />
vorgesehene Baugebiet, „insbesondere das<br />
Wohngebiet, eines der wenigen großen zusammenhängenden<br />
Gebiete (ist), das die Stadt<br />
Wuppertal noch zur Verfügung hat. Darin liegt<br />
eine Chance, etwas Besonderes zu schaffen“. 9<br />
Die Konzeption von Prof. Spengelin wird<br />
trotz einiger Einwände hinsichtlich der als zu<br />
aufwendig angesehenen Verkehrserschließung<br />
vor allem wegen der von ihm entwickelten besonderen<br />
Wohnformen (Terrassenbau) als<br />
Gr<strong>und</strong>lage für die weitere Planung empfohlen.<br />
Die Wohnbaufläche ist nun inzwischen auf 160<br />
ha gewachsen, auf denen Wohnungen für<br />
22.000 Einwohner vorgesehen sind mit einem<br />
eigenen Geschäftszentrum. Östlich der Bahn<br />
sollen in den geplanten Gewerbegebieten neue<br />
Arbeitsplätze für 4.000 bis 7.000 Beschäftigte<br />
entstehen 10 . Die Anbindung an den ÖPNV soll<br />
entweder über die DB-Strecke (S-Bahn-Ausbau)<br />
oder über eine Verlängerung der Schwebebahn<br />
erfolgen. Die Obergutachter bezweifeln<br />
allerdings die Leistungsfähigkeit der DB<br />
angesichts der Eingleisigkeit, der besonderen<br />
Trassenführung <strong>und</strong> dem Industrieverkehr. Sie<br />
schlagen eine Untersuchung der Möglichkeiten<br />
vor, die Schwebebahn nach Nächstebreck bis<br />
in die vorgesehenen Gewerbegebiete hinein zu<br />
verlängern.<br />
124<br />
Diese Empfehlung wird am 24. März 1969<br />
dem Rat vorgelegt. Norbert Jensen, der neue<br />
Baudezernent 11 <strong>und</strong> Nachfolger des zum 31.<br />
Juli 1968 in den Ruhestand getretenen Prof.<br />
Friedrich Hetzelt, erläutert auf der Ratssitzung<br />
am 24. März 1969 die Planung <strong>und</strong> verkündet,<br />
dass „Prof. Spengelin, der Entwerfer von<br />
Nächstebreck, sich bereit erklärt (hat), gemeinsam<br />
mit der Wuppertaler Stadtverwaltung den<br />
Gesamtbebauungsplan für den neuen Stadtteil<br />
Nächstebreck zu entwickeln“ 12 . Sprecher aller<br />
Fraktionen, Walter Jahnke für die SPD, Kurt<br />
Drees für die CDU <strong>und</strong> Karl-Otto Dehnert für<br />
die FDP, befürworten das Planungskonzept <strong>und</strong><br />
erwarten eine schnelle Realisierung sowohl der<br />
Gewerbegebiete als auch der neuen Wohngebiete.<br />
Es bestand allseits die Hoffnung, die<br />
Wohnungsprobleme der Stadt mit einem<br />
Schlage weitestgehend zu lösen. Kurt Drees<br />
insbesondere moniert, dass seit sechs Jahren,<br />
seit der Vorlage des Flächennutzungsplans, geplant<br />
<strong>und</strong> geplant werde <strong>und</strong> – außer dem jetzt<br />
vorgelegten Gutachten – immer noch keine<br />
konkreten Ergebnisse vorlägen. Es geht ihm alles<br />
viel zu langsam 13 .<br />
Am 19. Mai 1969 beschließt der Rat die<br />
Aufstellung eines Gesamtbebauungsplanes sowie<br />
die Wahrnehmung des Vorkaufsrechts in<br />
diesem Gebiet. Damit ist nunmehr die Stadt<br />
nach anfangs vorsichtiger Zurückhaltung voll<br />
in das Projekt eingestiegen, das zudem in dem<br />
bisherigen Planungsprozess eine Dimension<br />
erhalten hat, die alle bisherigen Projekte der<br />
Stadt weit hinter sich lässt.<br />
Auch die Trägergemeinschaft gewinnt<br />
Konturen. Als Sprecherin fungiert die Treufinanz.<br />
Sie erwartet eine Beteiligung an der Planung<br />
von Prof. Spengelin, „um die Wirtschaftlichkeit<br />
zu garantieren“ 14 . Die Wohnungsbaugesellschaften<br />
haben bis zu diesem Zeitpunkt<br />
in Nächstebreck nach einer Zusammenstellung<br />
des Liegenschaftsamtes Gr<strong>und</strong>stücke im Umfang<br />
von 65 ha zu Preisen zwischen 20,–/qm<br />
<strong>und</strong> 25,–/qm <strong>und</strong> einem Gesamtaufwand von<br />
über 15 Mio. DM erworben. Auch die Stadt<br />
Wuppertal einschließlich der GWG ist mit rd.<br />
10 ha dabei. 15<br />
Zum 1. 1. 1970 tritt zudem die erste Gebietsreform<br />
in Kraft. Dreigrenzen, der nord-
östliche Zipfel des Stadtgebietes mit der kleinen<br />
Siedlung Erlenrode, wird eingemeindet.<br />
Nächstebreck wird damit bis zum Autobahnkreuz<br />
Wuppertal-Nord erweitert.<br />
II. Das Projekt<br />
1. Spengelin-Planung 1969-1970<br />
Das Planungsbüro von Prof. Spengelin erhält<br />
am 20. Oktober 1969 vom Rat den Planungsauftrag<br />
für das Projekt Nächstebreck.<br />
Spengelin erhält ein Büro im Verwaltungsgebäude<br />
Elberfeld, in dem damals noch das Baudezernat<br />
untergebracht ist, <strong>und</strong> beginnt zu planen.<br />
Bis Ende 1970 soll die Planung stehen.<br />
Zunächst einmal wird das Planungsgebiet<br />
erweitert. Es reicht jetzt von der A 1 im Osten<br />
<strong>und</strong> der B 326 (A46) im Norden einschließlich<br />
des gerade eingemeindeten Gebietes Dreigrenzen/Erlenrode<br />
bis zur Märkischen Straße im<br />
Westen. Sodann werden Gutachten vergeben<br />
an Frau Prof. Dr. Spiegel (Dortm<strong>und</strong>) zur Behandlung<br />
der soziologischen Aspekte; an Prof.<br />
Dr. Tietz (Saarbrücken) zu Fragen des Geschäftszentrums<br />
<strong>und</strong> an Prof. Dr. Mäcke (Aachen)<br />
zur Planung der Verkehrserschließung.<br />
In vielen Arbeitssitzungen <strong>und</strong> Abstimmungsgesprächen<br />
im großen Raum 200 des Elberfelder<br />
Verwaltungsgebäudes wird dann im Laufe<br />
des Jahres 1970 der Entwurf eines Gesamtbebauungsplanes,<br />
wie es im Auftrag heißt, oder<br />
eines Strukturkonzeptes, wie diese Stufe der<br />
Planung von den Planern bezeichnet wird, entwickelt<br />
16 .<br />
Es wird schließlich ein neues Wohngebiet<br />
für 28.000 Einwohner konzipiert, wobei der<br />
gesamte unbebaute Bereich südlich der A 46<br />
zwischen Eisenbahn im Osten <strong>und</strong> Haarhausen/Gennebrecker<br />
Str. im Westen in die Planung<br />
einbezogen ist. Die Gesamtplanung erstreckt<br />
sich nun über eine Fläche von 173 ha.<br />
Die Wohnbebauung konzentriert sich auf die<br />
Bereiche Nächstebrecker Berg <strong>und</strong> Haarhausen<br />
um das von Prof. Tietz geplante Geschäftszentrum<br />
herum, das nun seinen Standort im oberen<br />
Mählersbecktal findet. Die Größe des konzipierten<br />
Zentrums erfordert allerdings nun rd.<br />
40.000 Einwohner im Einzugsbereich, um ausreichend<br />
Kaufkraft für das Zentrum zu gewährleisten.<br />
Dabei wird davon ausgegangen, dass in<br />
den zukünftigen Randbereichen des neuen<br />
Stadtteils bereits 10.000 Einwohner leben, so<br />
dass die Planung für den neuen Stadtteil auf<br />
28.000 Einwohner ausgelegt wird. Der Bereich<br />
Haarhausen wird daher nochmals stärker in die<br />
Wohnbebauung einbezogen. Die nach Süden<br />
orientierten Hänge werden für eine Terrassenbebauung<br />
genutzt, die trotz einer dichten Bebauung<br />
eine gute Besonnung <strong>und</strong> Aussichtslage<br />
ermöglichen. Eine verdichtete, sprich<br />
Hochhausbebauung ist insbesondere im Umfeld<br />
des vorgesehenen Zentrums <strong>und</strong> entlang<br />
der ÖPNV-Erschließung geplant. Die Bebauung<br />
ist gr<strong>und</strong>sätzlich – mit Ausnahme des Zentrums<br />
– auf den Höhenrücken angeordnet,<br />
während die Talzüge der Mählersbeck <strong>und</strong> Junkersbeck<br />
als Grünzonen gedacht sind. Im unteren<br />
Mählersbecktal oberhalb des Freibades soll<br />
ein See aufgestaut werden, der zugleich die<br />
Funktion eines großen Regenrückhaltebeckens<br />
für den Gesamtbereich haben würde.<br />
Die Verkehrserschließung soll über eine<br />
vierspurig ausgebaute Straßenachse von der<br />
Märkischen Str. über Haarhausen <strong>und</strong> das<br />
Mählersbeck-Tal zur Wittener Straße mit Einmündung<br />
im Bereich Uhlenbruch erfolgen. Als<br />
ÖPNV-Anbindung wird eine S-Bahn geplant,<br />
wobei die Trasse der Eisenbahn in einem Bogen<br />
nach Westen in den Bereich der Mählersbeck<br />
verlegt <strong>und</strong> von dort wieder zum vorhandenen<br />
Tunnel geführt werden soll. Die B<strong>und</strong>esbahn<br />
erklärt sich zu einem zweigleisigen S-<br />
Bahn-Ausbau der Strecke mit 10-Minuten-Takt<br />
als Teil der geplanten S 9 Mönchengladbach –<br />
Hagen bereit. Die Kosten des Ausbaus werden<br />
auf 70 Mio. DM geschätzt. Alternativ wird<br />
auch eine Verlängerung der Schwebebahn<br />
geplant, die von Oberbarmen, Hilgershöhe,<br />
Beule, Mählersbeck über den Nächstebrecker<br />
Berg bis in das geplante Gewerbegebiet an der<br />
Wittener Straße führen könnte. Die Kosten der<br />
Schwebebahnverlängerung werden in der gleichen<br />
Größenordnung geschätzt. Die Planer bevorzugen<br />
allerdings die Schwebebahn, weil sie<br />
eine kürzere Taktfolge, eine direkte Anbindung<br />
an das städtische Verkehrsnetz <strong>und</strong> eine siche-<br />
125
ere Zukunftsperspektive bietet. Im neuen Stadtteilzentrum<br />
würde die Haupterschließungsstraße<br />
ebenso wie die neue S-Bahn bzw. die<br />
Schwebebahn eine Ebene oberhalb der Fußgängerachse<br />
verlaufen, so dass das Zentrum<br />
sowohl über den ÖPNV als auch für das Auto<br />
gut erreichbar ist.<br />
In Zuordnung zu den Wohngebieten sind<br />
sieben Kindergärten <strong>und</strong> zwei Kindertagesstätten,<br />
fünf Gr<strong>und</strong>schulen <strong>und</strong> zwei Gesamtschulen<br />
mit insgesamt 24 Zügen sowie drei Standorte<br />
für Freizeiteinrichtungen <strong>und</strong> ein Bürgerhaus<br />
vorgesehen. Schwerpunkt im Freizeitbereich<br />
ist dabei die Ausgestaltung des Bereichs<br />
Reppkotten mit 18 ha Fläche. Daneben ist eine<br />
Sport- <strong>und</strong> Freizeitanlage im Zusammenhang<br />
mit der vorgesehenen Gesamtschule geplant<br />
sowie eine dritte Anlage im Mählersbecktal/<br />
Schrubburg.<br />
Es entsteht, soweit man das anhand der Modellphotos<br />
<strong>und</strong> Planerprotokolle beurteilen<br />
kann, eine städtebaulich ansprechende Planung,<br />
die die topografischen Gegebenheiten<br />
konsequent nutzt <strong>und</strong> auf einer f<strong>und</strong>ierten<br />
Versorgungsplanung aufbaut. Die ersten, teilweise<br />
negativen Erfahrungen anderer Städte<br />
mit den großen Neubausiedlungen der 60er<br />
Jahre sind diskutiert <strong>und</strong> im Planungskonzept<br />
berücksichtigt. Planerisch erfassbare <strong>und</strong> darstellbare<br />
Bedürfnisse <strong>und</strong> Bedarfe sind integriert.<br />
Das Nächstebreck-Projekt dokumentiert<br />
damit auch den Stand der Städtebauplanung.<br />
Diese Planung geht nun zu Beginn des Jahres<br />
1970 in die politische <strong>und</strong> öffentliche Diskussion.<br />
Ein Vertrag mit den möglichen Maßnahmeträgem<br />
zur Übernahme der weiteren Planung<br />
der Wohnungen <strong>und</strong> der Erschließung<br />
war ebenfalls vorbereitet. Nun muss der Rat<br />
verbindlich entscheiden, ob dieses Projekt so<br />
realisiert werden soll. Die Wohnungsbaugesellschaften<br />
warten praktisch mit dem Spaten in<br />
der Hand.<br />
2. Kritische Diskussion<br />
Die kommunalpolitische Wetterlage hatte<br />
sich nun allerdings nach der Kommunalwahl<br />
vom 9. Nov. 1969, die eine Reihe neuer Stadt-<br />
126<br />
verordneter in den Rat brachte, verändert.<br />
Noch bis 1970 war die Planung, über deren<br />
Fortgang die Verwaltung regelmäßig in den<br />
Ausschüssen berichtet hatte, zumindest in den<br />
Gremien immer auf eine einvernehmliche Zustimmung<br />
bei den Ratsfraktionen gestoßen 17 .<br />
Kritische Anmerkungen richteten sich allenfalls<br />
gegen die lange Dauer des Planungsprozesses.<br />
Inzwischen allerdings ist mit der wachsenden<br />
Dimension der Planung auch die Kritik<br />
an dem Projekt gewachsen – zunächst offenbar<br />
innerhalb der Verwaltung, dann aber auch in<br />
der Presse <strong>und</strong> in der Politik.<br />
In der Verwaltung entwickelt sich Joachim<br />
Ahlemann, Stadtentwicklungsdezernent seit<br />
dem 1.1.1969, zum Wortführer der Kritiker.<br />
Ahlemann, Jurist, war 1960 zunächst als Referent<br />
von OStD Werner Stelly <strong>und</strong> später Friedrich<br />
Hetzelt in den Dienst der Stadt getreten,<br />
wurde dann 1966 Leiter der Wirtschaftsförderung<br />
sowie der neu eingerichteten Stadtentwicklung<br />
<strong>und</strong> am 25. Nov. 1968 zum Beigeordneten<br />
gewählt 18 . In seine Zuständigkeit fielen<br />
das neue Amt für Stadtentwicklung, das Statistische<br />
Amt sowie das Liegenschaftsamt. Aus<br />
der gesamtstädtischen Perspektive kamen denn<br />
auch die kritischen Fragestellungen zu möglichen<br />
Auswirkungen <strong>und</strong> Konsequenzen einer<br />
Realisierung dieses Großprojektes.<br />
Denn Ende der 60er Jahre zeichneten sich<br />
entscheidende Veränderungen für die bisher<br />
auf kontinuierliches Wachstum eingerichtete<br />
Stadt ab. Seit 1963 begann die Einwohnerzahl<br />
zu sinken. Prognosen zeigten, dass die Abnahmen<br />
anhalten würden; der gerade einsetzende<br />
„Pillenknick“, die Abnahme der Geburtenzahlen<br />
nach Einführung der Antibabypille, ließ<br />
eher einen stärkeren Bevölkerungsrückgang<br />
für die nächsten Jahrzehnte erwarten. Jedenfalls<br />
wurde eine Entwicklung in Richtung auf<br />
die noch im Flächennutzungsplan angenommenen<br />
450.000 Einwohner mehr als unwahrscheinlich.<br />
Und 1966/67 hatte es die erste Rezession<br />
gegeben, die Wuppertal besonders gebeutelt<br />
hatte. Dies wies erstmals auf die besonderen<br />
Probleme der Wuppertaler Wirtschaft<br />
hin. In späteren Analysen <strong>und</strong> Untersuchungen<br />
wurde die erkennbare Wachstumsschwäche<br />
<strong>und</strong> Konjunkturanfälligkeit meist auf einen
einfachen Nenner gebracht: klein- <strong>und</strong> mittelständische<br />
Betriebsstruktur, Gemengelagen,<br />
Flächenknappheit, die mit dem Wiederaufbau<br />
aus der Vergangenheit als alter Industriestadt<br />
übernommen worden waren. Aus dem Eindruck<br />
der Rezession waren Stadtentwicklung<br />
<strong>und</strong> Wirtschaftsförderung zunächst als Stab<br />
beim Oberstadtdirektor, dann ab 1970 als zwei<br />
neue Ämter eingerichtet worden.<br />
Wo würden denn nun bei einer insgesamt<br />
sinkenden Bevölkerung die 28.000 Bewohner<br />
der neuen Wohnungen in Nächstebreck herkommen?<br />
Es konnten doch überwiegend nur<br />
Wuppertaler sein, die hier eine neue Wohnung<br />
beziehen würden. Als Folge würde sich die Talsohle<br />
mit ihren beengten <strong>und</strong> umweltbelasteten<br />
Wohngebieten <strong>und</strong> alten Wohnungen drastisch<br />
entleeren. Die dort vorhandene Infrastruktur<br />
würde nicht mehr ausgelastet sein, während<br />
mit erheblichem Kostenaufwand in Nächstebreck<br />
neue Infrastruktureinrichtungen entstehen<br />
müssten. Es müsse deshalb vielmehr<br />
Schwerpunkt der Wohnungspolitik sein, das<br />
Wohnumfeld <strong>und</strong> die Wohnungsqualität in den<br />
alten Wohngebieten zu verbessern, um die<br />
Randwanderung in Grenzen zu halten. Das<br />
Nächstebreck-Projekt könne aber nur durchgezogen<br />
werden, wenn auch die zu erwartenden<br />
Fördermittel hier konzentriert eingesetzt würden.<br />
Damit bliebe aber für die übrigen Stadtgebiete<br />
<strong>und</strong> insbesondere für die erforderlichen<br />
Sanierungsmaßnahmen kein finanzieller Spielraum<br />
mehr. Wegen der fehlenden Nachfrage<br />
nach den alten Wohnungen würde in den alten<br />
Wohngebieten zudem auch die private Investitionstätigkeit<br />
eher sinken. Dies würde zugespitzt<br />
darauf hinauslaufen, dass ein neuer<br />
Stadtteil von der Größenordnung Cronenbergs<br />
oder Ronsdorfs gebaut werde, während gleichzeitig<br />
die Kerngebiete der alten Stadt herunterkommen<br />
<strong>und</strong> verslummen würden.<br />
Die Kosten des Projektes wurden insgesamt<br />
auf eine Größenordnung von weit über<br />
eine Milliarde DM geschätzt. Der Kostenanteil<br />
der Stadt sollte sich nach diesen Schätzungen<br />
auf etwa 310 Mio. DM belaufen 19 , wobei die<br />
Förderung durch das Land eine weitgehend unbekannte<br />
<strong>und</strong> strittige Größe blieb, da es feste<br />
Zusagen natürlich zu diesem Zeitpunkt nicht<br />
gab 20 . Dieses im Raume stehende Finanzvolumen<br />
brachte auch den Kämmerer Dr. Elmar<br />
Schulze 21 auf die Seite der Kritiker, der eine finanzielle<br />
Überforderung der Stadt befürchten<br />
musste.<br />
Die Alternative der Gegner des Projektes<br />
heißt: dezentrale Deckung des Wohnungsbedarfs<br />
stadtnah <strong>und</strong> in allen Stadtteilen unter<br />
Ausnutzung der vorhandenen Infrastruktur.<br />
Auch in einem solchen Konzept gäbe es genügend<br />
Wohnungsbaumöglichkeiten in Wuppertal.<br />
Mitte 1970 erteilt OStD Stelly seinen Dezernenten<br />
den Auftrag, diese Wohnungsbaumöglichkeiten<br />
in der Stadt zusammenzustellen<br />
<strong>und</strong> zu prüfen, ob sie denn unter Abschätzung<br />
der Realisierungsmöglichkeiten<br />
ausreichend sein können. Die von der Bauverwaltung<br />
in einer ersten „Rangfolge der Bebauungspläne“<br />
zusammengestellten Baumöglichkeiten<br />
führen allerdings zunächst zu dem Ergebnis,<br />
dass daneben eben auch das Projekt<br />
Nächstebreck realisiert werden müsse, um die<br />
für erforderlich gehaltenen 3.200 Wohnungen<br />
jährlich bauen zu können 22 .<br />
Befürworter des Nächstebreck-Projektes<br />
waren neben OStD Werner Stelly vor allem<br />
Baudezement Norbert Jensen, der das Projekt<br />
bei seinem Amtsantritt von seinem Vorgänger<br />
Prof. Friedrich Hetzelt übernommen hatte, <strong>und</strong><br />
Beig. Günther Reichardt. Er war Rechtsanwalt<br />
<strong>und</strong> Fraktionsvorsitzender der FDP im Rat gewesen<br />
<strong>und</strong> zusammen mit Ahlemann am<br />
25. November 1969 gewählt worden. Ihm unterstanden<br />
das neue Amt für Wirtschaftsförderung<br />
sowie das Amt für Bauförderung. Die Argumente<br />
konzentrierten sich denn auch eher<br />
auf den Wohnungsbedarf, der damals auf über<br />
30.000 Wohnungen geschätzt wurde, die bis<br />
1980 gebaut werden müssten. Dies sei nur<br />
durch ein großes Projekt möglich <strong>und</strong> in Wuppertal<br />
sei solch ein Projekt nur in Nächstebreck<br />
möglich, wo die erforderlichen großen Flächen<br />
zur Verfügung <strong>und</strong> mögliche Träger bereit<br />
stünden. Das Projekt sei u.a. auch deshalb vorbildlich,<br />
weil in unmittelbarer Nähe in den geplanten<br />
Gewerbegebieten Tausende von neuen<br />
Arbeitsplätzen entstünden, eine hervorragende<br />
Verkehrsanbindung mit Schwebebahn oder<br />
S-Bahn vorgesehen sei <strong>und</strong> ein attraktiver<br />
127
Stadtteil mit modernen Wohnungen <strong>und</strong> der topographischen<br />
Situation entsprechenden interessanten<br />
Wohnformen entstehen würde. Die<br />
Wohnqualität werde mithin hervorragend sein<br />
<strong>und</strong> könne deshalb wieder neue Arbeitskräfte<br />
nach Wuppertal ziehen oder zumindest hier<br />
binden. Die Deckung eines Großteils des Wohnungsbedarfs<br />
am Stadtrand sei zudem eine<br />
Voraussetzung für eine wirksame Sanierung<br />
der dicht bebauten, engen alten <strong>und</strong> „übervölkerten“<br />
Wohngebiete in der Talsohle, weil hier<br />
ohne eine gewisse Auflockerung gar keine besseren<br />
Wohnverhältnisse geschaffen werden<br />
könnten. Größere Finanzierungsprobleme werden<br />
von den Befürwortern nicht gesehen, da<br />
beträchtliche Zuschüsse des Landes erwartet<br />
werden <strong>und</strong> sich deshalb der Finanzaufwand<br />
der Stadt auf etwa 120 Mio. DM belaufen<br />
würde, der sich zudem auf einen Zeitrahmen<br />
von etwa 10 Jahren verteilen würde. Dafür<br />
bekäme man aber über die Neubaugebiete hinaus<br />
die komplette neue Infrastruktur für ein<br />
großes Stadtgebiet, in dem mehr als 40.000<br />
Einwohner schließlich optimal versorgt würden.<br />
Aber auch in der breiteren Öffentlichkeit<br />
wird das Projekt nun mehr <strong>und</strong> mehr kontrovers<br />
diskutiert. Hier melden sich vor allem die<br />
Architekten zu Wort. Der „Kontaktkreis<br />
freischaffender Architekten“ <strong>und</strong> sein Vorsitzender<br />
Heinz Kisler mobilisieren die Berufskollegen<br />
<strong>und</strong> entwickeln die Gegenposition,<br />
dass zur Deckung des Wohnungsbedarf kein<br />
neuer Stadtteil erforderlich sei, sondern nur<br />
eine konsequente Ausschöpfung von stadtnah<br />
bestehenden Wohnungsbaumöglichkeiten. Die<br />
Bandstruktur der Stadt dürfe nicht durch eine<br />
Satellitenstadt zerstört, sie müsse vielmehr<br />
durch eine zentren- <strong>und</strong> infrastrukturorientierte<br />
Bebauung ausgebaut werden. Hier treffen sich<br />
die Überlegungen der Architektenschaft mit<br />
denen der Projektgegner in der Verwaltung.<br />
Der Kontaktkreis entwickelt ein konkretes<br />
Konzept, das eine Vielzahl von solchen Bebauungsmöglichkeiten<br />
aufzeigt. Im Februar 1971<br />
geht er damit in die Öffentlichkeit auf einem<br />
CDU-Forum, auf dem offiziell nicht über das<br />
Projekt Nächstebreck gesprochen werden soll<br />
<strong>und</strong> auf denen die geladenen Beigeordneten<br />
128<br />
Ahlemann <strong>und</strong> Jensen auf Anordnung von<br />
OStD Stelly nicht erscheinen dürfen 23 . Auf<br />
einer besonderen R<strong>und</strong>fahrt mit Journalisten<br />
werden viele dieser aus Sicht der Architekten<br />
potentiellen Wohnbauflächen mit durchschlagendem<br />
Erfolg plastisch vorgeführt, obwohl<br />
eine kritische Überprüfung der Vorschläge von<br />
Seiten der Verwaltung bereits sehr viele Abstriche<br />
<strong>und</strong> Probleme aufzeigt 24 . In der veröffentlichten<br />
Meinung beginnen nun aber die kritischen<br />
Fragen <strong>und</strong> die Ablehnung die Berichterstattung<br />
zu dominieren 25 .<br />
In der Verwaltung versucht OStD Werner<br />
Stelly vergeblich, eine „einheitliche Verwaltungsmeinung“<br />
herzustellen. In vielen der<br />
montäglichen Dezernentensitzungen kommt<br />
das Thema Nächstebreck kontrovers zur Sprache.<br />
Die von Stelly von den Kontrahenten zur<br />
Entscheidungsfindung geforderte Gegenüberstellung<br />
des Für <strong>und</strong> Wider bringt für diese<br />
Gr<strong>und</strong>satzproblematik der zukünftigen Stadtentwicklung<br />
keine Lösung, sie sind nicht unter<br />
einen Hut zu bringen.<br />
Das im Juni 1969 vorgelegte Gutachten der<br />
Prognos -AG zu den „Entwicklungsmöglichkeiten<br />
der Stadt Wuppertal“ 26 liefert auch<br />
keine Entscheidungshilfen. Zwar wird ein<br />
noch höherer Wohnungsbedarf prognostiziert:<br />
44.000 Wohnungen müssten hiernach bis 1980<br />
gebaut werden, 3.700 jährlich! Zur Standortfrage<br />
wird allerdings ein „sowohl als auch“<br />
vorgeschlagen: große Projekte, aber auch kleinere<br />
Vorhaben im Stadtgebiet <strong>und</strong> die Sanierung<br />
von alten Wohngebieten. Mehr Bodenvorratspolitik<br />
<strong>und</strong> eine stärkere finanzielle Förderung<br />
seien erforderlich, denn dies seien mit die<br />
Ursachen für die in der Vergangenheit nicht<br />
ausreichende Wohnbauleistung. Dies sind nun<br />
allerdings Forderungen, die die Finanzkraft der<br />
Stadt noch stärker in Anspruch nehmen würden.<br />
Die Fronten verhärten sich sowohl innerhalb<br />
der Verwaltung als auch in den Fraktionen<br />
des Rates. Für die einen ist der Bau der Satellitenstadt<br />
ein finanzieller Wahnsinn, der zudem<br />
die gewachsenen Stadtstrukturen zerstört, für<br />
die anderen eine grandiose städtebauliche<br />
Chance. Ein einvernehmlicher Kompromiss ist<br />
bei diesen Positionen kaum mehr möglich. Ver-
waltung <strong>und</strong> Politik verharren schließlich wie<br />
gelähmt.<br />
III. Die Entscheidung<br />
1. Ratssitzung am 22.3.1971 –<br />
Ergebnis: Denkpause<br />
Anfang 1971 drängt aber andererseits alles<br />
auf eine Lösung. Die Planung ist fertig. Im Januar<br />
wird sie den Spitzen der Stadt in einer<br />
Vortragsveranstaltung im Glanzstoff-Kasino<br />
von Baudezernent Jensen <strong>und</strong> Prof. Spengelin<br />
vorgestellt. Und die Wohnungsbaugesellschaften,<br />
die inzwischen in beträchtlichem Umfang<br />
Gr<strong>und</strong>stücke in Nächstebreck gekauft haben,<br />
drängen auf eine Entscheidung des Rates. Viel<br />
Geld, von der Stadt <strong>und</strong> von privaten Investoren,<br />
ist bereits geflossen, bisher immer getragen<br />
von einer breiten Zustimmung von Rat <strong>und</strong><br />
Verwaltung. Aus der Diskussion ist den Beteiligten<br />
klar, dass es um eine Gr<strong>und</strong>satzentscheidung<br />
zur zukünftigen Stadtentwicklung geht,<br />
<strong>und</strong> dass Nächstebreck entweder komplett als<br />
geschlossenes Projekt realisiert werden muss<br />
oder eben gar nicht. Teillösungen, die so beliebten<br />
politischen Konfliktlösungen, scheinen<br />
hier nicht möglich zu sein. Das alles erleichtert<br />
nicht unbedingt die Entscheidung.<br />
Die entscheidende Ratssitzung ist für den<br />
22. März 1971 angesetzt. Vorher werden in einer<br />
Sondersitzung des Hauptausschusses am<br />
20. Februar nochmals die Positionen geklärt. In<br />
einer vierstündigen Sondersitzung wird das<br />
Projekt dann anschließend im Rat heftigst diskutiert<br />
27 . Erstmalig in der Nachkriegsgeschichte<br />
des Stadtrates (<strong>und</strong> bisher einmalig<br />
geblieben) werden, da keine einheitliche Verwaltungsmeinung<br />
hergestellt werden konnte,<br />
von der Verwaltungsführung unterschiedliche<br />
Positionen vorgetragen. Baudezement Norbert<br />
Jensen vertritt, unterstützt von OStD Werner<br />
Stelly <strong>und</strong> dem Wirtschaftsförderungsdezernenten<br />
Günther Reichardt, die Mehrheitsmeinung<br />
pro Nächstebreck, Beigeordneter Joachim<br />
Ahlemann die Ablehnung des Projektes.<br />
Die sehr kontrovers geführte Diskussion macht<br />
deutlich, dass ein Riss quer durch den Rat geht.<br />
Aus allen Fraktionen melden sich Befürworter<br />
<strong>und</strong> Gegner zu Wort. Walter Jahnke, Fraktionsvorsitzender<br />
der SPD, wägt ab, sieht sich aber<br />
wegen der nicht abgeschlossenen Meinungsbildung<br />
in der Verwaltung <strong>und</strong> der Differenzen in<br />
der Fraktion nicht zu einer Entscheidung in der<br />
Lage. Hans-Martin Rebensburg (SPD) lehnt<br />
Nächstebreck zum jetzigen Zeitpunkt ab <strong>und</strong><br />
möchte das Projekt nur als „Planungsreserve“<br />
sehen. Bürgermeister Dr. Heinz Frowein<br />
(CDU) sieht insbesondere noch ungelöste Verkehrsprobleme,<br />
sein Fraktionskollege Dr. Henning<br />
befürchtet eine Vernachlässigung der<br />
übrigen Stadtteile <strong>und</strong> der Stadtkerne. In der 3-<br />
Mann-Fraktion der FDP macht Karl-Otto Dehnert<br />
zwei Befürworter <strong>und</strong> einen Gegner, den<br />
Makler Heinz Ramjoué, aus. Die Argumente<br />
der insgesamt sehr sachbezogenen Debatte<br />
wiederholen sich. Die Befürworter glauben,<br />
dass nur mit einer geballten Kraftanstrengung<br />
die Wohnungsprobleme gelöst werden können<br />
<strong>und</strong> dies sei möglich ohne Benachteiligung der<br />
anderen Stadtteile <strong>und</strong> finanziell mit Hilfe der<br />
erwarteten hohen Förderung auch machbar.<br />
Die Gegner betonen die möglichen ausreichenden<br />
Alternativen bei der Deckung des Wohnungsbedarfs,<br />
sehen in dem Nächstebreck-Projekt<br />
eine Gefährdung der Stadtstruktur <strong>und</strong> bezweifeln<br />
im übrigen die Finanzierbarkeit des<br />
Vorhabens insbesondere auch wegen anderer<br />
Beschlüsse des Rates in der letzten Zeit mit hohen<br />
finanziellen Belastungen, wie sie z.B. auch<br />
aus dem Beschluss zum Bau der Universität zu<br />
erwarten seien 28 .<br />
Um 20.30 Uhr war die Rednerliste noch<br />
nicht abgearbeitet. Eine Lösung des Konflikts<br />
war nicht in Sicht. Die ablehnenden Meinungsäußerungen<br />
überwogen. Eine Abstimmung erschien<br />
bei diesen so kontroversen Meinungen<br />
in allen Fraktionen zumindest zum jetzigen<br />
Zeitpunkt aber nicht opportun. Niemand wollte<br />
eine Kampfabstimmung mit ungewissem Ausgang.<br />
Schließlich gingen die beiden Fraktionsvorsitzenden<br />
von SPD <strong>und</strong> CDU zu Oberbürgermeister<br />
Gottfried Gurland <strong>und</strong> beantragten<br />
Schluss der Debatte. Angesichts der vielen Unklarheiten<br />
solle jetzt zunächst eine „Denkpause“<br />
eingelegt werden. Niemand widersprach.<br />
Die Debatte war vertagt. „Die große<br />
129
Schlacht geht weiter“, überschrieb die Westdeutsche<br />
R<strong>und</strong>schau ihren Bericht über die<br />
Ratssitzung 29 .<br />
Die „Denkpause“ sollte zunächst nur bis<br />
Mai dauern. Dann aber warf OStD Werner<br />
Stelly kurz nach der Ratssitzung überraschend<br />
das Handtuch. Stelly (62) kündigte aus „ges<strong>und</strong>heitlichen<br />
Gründen“ seinen Rücktritt an,<br />
obwohl er erst im September 1968 in seinem<br />
Amt bestätigt worden war. Bereits in der Sitzung<br />
des Rates hatte der Oberstadtdirektor zu<br />
erkennen gegeben, dass er die Welt nicht mehr<br />
verstand: Er habe sich in den letzten Wochen<br />
oft gefragt, was denn eigentlich los sei, was<br />
sich denn an den Problemen des Mangels an<br />
Wohnungen <strong>und</strong> Gewerbeflächen seit 1969, als<br />
alle gemeinsam das Projekt Nächstebreck als<br />
die Problemlösung auf den Weg gebracht hätten,<br />
was sich denn seither geändert habe? Ob<br />
denn nun plötzlich genügend Gewerbeflächen<br />
<strong>und</strong> genügend Flächen für den Wohnungsbau<br />
da seien? 30 Die während der Ratssitzung erkennbare<br />
Tendenz der Ablehnung dieses von<br />
ihm so nachdrücklich unterstützten Projektes<br />
veranlasste ihn nun zum vorzeitigen Rückzug<br />
von seinem Amt. Am 31. September 1971<br />
scheidet er aus dem Dienst der Stadt Wuppertal<br />
31 .<br />
Die „Denkpause“ zieht sich hin, obwohl<br />
überraschend schnell ein Nachfolger gef<strong>und</strong>en<br />
wird. Bereits am 13. September wird Dr. Rolf<br />
Krumsiek, bisher Beigeordneter beim Deutschen<br />
Städtetag, zum Oberstadtdirektor gewählt.<br />
Er tritt gleich am 1. Oktober seinen<br />
Dienst an. Seine erste <strong>und</strong> wichtigste Aufgabe<br />
ist die Lösung des Nächstebreck-Problems.<br />
2. Ratssitzungen am 17.4. <strong>und</strong> 15.5.1972 –<br />
der Kompromiss.<br />
Die mögliche Linie für die Weiterbehandlung<br />
des Projektes hatte sich im Verlaufe der<br />
Diskussion schon angedeutet. Eine große<br />
Mehrheit für das Projekt scheint nicht mehr zustande<br />
zu bringen zu sein. So sind denn Alternativen<br />
gefragt. Und hier liegt ein Ansatzpunkt<br />
in den bereits von den Architekten aufgezeigten<br />
dezentralen Wohnungsbaumöglichkeiten,<br />
130<br />
die daraufhin zu überprüfen sind, ob sie ausreichenden<br />
Handlungsspielraum für die Deckung<br />
des Wohnungsbedarfs geben. Dann wäre<br />
die behauptete zwingende Notwendigkeit des<br />
Nächstebreck-Projekts vom Tisch <strong>und</strong> das Projekt<br />
könnte zur „Planungsreserve“ für etwaige<br />
spätere Bedarfe deklariert werden – <strong>und</strong> so<br />
könnten Befürworter <strong>und</strong> Gegner der Projekts<br />
wieder zusammenkommen.<br />
Dieser Linie folgt der neue OStD Rolf<br />
Krumsiek, der als Voraussetzung für eine erfolgreiche<br />
politische Problemlösung vor allem<br />
auch in der Verwaltung wieder Einvernehmen<br />
in der Beurteilung <strong>und</strong> Behandlung des Projekts<br />
herstellen muss. Um auf eine breitere Diskussion<br />
einzustimmen <strong>und</strong> die enge <strong>und</strong> polarisierende<br />
Fixierung auf Nächstebreck abzubauen,<br />
soll das Projekt Nächstebreck nur noch<br />
im Zusammenhang mit der Entwicklung des<br />
Wohnungsbaus in Wuppertal insgesamt betrachtet<br />
werden. Das Instrument hierzu ist die<br />
„Rangfolge der Bebauungspläne“, in der die<br />
von der Verwaltung gesehenen Wohnungsbaumöglichkeiten<br />
zusammengefasst <strong>und</strong> hinsichtlich<br />
ihrer Realisierungsmöglichkeiten mit<br />
Prioritäten für die Aufstellung der erforderlichen<br />
Bebauungspläne versehen sind. Diese Arbeiten<br />
waren zwar bereits unter Stelly begonnen<br />
worden <strong>und</strong> hatten in der ersten Ratssitzung<br />
noch die Notwendigkeit des Projektes<br />
Nächstebreck mit begründet, erhalten nun aber<br />
eine größere Bedeutung als klares Alternativkonzept.<br />
Zunächst werden die Bedarfsüberlegungen<br />
überprüft <strong>und</strong> aktualisiert. Die Zielsetzung, rd.<br />
3.200 Wohnungen jährlich bis 1980 zu bauen,<br />
bleibt bestehen. Da es nur mehr 8 Jahre bis<br />
1980 sind, bleibt ein Gesamtbedarf in Höhe<br />
von noch 29.000 neuen Wohnungen. Allerdings<br />
wird nun festgestellt, dass nicht in dieser<br />
Höhe neues Baurecht geschaffen werden muss.<br />
Berücksichtigt werden aus der anlaufenden Sanierungsplanung<br />
die dort konzipierte Neubauplanung<br />
sowie Neubautätigkeit, die ohne Bebauungspläne<br />
auf den vorhandenen Baulücken<br />
erfolgt. Daraus errechnet sich nun ein Restbedarf<br />
von etwa 15.500 Wohnungen, für die in<br />
den nächsten Jahren Baurecht zu schaffen ist.<br />
Die Überprüfung der „Rangfolge“ ergibt
des weiteren, dass für bereits rd. 4.600 Wohnungen<br />
Baurecht in vorhandenen Bebauungsplänen<br />
besteht <strong>und</strong> Baurecht für weitere 4.900<br />
Wohnungen kurzfristig geschaffen werden<br />
kann. Es werden zusätzlich zwei neue Schwerpunkte<br />
gesetzt: In Vohwinkel sollen zentrumsnah<br />
an der Gruitener Straße 2.500 Wohnungen<br />
<strong>und</strong> in Haarhausen/Gennebreck/Einern, dem<br />
westlichen Rand des bisherigen Nächstebreck-<br />
Projektes, nochmals 1.400 Wohnungen entstehen.<br />
Darüber hinaus sind eine Vielzahl von<br />
kleineren Wohnungsbaumöglichkeiten zusammengestellt,<br />
zu denen u.a. auch die Bebauung<br />
hinter dem Barmer Rathaus auf dem Gelände<br />
der ehemaligen Vorwerk-Fabrik (400 Wohnungen)<br />
<strong>und</strong> der Bereich Zanellastr. (300 Wohnungen)<br />
gehören. Insgesamt kommen so 13.400<br />
mögliche Wohnungen zusammen, für die bereits<br />
teilweise Baurecht besteht oder doch in<br />
den nächsten Jahren geschaffen werden soll.<br />
Damit stellt die Verwaltung dar, dass mindestens<br />
für die nächsten vier Jahre ausreichend<br />
Baumöglichkeiten bestehen bzw. geschaffen<br />
werden können <strong>und</strong> deshalb nicht die Notwendigkeit<br />
besteht, das umstrittene Projekt<br />
Nächstebreck kurzfristig in Angriff zu nehmen.<br />
Nach 1975 könne man weiter sehen.<br />
Auf dieser Basis ist nun plötzlich dem<br />
großen Projekt Nächstebreck der Boden weggezogen.<br />
Es gibt keine Begründung mehr für<br />
das Großprojekt, zumal sich auch die von der<br />
Stadt aufzubringenden Kosten für die einzelnen<br />
Projekte, wie in Vergleichsrechnungen<br />
nachgewiesen wird, wesentlich günstiger gestalten.<br />
Die Verwaltung verständigt sich einvernehmlich<br />
auf dieses Konzept, das dann am<br />
17. April 1972 dem Rat vorgelegt wird.<br />
Der Rat nimmt diese Entschärfung des<br />
Problems dankbar entgegen. Die Luft ist raus<br />
aus der Debatte über Nächstebreck. Dies dokumentiert<br />
sich auch darin, dass gleich zu Anfang<br />
der Ratssitzung 32 die von der Verwaltung vorgelegte<br />
Vorlage, die noch das Wort Nächstebreck<br />
enthält, einstimmig in „Erklärung der<br />
Fraktionen über den Wohnungsbau in Wuppertal“<br />
umbenannt wird. Einstimmig wird dann<br />
auch der „Rangfolge der Bebauungspläne“ sowie<br />
den damit verb<strong>und</strong>enen Bedarfsüberlegungen<br />
<strong>und</strong> Verfahrensvorschlägen zugestimmt.<br />
Das Projekt Nächstebreck ist ohne neue große<br />
Diskussion zur bloßen „Planungsreserve“ degradiert<br />
worden. Walter Jahnke betonte dies<br />
nochmals, wenn er darauf hinwies, dass zwar<br />
mit einer Realisierung des Spengelin-Planes<br />
auf absehbare Zeit nicht zu rechnen sei, doch<br />
dürfe das Gebiet nicht zersiedelt werden, sondern<br />
müsse für eine später mögliche Verwirklichung<br />
offen bleiben.<br />
Einen ausdrücklichen Beschluss, das Projekt<br />
Nächstebreck nicht mehr realisieren zu<br />
wollen, gibt es nicht. Man behält sich vor, das<br />
Projekt vielleicht später doch noch zu wollen.<br />
Diese Fiktion wird auch aufrechterhalten, als in<br />
der folgenden Sitzung des Rates am 15. Mai<br />
1972 die Vorlagen <strong>und</strong> Vorschläge der Verwaltung<br />
abschließend behandelt werden <strong>und</strong> die<br />
Verwaltung beauftragt wird, „nach Maßgabe<br />
dieses Berichtes die weiteren erforderlichen<br />
Verhandlungen zu führen“. 33 OStD Dr. Krumsiek<br />
betont dazu ausdrücklich, dass eine solche<br />
Ermächtigung einer endgültigen Beschlussfassung<br />
zum Projekt Nächstebreck nicht vorgreifen<br />
würde. Der Nächstebreck-Plan ist damit<br />
zwar faktisch „gestorben“, aber eben doch<br />
nicht endgültig abgelehnt, sondern eher „auf<br />
Eis gelegt“. Einen endgültigen Beschluss über<br />
das große Projekt Nächstebreck, das über mehrere<br />
Jahre die kommunalpolitische Diskussion<br />
bestimmt hat, wird es auch nicht geben. Es<br />
weiß nur jedermann, dass das Projekt nie mehr<br />
in Angriff genommen werden wird. Auch so<br />
wird das Gesicht gewahrt, auch für diejenigen,<br />
die so vehement für das Projekt gestritten haben.<br />
34<br />
An dem Projekt Nächstebreck bewahrheitet<br />
sich im übrigen auch beinahe exemplarisch<br />
eine Erkenntnis unter Planern über die Stufenleiter,<br />
nach der sich große Projekte häufig entwickeln:<br />
1. Stufe: Über die großartige Planung herrscht<br />
zunächst allseitige Begeisterung.<br />
2. Stufe: Ihr folgt die Ernüchterung bei der genauen<br />
Durchplanung.<br />
3. Stufe: Nach der Ernüchterung kommt die<br />
Bestürzung.<br />
4. Stufe: Es beginnt die Suche nach dem<br />
Schuldigen.<br />
131
5. Stufe: Die Bestrafung der Unschuldigen<br />
<strong>und</strong> Auszeichnung der Unbeteiligten.<br />
IV. Die Nachwehen<br />
1. Der Entwicklungsplan Nächstebreck beendet<br />
das große Wohnprojekt endgültig<br />
Am 29.10.1973 beschloss der Rat das<br />
Räumlich-Funktionale Entwicklungskonzept,<br />
das dem neuen planerischen Leitbild einer verstärkten<br />
Innenentwicklung folgte 35 . Auf der<br />
Gr<strong>und</strong>lage der darin festgelegten Ziele werden<br />
in den Folgejahren Entwicklungspläne für Teilräume<br />
der Stadt erarbeitet, in denen dann u.a.<br />
auch die angestrebte Flächennutzung dargestellt<br />
wird. Bereits am 29.11.1973 beschließt<br />
der Hauptausschuss wegen dieser unklaren<br />
Planungssituation vorrangig den Entwicklungsplan<br />
u.a. für Nächstebreck zu bearbeiten<br />
36 .<br />
Im Rahmen dieser Planung wurde nun im<br />
Hinblick auf die potentielle Wohnbebauung<br />
gründlich aufgeräumt. Nicht nur die Wohnbebauung<br />
des Kernprojektes auf <strong>und</strong> um den<br />
Nächstebrecker Berg wurde aufgegeben. Auch<br />
die in der „Rangfolge der Bebauungspläne“<br />
noch vorgesehene Bebauung im Bereich Haarhausen<br />
(BPlan Nr. 462 Haarhausen/Nächstebreck)<br />
wird aufgr<strong>und</strong> der peripheren Lage gestrichen.<br />
Vorrangiges Ziel wird vielmehr, den<br />
Landschaftsraum zwischen den Siedlungsbereichen<br />
als Erholungsraum für Oberbarmen<br />
<strong>und</strong> die Talzüge Mählersbeck <strong>und</strong> Junkersbeck<br />
als für die Belüftung der Talsohle wichtige<br />
Frischluftschneisen von einer weiteren Bebauung<br />
freizuhalten. Unter diesem Aspekt wird<br />
eine wesentliche Zunahme der Wohnbevölkerung<br />
in Nächstebreck nicht angestrebt. 37<br />
Der Entwicklungsplan Nächstebreck wird<br />
nach mehreren intensiven Diskussionsr<strong>und</strong>en<br />
auch mit den Bürgern am 2.5.1977 vom Rat der<br />
Stadt „als Gr<strong>und</strong>lage für das zukünftige Handeln<br />
von Rat <strong>und</strong> Verwaltung beschlossen“ 38 .<br />
Damit ist nun endlich das große Wohnungsbauprojekt<br />
auch offiziell endgültig zu den Akten<br />
gelegt.<br />
132<br />
2. Die Schwebebahn wird nicht verlängert<br />
Das Wohnbauprojekt Nächstebreck steht<br />
nun zwar nicht mehr zur Realisierung an, wohl<br />
aber noch die bisher mit geplante Verlängerung<br />
der Schwebebahn. Bei der Abstimmung des<br />
neuen Konzeptes hat sich die Verwaltung darauf<br />
festgelegt, dass eine Verlängerung der<br />
Schwebebahn bis zur Beule/Wittener Straße<br />
auch ohne das große Nächstebreck-Projekt bereits<br />
aufgr<strong>und</strong> der vorhandenen Bebauung im<br />
Bereich Schwarzbach <strong>und</strong> Klingholzberg sowie<br />
der geplanten Erschließung von neuen Gewerbegebieten<br />
sinnvoll <strong>und</strong> zweckmäßig sei.<br />
Der Rat beauftragt daher die Verwaltung am<br />
19. Juni 1972, die notwendigen Voraussetzungen<br />
für die Planung, Durchführung <strong>und</strong> Finanzierung<br />
zu klären 39 .<br />
Nach mehreren Jahren der Planung, Verhandlungen<br />
mit dem Zuschussgeber Land NW<br />
<strong>und</strong> teils heftiger Diskussionen beschließt der<br />
Rat am 15. Dezember 1975 einstimmig das<br />
Ende der Schwebebahnverlängerung, weil<br />
keine Zuschüsse zu erwarten sind, die Anwohner<br />
vehement gegen die vorgesehene Trasse<br />
protestieren <strong>und</strong> schließlich auch das Projekt<br />
Nächstebreck inzwischen endgültig „beerdigt“<br />
ist. Ersatzweise soll jetzt die geplante B 51 für<br />
Entlastung sorgen <strong>und</strong> eine bessere ÖPNV-Anbindung<br />
der Gebiete durch Ausbau der Busverbindungen<br />
erreicht werden.<br />
Gebaut wird letztendlich die neue B 51,<br />
heute Nächstebrecker Str. (1983–1988). Die<br />
Schwarzbach wird 1984/85 begrünt <strong>und</strong> zur<br />
Beruhigung des verbleibenden Verkehrs mit<br />
Verkehrsinseln bestückt.<br />
3. „Rangfolge der Bebauungspläne“ schafft<br />
viel weniger Baurecht als erwartet<br />
Mit der „Rangfolge der Bebauungspläne“<br />
sollte erreicht werden, dass auch ohne das Projekt<br />
Nächstebreck jährlich 3.200 Wohnungen<br />
zumindest von den planungsrechtlichen Voraussetzungen<br />
her gebaut werden könnten. Bis<br />
1980 sollte ein vermuteter Bedarf von 29.000<br />
Wohnungen abgedeckt werden.<br />
Diese Zielsetzung wird bei weitem nicht er-
eicht – <strong>und</strong> schon gar nicht im Rahmen des<br />
selbst gesteckten Zeithorizontes. Tatsächlich<br />
wurden von 1973–1980 rd. 16.000 Wohnungen<br />
gebaut – auch teilweise auf Standorten, die in<br />
der „Rangfolge der Bebauungspläne“ überhaupt<br />
nicht vorgesehen waren. Das größte Projekt<br />
war die Entwicklung des Wohngebietes<br />
„Gruitener Straße“ in Vohwinkel mit geplanten<br />
2.500 Wohnungen. Tatsächlich realisiert wurden<br />
hier zwischen 1980 <strong>und</strong> 2000 rd. 1.400<br />
Wohnungen.<br />
4. Der Standortübungsplatz Scharpenacken<br />
wird nicht verlegt<br />
Im alten Flächennutzungsplan von 1963<br />
waren auch Teile des Standortübungsplatzes<br />
Scharpenacken als mögliches Wohngebiet dargestellt<br />
in einer Größenordnung von etwa 100<br />
ha für rd. 10.000 Bewohner. Seit 1959 gab es<br />
diese Bemühungen einer Umnutzung. Intensiviert<br />
wurden diese ab 1969 in Form einer regelrechten<br />
Kampagne, in die Oberbürgermeister<br />
Johannes Rau als Vorsitzender der SPD-<br />
Landtagsfraktion Innenminister Willi Weyer<br />
<strong>und</strong> Ministerpräsident Heinz Kühn einbeziehen<br />
kann. Im April 1971 kann die Verwaltung<br />
dem Rat als Ergebnis der Verhandlungen mit<br />
der B<strong>und</strong>eswehr berichten, dass gr<strong>und</strong>sätzlich<br />
die Bereitschaft zur Aufgabe des Übungsplatzes<br />
besteht, wenn die Stadt ein gleich großes<br />
Ersatzgelände zur Verfügung stellt. Dafür wird<br />
ein Gelände südlich Beyenburg vorgeschlagen,<br />
verb<strong>und</strong>en mit den Kasernen durch eine neue<br />
„Panzerstraße“.<br />
Die genauere Prüfung dieser Planung führt<br />
dann 1973 allerdings zu dem Ergebnis, dass die<br />
Kosten eines solchen Projektes durch die Stadt<br />
nicht finanziert werden könnten <strong>und</strong> zudem<br />
vor dem Hintergr<strong>und</strong> der Nächstebreckdebatte<br />
auch der Bedarf für ein neues Wohnbauprojekt<br />
dieser Größenordnung abseits der vorhandenen<br />
Siedlungsstrukturen kaum begründbar wäre.<br />
Zudem gibt es inzwischen bei den Beyenburgern<br />
heftige Proteste gegen diese Pläne.<br />
Ein entsprechender Bericht der Verwaltung<br />
wird dem Hauptausschuss vorgelegt 40 <strong>und</strong> von<br />
ihm am 13.9.1973 behandelt. Er beschließt ein-<br />
stimmig, „dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt –<br />
vor allem aus Kostengründen – die Verlegung<br />
des Standortübungsplatzes nicht weiter betrieben<br />
werden sollte. (Der Hauptausschuss) ist<br />
mit der Verwaltung der Meinung, dass langfristig<br />
unter günstigeren Voraussetzungen weiterhin<br />
die Verlegung des Standortübungsplatzes<br />
angestrebt werden sollte.“ 41 So wird auch<br />
ziemlich sang- <strong>und</strong> klanglos dieses Vorhaben<br />
der Stadt beerdigt, für das zuvor mit großem<br />
Einsatz der Spitzen von Rat <strong>und</strong> Verwaltung<br />
gekämpft worden war.<br />
V. Stadtentwicklung ohne das Projekt<br />
Nächstebreck<br />
Zunächst vor dem Versuch einer Beurteilung<br />
einige Fakten zur weiteren Entwicklung<br />
der Stadt. 1972 hatte Wuppertal knapp 415.000<br />
Einwohner. In den folgenden Jahren sank die<br />
Zahl der Einwohner fortlaufend vor allem aufgr<strong>und</strong><br />
des hohen Sterbefallüberschusses, teilweise<br />
auch durch Wanderungsverluste. 1982<br />
hatte die Stadt noch rd. 397.700 Einwohner,<br />
1994 sind es noch 386.600, 2000 nur noch<br />
370.000 mit weiter sinkender Tendenz.<br />
In dem Jahrzehnt bis 1972 wurden im<br />
Durchschnitt rd. 3.000 Wohnungen jährlich<br />
fertiggestellt, 1973 war noch einmal ein Rekordjahr<br />
mit 4.334 Wohnungen. Bis Anfang<br />
der 80er Jahre sank die Bautätigkeit nach<br />
einem tiefen Einbruch Mitte der 70er Jahre auf<br />
etwa 1.400 Wohnungen, die jährlich fertiggestellt<br />
wurden. In den ersten 90er Jahren sank<br />
die Bauleistung weiter auf etwa 800 Wohnungen<br />
pro Jahr. Die Entwicklung der Wohnungsversorgung<br />
verdeutlichen die folgenden Kennziffern.<br />
1972 gab es in Wuppertal rd. 160.000<br />
Wohnungen, d.h. durchschnittlich 1 Wohnung<br />
für 2,6 Einwohner. 1994 gibt es über 183.000<br />
Wohnungen, d.h. durchschnittlich teilen sich<br />
2,1 Einwohner eine Wohnung.<br />
Unter diesen Rahmenbedingungen wären<br />
wohl bei einer Realisierung des Projektes die<br />
Befürchtungen der Kritiker wahr geworden:<br />
Konzentration eines erheblichen Anteils der<br />
Wuppertaler Bevölkerung in einer neuen Satellitenstadt<br />
mit all den sozialen Problemen, die<br />
133
inzwischen aus vergleichbaren Anlagen in anderen<br />
Städten bekannt sind bei gleichzeitiger<br />
stärkerer Bevölkerungsabnahme in den alten<br />
gewachsenen Stadtteilen mit ihren Konsequenzen<br />
für Infrastruktur <strong>und</strong> Modernisierung des<br />
Wohnungsbestandes. Wahrscheinlicher ist aber,<br />
dass der Einbruch auf dem Wohnungsmarkt<br />
Mitte der 70er Jahre auch das Projekt Nächstebreck<br />
eingeholt <strong>und</strong> zu einem Abbruch des<br />
Baus in einem weitgehend unfertigen Stadium<br />
geführt hätte. So hätten auf Jahre oder auf<br />
Dauer einzelne Bauabschnitte oder Gebäudekomplexe<br />
als „Planungsruinen“ auf den verbleibenden<br />
grünen Wiesen gestanden, die Bewohner<br />
wären vermutlich lange Zeit ohne eine<br />
ausreichende Versorgung im Nahbereich geblieben,<br />
mit entsprechenden sozialen Problemen<br />
als Folge. Beide Perspektiven bestärken in<br />
der nachträglichen Beurteilung, dass die Entscheidung,<br />
Nächstebreck nicht zu bauen, die<br />
richtige war. Der Stadt sind damit eine Menge<br />
neuer Probleme erspart geblieben.<br />
Für die Wuppertaler Kommunalpolitik war<br />
es einerseits eine Richtung weisende Sternst<strong>und</strong>e.<br />
Neue Großprojekte am Stadtrand sind<br />
nicht mehr geplant worden. Die Förderung der<br />
Innenentwicklung <strong>und</strong> Stadterneuerung erhielt<br />
mehr <strong>und</strong> mehr Priorität. Gr<strong>und</strong>lage der weiteren<br />
Stadtentwicklungsplanung wurde das Räumlich-Funktionale<br />
Entwicklungskonzept, das im<br />
Oktober 1973 vom Rat beschlossen wurde. Im<br />
Mittelpunkt der Planung steht die Entwicklung<br />
der Stadtteile <strong>und</strong> ihrer Zentren mit ihren Versorgungsbedarfen<br />
<strong>und</strong> -ansprüchen sowie die<br />
Erhaltung einer funktionsfähigen Bandstruktur<br />
42 . Wesentliche Bestandteile dieser Innenentwicklung<br />
sind die Sanierung, die 1972<br />
mit der Festlegung des ersten Sanierungsabschnittes<br />
Wiesenstraße konkrete Formen annimmt,<br />
die später hinzukommenden Wohnumfeldverbesserungs-<br />
<strong>und</strong> Verkehrsberuhigungsmaßnahmen<br />
sowie Programme zum Ausbau<br />
von Grünanlagen <strong>und</strong> Stadtplätzen. Neue Siedlungsflächen<br />
entstehen i.d.R. am Stadtrand in<br />
Zuordnung <strong>und</strong> als Arrondierung vorhandener<br />
Siedlungsgebiete. Diese neue Planungspolitik<br />
wird im Mai 1973 organisatorisch unterstützt<br />
durch die Eingliederung des Stadtplanungsamtes<br />
in das Stadtentwicklungsdezernat von<br />
134<br />
Ahlemann, der damit zum Planungsdezernenten<br />
aufsteigt.<br />
Der Entscheidungsverlauf des Projektes<br />
Nächstebreck verdeutlicht auf der anderen<br />
Seite aber auch exemplarisch das Entscheidungsverhalten<br />
der Kommunalpolitiker. Meist<br />
gibt es eine einhellige Zustimmung zu wichtigen<br />
Vorhaben, wenn die Verwaltung einen klaren<br />
Beschlussvorschlag vorlegt <strong>und</strong> kein Protest<br />
von etwaigen Betroffenen zu hören ist. Bis<br />
1970 war dies beim Projekt Nächstebreck der<br />
Fall. Werden Proteste laut, so wird die Angelegenheit<br />
schon schwieriger, gibt es aber zudem<br />
auch unterschiedliche Meinungen aus der<br />
Verwaltung, dann wird meist auch im Rat keine<br />
Entscheidung mehr getroffen. Nach Herstellung<br />
der einheitlichen Verwaltungsmeinung<br />
auf der Basis eines zumindest scheinbar<br />
plausiblen Kompromisses gibt es 1972 wieder<br />
die einstimmige Zustimmung zur Aufgabe<br />
des Projektes Nächstebreck, nachdem OStD<br />
Krumsiek durch eine neue Interpretation der<br />
gegebenen Rahmenbedingungen für einen eindeutigen<br />
Verwaltungsvorschlag gesorgt hatte.<br />
Ebenso einstimmig beschließt der Rat 1972 die<br />
Fortführung der Planung für die Schwebebahnverlängerung<br />
bis zur Beule <strong>und</strong> 1975 den Verzicht<br />
auf die Schwebebahnverlängerung.<br />
Anmerkungen:<br />
1 Vgl. H. Heyken, Planungskonzeptionen für<br />
Wuppertal nach 1945, (unveröffentlichtes Manuskript,<br />
August 1995)<br />
2 Vgl. Flächennutzungsplan der Stadt Wuppertal<br />
<strong>und</strong> Erläuterungsbericht S. 55 ff.<br />
3 Auf dem Bahnhof Döppersberg trafen am<br />
12.7.1960 23 griechische Gastarbeiter ein, die<br />
bei Herberts arbeiten sollen. Sie werden vom<br />
Leiter des Arbeitsamtes Wuppertal <strong>und</strong> von Vertretern<br />
der Fa. Herberts begrüßt. Vgl. GA <strong>und</strong><br />
WR vom 13.7.1960 (Chronik Stadtarchiv).<br />
4 Vgl. Wuppertaler Statistik: Motive der Wanderungen.<br />
Informationen Nr. 4, Sept. 1968.<br />
5 Vgl. Vermerk vom 23.7.1966 über die am<br />
15.7.1968 bei OStD Stelly stattgef<strong>und</strong>ene Besprechung.<br />
6 Vgl. GA/NRZ vom 22.5.1967<br />
7 Der Bau der B 326 (heute A 46) hatte 1963 am<br />
Autobahnkreuz Wuppertal-Nord begonnen. Ab
28.11.1972 war die gesamte Strecke mit der<br />
Teilfreigabe des Sonnborner Kreuzes durchgehend<br />
befahrbar.<br />
8 U.a. wirken dabei mit sowohl der bisherige Baudezernent<br />
Prof. Hetzelt als auch sein Nachfolger<br />
Norbert Jensen.<br />
9 Vgl. Niederschrift über die Beratung der Obergutachter<br />
vom 21.1.1969, S.9, Drs. 129/69 zur<br />
Sitzung des Rates.<br />
10 Die Planung <strong>und</strong> Erschließung der neuen Gewerbegebiete<br />
in Nächstebreck hat zu diesem<br />
Zeitpunkt schon begonnen. Die Bebauungspläne<br />
Nr. 96 <strong>und</strong> 97 für den ersten großen Teilabschnitt<br />
südlich der Linderhauser Str. (Möddinghofe),<br />
wo die Stadt in den Jahren zuvor die<br />
Flächen erworben hatte, waren im Verfahren <strong>und</strong><br />
wurden 1970 rechtsverbindlich. Die Erschließung<br />
begann 1968/69, die ersten Betriebe wurden<br />
ab 1970 angesiedelt.<br />
11 Jensen, der keiner Partei angehörte, war in Lübeck<br />
Leit. Senatsbaudirektor (Fachlicher Leiter<br />
der Bauverwaltung) <strong>und</strong> wurde am 24.6.1968<br />
vom Rat zum Baudezernenten gewählt. Er trat<br />
seinen Dienst zum 1.8.1968 an. Bereits vor<br />
Dienstantritt wurde er von OStD Stelly mit einer<br />
Vielzahl der bei ihm üblichen Kurzschreiben mit<br />
Aufträgen, Anregungen <strong>und</strong> Vorschlägen auf die<br />
besondere Bedeutung des Projektes Nächstebreck<br />
eingestimmt.<br />
12 Vgl. General-Anzeiger vom 25.3.1969.<br />
13 Vgl. ebenda<br />
14 Vgl. Niederschrift über eine Besprechung, betreffend<br />
die Maßnahmeträgerschaft für das Planungsgebiet<br />
Nächstebreck vom 7. Jan. 1910, S. 7.<br />
15 Bis April 1971, als bereits eine mögliche Ablehnung<br />
des Projektes durch den Rat deutlich wird,<br />
werden insgesamt Gr<strong>und</strong>stücke im Umfang von<br />
über 82 ha erworben. Quelle. Zusammenstellung<br />
des Liegenschaftsamtes von 1971.<br />
16 Im Rathaus sind keine der vielen, damals angefertigten<br />
Pläne, Modelle oder Planungsbeschreibungen<br />
mehr vorhanden, die der Entscheidungsfindung<br />
zugr<strong>und</strong>egelegen haben. Sie sind offenbar<br />
bei den verschiedenen inzwischen erfolgten<br />
Umzügen vernichtet worden. Die folgende Darstellung<br />
der Planung fußt daher auf Debattenbeiträgen<br />
der damals Beteiligten, insbesondere<br />
zur Sitzung des Hauptausschuss vom 20.2.1971<br />
<strong>und</strong> zur Ratssitzung am 22.3.1971 sowie einigen<br />
noch vorhandenen Modellphotos.<br />
17 1970 wurde fast in jeder Sitzung des Planungsausschusses<br />
das Thema Nächstebreck angesprochen.<br />
Den Protokollen ist keine gr<strong>und</strong>sätzliche<br />
kritische Stellungnahme eines Stadtverordneten<br />
zu entnehmen.<br />
18 Am gleichen Tage wurde auch Günther Reichardt<br />
(F.D.P.) zum Beigeordneten gewählt (zuständig<br />
für Wirtschafts- <strong>und</strong> Bauförderung). Von<br />
den drei jungen Dezernenten für Bauen, Wirtschaftsförderung<br />
<strong>und</strong> Stadtentwicklung erwartete<br />
der Rat neue Anstöße, einen dynamischen<br />
Schub.<br />
19 Vgl. Stenografischer Bericht über die Sondersitzung<br />
des Hauptausschusses am 20.2.1971, S. 69<br />
20 Vgl. Artikel „Der Traum Nächstebreck“ in der<br />
NRZ vom 15.4.1972.<br />
21 Auch der Stadtkämmerer Dr. Schulze hatte gerade<br />
nach seiner Wahl am 16.7.1970 seinen<br />
Dienst angetreten.<br />
22 Vgl. Drs. Nr. 371/70: Rangfolge der Bebauungspläne.<br />
23 Vgl. Bericht in der NRZ vom 3.2.1971.<br />
24 So werden z.B. auch eine Reihe von Kleingärten<br />
zur Bebauung vorgeschlagen, was sofort den<br />
heftigen Protest aller Kleingärtner hervorruft.<br />
Der Vorschlag zur Überbauung des Steinbecker<br />
Bahnhofsgeländes scheitert bereits in der Vorprüfung<br />
an den zu erwartenden nicht finanzierbaren<br />
Kosten.<br />
25 Vgl. den Bericht von W. Freitag in der Westdeutschen<br />
R<strong>und</strong>schau <strong>und</strong> von W. Lust in der NRZ<br />
vom 19.2.1971.<br />
26 Vgl. Prognos AG: Entwicklungsmöglichkeiten<br />
der Stadt Wuppertal. Basel, Juni 1969.<br />
27 Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Rates<br />
der Stadt am 22.3.1971.<br />
28 Der Gr<strong>und</strong>satzbeschluss zum Bau der Universität<br />
war am 15.2.1971 gefasst worden. Der Rat<br />
verabschiedete damals eine Entschließung, in<br />
der er erklärt, Flächen am Grifflenberg für die<br />
geplante Universität zur Verfügung zu stellen<br />
<strong>und</strong> dass die erforderlichen städtischen Investitionen<br />
für die Universitätsgründung Priorität genießen<br />
sollten. Die von der Stadt zu tragenden<br />
Kosten werden damals auf rd. 50 Mio. DM geschätzt.<br />
29 Vgl. Westdeutsche R<strong>und</strong>schau vom 23.3.1971.<br />
30 Vgl. General-Anzeiger vom 23.3.1971 S. 10.<br />
31 Werner Stelly feiert bei bester Ges<strong>und</strong>heit am<br />
25.5.1989 seinen 80. Geburtstag in Hamburg.<br />
Die Stadt Wuppertal ehrt ihn mit einem Empfang.<br />
Er stirbt am 31.8.1997 im Alter von 88<br />
Jahren.<br />
32 Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Rates<br />
der Stadt am 15. Mai 1972.<br />
33 34 Vgl. Drs. Nr. 157/72.<br />
34 Innerhalb der Verwaltung erfolgt auch in Konsequenz<br />
der Nächstebreck-Planung im Mai 1973<br />
eine organisatorische bzw. personelle Änderung.<br />
Das Stadtplanungsamt wird aus dem Baudezer-<br />
135
nat (Jensen) heraus gelöst <strong>und</strong> dem Stadtentwicklungsdezernat<br />
(Ahlemann) zugeordnet,<br />
das damit zum Planungsdezernat wird.<br />
35 Vgl. H. Heyken, a.a.0.<br />
36 Vgl. Drs. Nr. 417/73.<br />
37 Vgl. Entwicklungsplan Nächstebreck, Stadtentwicklungsplanung<br />
Wuppertal, 1977.<br />
38 Vgl. Drs. Nr. 115/77<br />
Peter Elsner<br />
Wuppertaler Neuerscheinungen 2002/2003<br />
Im folgenden sind wichtige Wuppertaler<br />
Neuerscheinungen aufgelistet, die in den Jahren<br />
2002/2003 – einige „Nachzügler“ aus 2001<br />
sind auch dabei – erschienen sind. Diese Literaturliste<br />
erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.<br />
Außerdem sind nur selbständige Veröffentlichungen<br />
aufgenommen worden, die sich<br />
ausschließlich oder zum großen Teil mit Wuppertaler<br />
Themen oder Persönlichkeiten beschäftigen.<br />
Aufsätze <strong>und</strong> Abhandlungen aus<br />
Zeitschriften <strong>und</strong> Sammelwerken sind absichtlich<br />
nicht berücksichtigt worden. Wegen der<br />
oben gemachten Einschränkungen ist in der<br />
Überschrift auch bewusst das Wort „Bibliographie“<br />
vermieden worden.<br />
Die Uhrmacher- <strong>und</strong> Goldschmiedefamilie<br />
Abeler. Ihre Vorfahren <strong>und</strong> ihre Verwandten.<br />
Lebensläufe, Daten <strong>und</strong> Fakten, besondere Ereignisse<br />
(Teil 3), bearb. <strong>und</strong> hrsg. von Jürgen<br />
Abeler, Sprockhövel: Verlag Dr. Eike Pies<br />
2002, Teil 3 S. 1169-1718, zahlr. Abb. (= Familien-Chroniken,<br />
Bd. 10)<br />
Als der Bunker swingte – Kindheits- <strong>und</strong> Jugenderfahrungen<br />
im Stadtteil Ostersbaum.<br />
Dokumentation <strong>und</strong> Quellensammlung zur Geschichte<br />
des Bunkers am Platz der Republik<br />
1945-1960, hrsg. von der Geschichtswerkstatt<br />
Ostersbaum, Wuppertal: Wupperdruck 2002,<br />
46 S., zahlr. Abb. (= Themenhefte der Geschichtswerkstatt<br />
Ostersbaum, H. 1)<br />
136<br />
39 Vgl. Drs. Nr. 60/72<br />
40 Vgl. Drs. Nr. 342/73 Standortübungsplatz<br />
Scharpenacken.<br />
41 Vgl. Niederschrift des Hauptausschuss vom<br />
13.9.1973, TOP 1.<br />
42 Vgl. Stadt Wuppertal: Räumlich-Funktionales<br />
Entwicklungskonzept. Wuppertal 1974.<br />
Arndt, Markus: Das Zooviertel in Wuppertal<br />
als Beispiel für Planung <strong>und</strong> Bebauung eines<br />
gründerzeitlichen Villenviertels, Wuppertal:<br />
1999 (= Dissertation an der Bergischen Universität<br />
– Gesamthochschule Wuppertal, Fachbereich<br />
Design – Kunst – Musikpädagogik –<br />
Druck) / nur als elektronische Dissertation im<br />
Internet einsehbar<br />
Balzer, Friedrich-Martin/Bock, Hans Manfred/Schöler,<br />
Uli (Hrsg.): Wolfgang Abendroth.<br />
Wissenschaftlicher Politiker: Bio-bibliographische<br />
Beiträge, Opladen: Leske + Budrich<br />
Verlag 2001, 505 S.<br />
bella pittura. Meisterwerke italienischer<br />
Kunst im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert aus den Sammlungen<br />
der Stadt Mailand. Ausstellung im Von der<br />
Heydt-Museum vom 7. Juli – 15. September<br />
2002, Berlin. Reiter-Druck 2002, 287 S., zahlr.<br />
Abb. (= Ausstellungskatalog)<br />
Buslau, Oliver: Rott sieht rot, Köln: Emons<br />
Verlag 2002, 237 S.<br />
Capus, Alex: Fast ein bisschen Frühling, Salzburg:<br />
Residenz Verlag, 4. Aufl. 2002, 175 S.<br />
„Dies soll ein Haus des Gebets sein für alle<br />
Völker“. Festschrift zur Einweihung der neuen<br />
Bergischen Synagoge in Wuppertal, Essen:<br />
Woeste Druck 2002, 72 S., zahlr. Abb.
300 Jahre reformierte Diakonie in Elberfeld<br />
– Reformiertes Armenhaus / Gemeindestift<br />
1677–1977, neu hrsg. aus Anlass der 325-Jahr-<br />
Feier des Reformierten Gemeindestiftes, Wuppertal<br />
2002, 91 S., zahlr. Abb.<br />
100 Jahre Berufskolleg Elberfeld 1903–<br />
2003, Wuppertal: Heinz-Magazin Verlag 2003,<br />
43 S., zahlr. Abb.<br />
100 Jahre Fortuna-Apotheke. 26. Mai 1903–<br />
26. Mai 2003, hrsg. von der Fortuna-Apotheke,<br />
Wuppertal: Ley + Wiegandt 2003, o.S., zahlr.<br />
Abb.<br />
100 Jahre Gr<strong>und</strong>schule Liegnitzer Straße.<br />
Gemeinsam lernen für die Zukunft, hrsg. von<br />
der Städtischen Gemeinschaftsgr<strong>und</strong>schule<br />
Liegnitzer Straße, Wuppertal 2002, 67 S.,<br />
zahlr. Abb.<br />
100 Jahre Rotter Bürgerverein 1902 e.V.,<br />
Wuppertal: Druckhaus Ley + Wiegandt 2002,<br />
o.O., zahlr. Abb.<br />
100 Jahre Schule in der Donarstraße –<br />
1.Oktober 1902 bis 1.Oktober 2002, hrsg.<br />
von der Gemeinschaftsgr<strong>und</strong>schule Donarstraße,<br />
Wuppertal 2002, XXI S., Abb.<br />
110 Jahre <strong>Bergischer</strong> Turnverein 1982 e.V.<br />
Wuppertal-Ronsdorf-Graben: 100 Jahre<br />
Vereinsfahne / 90 Jahre Gesangabteilung / 25<br />
Jahre Seniorenabteilung / 10 Jahre Vereinsheim,<br />
hrsg. vom Bergischen Turnverein 1892<br />
e.V. Wuppertal-Ronsdorf-Graben, Wuppertal<br />
2002, o.S., zahlr. Abb.<br />
Eschmann, Jürgen / Killing, Wolfgang: Spitzensport<br />
in Wuppertal – von den Abendsportfesten<br />
zu den Sprintermeetings, Radevormwald:<br />
Killing 2002, 128 S., zahlr. Abb.<br />
75 Jahre Golf-Club Bergisch-Land Wuppertal.<br />
Geschichte eines Golf-Clubs, hrsg. vom<br />
Golfclub Bergisch Land Wuppertal, o.O.,<br />
[2003], 80 S., zahlr. Abb.<br />
Geschichte im Wuppertal, hrsg. vom Bergi-<br />
schen Geschichtsverein, Abt. Wuppertal e.V.,<br />
dem Historischen Zentrum, dem Stadtarchiv<br />
<strong>und</strong> der Stadtbibliothek, Jg. 11, 2002, 188 S.,<br />
zahlr. Abb.<br />
Goebel, Klaus/Voigt, Günther: Die kleine,<br />
mühselige Welt des jungen Hermann Enters.<br />
Erinnerungen eines Amerika-Auswanderes an<br />
das frühindustrielle Wuppertal, Wuppertal:<br />
Born Verlag, 5. Aufl. 2002, 148 S., 22 Abb.<br />
Günther, Herbert: Zeitsprünge Wuppertal,<br />
Erfurt: Sutton Verlag 2002, 96 S. (= Bildband)<br />
Heidermann, Horst: Seel. Johann Richard<br />
Seel, Maler im Wuppertal <strong>und</strong> Zeichner des<br />
Deutschen Michel, Essen: Thales Verlag 2003,<br />
368 S., zahlr. Abb. (= Beiträge zur Geschichte<br />
<strong>und</strong> Heimatk<strong>und</strong>e des Wuppertals, Bd. 40)<br />
Die Sammlung Holze. Schenkung Hildegard<br />
<strong>und</strong> Dr. Jürgen W. Holze, hrsg. von Sabine Fehlemann.<br />
Ausstellung im Von der Heydt-Museum<br />
vom 13. April–25. Mai 2003, Wuppertal:<br />
Hitzegrad-Druck 2003, 160 S., zahlr. Abb. (=<br />
Ausstellungskatalog)<br />
Im Land der Menschen. Der Missionar <strong>und</strong><br />
Maler Eduard Fries <strong>und</strong> die Insel Nias, hrsg.<br />
von Martin Humburg u.a., Bielefeld: Verlag für<br />
Regionalgeschichte 2003, 128 S., zahlr. Abb.<br />
In meinem Turm in den Wolken – ein Else-<br />
Lasker-Schüler-Almanach, hrsg. von Ulla<br />
Hahn u. Hajo Jahn, Wuppertal: Hammer Verlag<br />
2002, 236 S.<br />
Keller, Peter: Wuppertaler Stadien, Erfurt:<br />
Sutton Verlag 2003, 127 S., zahlr. Abb. (= Die<br />
Reihe „Sportarchiv“)<br />
Kleingärten in Wuppertal. Notizen <strong>und</strong> Ereignisse<br />
aus dem Kreisverband Wuppertal der<br />
Kleingärtner e.V. <strong>und</strong> der ihm angeschlossenen<br />
Vereine, bearb. von Werner Blott, Wuppertal<br />
2001, 62. S., zahlr. Abb.<br />
Konrad, Günter: Lebendige Vergangenheit.<br />
Geschichte <strong>und</strong> Geschichten um Ronsdorf,<br />
137
Neustadt/Aisch: VDS-Verlagsdruckerei Schmidt<br />
2002, 288 S., 99 Abb.<br />
Lo, Peter: Einfältiges Bekenntnis. Abendmahlstraktat<br />
an die Christen in Elberfeld von<br />
1556, als Faksimile hrsg. u. eingeleitet von<br />
Hermann-Peter Eberlein, Waltrop: Verlag Hartmut<br />
Spenner 2002, o.S.<br />
Magner, Michael: Wuppertal-Elberfeld – Briller<br />
Viertel <strong>und</strong> Nordstadt, Erfurt. Sutton Verlag<br />
2003, 127 S., zahlr. Abb. (= Die Reihe Archivbilder)<br />
Meis, Sabine: Historische Grabmäler der<br />
Wupperregion – dokumentiert <strong>und</strong> analysiert<br />
vor dem Hintergr<strong>und</strong> der Entwicklung der Sepulkralkultur,<br />
Wuppertal: 2002 (= Dissertation<br />
an der Bergischen Universität – Gesamthochschule<br />
Wuppertal, Fachbereich Design – Kunst<br />
– Musikpädagogik – Druck) / nur als elektronische<br />
Dissertation im Internet einsehbar<br />
Meyer-Kahrweg, Ruth: Architekten, Bauingenieure,<br />
Baumeister, Bauträger <strong>und</strong> ihre Bauten<br />
im Wuppertal, Sprockhövel: Pies Verlag<br />
2003, 674 S.<br />
Mintert, David Magnus: „Sturmtrupp der<br />
Deutschen Republik“ – Das Reichsbanner<br />
Schwarz-Rot-Gold im Wuppertal, o.O.: Edition<br />
Wahler 2002, 153 S., zahlr. Abb. (= Forschungsgruppe<br />
Wuppertaler Widerstand, Bd. 6)<br />
Mühl, Karl Otto: Siebenschläfer, Wuppertal:<br />
NordPark Verlag, unveränderte Neuausgabe<br />
2002, 177 S.<br />
Nacht über Deutschland. Berliner <strong>und</strong> Dresdener<br />
Kunst zwischen 1930 <strong>und</strong> 1960 aus der<br />
Nationalgalerie Berlin. Ausstellung im Von der<br />
Heydt-Museum vom 26. Januar – 30. März<br />
2003, Berlin: Allprint Media 2003, 79 S., zahlr.<br />
Abb. (=Ausstellungskatalog).<br />
„Niemand hat mich wiedererkannt …“ –<br />
Else Lasker-Schüler in Wuppertal, ausgewählt<br />
u. kommentiert von Ulrike Schrader, Essen:<br />
Woeste Druck 2003, 112 S., zahlr. Abb.<br />
138<br />
Oberbarmer Gemeindegeschichte. Gemarke<br />
– Wichlinghausen – Wupperfeld – Hatzfeld –<br />
Heidt – Heckinghausen, hrsg. von Fritz Mehnert,<br />
Wuppertal: Staats-Verlag 2002, 596 S.,<br />
zahlr. Abb.<br />
Rassek, Bernd-Dietrich: Eine Idee setzt sich<br />
durch – Barmen, die älteste Freiwillige Feuerwehr<br />
in Deutschland?! Die Geschichte des<br />
Brandschutzes in Barmen <strong>und</strong> Elberfeld anhand<br />
von Dokumenten, Wuppertal: Nacke<br />
Druck 2001, 155 S., zahlr. Abb.<br />
Richard Wagner Verband Wuppertal e.V.<br />
1953–2003, hrsg. vom Richard Wagner Verband<br />
Wuppertal, Wuppertal: Droste-Druck<br />
2003, 64 S., zahlr. Abb.<br />
Röhrig, Eberhard: Es ist dir gesagt, Mensch,<br />
was gut ist – Ein Rückblick, Sprockhövel: Eike<br />
Pies-Verlag 1. Aufl. 2002, 2. korrigierte Aufl.<br />
2003, 168 S., 1 Abb. (= Zeitzeugen, Bd. 2)<br />
Schmidt, Andreas: Das Schwebebahn-Komplott,<br />
Hillesheim: HBV-Verlags- <strong>und</strong> Mediengesellschaft<br />
2002, 248 S.<br />
Schnöring, Kurt: Beyenburg – ein bergisches<br />
Juwel, Horb am Neckar: Geiger Verlag 2001,<br />
72 S. (= Bildband)<br />
Schnöring, Kurt: Das war das 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
in Wuppertal, Gudensberg-Gleichen: Wartberg<br />
Verlag 2002, 103 S., zahlr. Abb. (= Bilder aus<br />
Wuppertal)<br />
Schug, Jürgen: Wuppertal – Die Stadt, das Tal<br />
<strong>und</strong> die Menschen, Köln: Emons Verlag 2002,<br />
162 S. (= Bildband)<br />
Speer, Florian: Ausländer im „Arbeitseinsatz“<br />
im Wuppertal. Zivile Arbeitskräfte, Zwangsarbeiter<br />
<strong>und</strong> Kriegsgefangene im zweiten Weltkrieg,<br />
Neustadt/Aisch: Verlagsdruckerei Schmidt<br />
2003, 636 S., zahlr. Abb.<br />
Stock, Wolfgang: Wuppertaler Straßennamen<br />
– ihre Herkunft <strong>und</strong> Bedeutung, Essen: Thales<br />
Verlag 2002, 448 S., zahlr. Abb.
Das Taufbuch der reformierten Gemeinde<br />
Elberfeld 1682-1718, Abschrift, bearb. von<br />
Ursula Ernestus, Wuppertal 2002, 640 S.<br />
(2 Teile)<br />
Tigges, Reinhold: Reisen ist Leben – Dr. Hubert<br />
Tigges <strong>und</strong> seine Welt, Wuppertal: Hammer<br />
Verlag 2001, 264 S., zahlr. Abb.<br />
Vierzig Jahre Nützenberger Turn- <strong>und</strong><br />
Spielverein 1962–2002, hrsg. vom Nützenberger<br />
TV, Wuppertal 2002, 52 S., zahlr. Abb.<br />
Wegner, Armin T.: Brief an Hitler, Wuppertal:<br />
Hammer Verlag 2002, 54 S.<br />
Peter Elsner<br />
Jubiläen <strong>und</strong> Gedenktage 2004<br />
■ 1304<br />
Erste urk<strong>und</strong>liche Erwähnung von Langerfeld.<br />
■ 1579<br />
31. August<br />
Gründung der Amtsschule in Barmen, eine der<br />
Vorgängerschulen des Wilhelm-Dörpfeld-<br />
Gymnasiums. Im Jahr 1865 erhielt man die Anerkennung<br />
als Gymnasium, seit 1931 führt<br />
man den Namen Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasium.<br />
■ 1754<br />
1. Oktober<br />
Eröffnung des Bankhauses von der Heydt,<br />
Kersten & Söhne in Elberfeld, das eine der ältesten<br />
Privatbanken in Deutschland gewesen<br />
ist. Im Jahr 1911 erfolgte die Umwandlung in<br />
eine Kommanditgesellschaft unter 100%iger<br />
Beteiligung des Barmer Bankvereins, der in<br />
Friedrich Werthmann Skulpturen. Werkverzeichnis<br />
1957–2002, hrsg. von Sabine Fehlemann.<br />
Ausstellung in der Kunsthalle Barmen<br />
im Haus der Jugend vom 9. März – 27. April<br />
2003, Wuppertal: Hitzegrad-Druck 2003, 270<br />
S., zahlr. Abb. (= Ausstellungskatalog)<br />
Wir feiern: 150 Jahre Köbners Kirche 2002,<br />
hrsg. von der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde<br />
Wuppertal-Barmen, Witten: Digital<br />
Print 2002, 152 S., zahlr. Abb.<br />
Zelger, Lotte: Eine große Arztfamilie – die<br />
Hoffas. Ihre Geschichte – ihre Schicksale<br />
1822–2002, Stans: Bücher von Matt-Verlag<br />
2002, 166 S., zahlr. Abb.<br />
den 30er Jahren in der Commerzbank aufgegangen<br />
ist.<br />
■ 1804<br />
20. Februar<br />
Johann Anton Friedrich Baudri, Kölner Weihbischof,<br />
wird in Elberfeld geboren. Obwohl die<br />
Domkapitel in Paderborn, Trier <strong>und</strong> Köln ihn<br />
für die Wahl zum Bischof vorschlugen, verhinderte<br />
die Regierung seine Wahl. Der Gr<strong>und</strong> für<br />
die Ablehnung war seine klare Haltung gegen<br />
jegliche Einmischung des Staates in kirchliche<br />
Angelegenheiten. Baudri, der zu den Mitbegründern<br />
des Kölner Diözesanmuseums <strong>und</strong><br />
des Borromäusvereins gehörte, starb 1893 in<br />
Köln.<br />
■ 1829<br />
16. März<br />
Der Textilfabrikant Abraham Frowein stirbt in<br />
seiner Geburtsstadt Elberfeld. Er war der letzte<br />
139
Elberfelder Bürgermeister (Mai bis Dezember<br />
1807), der noch nach der alten Magistratsverordnung<br />
aus dem Jahre 1610, überarbeitet<br />
1708, gewählt wurde.<br />
29. Juni<br />
Mit der Schlachtung eines Ochsen wurde am<br />
Brausenwerth der erste städtische Schlachthof<br />
in Elberfeld in Betrieb genommen. Dieser<br />
Schlachthof wurde von der Stadt Elberfeld auf<br />
freiwilliger Basis errichtet. Erst das Schlachthausgesetz<br />
aus dem Jahr 1868 verpflichtete die<br />
Städte, öffentliche Schlachthofanlagen zu<br />
bauen. In der zweiten Hälfte des Jahres 1829<br />
wurden im Schlachthof 739 Ochsen, 1025<br />
Kühe, 3205 Schafe, 919 Kälber <strong>und</strong> 458<br />
Schweine geschlachtet. Die Schlachtgebühr<br />
betrug für einen Ochsen 10 Sgr., für eine Kuh<br />
8 Sgr., für ein Schaf oder ein Kalb 2 Sgr. <strong>und</strong><br />
für ein Schwein 4 Sgr..<br />
25. August<br />
Gründung der Textilwerke Barthels & Feldhoff<br />
in Barmen.<br />
21. November<br />
Gründung der Barmer Gesellschaft „Union“.<br />
Die anfangs zweimal wöchentlich stattfindenden<br />
Zusammenkünfte dienten satzungsgemäß<br />
der geselligen Unterhaltung <strong>und</strong> Erholung der<br />
Mitglieder. Man verpflichtete sich zu politischer<br />
Neutralität <strong>und</strong> Toleranz gegenüber allen<br />
religiösen Gemeinschaften.<br />
■ 1854<br />
6. Januar<br />
Gründung des Barmer Kolpingvereins. Barmen<br />
war damit eine der letzten größeren Städte<br />
im Rheinland, in denen die Idee Kolpings, einen<br />
Gesellenverein zu gründen, verwirklicht<br />
wurde.<br />
1. Mai<br />
Einweihung des neuen Landgerichtsgebäudes<br />
auf dem Eiland, das zu den ältesten, noch bestehenden<br />
Justizgebäuden in Deutschland gehört.<br />
Um die Auswahl des Standortes wurde<br />
140<br />
damals heftig gestritten, im Nachhinein erwies<br />
sich aber die Lage an der Grenze zwischen<br />
Barmen <strong>und</strong> Elberfeld als positiv für das Zusammenwachsen<br />
der beiden Städte.<br />
22. November<br />
Gründung der Freien evangelischen Gemeinde<br />
Elberfeld-Barmen; es war die erste offizielle<br />
Gemeindegründung Freier evangelischer Gemeinden<br />
in Deutschland.<br />
10. Dezember<br />
Gründung der evangelischen Kirchengemeinde<br />
in Beyenburg. Seit 1679 gehörten die evangelischen<br />
Christen Beyenburgs zur Gemeinde<br />
Remlingrade.<br />
■ 1879<br />
Gründung des Männergesangsvereins Liederkranz,<br />
der im Jahr 1921 mit dem 1887 gegründeten<br />
Männergesangsverein Eintracht zum<br />
Männerchor Vohwinkel fusionierte.<br />
Gründung der privaten Wirtschaftsschule<br />
Förster in Elberfeld.<br />
15. Januar<br />
In Barmen wird Ernst Vesper geboren. Er<br />
gehörte zu den Pionieren der sozialen Sicherung<br />
für Angestellte in Deutschland. Die von<br />
ihm in Barmen mitgegründete „Krankenkasse<br />
für Handelsangestellte“ breitete sich unter dem<br />
Namen „Barmer Ersatzkasse“ rasch über ganz<br />
Deutschland aus <strong>und</strong> ist heute die größte Ersatzkasse.<br />
Vesper, der auch Mitglied der Barmer<br />
Stadtverordnetenversammlung gewesen ist<br />
<strong>und</strong> aktiv in verschiedenen Turn- <strong>und</strong> Gesangsvereinen<br />
mitgearbeitet hat, starb 1949 in Wuppertal.<br />
2. März<br />
Johann Victor Bredt wird in Barmen geboren.<br />
Der Jurist <strong>und</strong> Wirtschaftswissenschaftler<br />
lehrte seit 1910 als Professor der Rechtswissenschaften<br />
an der Universität in Marburg. Neben<br />
seiner wissenschaftlichen Tätigkeit war<br />
Bredt politisch sehr aktiv, hauptsächlich in Kir-
chen-, Steuer- <strong>und</strong> Finanzfragen. Er war Mitglied<br />
des Preußischen Abgeordnetenhauses<br />
(1911–1918), des Preußischen Landtages<br />
(1921–1924) <strong>und</strong> des Reichstages (1924–<br />
1933). Von März bis Dezember 1930 war der<br />
Mitbegründer der Reichspartei des Deutschen<br />
Mittelstandes (Wirtschaftspartei) Justizminister<br />
im Kabinett Brüning. Obwohl Bredt seine<br />
Geburtsstadt schon in jungen Jahren verlassen<br />
hatte, ließ er die (familiären) Verbindungen<br />
nach Barmen zeitlebens nicht abbrechen. Darüber<br />
hinaus befasste er sich in zahlreichen<br />
Veröffentlichungen mit der Wuppertaler Geschichte,<br />
so z.B. in den Geschichten der Familien<br />
Bredt, Siebel <strong>und</strong> Molineus sowie in seiner<br />
Dissertation „Die Lohnindustrie dargestellt am<br />
Beispiel der Garn- <strong>und</strong> Textilindustrie von Barmen.“<br />
Bredt starb 1940 in Marburg.<br />
1. April<br />
Gründung der Holz- <strong>und</strong> Eisenwarenhandlung<br />
Hermann Matthey in Barmen.<br />
Gründung der Holzgroßhandlung Kolk & Co.<br />
in Vohwinkel.<br />
18. April<br />
Im Alter von 63 Jahren stirbt in Elberfeld Wilhelm<br />
Meckel, der einer der erfolgreichsten<br />
Seidenfabrikanten der damaligen Zeit war.<br />
Großen Wert legte er auf die Ausdehnung des<br />
Exportgeschäftes, wobei ihn hauptsächlich der<br />
amerikanische Kontinent interessierte. Meckel,<br />
von 1871–1874 <strong>und</strong> von 1876–1879 Präsident<br />
der Elberfelder Handelskammer, war ein Gegner<br />
der Freihandelspolitik. Er setzte sich für<br />
eine konsequente Schutzzollpolitik besonders<br />
gegenüber England ein.<br />
21. April<br />
Der Luftfahrtpionier Oskar Erbslöh wird in Elberfeld<br />
geboren. Als Ballonfahrer siegte er bei<br />
zahlreichen nationalen <strong>und</strong> internationalen<br />
Wettbewerben. Im Jahre 1907 gewann er in den<br />
USA den begehrten Gordon-Bennet-Pokal,<br />
wobei er mit seinem Ballon in 28 St<strong>und</strong>en eine<br />
Strecke von rd. 875 Meilen zurücklegte. In der<br />
Folgezeit wandte er sich immer mehr der motorisierten<br />
Luftschifffahrt zu. So gründete Erbs-<br />
löh 1908 in Elberfeld die Rheinisch-Westfälische-Motorluftschifffahrt-Gesellschaft<br />
<strong>und</strong><br />
wurde auch deren Vorsitzender. Im Juli 1910<br />
verunglückte er beim Absturz des Luftschiffes<br />
„Erbslöh“ in der Nähe von Leichlingen tödlich.<br />
10. Mai<br />
Gründung der Stannol-Lötmittelfabrik Wilhelm<br />
Pfaff in Barmen.<br />
19. Mai<br />
Einweihung der evangelischen Volksschule<br />
Hesselnberg. Heute ist in dem Gebäude (Hesselnberg<br />
70) das Griechische Lyzeum untergebracht.<br />
16. August<br />
Der Mediziner <strong>und</strong> Bakteriologe Alois Pollender<br />
stirbt im Alter von 80 Jahren in Barmen. Er<br />
entdeckte im Jahr 1849 den Milzbranderreger<br />
<strong>und</strong> damit war der erste Schritt zur systematischen<br />
Seuchenbekämpfung getan.<br />
15. September<br />
Eröffnung der Strecke der Rheinischen Eisenbahn<br />
von Düsseldorf nach Hagen. Die neue Linie<br />
machte der Bergisch-Märkischen Eisenbahn<br />
Konkurrenz, da sie kürzer war sowie geringere<br />
Fahrzeiten <strong>und</strong> Fahrpreise hatte.<br />
22. September<br />
Gründung des Barmer Haus- <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>besitzervereins,<br />
ein Vorgänger des 1951 gegründeten<br />
Wuppertaler Haus- <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>besitzervereins.<br />
1. Oktober<br />
Eröffnung der städtischen Sparkasse in Ronsdorf.<br />
Dabei übernahm die Kasse den Bestand<br />
von 328 Sparkonten der vorher existierenden<br />
Privatsparkasse.<br />
15. Oktober<br />
Einweihung des Wasserwerkes in Düsseldorf-<br />
Benrath, das ausschließlich zur Trinkwasserversorgung<br />
der Stadt Elberfeld gebaut worden<br />
ist. Wegen zu starker Verschmutzung war die<br />
Wupper damals nicht als Trinkwasserreservoir<br />
geeignet, so dass man auf Rheinwasser zurück-<br />
141
greifen musste. Zum Transport des Trinkwassers<br />
wurde eine rd. 16 km lange Rohrleitung<br />
von Benrath nach Elberfeld verlegt.<br />
24. November<br />
Gründung des Kirchenchores der katholischen<br />
Gemeinde St. Remigius in Sonnborn.<br />
29. November<br />
Erste Ausgabe der Tageszeitung „Neueste<br />
<strong>Nachrichten</strong> für Elberfeld/Barmen <strong>und</strong> Umgegend“,<br />
die 1914 von der Bergisch-Märkischen<br />
Zeitung übernommen wurde. Von Oktober<br />
1885 an wurden die „Neuesten <strong>Nachrichten</strong>“<br />
als erste Zeitung des Bergischen Landes auf<br />
einer Rotationsmaschine gedruckt.<br />
1. Dezember<br />
Eröffnung der Landwirtschaftsschule für den<br />
Kreis Mettmann in Wülfrath; die Schule wurde<br />
1900 von Wülfrath nach Vohwinkel verlegt.<br />
17. Dezember<br />
Einweihung der Hottensteiner Kirche der evangelischen<br />
Gemeinde in Nächstebreck. Die in<br />
einer Holzkonstruktion erbaute Kirche blieb bis<br />
1953 in ihrer ursprünglichen Gestalt erhalten,<br />
erst dann erhielt sie einen steinernen Anbau.<br />
■ 1904<br />
Gründung der Schützengesellschaft Vohwinkel<br />
04.<br />
Gründung der Seidenfabrik Langensiepen &<br />
Müller in Ronsdorf.<br />
Gründung der Evangelisch-Freikirchlichen<br />
Gemeinde (Baptisten) in Cronenberg.<br />
6. Januar<br />
Patentierung des „Bayer-Kreuzes“. Dieses<br />
Emblem, das von einem Mitarbeiter im Elberfelder<br />
Stammwerk entworfen wurde, entwickelte<br />
sich sehr rasch zum Markenzeichen<br />
des Bayer-Werkes, ab 1910 wurde es auch auf<br />
Tabletten geprägt. Im Februar 1933 wurde dieses<br />
Symbol als damals größte Blinklichtanlage<br />
142<br />
der Welt im Werk Leverkusen in Betrieb genommen.<br />
Seitdem ist das Bayer-Kreuz als Markenzeichen<br />
auf allen Werken der Bayer AG installiert.<br />
19. Januar<br />
Der Bildhauer Fritz Bernuth wird in Elberfeld<br />
geboren. Seine bevorzugten Motive waren<br />
Tiere. Neben zahlreichen Plastiken <strong>und</strong> Denkmälern,<br />
u.a. schuf er die Bronzeplastik „Pythagoras“<br />
am Johannisberg unterhalb des Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasiums<br />
<strong>und</strong> den Berlin-<br />
Gedenkstein am Berliner Platz in Oberbarmen,<br />
entwarf er auch Grabdenkmäler. Bernuth<br />
wurde 1954 mit dem Von der Heydt-Preis der<br />
Stadt Wuppertal ausgezeichnet. Im Alter von<br />
75 Jahren starb er in Wuppertal.<br />
8. Februar<br />
Hans Rauhaus wird in Cronenberg geboren.<br />
Der engagierte Politiker hat sich um den demokratischen<br />
Neubeginn <strong>und</strong> den Wiederaufbau<br />
der Stadt Wuppertal nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
sehr verdient gemacht. Er gehörte von<br />
1948 bis 1975 dem Stadtrat an <strong>und</strong> war von<br />
1958 bis 1961 auch Bürgermeister; in den Jahren<br />
zwischen 1961 <strong>und</strong> 1965 war er außerdem<br />
Mitglied des Deutschen B<strong>und</strong>estages. Für Rauhaus,<br />
der 1998 in Wuppertal starb, stand stets<br />
der Mensch im Mittelpunkt seines politischen<br />
Handelns.<br />
10. März<br />
Gründung der Firma Arti, Holzlacke <strong>und</strong> Beizen,<br />
in Langerfeld.<br />
1. April<br />
Gründung der Fa. Bomoro (Bocklenberg &<br />
Motte) in Ronsdorf; der Spezialist für Autoschlösser<br />
gehört seit 2002 zum Unternehmen<br />
Brose-Schließsysteme.<br />
15. April<br />
Eröffnung des Katernberger Vereinshauses der<br />
evangelisch-reformierten Gemeinde Elberfeld.<br />
Das Haus entwickelte sich zu einem Mittelpunkt<br />
für Freizeitgestaltung <strong>und</strong> kirchliche<br />
Veranstaltungen verschiedenster Art, besonders<br />
für junge Menschen.
8. Mai<br />
Gründung des Heidter Bezirksvereins in der<br />
Gaststätte Wilhelm Klein in der Heckinghauser<br />
Straße. Zweck der Vereinsgründung war es „…<br />
die allgemeinen Interessen des Heidts zu vertreten<br />
<strong>und</strong> als Mittler zwischen der Bevölkerung<br />
<strong>und</strong> den amtlichen Stellen aufzutreten.“<br />
Ferner hatte es sich der Verein zum Ziel gesetzt,<br />
die Liebe zur Heimat <strong>und</strong> zur Natur zu<br />
pflegen <strong>und</strong> den Gemeinschaftssinn unter den<br />
Anwohnern zu fördern.<br />
1. Juli<br />
Offizielle Eröffnung der Niederlassung der<br />
Dominikanerinnen im St. Remigius-Haus in<br />
Sonnborn. Arbeitsbereiche der Ordensschwestern<br />
waren die ambulante Krankenpflege, eine<br />
Kinderbewahranstalt, eine Handarbeits- <strong>und</strong><br />
Haushaltungsschule sowie die Aufnahme pflegebedürftiger<br />
Frauen.<br />
10. Juli<br />
Gründung des katholischen Arbeitervereins St.<br />
Laurentius in Elberfeld. Hauptaufgabe des Vereins<br />
war es, die soziale Lage der Arbeiter zu<br />
verbessern. Darüber hinaus organisierte man<br />
zahlreiche kulturelle Veranstaltungen, um die<br />
Arbeiterschaft stärker am kulturellen Leben<br />
teilnehmen zu lassen.<br />
3. September<br />
Gründung des Musikvereins Uellendahl.<br />
15. September<br />
Einweihung der Volksschule in der Emilienstraße,<br />
heute Hauptschule. Im Ersten Weltkrieg<br />
wurde die Schule zum Lazarett umfunktioniert<br />
<strong>und</strong> von 1905–1910 sowie von 1918–1923 war<br />
in dem Gebäude auch das Barmer Lehrerinnenseminar<br />
untergebracht. Die Schule in der<br />
Emilienstraße war die einzige von 12 Volksschulen<br />
am Barmer Südhang, die den Bombenangriff<br />
1943 ohne größeren Schaden überstanden<br />
hat.<br />
3. Oktober<br />
Einweihung der evangelischen Volksschule in<br />
der Eichenstraße. Ursprünglich für sieben<br />
Klassen geplant, wurden schon bei der Er-<br />
öffnung neun Klassen mit insgesamt 476<br />
Schülern eingerichtet. Heute ist die Schule eine<br />
Gemeinschaftsgr<strong>und</strong>schule.<br />
4. Oktober<br />
Offizielle Eröffnung der Rheinischen Provinzial-Hebammen-Lehranstalt,<br />
der späteren Landesfrauenklinik,<br />
in der Vogelsangstraße in Elberfeld.<br />
Nach der Schließung der Hebammenlehranstalt<br />
in Köln im Jahre 1924 war die Elberfelder<br />
Einrichtung alleinige Aus- <strong>und</strong> Fortbildungsstätte<br />
für sämtliche Hebammen in der<br />
Rheinprovinz. Im Jahr 1985 ging das Krankenhaus<br />
in die Trägerschaft der katholischen St.<br />
Antonius-Kliniken über.<br />
28. Oktober<br />
Gründung der Freiwilligen Feuerwehr Cronenberg-Mitte;<br />
Anlass war ein Großbrand bei der<br />
Werkzeugfabrik Prinz <strong>und</strong> Kremer. Im Jahr<br />
1908 schloss man sich mit den Wehren Berghausen<br />
(gegr. 1896), Kuchhausen <strong>und</strong> Küllenhahn<br />
zur Freiwilligen Feuerwehr Cronenberg<br />
zusammen.<br />
5. November<br />
Der Maler <strong>und</strong> Grafiker Adolf Röder wird in<br />
Barmen geboren. Landschaften, Stillleben <strong>und</strong><br />
Figurenbilder waren seine bevorzugten Motive.<br />
Er war Mitbegründer des „Rings bergischer<br />
Künstler“ <strong>und</strong> von 1947 bis 1983 dessen Vorsitzender.<br />
Bis zu seinem Tod im Jahr 1983 war<br />
Röder als Galerist <strong>und</strong> Gastronom in der „Galerie<br />
Palette Röderhaus“ am Sedansberg aktiv.<br />
■ 1929<br />
Gründung der Barmer Billard-Fre<strong>und</strong>e 1929.<br />
Bis 1988 diente eine Gaststätte in der Haspeler<br />
Schulstraße als Spielstätte, danach spielte man<br />
in den Räumen des ehemaligen Arbeitsamtes in<br />
der Gronaustraße. Im Jahr 1999 eröffnete der<br />
Verein das neue Billardzentrum in der Neumarktstraße.<br />
Gründung der Kleingartenvereine „Westen“ in<br />
Elberfeld <strong>und</strong> „Kahlen Asten“ in Barmen.<br />
Gründung des Dönberger Schützenvereins.<br />
143
12. Januar<br />
Im Alter von 65 Jahren stirbt Karl Krall. Der<br />
Pferdeliebhaber war überzeugt davon, dass<br />
Pferde „denken <strong>und</strong> rechnen“ können. Seine<br />
Beobachtungen <strong>und</strong> Versuche veröffentlichte<br />
er 1912 in seinem Buch „Denkende Tiere“. Die<br />
Reaktion auf diese Publikation reichte von begeisternder<br />
Anerkennung bis zu schroffer Ablehnung.<br />
Zahlreiche Journalisten, Verhaltensforscher<br />
<strong>und</strong> Tierpsychologen beschäftigten<br />
sich mit den „denkenden“ Pferden – das bekannteste<br />
war der „kluge Hans“ – aus Elberfeld.<br />
Ob die Pferde des Karl Krall nun selbstständig<br />
denken <strong>und</strong> rechnen konnten oder nur<br />
gut dressiert waren, diese Frage konnte nie<br />
endgültig geklärt werden.<br />
7. März<br />
Heinrich Bammel stirbt im Alter von 73 Jahren.<br />
Am 1. Juli 1888 wurde er Bürgermeister<br />
der damals gerade selbständig gewordenen Gemeinde<br />
Vohwinkel <strong>und</strong> blieb es bis 1919. Er<br />
war bei den Bürgern äußerst beliebt <strong>und</strong> wurde<br />
auch von seinen politischen Gegnern geachtet,<br />
da er sein Amt stets zum Wohle der Gemeinde<br />
<strong>und</strong> ihrer Einwohner einsetzte.<br />
3. April<br />
Gründung des Wuppertaler Spar- <strong>und</strong> Bauvereins.<br />
Zweck der Vereinsgründung war es, preisgünstige<br />
Wohnungen für Bevölkerungsschichten<br />
mit niedrigem Einkommen zu bauen.<br />
19. April<br />
Inbetriebnahme des neuen Fernsprechmeldeamtes<br />
in der Briller Straße. Damit erfolgte für<br />
einen Teil der Elberfelder Fernsprechteilnehmer<br />
(ca. 4.200) die Umstellung vom Hand- auf<br />
den Wählbetrieb.<br />
23. Juni<br />
Einweihung der Waldkampfbahn in Vohwinkel.<br />
Die Fertigstellung war das letzte große<br />
Bauprojekt der selbständigen Stadt Vohwinkel.<br />
Noch heute wird die Anlage von Sportvereinen<br />
<strong>und</strong> Schulen genutzt.<br />
August<br />
Gründung der Rheingold-Reisen in Wuppertal.<br />
144<br />
Die ersten Ausflüge an den Rhein fanden noch<br />
in umgerüsteten Lastkraftwagen statt.<br />
1. August<br />
Gründung der Stadt Wuppertal durch Zusammenlegung<br />
der Stadtgemeinden Barmen, Elberfeld,<br />
Vohwinkel, Cronenberg <strong>und</strong> Ronsdorf,<br />
des Ortseiles Beyenburg aus der Stadtgemeinde<br />
Lüttringhausen sowie Teilen der Stadtgemeinden<br />
Haan, Wülfrath, Hardenberg-Neviges<br />
<strong>und</strong> Teilen der Landgemeinden Schöller,<br />
Gruiten <strong>und</strong> Gennebreck. Die neu entstandene<br />
Stadt hatte ein Gesamtfläche von ca. 15.000 ha<br />
<strong>und</strong> rd. 415.00 Einwohner. Gr<strong>und</strong>lage für diese<br />
„Stadtgründung“ war das „Gesetz über die<br />
kommunale Neugliederung des rheinischwestfälischen<br />
Industriegebietes“, das der<br />
Preußische Landtag am 29. Juli 1929 verabschiedet<br />
hatte.<br />
28. September<br />
August Freiherr von der Heydt, Teilhaber des<br />
Bankhauses Von der Heydt, Kersten <strong>und</strong><br />
Söhne, stirbt in Bad Godesberg. Geboren 1851<br />
in Elberfeld war er Ehrenbürger seiner Heimatstadt;<br />
seine Verdienste um die Stadt sind vielfältig.<br />
Er stiftetet mehrere Denkmäler, förderte<br />
den Bau des Stadttheaters <strong>und</strong> setzte sich für<br />
die Errichtung des Zoologischen Gartens ein.<br />
Ganz besonders trat er als Kunstmäzen hervor.<br />
Als Mitbegründer <strong>und</strong> langjähriger Vorsitzender<br />
des Museumsvereins hatte von der Heydt<br />
großen Anteil an der Einrichtung des städtischen<br />
Kunstmuseums <strong>und</strong> dem Aufbau der Abteilung<br />
der neueren Malerei. Seine umfangreiche<br />
Privatsammlung, vor allem Bilder zeitgenössischer<br />
Maler, ging vollständig in den<br />
Besitz des Museums über.<br />
15. November<br />
Eröffnung des Sportgeschäftes Weidenbach in<br />
Barmen<br />
18. November<br />
Gründung des „Ski-Club Cronenberg“. Die 14<br />
Gründungsmitglieder hatten sich „die gemeinsame<br />
Ausübung <strong>und</strong> Pflege des Ski-Sports ...<br />
die Organisation gemeinsamer Ski-Touren<br />
durch das Bergische Land sowie Fahrten zu
den Wintersportplätzen des Sauerlandes“ zum<br />
Ziel gesetzt. Von 1933 bis Ende der 50er Jahre<br />
unterhielt der Verein im Gelpetal eine Sprungschanze.<br />
Der Bau <strong>und</strong> die Unterhaltung dieser<br />
Anlage wurde ausschließlich von Vereinsmitglieder<br />
durchgeführt.<br />
28. November<br />
Einweihung des Bethesda-Krankenhauses in<br />
der Hainstraße in Elberfeld. Nach einer zweimonatigen<br />
Besetzung (Ende April bis Ende<br />
Juni 1945) des Krankenhauses durch die<br />
Amerikaner, wurde das gesamte Anwesen am<br />
16. Oktober 1945 von den Briten beschlagnahmt<br />
<strong>und</strong> als britisches Militär-Hospital genutzt.<br />
Erst Ende Oktober 1953 gaben die Besatzer<br />
das Krankenhausgelände mit allen dazugehörigen<br />
Gebäuden wieder frei. Die notwendigen<br />
Instandsetzungsarbeiten dauerten mehr<br />
als ein halbes Jahr <strong>und</strong> das Krankenhaus<br />
konnte erst am 6. Mai 1954 wieder eröffnet<br />
werden.<br />
■ 1954<br />
Januar<br />
Beginn der staubfreien Müllabfuhr in Wuppertal.<br />
Damit mussten die Mülltonnen nicht mehr<br />
von Hand entleert werden, sondern die Leerung<br />
erfolgte vollständig automatisch durch<br />
eine spezielle Vorrichtung an den Müllwagen.<br />
14. Januar<br />
Mit dem Film „Solange du da bist“ wird das<br />
neu erbaute Kino Lichtburg am Alten Markt<br />
(wieder)eröffnet.<br />
24. Januar<br />
In Wuppertal stirbt Helmut Weese, der seit<br />
1929 das pharmakologische Institut der Bayer-<br />
Werke in Elberfeld leitete <strong>und</strong> zahlreiche wissenschaftliche<br />
Entdeckungen machte. Er war<br />
u.a. maßgeblich an der Entwicklung des Narkosemittels<br />
„Evipan“ beteiligt <strong>und</strong> unter seiner<br />
Leitung wurde auch das künstliche Blutplasma<br />
„Periston“ erf<strong>und</strong>en, das im Zweiten Weltkrieg<br />
vielen Menschen das Leben rettete.<br />
5. Februar<br />
Eröffnung des „Studio-Lichtspieltheaters“ im<br />
Fita-Palast in Barmen. Wie der Name schon<br />
andeutet, hatte dieses Kino Studio-Charakter<br />
<strong>und</strong> mit 268 Plätzen auch deutlich weniger Zuschauersitze<br />
als die Lichtspielhäuser der damaligen<br />
Zeit.<br />
18. April<br />
Einweihung der evangelischen Auferstehungskirche<br />
in Elberfeld. Durch die Bevölkerungszunahme<br />
nach dem Zweiten Weltkrieg in Katernberg<br />
wurde der Bau einer neuen Gottesdienststätte<br />
erforderlich.<br />
23. Mai<br />
Der Chemiker Heinrich Hörnlein, der seit 1909<br />
für die Bayer-Werke gearbeitet hat, stirbt im<br />
Alter von71 Jahren in Wuppertal. Unter seiner<br />
Leitung wurde das Werk Elberfeld zu einer der<br />
führenden chemisch-medizinischen Forschungsstätten<br />
ausgebaut, in deren Labors zahlreiche<br />
weltweit vertriebene Medikamente (Schlafmittel,<br />
Narkotika, Malariamittel) entwickelt<br />
wurden.<br />
9. Juni<br />
Hugo Kaulen, Unternehmer <strong>und</strong> Ballonfahrer,<br />
stirbt im Alter von 84 Jahren. Ihm gelang es als<br />
erstem, Kunstseide einzufärben <strong>und</strong> mit der<br />
Vermarktung dieser Erfindung konnte er sein<br />
kostspieliges Hobby, die Freiballonfahrt, finanzieren.<br />
Mit 87 St<strong>und</strong>en Fahrzeit hielt er<br />
lange Zeit den Weltrekord im Dauerballonfahren.<br />
Zu dieser Weltrekordfahrt startete Kaulen<br />
am 13. Dezember 1913 in Bitterfeld <strong>und</strong> erst<br />
nach vier Tagen <strong>und</strong> fast 3.500 km endete diese<br />
Ballonfahrt bei Perm im Ural.<br />
8. Juli<br />
Durch die Fusion der Vereine SSV Wuppertal<br />
04 <strong>und</strong> TSG Vohwinkel kommt es vier Tage<br />
nach dem Gewinn der ersten Fußballweltmeisterschaft<br />
für Deutschland zur Gründung des<br />
Wuppertaler Sportvereins (WSV). Von 1972<br />
bis 1975 spielte der WSV in der 1. B<strong>und</strong>esliga.<br />
26. Juli<br />
In Solln bei München stirbt der Maler Julius<br />
145
Mermagen im Alter von 79 Jahren. Er war<br />
nicht nur ein bekannter Maler (Porträts, Landschaften,<br />
Stillleben), sondern auch ein erfolgreicher<br />
Lehrer. Von 1897 bis 1934 unterrichtete<br />
er zunächst an der Elberfelder Kunstgewerbeschule,<br />
später dann an der Wuppertaler Meisterschule<br />
für das gestaltende Handwerk. Mermagen<br />
gehörte auch zu den Gründern der Bergischen<br />
Kunstgenossenschaft.<br />
31. Juli<br />
Enthüllung der Bronzeplastik „Wanderer mit<br />
der Laute“ von Harald Schmahl in der Grünanlage<br />
am Sandhof. Diese Plastik spendete der<br />
Bürgerverein „Äußere Südstadt“ der Stadt<br />
Wuppertal anlässlich des 25jährigen Stadtjubiläums.<br />
August<br />
Steher-Weltmeisterschaften im Stadion „Am<br />
Zoo“. Die Weltmeisterschaft war der Höhepunkt,<br />
aber gleichzeitig auch das letzte bedeutende<br />
Radrennen auf dem Zementoval im Elberfelder<br />
Stadion.<br />
7. August<br />
Gründung des „Rollschuh-Club Cronenberg“;<br />
bis dahin waren die Rollsportler eine Abteilung<br />
des Cronenberger SC. Der RSC ist heute der<br />
erfolgreichste Rollhockey-Verein in Deutschland<br />
(8 Deutsche Meisterschaften, 6 Pokalsiege),<br />
wobei im Jahr 2003 die dritte Meisterschaft<br />
in Folge gewonnen wurde. Auch die Damen-<br />
<strong>und</strong> Nachwuchsmannschaften des Vereins<br />
holten auf nationaler Ebene zahlreiche<br />
Titel.<br />
28. September<br />
Enthüllung der Bronzeplastik „Knabe mit<br />
Taube“ von Kurt Lehmann am Klinkerteich in<br />
den Barmer Anlagen. Die Figur war eine<br />
Spende des „Barmer Verschönerungsvereins“<br />
zum 25jährigen Stadtjubiläum.<br />
Dezember<br />
An der Großen Flurstraße ist das erste Wohn-<br />
Hochhaus (12 Wohnetagen) in Barmen bezugsfertig.<br />
146<br />
■ 1979<br />
30. März<br />
Einweihung der Treppe Friedrichsberg. Diese<br />
Verbindung zwischen der Neviandtstraße <strong>und</strong><br />
dem Friedrichsberg war bei ihrer Freigabe mit<br />
350 m <strong>und</strong> 177 Stufen nach der Vogelsauer<br />
Treppe (241 Stufen) die zweitlängste Treppe<br />
im Wuppertal.<br />
7. Mai<br />
Im Alter von 78 Jahren stirbt in Wuppertal der<br />
Maler Kurt Nantke, der zu den Mitbegründern<br />
des Barmer Künstlerkreises „Die Wupper“<br />
(Wupperkreis) gehörte. Er malte in erster Linie<br />
Porträts sowie Natur- <strong>und</strong> Landschaftsbilder.<br />
15. Mai<br />
Uraufführung der Revue „… dann mal wieder<br />
rechts“ von Dirk Schortemeier (Musik) <strong>und</strong><br />
Felix Rexhausen (Text). Regie führte Helmut<br />
Baumann, verantwortlich für Bühne <strong>und</strong> Kostüme<br />
war Heidrun Schmelzer.<br />
16. Mai<br />
In Gauting bei München stirbt der Maler Alfred<br />
Leithäuser. Der gebürtige Barmer, der seit<br />
den 20er Jahren in Bayern ansässig war, galt als<br />
ein Vertreter der „Neuen Sachlichkeit“. Für<br />
sein Schaffen wurde er 1978 mit dem Von der<br />
Heydt-Preis der Stadt Wuppertal ausgezeichnet.<br />
Im Dritten Reich wurden die Arbeiten des<br />
Malers als „entartete“ Kunst eingestuft.<br />
22. Mai<br />
Fritz Bernuth, Bildhauer, stirbt in Wuppertal.<br />
(s. auch 19. Januar 1904)<br />
7. Juni<br />
Enthüllung der Bronzefigur der „Mina Knallenfalls“<br />
von Ulle Hees in der Elberfelder<br />
Fußgängerzone im Bereich Poststraße/Alte<br />
Freiheit. Bei der Figur aus Otto Hausmanns<br />
M<strong>und</strong>artdichtung soll es sich keineswegs nur<br />
um eine reine Erfindung handeln, sondern Maria<br />
Wilhelmina Hausmann, die Großmutter des<br />
M<strong>und</strong>artdichters, soll ihm dabei als Vorbild gedient<br />
haben.
1. August<br />
Offizielle Eröffnung der ersten Wuppertaler<br />
Gesamtschule in Ronsdorf. Seit 1997 heißt<br />
diese Schule „Erich-Fried-Gesamtschule“, benannt<br />
nach dem 1988 verstorbenen Schriftsteller,<br />
der besonders durch seine politisch kritischen<br />
Gedichte <strong>und</strong> Essays bekannt geworden<br />
ist.<br />
1. Oktober<br />
Offizielle Gründung des „Historischen Zentrums“.<br />
19. Oktober<br />
Offizielle Einweihung des Altenzentrums im<br />
Briller Schlösschen.<br />
20. Oktober<br />
Einweihung des Sportzentrums der Bereitschaftspolizei<br />
auf Lichtscheid.<br />
15. November<br />
In Wuppertal stirbt Heinrich Schmeißing. Der<br />
gebürtige Schwelmer hat in den Jahren nach<br />
dem Zweiten Weltkrieg den Wiederaufbau<br />
Wuppertals als Mitglied des Rates <strong>und</strong> der Verwaltung<br />
entscheidend mitgestaltet <strong>und</strong> mitgeprägt.<br />
Von 1946 bis 1958 gehörte er dem Stadt-<br />
<strong>Nachrichten</strong><br />
Aloys Pollender (1799–1879)<br />
In der neueren medizingeschichtlichen<br />
Fachliteratur besteht Einmütigkeit in der Frage,<br />
daß der aus Barmen stammende Arzt Dr. Aloys<br />
Pollender 1849 in seiner Wipperfürther Praxis<br />
den Milzbranderreger (Bazillus anthracis) zum<br />
ersten Mal nachgewiesen <strong>und</strong> 1855 seine Forschungsergebnisse<br />
in der von Johann Ludwig<br />
Casper herausgegebenen „Vierteljahrsschrift<br />
für gerichtliche <strong>und</strong> öffentliche Medizin“ ver-<br />
rat an <strong>und</strong> von 1951 bis 1956 amtierte er als<br />
Oberbürgermeister. Das Amt des Stadtkämmerers<br />
übernahm er im Jahr 1958 <strong>und</strong> behielt es<br />
bis zu seinem Ausscheiden aus dem Dienst der<br />
Stadtverwaltung 1970; seit 1967 war er zusätzlich<br />
Stadtdirektor.<br />
21. November<br />
Enthüllung der lebensgroßen Bronzestatue<br />
„Der Frierende“ des Wuppertaler Bildhauers<br />
Ernst-Gerd Jentgens vor der Gemarker Kirche.<br />
Vom gleichen Künstler stammt auch die Plastik<br />
„Der Wartende“, die am 1. Dezember 1979 vor<br />
der Antonius-Kirche enthüllt wurde. Beide Figuren<br />
wurden im Rahmen des Wettbewerbs<br />
„Kunst an Stadtplätzen“ entworfen.<br />
19. Dezember<br />
Enthüllung der Bronzefigur des „Zuckerfritz“<br />
von Ulle Hees auf dem Kerstenplatz in Elberfeld.<br />
Der Name Zuckerfritz, mit bürgerlichem<br />
Namen hieß er Fritz Poth, ist auf seine Vorliebe<br />
für Zuckerstücke <strong>und</strong> „Klömpkes“ zurückzuführen.<br />
Seine dürre Gestalt, die dünne Stimme<br />
<strong>und</strong> seine bevorzugte Kleidung (Jacken mit zu<br />
kurzen Ärmeln <strong>und</strong> Hosen mit hochgeschlagenem<br />
Saum) reizten die Jugendlichen immer<br />
wieder dazu, ihn zu verspotten.<br />
öffentlicht hat. In den folgenden Jahren machten<br />
Dr. Friedrich A. Brauell in Dorpat <strong>und</strong> die<br />
Franzosen Henri Mamert O. Delafond <strong>und</strong> Casimir<br />
Joseph Davaine vergleichbare Beobachtungen.<br />
Aber erst 1876 gelang es Robert Koch,<br />
den Erreger in Reinkultur zu züchten <strong>und</strong> damit<br />
die wissenschaftliche Erklärung für die Ursache<br />
des Milzbrandes zu erbringen.<br />
Der Bergische Geschichtsverein hat in<br />
seinen Veröffentlichungen immer wieder auf<br />
Aloys Pollenders Pioniertat hingewiesen, den-<br />
147
noch ist er leider in der „Neuen Deutschen Biographie“,<br />
dem umfassendsten biographischen<br />
Nachschlagewerk zur deutschen Geschichte,<br />
nicht berücksichtigt worden. Immerhin widmet<br />
ihm die „Deutsche Biographische Enzyklopädie“<br />
(Bd. 8, 1998, S. 28) einen kurzen Artikel,<br />
bezeichnenderweise unter Angabe des mehrbändigen,<br />
von Charles C. Gillispie herausgegebenen<br />
Lexikons „Dictionary of Scientific Biography“<br />
(New York, 1970–78) als Quelle. Leider<br />
übernimmt auch die DBE aus der älteren<br />
Literatur, die sich auf die von Aloys Pollender<br />
selbst im Curriculum vitae seiner 1824 in Bonn<br />
vorgelegten Dissertation gemachte Angabe<br />
stützt, das Jahr 1800 als Geburtsjahr, obwohl<br />
Hans Kraus schon 1958 mit Hilfe des Kirchenbuches<br />
der katholischen Gemeinde Barmen<br />
zweifelsfrei nachgewiesen hat, daß der Arzt am<br />
26. Januar 1799 geboren bzw. getauft worden<br />
ist.<br />
Aloys Pollender hat auch sonst Ehrungen<br />
erfahren. In Wipperfürth, Lindlar <strong>und</strong> Neuss –<br />
von dort stammt seine Familie – sind Straßen<br />
nach ihm benannt. Am 28. Juli 1929 wurde in<br />
Wipperfürth am Hause in der Hochstraße 22<br />
eine Gedenktafel eingeweiht. Am 24. Mai 2002<br />
enthüllten nun auch in Neuss am Hause in der<br />
Pollenderstraße 3 die Heimatfre<strong>und</strong>e Neuss<br />
e.V. die von ihnen gestiftete <strong>und</strong> von dem<br />
Künstler Günter Happekotte geschaffene Erinnerungsplakette<br />
(vgl. Neuss-Grevenbroicher<br />
Zeitung vom 27.05.2002).<br />
Literaturhinweise:<br />
Müller, Reiner: Aloys Pollender 1800–1879, in:<br />
Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 53,<br />
1922, S.17–25.<br />
Kraus, Hans: Alois Pollender 1799–1879, in:<br />
Wuppertaler Biographien 1 (= Beiträge zur Geschichte<br />
<strong>und</strong> Heimatk<strong>und</strong>e des Wuppertal 4), Wuppertal,<br />
1958, S. 65–72.<br />
Hiddemann, Herbert: Aloys Pollender, ein Wegbereiter<br />
Robert Kochs, in: Romerike Berge 24,<br />
1974, S. 69–71.<br />
Hombrecher, Paul: Er entdeckte den Milzbrand-<br />
Erreger. Zum 100. Todestag des Bergischen Landarztes<br />
Dr. Aloys Pollender, in: Romerike Berge 29,<br />
1979, S. 106–110. U. E.<br />
148<br />
Friedrich Seyd, Textilgroßhandlung<br />
Vor 175 Jahren, am 1. Januar 1828, gründete<br />
Friedrich Seyd in der Hofaue eine Textilgroßhandlung.<br />
Die Firma trug dazu bei, dass<br />
sich die Hofaue im Laufe der Jahre weltweit zu<br />
einem der bedeutendsten Textilhandelszentren<br />
entwickelte. Beim Luftangriff auf Elberfeld<br />
1943 wurden die Geschäftsräume stark beschädigt.<br />
Aufgr<strong>und</strong> der Kriegsschäden <strong>und</strong> des allgemeinen<br />
wirtschaftlichen Niedergangs des<br />
Großhandels entschloss sich Joachim Seyd<br />
1958 dazu, die Fa. Seyd Söhne & Eisfeller, so<br />
hieß sie zuletzt, zu liquidieren. Heute befindet<br />
sich auf dem ehemaligen Firmengelände das<br />
Parkhaus der City-Arkaden. Peter Elsner<br />
Mitgliederversammlung 2003 des Bergischen<br />
Geschichtsvereins, Abt. Wuppertal<br />
Die vom Vereinsrecht vorgeschriebene Mitgliederversammlung<br />
unserer Abteilung fand<br />
am 6. März 2003 statt. Ungefähr 75 Mitglieder<br />
(von insgesamt knapp 900 Mitgliedern) waren<br />
der Einladung gefolgt. Die Versammlung gedachte<br />
zuerst der im vergangenen Jahr verstorbenen<br />
Mitglieder Herrn Albert Heider, Frau<br />
Gise Bartholomé, Herrn Götz Knappertsbusch,<br />
Herrn Theodor Langenbruch, Herrn Helmut<br />
Pfeil, Frau Wilhelmine Schultheiss, Herrn<br />
Günter Völker sowie Frau Barbara Wolff.<br />
Nachzutragen aus dem Jahre 2002 ist in dieser<br />
Aufzählung noch Herr Werner Schmitz, der am<br />
4. Januar 2001 mitsamt seiner Familie an den<br />
Folgen eines schweren Verkehrsunfalls verstarb.<br />
Der Verein wird den Verstorbenen, die oft<br />
eine langjährige Mitgliedschaft auszeichnete,<br />
ein ehrendes Andenken bewahren.<br />
Auch in der diesjährigen Versammlung waren<br />
erneut viele Jubilare zu ehren. Die Herren<br />
Gerhard Birker <strong>und</strong> Klaus Tesch sind seit 40<br />
Jahren Mitglied unseres Vereins, auf eine<br />
25jährige Mitgliedschaft können Klaus Dieter<br />
Becker, Elke Birk-Pahlen, Astrid Bolender,<br />
Walter Brincker, Ursula Buse, Prof. Dr. Gerhard<br />
Deimling, Marianne Drews, Ingeborg<br />
Ebert, Werner Elbracht, Gerd Fassbach, Emmi
Flügge, Arnd Friedrich, Brunhild Gravenhorst,<br />
Bernd Kleinschmidt, Ingeburg Lange, Hans-<br />
Otto Lehmbach, Erika Middelkamp, Jürgen<br />
Müchler, Frauke Muthmann, Eberhard <strong>und</strong> Ute<br />
Nicklisch, Kurt Oelemann, Dr. Fritz Paetzold,<br />
Harald Priebe, Nora Roehrig, Kurt Schulten,<br />
Klaus Schumann, Michael Schumann, Norbert<br />
Sdunzik, Margret Simon, Elisabeth Sohn,<br />
Charlotte Steinberg, Ilse Thiemann, Wolfgang<br />
Voes <strong>und</strong> Christel Weidenbach zurückblicken.<br />
Alle Jubilare wurden vom Vorsitzenden beglückwünscht<br />
<strong>und</strong> mit einem kleinen Geschenk<br />
bedacht.<br />
Der Bericht über die Tätigkeit des Vereins<br />
konnte ähnlich kurz wie in den vergangenen<br />
Jahren gehalten werden. Das Vortragsprogramm<br />
mit insgesamt sieben Vorträgen im Jahr<br />
wurde weiterhin von den Herren Prof. Dr.<br />
Heinrichs <strong>und</strong> Dr. Müller-Späth betreut, das<br />
Fahrtenprogramm von Frau Dr. Lekebusch <strong>und</strong><br />
Herrn Esser. Der Zuspruch zu den Fahrten, sowohl<br />
zu den eintägigen wie auch zu der mehrtägigen<br />
Fahrt, hat erfreulicherweise deutlich<br />
zugelegt.<br />
Die Abteilung Wuppertal konnte auch im<br />
vergangenen Jahr wieder eine Ausgabe der<br />
„Geschichte im Wuppertal“ herausbringen.<br />
Das Heft im Umfang von 188 Seiten war dem<br />
150jährigen Jubiläum der Stadtbibliothek<br />
Wuppertal – eigentlich Elberfeld – gewidmet.<br />
In seiner Publikationsreihe erschien als Band<br />
39 der „Beiträge zur Geschichte <strong>und</strong> Heimatk<strong>und</strong>e<br />
des Wuppertals“ eine Publikation von<br />
Florian Speer: „Ibach <strong>und</strong> die anderen. Rheinisch-<strong>Bergischer</strong><br />
Klavierbau im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert.“<br />
Unterstützt wurde dazu der Druck einer<br />
weiteren Dissertation über den Architekten<br />
Emil Fahrenkamp von Christoph Heuter.<br />
Die Abteilung Wuppertal veranstaltete weiter<br />
zum erstenmal einen „Tag der Wuppertaler<br />
Geschichte“, der am 1. Juni 2002 stattfand <strong>und</strong><br />
von der Arbeitsgemeinschaft „Geschichte vor<br />
Ort“ organisiert wurde. Die Beteiligung an den<br />
Vorträgen, Wanderungen <strong>und</strong> Diskussionen<br />
dieses Tages war mit etwa 100 Personen über<br />
Erwarten gut.<br />
Die „Geschichtswerkstatt“, für deren<br />
Durchführung die Abteilung Wuppertal einen<br />
Zuschuß der NRW-Stiftung beantragt hatte,<br />
wurde noch einmal kurz vorgestellt. Der Vorsitzende<br />
wies darauf hin, daß der Zuschuss bewilligt<br />
sei <strong>und</strong> die Werkstatt noch vor den Sommerferien<br />
beginnen könne. Inzwischen hat die<br />
Eröffnungsveranstaltung stattgef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Arbeitsgruppen<br />
für die einzelnen Stadtquartiere<br />
haben ihre Tätigkeit begonnen.<br />
Der Bericht des Schatzmeisters konnte ähnlich<br />
kurz wie in den vergangenen Jahren gehalten<br />
werden. Die Finanzlage des Vereins gab zu<br />
keinen Sorgen Anlaß, wenn auch sein Vermögen<br />
durch die hohen Druckkosten-Zuschüsse,<br />
die gewährt wurden, erheblich schmolz. Die<br />
Kassenprüfung durch Frau Weidenbach <strong>und</strong><br />
Herrn Camphausen erbrachte keinerlei Beanstandungen,<br />
der Bericht der Kassenprüfer enthielt<br />
ein ausdrückliches Lob über die Kassenführung<br />
<strong>und</strong> die geschickte <strong>und</strong> übersichtliche<br />
Anlage der Konten durch den Schatzmeister<br />
Herrn Dr. Wicht. Dem Vorstand wurde darauf<br />
einstimmig, mit Enthaltung der Betroffenen,<br />
Entlastung erteilt.<br />
Nach Ende der fünfjährigen Amtszeit des<br />
Vorstandes mußten Neuwahlen stattfinden. Da<br />
der Vorsitzende <strong>und</strong> der Schatzmeister nicht<br />
mehr kandidierten, der stellvertretende Vorsitzende<br />
<strong>und</strong> der Schriftführer sich aber weiterhin<br />
zur Verfügung stellten, erbrachten die Wahlen<br />
einen „teilerneuerten Vorstand“.<br />
Dieser besteht jetzt aus folgenden Personen:<br />
Vorsitzende Frau Dr. Sigrid Lekebusch,<br />
stellvertretender Vorsitzender Hans-Joachim<br />
de Bruyn-Ouboter, Schatzmeister Dr. Florian<br />
Speer, Schriftführer Gerhard Birker.<br />
Die neue Vorsitzende dankte den beiden<br />
ausscheidenden Vorstandsmitgliedern, den<br />
Herren Dr. Wicht <strong>und</strong> Prof. Dr. Wittmütz.<br />
Der Beirat der Abteilung umfaßt folgende<br />
Mitglieder: die Damen Ruth Meyer-Kahrweg<br />
<strong>und</strong> Ute Scharmann, die Herren Prof. Dr. Hermann<br />
de Buhr, Dr. Uwe Eckardt, Gerhard Esser,<br />
Prof. Dr. Wolfgang Heinrichs, Dr. Christoph<br />
Heuter, Dr. Michael Knieriem, Dr. Jürgen<br />
Müller-Späth, Carsten Pick, Reiner Rhefus,<br />
Jürgen Rottmann, Dr. Heinrich-Karl Schmitz,<br />
Kurt Schnöring, Dr. Wolfgang Wicht <strong>und</strong> Prof.<br />
Dr. Volkmar Wittmütz.<br />
Eine geplante Erhöhung des Mitgliedsbeitrags<br />
von bisher Euro 20 auf zukünftig (ab<br />
149
2004) Euro 25 im Jahr wurde von den Mitgliedern<br />
für notwendig erachtet <strong>und</strong> beschlossen.<br />
Für Studierende <strong>und</strong> Schüler bleibt es bei Euro<br />
10 im Jahr.<br />
Nach diesen Tagesordnungspunkten konnte<br />
gegen 20.30 der Vortrag über die „Evangelische<br />
Kirche unter dem Kreuz?“, über die Evangelischen<br />
im Rheinland im Reformationsjahrh<strong>und</strong>ert,<br />
beginnen. V. W.<br />
Klaus Goebel Ehrenbürger von Boitzenburg<br />
Im Mai dieses Jahres verlieh der Rat der<br />
Gemeinde Boitzenburg (Uckermark) dem<br />
Wuppertaler Historiker Prof. Dr. Klaus Goebel<br />
die Ehrenbürgerschaft. Goebel hatte in seiner<br />
<strong>Buchbesprechungen</strong><br />
Richard Kumpf: Alarmtauchen im<br />
Krieg. Untertauchen im Kalten Krieg. Ein<br />
Kommunist berichtet über sein Leben, Bonn:<br />
Pahl-Rugenstein, 2000, 272 S.<br />
Geschichte jeden Genres wird über alle<br />
Zeiten hinweg stets von Siegern geschrieben.<br />
Im vorliegenden autobiografischen Lebensbericht<br />
meldet sich ein mehrfacher Verlierer des<br />
Jahrgangs 1922 zu Wort: Richard Kumpf. Als<br />
junger U-Bootfahrer durchlebte er Krieg <strong>und</strong><br />
Gefangenschaft. Nach 1945 erstrebte er –<br />
als persönliche Konsequenz der globalen<br />
Schreckensbilanz – eine Gesellschaftsordnung<br />
ohne Dominanz des großen Geldes. Sein Aktivismus<br />
als Mitglied der Freien Deutschen<br />
Jugend <strong>und</strong> der Kommunistischen Partei<br />
Deutschlands sah ihn in der B<strong>und</strong>esrepublik<br />
schon frühzeitig auf der Seite der Gegner. Die<br />
Verbote der FDJ (1951) sowie der KPD (1956)<br />
waren wiederum Niederlagen mit persönlichen<br />
Konsequenzen: er verlor sein heimatliches<br />
Umfeld in Niedersachsen <strong>und</strong> wirkte über<br />
Jahre illegal in verschiedenen B<strong>und</strong>esländern,<br />
gestützt auf Ausweichmöglichkeiten im „Hin-<br />
150<br />
Edition von Briefen des jungen Vikars Heinrich<br />
Seidel diese brandenburgische Gemeinde<br />
bekannt gemacht <strong>und</strong> dann mit viel Energie<br />
<strong>und</strong> Tatkraft die Restaurierung der im Stil der<br />
norddeutschen Backsteingotik erbauten Kirche<br />
St. Marien unterstützt. Unvergessen ist ein<br />
Konzert mit dem Tenor Peter Schreier, das<br />
Goebel in der Wuppertaler Stadthalle organisierte<br />
<strong>und</strong> dessen Erlös der Restaurierung zugute<br />
kam. Der Turm der Kirche konnte wieder<br />
hergestellt werden. Die Redaktion der „Geschichte<br />
im Wuppertal“ gratuliert dem neuen<br />
Ehrenbürger herzlich <strong>und</strong> wünscht ihm Erfolg<br />
für den Fortgang seiner Sammelaktion, die<br />
jetzt dem Kirchenschiff gilt. Dazu gibt es auch<br />
ein Spendenkonto: 356 100 1750, Sparkasse<br />
Uckermark, BLZ 170 560 60. V. W.<br />
terland“ DDR. Ein Studium in Moskau stockte<br />
den bislang praktischen politischen F<strong>und</strong>us<br />
theoretisch auf. „Westarbeit“ wurde vom Osten<br />
Deutschlands aus betrieben, bis mit der Zulassung<br />
der DKP im September 1968 eine öffentliche<br />
politische Tätigkeit von Kommunisten in<br />
der BRD wieder möglich wurde. Das „Untertauchen<br />
im Kalten Krieg“ endete für den inzwischen<br />
in der DDR Promovierten legal in<br />
Wuppertal – als Leiter der dort im November<br />
1970 zum 150. Geburtstag von Friedrich Engels<br />
eröffneten gleichnamigen Stiftung. Dieses<br />
gesellschaftspolitische Novum wurde bald Objekt<br />
auch juristischer Auseinandersetzungen<br />
mit einer argwöhnischen Staatsmacht – erst im<br />
Mai 1979 war die nunmehrige „Marx-Engels-<br />
Stiftung e. V.“ als verfassungskonform gerichtlich<br />
bestätigt. Wuppertal wurde damit um ein<br />
gesellschaftliches Zentrum bereichert, das<br />
Wissenschaftler wie Zuhörer aus zahlreichen<br />
Ländern anlockte. Befand sich der Autor nun<br />
endlich auf der Siegerstraße? Sichtlich gab es<br />
nun Befriedigung, denn der „Inhalt meines Lebens,<br />
aber auch der meiner Frau <strong>und</strong> der Kin-
der, wurde in den 70er <strong>und</strong> 80er Jahren vollkommen<br />
von unserer Arbeit in der Marx-Engels-Stiftung<br />
bestimmt.“ Dazu gehörte auch<br />
die Friedrich-Engels-Buchhandlung. Sie hatte,<br />
wie Kumpf beschreibt, in jenen Jahrzehnten<br />
„gewissermaßen ein Monopol auf DDR-Literatur.<br />
Es gab ein vielfältiges Angebot an Belletristik,<br />
naturwissenschaftlicher, gesellschaftspolitischer,<br />
historischer <strong>und</strong> Schulliteratur.<br />
Außerdem waren Nachschlagwerke, Literatur<br />
aus anderen sozialistischen Ländern <strong>und</strong> vieles<br />
andere vorhanden. Bei Lehrern war besonders<br />
die Qualität der DDR-Schulliteratur beliebt<br />
<strong>und</strong> gefragt.“<br />
Der Zusammenbruch eines Weltsystems<br />
war auch eine tiefe persönliche Niederlage für<br />
den überzeugten Marxisten, doch blieb für ihn<br />
Karl Liebknechts „Trotz alledem!“ Lebensmaxime.<br />
„Wir entschieden uns, in Zukunft ausschließlich<br />
wissenschaftliche Veranstaltungen<br />
durchzuführen ... das betraf nicht nur die Aufarbeitung<br />
der Ursachen des Scheiterns des realen<br />
Sozialismus, sondern auch die Analyse <strong>und</strong><br />
die Erarbeitung der Gr<strong>und</strong>tendenzen für die<br />
Weiterentwicklung der kommunistischen Bewegung<br />
<strong>und</strong> der marxistischen Theorie überhaupt.<br />
Wir standen also vor einer riesigen Aufgabe.“<br />
Das Buch aus der Hand legend kann der<br />
Rezensent sich dem skizzierenden Rücktitel<br />
uneingeschränkt bestätigend anschließen: Anschaulich,<br />
lebendig, selbstkritisch berichtet<br />
hier ein Zeitzeuge über seinen Anteil an 55 bewegten<br />
Jahren deutscher Geschichte aus einer<br />
Perspektive, wie sie in den gängigen Geschichtsbüchern<br />
nicht vorkommt.<br />
Norbert Podewin<br />
Herbert Günther: Zeitsprünge. Wuppertal,<br />
Erfurt: Sutton Verlag, 2002, 96 S., ca. 170<br />
Fotos, 17,90 a.<br />
Der Autor legt einen sehr persönlichen,<br />
aber gerade deshalb sympathischen <strong>und</strong> interessanten<br />
Bildband vor. Er stellt historischen<br />
Aufnahmen aus den verschiedenen Stadtteilen<br />
Bilder gegenüber, die möglichst von demselben<br />
Standpunkt aus neu aufgenommen hat. Da<br />
die historischen, bisher zumeist unveröffent-<br />
lichten Fotos nicht nur aus der Vorkriegszeit,<br />
sondern auch aus den 50er Jahren stammen,<br />
zeigen die Zeitsprünge, wie stark unsere Stadt<br />
sowohl durch die kriegsbedingten Zerstörungen,<br />
aber auch durch Baumaßnahmen <strong>und</strong> die<br />
Abrissbirne nach 1945 ihr Gesicht verändert<br />
hat. Dieser empfehlenswerte Bildband lädt<br />
zum intensiven Betrachten ein, die Texte liefern<br />
zuverlässige zusätzliche Informationen.<br />
U. E.<br />
David Magnus Mintert: „Sturmtrupp<br />
der Deutschen Republik“. Das Reichsbanner<br />
Schwarz-Rot-Gold im Wuppertal (= Verfolgung<br />
<strong>und</strong> Widerstand in Wuppertal 6. Hrsg.<br />
von der Forschungsgruppe Wuppertaler Widerstand),<br />
Wuppertal: edition wahler, 2002, 153<br />
S., zahlr. Abb.<br />
Das 1924 gegründete Reichsbanner Schwarz-<br />
Rot-Gold, das sich politisch vor allem an der<br />
SPD orientierte <strong>und</strong> sich in kurzer Zeit zum<br />
mitgliederstärksten Kampfverband der Weimarer<br />
Republik entwickelte, spielte besonders als<br />
Schutzwehr für die republikanische Ordnung<br />
in den von den militanten Auseinandersetzungen<br />
zwischen NSDAP <strong>und</strong> KPD gekennzeichneten<br />
Jahren vor der „Machtergreifung“ 1933<br />
eine wichtige Rolle.<br />
Der Verfasser schildert in der vorliegenden<br />
Untersuchung, die auf seiner von der Bergischen<br />
Universität angenommenen Magisterarbeit<br />
basiert, die Anfänge <strong>und</strong> den Aufbau des<br />
Reichsbanners im Wuppertal. Eine wichtige<br />
Quelle hierfür ist die sozialdemokratische<br />
„Freie Presse“. In einem weiteren Abschnitt<br />
behandelt D. M. Mintert die Aktivitäten des<br />
Wuppertaler Reichsbanners nach dem 30. Januar<br />
1933. Die Auflösung setzt mit dem „Barmer<br />
Blutsonntag“ (19. Februar 1933) ein, an<br />
dem SA-Männer, ohne daß die anwesende Polizei<br />
eingreift, auf den Demonstrationszug des<br />
Reichsbanners vor dem Rathaus das Feuer<br />
eröffnen <strong>und</strong> zehn Demonstranten schwer verletzen.<br />
Hier <strong>und</strong> im Schlußteil der Untersuchung<br />
mit Kurzbiographien von Mitgliedern<br />
des Reichsbanners, die für den Erhalt der Freiheit<br />
gelitten haben <strong>und</strong> zum Teil auch gestorben<br />
sind, stützt sich der Verfasser auf Gerichts-<br />
151
akten <strong>und</strong> vor allem „Wiedergutmachungsakten“,<br />
die auf ihre Schlüssigkeit <strong>und</strong> Glaubwürdigkeit<br />
– wie D. G: Mintert in seinem quellenkritischen<br />
Schlußwort zurecht bemerkt – ständig<br />
zu überprüfen sind.<br />
Eine Petitesse zum Schluß: Es ist schade,<br />
daß Lektoren <strong>und</strong> junge Historiker heute offenbar<br />
nicht mehr des Französischen mächtig sind.<br />
Dies würde erklären, weshalb der Name<br />
„Frère“, obwohl in dem faksimilierten Dokument<br />
auf S. 126 richtig wiedergegeben, konsequent<br />
mit dem falschen Akzent geschrieben<br />
worden ist. U. E.<br />
Klaus Goebel/Günther Voigt: Die kleine,<br />
mühselige Welt des jungen Hermann Enters.<br />
Erinnerungen eines Amerikaauswanderers an<br />
das frühindustrielle Wuppertal (= Beiträge zur<br />
Geschichte <strong>und</strong> Heimatk<strong>und</strong>e des Wuppertals<br />
18), Wuppertal: Born Verlag, 5. Aufl., 2002,<br />
144 S., 22 Abb.<br />
Der Barmer Arbeiter Hermann Enters<br />
(1846–1940) wanderte 1882 in die Vereinigten<br />
Staaten aus. Von dort schickte er einen 46seitigen<br />
Brief an seine Schwester, in dem er seine<br />
Erinnerungen an seine Zeit im Wuppertal festhielt<br />
– ein, wie sich sehr schnell nach der „Entdeckung“<br />
herausstellte, eminent wichtiges Dokument<br />
zur lokalen Sozial- <strong>und</strong> Wirtschaftsgeschichte,<br />
das seit seiner ersten Veröffentlichung<br />
1970 bei vielen Lehrern mit gutem<br />
Gr<strong>und</strong> Eingang in ihren Sozialk<strong>und</strong>e- <strong>und</strong> Geschichtsunterricht<br />
gef<strong>und</strong>en hat.<br />
1979 erschien als 3. Auflage eine gr<strong>und</strong>legende<br />
Überarbeitung, die 1985 als 4. Auflage<br />
unverändert nachgedruckt wurde <strong>und</strong> seit 1998<br />
vergriffen war. Nun liegen der Brieftext <strong>und</strong><br />
die Anmerkungen unverändert, aber in einer<br />
modernen Ausstattung vor. Klaus Goebel weist<br />
in seinem interessanten, gegenüber der 3. Auflage<br />
aktualisierten Nachwort auf ein weiteres,<br />
1996 bekannt gewordenes Manuskript aus Hermann<br />
Enters Feder hin, das er in Auszügen in<br />
Heft 11/2002 dieser Zeitschrift veröffentlicht<br />
hat.<br />
Es ist gut <strong>und</strong> begrüßenswert, daß dieser<br />
„heimliche Bestseller“ im Wuppertal nun end-<br />
152<br />
lich wieder greifbar ist – ein empfehlenswertes<br />
Geschenk für alle, die sich für die spannende<br />
Geschichte unserer Stadt in der Zeit der Industrialisierung<br />
interessieren. U. E.<br />
Günther van Norden: Politischer Kirchenkampf.<br />
Die rheinische Provinzialkirche<br />
1934–1939 (= Schriftenreihe des Vereins für<br />
Rheinische Kirchengeschichte, Bd. 159),<br />
Bonn: Dr. Rudolf Habelt, 2003, 284 S.<br />
Der Wuppertaler Emeritus hat seine Forschungen<br />
zur rheinischen Kirchengeschichte<br />
während des „Dritten Reiches“ <strong>und</strong> zur Entstehung<br />
einer selbständigen evangelischen Kirche<br />
im Rheinland nach dem Zweiten Weltkrieg –<br />
vorher war das Rheinland politisch wie kirchlich<br />
ein Teil Preußens – um einen wichtigen<br />
weiteren Band vermehrt. In ihm hat er die Entwicklung<br />
der rheinischen Kirchenprovinz zwischen<br />
1934 <strong>und</strong> 1939 ausgebreitet, eine Entwicklung,<br />
die nach der großen Synode der Bekennenden<br />
Kirche in Barmen im Mai 1934<br />
außerordentlich vielschichtig <strong>und</strong> komplex<br />
verlief <strong>und</strong> deren Zusammenhänge bisher nur<br />
<strong>und</strong>eutlich vor Augen standen. Zwar hatte die<br />
Bekennende Kirche mit der Barmer Theologischen<br />
Erklärung eine feste theologische<br />
Gr<strong>und</strong>lage in ihrem Kampf gegen die Deutschen<br />
Christen bekommen, die durch ihre Erfolge<br />
bei den Kirchenwahlen 1933 auch die<br />
Kirchenbehörden dominierten. Organisatorisch<br />
aber waren die Konturen der BK damals<br />
noch weitgehend ungefestigt. Van Norden hat<br />
ihren Ausbau verfolgt <strong>und</strong> kritisch festgestellt,<br />
daß bei der Besetzung leitender Ämter auch<br />
eine gehörige Portion Machtstreben <strong>und</strong> Eitelkeit<br />
der führenden Leute im Spiel war, die sich<br />
zum Beispiel gegen die Wahl Humburgs zum<br />
Präses der BK-Synode wehrten, weil dann „alles<br />
nach dem Wuppertal“ verlegt würde <strong>und</strong> alles<br />
unter den Einfluß von Pfarrer Immer <strong>und</strong><br />
Gemarke käme!<br />
Größere Spannungen gab es bei den Deutschen<br />
Christen, die sich im Sommer 1934 in<br />
einen gemäßigten <strong>und</strong> einen radikalen Flügel<br />
spalteten, letzterer angeschlossen an die<br />
„Thüringer Bewegung“ der DC mit ihrem Ideal
einer „Entjudung“ des Christentums. Die<br />
gemäßigten DC warben im Herbst 1934 mit<br />
dem Bild von den „falschen Fronten“ heftig,<br />
aber vergeblich um die Bekenner, in deren Reihen<br />
sie zu Recht viele national eingestellte,<br />
konservative Christen vermuteten, die politisch<br />
besser zu ihnen, den DC, passen würden.<br />
Schließlich gab es im Rheinland eine breite<br />
neutrale Mitte in den Gemeinden wie bei den<br />
Pfarrern, die sich aus dem Kirchenkampf heraushielt<br />
<strong>und</strong> im Sommer 1934 von dem Duisburger<br />
Superintendenten Horn organisiert<br />
wurde Auch ihr Programm <strong>und</strong> das Vorgehen<br />
ihres Leiters, der 1935 vom Evangelischen<br />
Oberkirchenrat in Berlin den Auftrag bekam,<br />
eine außerordentliche rheinische Provinzialsynode<br />
einzuberufen <strong>und</strong> von ihr einen letztlich<br />
einflußlosen „Provinzialkirchenrat“ wählen zu<br />
lassen, wird von van Norden analysiert. Deutlich<br />
wird, daß in jenen Jahren der entscheidende<br />
Unterschied zwischen all den kirchenpolitischen<br />
Gruppierungen ihr Kirchenverständnis<br />
war, d.h. welches Maß an Freiheit im<br />
NS-Staat sie der evangelischen Kirche einzuräumen<br />
bereit waren <strong>und</strong> wie sie den Führer<br />
<strong>und</strong> den Nationalsozialismus deuteten.<br />
1935 errichtete der NS-Staat ein Kirchenministerium.<br />
Minister Kerrl berief Kirchenausschüsse<br />
zur Leitung der evangelischen Kirche<br />
<strong>und</strong> gewann auch einige Vertreter der rheinischen<br />
BK – entgegen dem auf der Synode zu<br />
Berlin-Dahlem im Herbst 1934 getroffenen<br />
Beschluß, jeglichen Verkehr mit den „Irrgläubigen“<br />
abzubrechen – dafür. Andere BK-Pfarrer<br />
kritisierten dies heftig, die Bekennende Kirche<br />
war ebenfalls gespalten.<br />
Das war überhaupt ihr Dilemma: einerseits<br />
wollte sie die evangelische Kirche sein, auch in<br />
ihrer Eigenschaft als öffentlich-rechtliche Körperschaft,<br />
nicht nur eine kirchliche Gruppe wie<br />
die anderen Gruppen, mit denen sie deshalb,<br />
ebenso wie mit der Kirchenbehörde, den Kontakt<br />
mied. Andererseits war sie gezwungen, mit<br />
der Kirchenbehörde in Kontakt zu bleiben,<br />
denn wie hätte sie sonst Pfarrergehälter <strong>und</strong> andere<br />
finanzielle Leistungen für ihre Gemeinden<br />
erhalten können. Die ablehnende Haltung<br />
gegenüber Gesprächseinladungen von anderen<br />
Gruppen sowie von den Behörden ist der BK<br />
mit einigem Recht immer als „anmaßend, katholisch<br />
<strong>und</strong> päpstlich“ ausgelegt worden. Die<br />
BK verblieb gerade im Rheinland, wo sie stark<br />
war, in einer prinzipiellen Oppositionsstellung,<br />
aber sie zog daraus nicht die naheliegende<br />
Konsequenz, nämlich den Schritt in die Freikirche.<br />
Das wäre ihrer Glaubwürdigkeit bei<br />
vielen evangelischen Christen sicherlich förderlicher<br />
gewesen, es hätte aber wiederum<br />
ihren Anspruch, d i e <strong>und</strong> nicht nur e i n e<br />
evangelische Kirche in Deutschland zu sein,<br />
untergraben.<br />
Diese verwirrenden <strong>und</strong> vielschichtigen<br />
Zusammenhänge, auch die Diskussionen zwischen<br />
den <strong>und</strong> innerhalb der kirchlichen Gruppen,<br />
die Abspaltungen <strong>und</strong> neuen Gruppenbildungen,<br />
die „Frontbegradigungen“ <strong>und</strong> „Frontverbreiterungen“<br />
der verschiedenen Parteien –<br />
es ist erstaunlich, wie stark der militärische Jargon<br />
die damaligen Auseinandersetzungen in<br />
der Kirche beherrscht – werden in van Nordens<br />
Studie auch für den Laien verständlich geschildert.<br />
Die Analysen, Folgerungen <strong>und</strong> Urteile<br />
überzeugen auch den mit den theologischen<br />
<strong>und</strong> kirchlichen Problemen der damaligen Zeit<br />
wenig vertrauten Leser. Ein anregendes <strong>und</strong><br />
gelungenes Werk! V. W.<br />
Florian Speer,Ausländer im „Arbeitseinsatz“<br />
in Wuppertal. Zivile Arbeitskräfte,<br />
Zwangsarbeiter <strong>und</strong> Kriegsgefangene im<br />
Zweiten Weltkrieg, Wuppertal 2003. – 636 S.:<br />
Ill. – ISBN: 3-87707-609-2<br />
Im Auftrag der Stadt Wuppertal erforschte<br />
Florian Speer die Zwangsarbeit von Ausländern<br />
in Wuppertal während der Zeit des Nationalsozialismus.<br />
Als Ergebnis seiner Bemühungen<br />
legte der Autor eine immense Studie vor,<br />
die weit über das hinausgeht, was andere Städte<br />
oder Institutionen in jüngster Zeit zum Thema<br />
„NS-Zwangsarbeiter“ publiziert haben. Erfreulicherweise<br />
gelang es, die ausschließlich durch<br />
Spenden finanzierte Drucklegung des Werkes<br />
zu realisieren.<br />
Speer legt bei seinem formidablen Werk<br />
den entscheidenden Wert darauf, dass der Zusammenhang<br />
zwischen dem Einsatz ausländi-<br />
153
scher Arbeitskräfte <strong>und</strong> der Kriegsführung des<br />
nationalsozialistischen Deutschland deutlich<br />
bleibt <strong>und</strong> wird. Seine Studie handelt deshalb<br />
nicht nur über „Ausländer, Zwangsarbeiter,<br />
Kriegsgefangene <strong>und</strong> Häftlinge in Wuppertal“,<br />
sondern versteht sich auch als Beitrag zur Erforschung<br />
der Geschichte Rüstungsindustrie<br />
im Tal. Darüber hinaus bietet der Autor viele<br />
neue Forschungsergebnisse für die noch nicht<br />
geschriebene Geschichte Wuppertals im Nationalsozialismus.<br />
Speer hat für seine Studie eine<br />
erstaunliche Breite von Quellen herangezogen<br />
<strong>und</strong> ausgewertet, obwohl die Bestände des<br />
Stadtarchivs Wuppertal zum Thema „ausländische<br />
Zwangsarbeiter“ nur einen ausgesprochen<br />
geringen Umfang besitzen. Der Autor sah sich<br />
gezwungen, in deutschen <strong>und</strong> ausländischen<br />
Archiven nach relevanten Überlieferungen zu<br />
suchen, <strong>und</strong> er ist in einem hohen Maße fündig<br />
geworden. Wertvolle Hinweise gewann er in<br />
Deutschland in den staatlichen Archiven, im<br />
Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchiv zu<br />
Köln, wo die reichhaltigen Beständen der IHK<br />
Wuppertal aufbewahrt werden, <strong>und</strong> in einigen<br />
Firmenarchiven. An ausländischen Archivalien<br />
benutzte Speer das „Archives du Service des<br />
Victimes de la Guerre“ in Brüssel <strong>und</strong> Unterlagen<br />
aus dem Public Record Office in London.<br />
Ganz wesentliche Erkenntnisse gewann Speer<br />
aus der Befragung deutscher Zeitzeugen <strong>und</strong><br />
vor allem durch die Auskünfte ehemaliger<br />
Zwangsarbeiter. Behutsam <strong>und</strong> kritisch wägt<br />
der Autor diese Einsichten aber gegen die dabei<br />
auftretenden methodischen Probleme ab.<br />
Nicht nur an dieser Stelle der Studie erlebt der<br />
Leser Speers wohltuende Art, einfache<br />
schwarz-weiß Zeichnungen zu vermeiden <strong>und</strong><br />
sich immer wieder um relativierendere, komplexere<br />
Aussagen zu bemühen.<br />
Den Bogen seiner Darstellung beginnt<br />
Speer mit den Rahmenbedingungen des Einsatzes<br />
ziviler ausländischer Arbeitskräfte in<br />
Deutschland während des Zweiten Weltkrieges.<br />
Die Lage auf dem Arbeitsmarkt <strong>und</strong><br />
die Beschaffung der benötigten Arbeitskräfte<br />
im Osten werden von ihm ebenso beleuchtet,<br />
wie die Rolle der IHK analysiert <strong>und</strong> die staatlich<br />
vorgegebenen Lebens- <strong>und</strong> Arbeitsbedingungen<br />
für die Polen <strong>und</strong> „Ostarbeitern“ aus<br />
154<br />
der Sowjetunion differenziert <strong>und</strong> eingehend<br />
beschrieben werden.<br />
Die Zwangsarbeit kriegsgefangener Soldaten<br />
wurde vom Autor in die Studie einbezogen,<br />
obwohl sie aus völkerrechtlichen Gründen von<br />
der aktuellen Entschädigungsfrage ausgenommen<br />
ist, weil sie ein „tragendes Segment<br />
der nationalsozialistischen Rüstungswirtschaft“<br />
auch in Wuppertal war.<br />
Da die Arbeitsverwaltung auch für die Zuteilung<br />
von ausländischen zivilen Arbeitskräften<br />
zuständig war, widmet Speer dem Handeln<br />
des Arbeitsamtes ein eigenes Kapitel seiner<br />
Studie <strong>und</strong> bereichert die Analyse durch<br />
biographische Skizzen der führenden Beamten<br />
dieser Wuppertaler Behörde.<br />
Wie Zwangsarbeiter in Wuppertal untergebracht<br />
waren, wie der Lagerbau erfolgte, wie<br />
die Unterkünfte beschaffen waren, erfährt der<br />
Leser in einem Überblick <strong>und</strong> durch zehn Skizzen<br />
zu einzelnen Wuppertaler Lagern. Die Lebensmittelversorgung<br />
<strong>und</strong> die besondere Lage<br />
der Zwangsarbeiter im Bombenkrieg sind weitere<br />
Aspekte der Lebensverhältnisse der Ausländer<br />
im „Arbeitseinsatz“ für das nationalsozialistische<br />
Deutschland. Ausführlich <strong>und</strong><br />
unter vielfältigen Gesichtpunkten, gestützt auf<br />
zahlreiche Zeitzeugeninterviews, analysiert<br />
Speer das Verhältnis von deutscher Bevölkerung<br />
<strong>und</strong> ausländischen Zwangsarbeitern.<br />
Breiten Raum in seiner Darstellung gibt der<br />
Autor dem „Einsatz“ von Kriegsgefangenen<br />
<strong>und</strong> Zwangsarbeitern für die Stadtverwaltung<br />
<strong>und</strong> die stadteigenen Betriebe. Die Einsatzstellen<br />
vom Zoo über die Berufsfeuerwehr bis zum<br />
Verkehrsbetrieb Wuppertaler Bahnen AG zeigen<br />
deutlich, wie notwendig die ausländischen<br />
Arbeitskräfte zur Aufrechterhaltung der Versorgungssicherung<br />
in der Stadt waren, besonders<br />
nach den Bombenangriffen von 1943. In<br />
diesem Zusammenhang kam es auch zu Sondereinsätzen<br />
von Baubrigaden des KZ Buchenwald<br />
<strong>und</strong> beim Wiederaufbau von Produktionsanlagen<br />
zum Einsatz der Organisation<br />
Todt.<br />
Dass die staatlichen Institutionen Reichsbahn<br />
<strong>und</strong> Reichspost massiv auf die Arbeitskraft<br />
von Zwangsarbeitern zurückgegriffen haben,<br />
belegt Speer eindrucksvoll. Er vergisst
auch nicht, die Beschäftigung ausländischer<br />
Arbeitskräfte in der Landwirtschaft zu erwähnen,<br />
auch wenn sie für das Wuppertal nicht von<br />
so großer Bedeutung war, <strong>und</strong> weist – zu Recht<br />
– auf den meist übersehen Umstand von<br />
Zwangarbeit in privaten Haushalten hin.<br />
Von zentraler Bedeutung für die Studie ist<br />
die Darstellung des Einsatzes von Zwangsarbeitern<br />
in der Wuppertaler Kriegswirtschaft<br />
<strong>und</strong> Rüstungsproduktion. Speer beschreibt zunächst<br />
den allgemeinen Einfluß von Staat <strong>und</strong><br />
Partei auf die einzelnen Firmen, analysiert das<br />
Verhältnis von Deutschen <strong>und</strong> Ausländern im<br />
Betrieb <strong>und</strong> beleuchtet die Rolle des Unternehmers<br />
während des Krieges. Ihm geht es dabei<br />
besonders darum, die Gesamtverantwortung<br />
Deutschlands für den Einsatz von ausländischen<br />
Zwangsarbeitern zu betonen. Speer argumentiert<br />
entschieden gegen eine Sichtweise,<br />
die die „Verantwortung für Zwangsarbeit ausschließlich<br />
bei der deutschen Wirtschaft sucht“.<br />
In neun umfangreichen Firmenporträts,<br />
z.B. von der Lackfabrik Dr. Kurt Herberts &<br />
Co, den Homann-Werken, der Solinger Firma<br />
Rudolf Rautenbach, die in Wuppertal ein<br />
Zweitwerk betrieb, <strong>und</strong> vor allem von Vorwerk<br />
(über die Zwangsarbeiter dieser Firma hat<br />
Speer zusammen mit Beate Battenfeld schon<br />
früher eine Studie vorgelegt), versucht der Autor<br />
seine These zu belegen, dass die „Arbeit<br />
von Ausländern, Kriegsgefangenen <strong>und</strong><br />
Zwangsarbeitern nur vor dem Hintergr<strong>und</strong> einer<br />
Firma selbst <strong>und</strong> ihrer Tätigkeit während<br />
des Krieges wirklich deutlich“ gemacht werden<br />
könnte.<br />
Zwangsarbeiter als Arbeitskräfte im Wuppertaler<br />
Ges<strong>und</strong>heitswesen <strong>und</strong> ihre Situation<br />
als Patienten untersucht Speer ebenso, wie er<br />
der Frage nach Zwangs-Abtreibungen bei ausländischen<br />
Frauen auf Gr<strong>und</strong> der nationalsozialistischen<br />
Rasse-Ideologie nachgeht. Eingehend<br />
analysiert der Autor den Umfang von<br />
Todesfällen unter der Wuppertalern Zwangsarbeitern,<br />
bietet umfassende Angaben zur Altersstruktur<br />
, den Todesursachen, den Sterbeorten<br />
<strong>und</strong> den Bestattungen der Zwangsarbeiter.<br />
Geburten <strong>und</strong> Kindersterblichkeit der Ausländer<br />
im „Arbeitseinsatz“ in Wuppertal werden<br />
ebenfalls ausführlich erforscht.<br />
Welchen Repressionen <strong>und</strong> Verfolgungen<br />
Zwangsarbeiter ausgesetzt waren, welche Strafen<br />
<strong>und</strong> Schikanen sie erdulden mussten, erfährt<br />
der Leser in vielen Facetten. Speer wendet<br />
sich aber entschieden <strong>und</strong> nachvollziehbar<br />
gegen die These, dass Zwangsarbeiter unter<br />
„permanenter Todesdrohung gestanden“ hätten.<br />
Der Autor lässt dies in der Pauschalität nur<br />
für Bedrohung durch die, gleichermaßen für<br />
Deutsche wie für Ausländer, unkalkulierbareren<br />
Bombenangriffe der Alliierten gelten.<br />
Geriet ein Zwangsarbeiter aber in die Fänge<br />
der Gestapo, dann musste er durchaus mit dem<br />
Schlimmsten – der Hinrichtung – rechnen.<br />
Mit der Beschreibung des Schicksals der<br />
dann Displaced Persons genannten ehemaligen<br />
Zwangsarbeiter in Wuppertal endet die Darstellung.<br />
Im ausführlichen Anhang präsentiert Speer<br />
seine umfangreichen Forschungsergebnisse zu<br />
den verschiedenen Arbeitsstellen <strong>und</strong> Einsatzorten,<br />
den einzelnen Lagern <strong>und</strong> Unterkünften<br />
der Zwangsarbeiter in Wuppertal. Ein Katalog<br />
der Wuppertaler Rüstungsbetriebe weist noch<br />
einmal eindrücklich auf den Zusammenhang<br />
von Kriegswirtschaft <strong>und</strong> Zwangsarbeit hin.<br />
Einige ausgewählte Dokumente r<strong>und</strong>en die<br />
Übersicht ab.<br />
Basierend auf einer enormen, fast unglaublichen<br />
Recherche, die Maßstäbe setzt, die missliche<br />
lokale Quellenlage vergessen lassend, hat<br />
Florian Speer eine herausragende Studie erarbeitet,<br />
die als Gr<strong>und</strong>lagenwerk mit teilweise<br />
Handbuchcharakter gelten kann <strong>und</strong> weit mehr<br />
bietet, als Titel <strong>und</strong> Umfang erahnen lassen.<br />
Wuppertal hat damit nicht nur die „NS-<br />
Zwangsarbeit“ wissenschaftlich aufgearbeitet<br />
bekommen, es hat einen weit über das eigentliche<br />
Thema hinausgehenden Beitrag zur Erforschung<br />
der Geschichte des Nationalsozialismus<br />
im Tal der Wupper erhalten.<br />
Ralf Rogge<br />
155
Titelbild:<br />
Das Armenpflegedenkmal des Bildhauers Wilhelm Neumann-Torborg wurde 1903 aus Anlaß des<br />
50jährigen Bestehens des „Elberfelder Systems“ auf dem Platz neben der Alten reformierten Kirche<br />
errichtet. Die Bronzeteile sind sehr wahrscheinlich im Zweiten Weltkrieg eingeschmolzen worden.<br />
Vgl. den Aufsatz von Gerhard Deimling in diesem Heft. Foto: Stadtarchiv Wuppertal<br />
Rückumschlag:<br />
Elberfeld vom Kiesberg, 1836. Ausschnitt des Ölgemäldes von Friedrich Andriessen. Entnommen<br />
aus: Herbert Pogt: Historische Ansichten aus dem Wuppertal des 18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts, Wuppertal<br />
1989, 2. Aufl. 1998. Vgl. den Reisebericht von Wilhelmine Funke in diesem Heft.<br />
Druck:<br />
Verlagsdruckerei Schmidt GmbH, 91413 Neustadt an der Aisch<br />
Redaktionsanschrift:<br />
Stadtarchiv Wuppertal,<br />
Friedrich-Engels-Allee 89–91, 42285 Wuppertal-Barmen<br />
Tel. 02 02 / 5 63 66 23, Fax 02 02 / 5 63 80 25<br />
Preis:<br />
a 7,50 (Bei Zusendung zuzüglich Porto)<br />
Die Mitglieder der Abteilung Wuppertal des Bergischen Geschichtsvereins erhalten die Zeitschrift<br />
„Geschichte im Wuppertal“ kostenlos.<br />
Gedruckt mit Unterstützung des Landschaftsverbandes Rheinland, Köln.<br />
Blank, Albrecht, Dr.<br />
Zur Talsperre 6, 57250 Netphen<br />
Blindow, Martin, Prof. Dr.<br />
Heitbusch 5, 48163 Münster<br />
Deimling, Gerhard, Prof. Dr.<br />
Freiligrathstr. 99, 42289 Wuppertal<br />
Eckardt, Uwe, Dr.<br />
Stadtarchiv Wuppertal, Friedrich-Engels-Allee<br />
89-91, 42285 Wuppertal<br />
Elsner, Peter<br />
Stadtarchiv Wuppertal, Friedrich-Engels-Allee<br />
89-91, 42285 Wuppertal<br />
Jäckle, Renate, Dr.<br />
Am Isarkanal 24/5, 81379 München<br />
Kirchmann, Karlheinz<br />
Hütterbuschstr. 48, 42349 Wuppertal<br />
Kley, Siegfried<br />
Klippe 60, 42555 Velbert<br />
156<br />
Lekebusch, Sigrid, Dr.<br />
Lortzingstraße 11, 42289 Wuppertal<br />
Norden, Erika van,<br />
Rüdigerstr. 62, 53179 Bonn<br />
Podewin, Norbert, Dr.<br />
Gubener Str. 13 d, 10243 Berlin<br />
Rhefus, Reiner<br />
Wilhelm-Raabe-Weg 34, 42109 Wuppertal<br />
Rogge, Ralf,<br />
Stadtarchiv Solingen, Gasstr. 22 b,<br />
42657 Solingen<br />
Schrader, Ulrike, Dr.<br />
Begegnungsstätte Alte Synagoge,<br />
Genügsamkeitstraße, 42105 Wuppertal<br />
Wittmütz, Volkmar, Prof. Dr.<br />
Hopscheider Weg 46, 42555 Velbert<br />
Zesewitz, Sigbert<br />
Ortlerweg 29, 12207 Berlin