SELBSTHILFE: EINE KRAFT, DIE VERBINDET - Wiener ...

SELBSTHILFE: EINE KRAFT, DIE VERBINDET - Wiener ... SELBSTHILFE: EINE KRAFT, DIE VERBINDET - Wiener ...

14.01.2013 Aufrufe

hilfe. Früher waren Großfamilien gang und gäbe – u. a., um die Existenz zu sichern. Denn je größer die Familie, desto mehr Personen, die zum Haushaltsbudget beitragen. Heute gebärt eine Österreicherin im Schnitt nur noch 1,4 Kinder. „Dadurch kommt es zu einer „Mit der verbesserten Medizin steigt auch der Bedarf an psychosozialer Betreuung. Deshalb boomen die Selbsthilfegruppen auch so.“ Dipl.-Psychologe Jürgen Matzat Verlagerung der sozialen Kontakte“, so Forster. So hat man zwar heute weniger Geschwister, dafür steigt die Lebenserwartung der Eltern und Großeltern – mit ihnen ist man also länger verbunden, als frühere Generationen es waren. Höhere Erwartungen. In Kleinfamilien sind die Verbindungen zu den einzelnen Familienmitgliedern umso stärker. „Das kann jedoch auch zu großen Problemen führen“, weiß Znoj. „Etwa, wenn es um die Gesundheit geht.“ Die Technik führte nämlich zu einem verbesserten medizinischen System. „So ist es möglich, anderen durch Organspenden das Bei Selbsthilfe ist es wie in diesem Bild: Das Ganze setzt sich zusammen aus vielen bunten Einzelteilen. Leben zu retten. Durch diese neue Möglichkeit der Selbsthilfe werden die wenigen, aber dafür intensiven Kontakte in Familien belastet.“ Matzat bringt noch einen weiteren Aspekt ins Spiel: „Eine paradoxe Auswirkung von guter gesundheitlicher Versorgung ist die Zunahme chronisch kranker und behinderter Menschen – weil diese mit ,bedingter Gesundheit‘ nun länger am Leben gehalten werden können.“ So steigt der Bedarf an psychosozialer Betreuung – ein Mitgrund, warum die Zahl von Selbsthilfegruppen kontinuierlich zunimmt. Ihren Ursprung haben diese in der Bewegung der „Anonymen Alkoholiker“ in den USA. Unmittelbare Vorläufer in Europa waren etwa die Kriegsopferverbände. Diese wurden nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet. Die Versorgungsengpässe in den 50ern und 60ern trieben die Entwicklung der Selbsthilfegruppen weiter voran. Heute spielen sie auch in der Medizin eine wichtige Rolle (mehr dazu auf Seite 13). Virtuelle Selbsthilfe. Um sich selbst zu helfen, braucht man also andere. Immer und überall. Das Internet ist ein Tool, das dies zunehmend vereinfacht. „Es gibt mittlerweile sogar immer mehr virtuelle Selbsthilfegruppen“, erklärt Forster. „Vor allem für jene, die mobil eingeschränkt sind, ist das eine große Erleichterung.“ Aber, so ergänzt der Experte, ein persönliches Zusammentreffen sei doch immer noch am wirkungsvollsten – egal ob im Rahmen einer Selbsthilfegruppe oder für die Selbsthilfe im Alltag. „Einen Computer kann man eben nicht umarmen“, sagt Matzat. Und die Milch, die gerade ausgegangen ist, kommt auch nicht durch die Breitbandleitung. Sind diese globalen Vernetzungen also Fluch oder Segen? Das wagt man nicht einzuschätzen, da sind sich alle drei Experten einig. „Wichtig ist, soziale Netze und persönliche Kontakte zu pflegen“, sagt Znoj. Facebook, Twitter und Co können eine wertvolle Ergänzung sein. Doch es sollte auch ohne sie gehen. Also: Bringen Sie der Nachbarin oder dem Nachbarn einfach mal ein paar Kekse vorbei. Dann haben Sie nächstes Mal weniger Hemmungen, wegen der Milch an der Tür zu läuten. Und seien Sie gewiss: Sie werden sich gut fühlen. Das ist doch auch eine Art von Selbsthilfe. ● Fotos: Fotoatelier Susanne Hofmann, Corbis (2), Privat

Von Europa bis nach Australien HILF DIR SELBST, SONST HILFT DIR NIEMAND: FÜR DIE ENTWICKLUNGSLÄNDER STIMMT DAS. IN INDUSTRIENATIONEN IST SELBSTHILFE HINGEGEN EINE ERGÄNZUNG. Isolde Seidl So verschieden die Selbsthilfe an sich ist, so unterschiedlich und facettenreich wird sie in den vielen Kulturen der Welt gelebt. „Studien zeigen, dass die Selbsthilfe in Industrie-, aber auch Entwicklungsländern – wo die Mehrheit arm ist und der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen beschränkt – wichtig geworden ist“, sagt Dr. Peter Nowak vom Ludwig Boltzmann Institut in Wien. Selbsthilfe als Alternative. In Indus t - rienationen wurde Selbsthilfe auch durch moderne Technologie gepusht: Sich im Internet zu informieren oder andere Betroffene zu finden – nichts leichter als das. „Selbsthilfe hat sich gesunde stadt – winter 2010 gegenüber einem starken professio - nellen System – komplementär und sogar emanzipatorisch – entwickelt“, so Dr. Nowak. Sozusagen als Ergänzung zum bestehenden „Angebot“. Grundversorgung sichern. In Entwicklungsländern hingegen ist Selbsthilfe oft die einzige Möglichkeit, die Grundversorgung zu sichern. „Da geht es um ganz banale Dinge wie Essen, sauberes Wasser, einen Platz zum Schlafen“, sagt Dr. Eberhard Göpel, Professor für Gesundheitsförderung an der Hochschule Magdeburg. Die Gemeinschaft zählt. „Selbsthilfe ist also gestützt auf den Familien- und Nachbarschaftsverband. Die Gemein- SCHWERPUNKTTHEMA SELBSTHILFE Wasser holen, Essen und einen Schlafplatz haben – Selbsthilfe bedeutet mancherorts, die Grundversorgung sicherzustellen. „In Entwicklungsländern ist Selbsthilfe gestützt auf Gemeinschaftsverbände.“ Dr. Eberhard Göpel, Professor für Gesundheitsförderung schaft muss funktionieren, man ist aufeinander angewiesen“, sagt Dr. Göpel. Während in diesen Ländern der existenzielle Mangel Selbsthilfe nötig mache, sei es in Industrienationen ein anderer „Hunger“, der den Selbsthilfegruppen Zulauf verspricht. Das „Hungergefühl“ ist laut dem Experten psychosozialer Art. Dabei geht es um mitmenschliche Anteilnahme und soziale Nähe. „Hier könnten wir uns von dem sozialen System in Entwicklungsländern noch einiges abschauen“, so Dr. Göpel. ● 9

hilfe. Früher waren Großfamilien gang<br />

und gäbe – u. a., um die Existenz zu<br />

sichern. Denn je größer die Familie,<br />

desto mehr Personen, die zum Haushaltsbudget<br />

beitragen. Heute gebärt<br />

eine Österreicherin im Schnitt nur noch<br />

1,4 Kinder. „Dadurch kommt es zu einer<br />

„Mit der verbesserten Medizin steigt<br />

auch der Bedarf an psychosozialer<br />

Betreuung. Deshalb boomen die<br />

Selbsthilfegruppen auch so.“<br />

Dipl.-Psychologe Jürgen Matzat<br />

Verlagerung der sozialen Kontakte“, so<br />

Forster. So hat man zwar heute weniger<br />

Geschwister, dafür steigt die Lebenserwartung<br />

der Eltern und Großeltern –<br />

mit ihnen ist man also länger verbunden,<br />

als frühere Generationen es waren.<br />

Höhere Erwartungen. In Kleinfamilien<br />

sind die Verbindungen zu den einzelnen<br />

Familienmitgliedern umso stärker. „Das<br />

kann jedoch auch zu großen Problemen<br />

führen“, weiß Znoj. „Etwa, wenn es um<br />

die Gesundheit geht.“ Die Technik<br />

führte nämlich zu einem verbesserten<br />

medizinischen System. „So ist es möglich,<br />

anderen durch Organspenden das<br />

Bei Selbsthilfe ist es wie in diesem Bild:<br />

Das Ganze setzt sich zusammen aus<br />

vielen bunten Einzelteilen.<br />

Leben zu retten. Durch diese neue<br />

Möglichkeit der Selbsthilfe werden die<br />

wenigen, aber dafür intensiven Kontakte<br />

in Familien belastet.“ Matzat<br />

bringt noch einen weiteren Aspekt ins<br />

Spiel: „Eine paradoxe Auswirkung von<br />

guter gesundheitlicher Versorgung ist<br />

die Zunahme chronisch kranker und<br />

behinderter Menschen – weil diese mit<br />

,bedingter Gesundheit‘ nun länger am<br />

Leben gehalten werden können.“ So<br />

steigt der Bedarf an psychosozialer<br />

Betreuung – ein Mitgrund, warum die<br />

Zahl von Selbsthilfegruppen kontinuierlich<br />

zunimmt. Ihren Ursprung haben<br />

diese in der Bewegung der „Anonymen<br />

Alkoholiker“ in den USA. Unmittelbare<br />

Vorläufer in Europa waren etwa die<br />

Kriegsopferverbände. Diese wurden<br />

nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet.<br />

Die Versorgungsengpässe in den<br />

50ern und 60ern trieben die Entwicklung<br />

der Selbsthilfegruppen weiter<br />

voran. Heute spielen sie auch in der<br />

Medizin eine wichtige Rolle (mehr dazu<br />

auf Seite 13).<br />

Virtuelle Selbsthilfe. Um sich selbst<br />

zu helfen, braucht man also andere.<br />

Immer und überall. Das Internet ist ein<br />

Tool, das dies zunehmend vereinfacht.<br />

„Es gibt mittlerweile sogar immer mehr<br />

virtuelle Selbsthilfegruppen“, erklärt<br />

Forster. „Vor allem für jene, die mobil<br />

eingeschränkt sind, ist das eine große<br />

Erleichterung.“ Aber, so ergänzt der<br />

Experte, ein persönliches Zusammentreffen<br />

sei doch immer noch am wirkungsvollsten<br />

– egal ob im Rahmen<br />

einer Selbsthilfegruppe oder für die<br />

Selbsthilfe im Alltag. „Einen Computer<br />

kann man eben nicht umarmen“, sagt<br />

Matzat. Und die Milch, die gerade ausgegangen<br />

ist, kommt auch nicht durch<br />

die Breitbandleitung.<br />

Sind diese globalen Vernetzungen also<br />

Fluch oder Segen? Das wagt man nicht<br />

einzuschätzen, da sind sich alle drei Experten<br />

einig. „Wichtig ist, soziale Netze<br />

und persönliche Kontakte zu pflegen“,<br />

sagt Znoj. Facebook, Twitter und Co<br />

können eine wertvolle Ergänzung sein.<br />

Doch es sollte auch ohne sie gehen. Also:<br />

Bringen Sie der Nachbarin oder dem<br />

Nachbarn einfach mal ein paar Kekse<br />

vorbei. Dann haben Sie nächstes Mal<br />

weniger Hemmungen, wegen der Milch<br />

an der Tür zu läuten. Und seien Sie gewiss:<br />

Sie werden sich gut fühlen. Das ist<br />

doch auch eine Art von Selbsthilfe. ●<br />

Fotos: Fotoatelier Susanne Hofmann, Corbis (2), Privat

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!