SELBSTHILFE: EINE KRAFT, DIE VERBINDET - Wiener ...
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Gemeinsam statt allein:<br />
Was Selbsthilfe wirklich ist<br />
OB SCHNEE SCHAUFELN, EINKAUFEN ODER TANKEN – TUT MAN DAS VOLLKOMMEN<br />
EIGENSTÄNDIG? DER SCHEIN TRÜGT, SAGEN FACHLEUTE. DENN <strong>SELBSTHILFE</strong> IM<br />
ALLTAG IST DAS LÖSEN VON PROBLEMEN MITTELS SOZIALEN SYSTEMEN. Marlene Auer<br />
Hand aufs Herz: Wie selbstständig<br />
leben Sie? Wahrscheinlich<br />
stecken Sie<br />
die schmutzige Wäsche<br />
in die Waschmaschine,<br />
die gebrauchten Teller in<br />
den Geschirrspüler und frische Lebensmittel<br />
in den Einkaufskorb. Sie tanken<br />
auch Ihr Auto selbst und vielleicht<br />
schaufeln Sie sogar den Schnee vom<br />
Gehsteig. Sie brauchen keine Hilfe, um<br />
sich selbst bei den Aufgaben im Alltag<br />
INTERVIEW<br />
Prof. Dr. Heinzpeter Znoj,<br />
Institut für Sozialanthropologie,<br />
Universität Bern<br />
Was ist Selbsthilfe?<br />
Sie beginnt bei der Einzelperson, etwa<br />
wenn man sich in den Finger schneidet<br />
und ein Pflaster darüberklebt, und führt<br />
über gegenseitige Hilfe im Freundeskreis<br />
bis hin zur Selbsthilfegruppe. Immer gilt:<br />
Man kann sich nie völlig alleine helfen.<br />
Welche Entwicklungen gibt es?<br />
Früher war es normal, einander zu helfen.<br />
Heute lebt man isolierter. Hinzu kommt:<br />
Die Familien werden kleiner. Außerdem<br />
ist man in der Wohlstandsgesellschaft<br />
nicht mehr auf sie angewiesen.<br />
Was kann man dagegen tun?<br />
Gegensteuern, indem man soziale Kontakte<br />
pflegt, nicht nur über E-Mail, Handy<br />
oder Facebook, sondern persönlich.<br />
gesunde stadt – winter 2010<br />
zu helfen. Doch der Schein trügt. „In<br />
der modernen Welt wird erwartet, dass<br />
man alles in Eigenverantwortung löst“,<br />
erklärt ao. Univ.-Prof. Dr. Rudolf Forster<br />
vom Institut für Soziologie an der<br />
Universität Wien. Sein Schweizer Branchenkollege,<br />
Prof. Dr. Heinzpeter Znoj<br />
vom Institut für Sozialanthropologie<br />
an der Universität Bern, stößt in dasselbe<br />
Horn: „Die gesamte Umwelt hat<br />
sich gewandelt und scheint uns heute<br />
die Plattform für ein vollkommen<br />
eigenständiges Leben zu bieten.“ Längere<br />
Öffnungszeiten der Supermärkte,<br />
Waschmaschinen und Geschirrspüler<br />
in jedem Haushalt, Autos in den Garagen<br />
sowie U-Bahn-Stationen um die<br />
Ecke – all das macht selbstständig. Dadurch<br />
steigen auch die Erwartungen,<br />
das Leben ohne Unterstützung anderer<br />
zu meistern. Doch die Experten bringen<br />
es auf den Punkt: Selbsthilfe geht<br />
immer Hand in Hand mit gegenseitiger<br />
Unterstützung der Menschen.<br />
Die Illusion der „Ich-AG“. Es beginnt<br />
bei ganz simplen Situationen, wie etwa:<br />
Man ist hungrig, also macht man sich<br />
etwas zu essen. Doch dafür muss man<br />
in den Supermarkt, und zwar dann,<br />
wenn er geöffnet ist. Vor Ort gibt es<br />
Angestellte, die einem etwa die 20 Dekagramm<br />
Extrawurst herunterschneiden<br />
und einpacken, damit man sie dann an<br />
der Kassa bezahlen kann. Jede Form von<br />
Selbsthilfe ist also an eine ganze Reihe<br />
von sozialen Strukturen gebunden. Solche<br />
Prozesse sind auf nahezu alle Situa-<br />
SCHWERPUNKTTHEMA <strong>SELBSTHILFE</strong><br />
tionen umlegbar und haben eines gemein:<br />
Es sind immer andere eingebunden.<br />
„Der Mensch ist dem Menschen ein<br />
Helfer, bewusst oder unbewusst“, sagt<br />
Dipl.-Psych. Jürgen Matzat, Leiter der<br />
Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen<br />
am Universitätsklinikum Gießen und<br />
Marburg. „Alles andere wäre banal,<br />
sonst gäbe es keine Menschen mehr.“<br />
„In der modernen Welt wird erwartet,<br />
dass man alles selbst lösen<br />
kann. Doch das ist eine Utopie.“<br />
Dr. Rudolf Forster,<br />
Soziologe<br />
Der Wandel sozialer Netze. Umso<br />
kurioser ist es, dass sich laut Fachleuten<br />
der menschliche Kontakt über die Zeit<br />
hinweg verringert hat. Regelmäßige<br />
Aufeinandertreffen in Waschküchen<br />
oder Gemeinschaftsgärten zum Aufhängen<br />
der Wäsche gaben der Nachbarschaft<br />
ein Gemeinschaftsgefühl und<br />
machten sie dadurch zu einer eigenen<br />
Art von „Selbsthilfegruppe“ . Das ist zur<br />
Rarität geworden. „Den Preis für die<br />
Unabhängigkeit durch die moderne<br />
Technik bezahlen wir mit Anonymität“,<br />
betont Znoj. Denn seien Sie ehrlich: Wie<br />
gehemmt wären Sie, wenn Sie jetzt<br />
sofort beim Nachbarn klingeln und um<br />
Milch bitten müssten?<br />
Familienstrukturen verlagern sich.<br />
Doch die Technik ist nicht die einzige<br />
Ursache für den Wandel der Gesellschaft<br />
– und damit der gesamten Selbst-<br />
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