6 Müssen Sie auch Schnee schaufeln? Lassen Sie sich helfen! Selbsthilfe basiert immer auf gegenseitiger Unterstützung, sagen Fachleute. Fotos: Masterfile, Privat (2)
Gemeinsam statt allein: Was Selbsthilfe wirklich ist OB SCHNEE SCHAUFELN, EINKAUFEN ODER TANKEN – TUT MAN DAS VOLLKOMMEN EIGENSTÄNDIG? DER SCHEIN TRÜGT, SAGEN FACHLEUTE. DENN <strong>SELBSTHILFE</strong> IM ALLTAG IST DAS LÖSEN VON PROBLEMEN MITTELS SOZIALEN SYSTEMEN. Marlene Auer Hand aufs Herz: Wie selbstständig leben Sie? Wahrscheinlich stecken Sie die schmutzige Wäsche in die Waschmaschine, die gebrauchten Teller in den Geschirrspüler und frische Lebensmittel in den Einkaufskorb. Sie tanken auch Ihr Auto selbst und vielleicht schaufeln Sie sogar den Schnee vom Gehsteig. Sie brauchen keine Hilfe, um sich selbst bei den Aufgaben im Alltag INTERVIEW Prof. Dr. Heinzpeter Znoj, Institut für Sozialanthropologie, Universität Bern Was ist Selbsthilfe? Sie beginnt bei der Einzelperson, etwa wenn man sich in den Finger schneidet und ein Pflaster darüberklebt, und führt über gegenseitige Hilfe im Freundeskreis bis hin zur Selbsthilfegruppe. Immer gilt: Man kann sich nie völlig alleine helfen. Welche Entwicklungen gibt es? Früher war es normal, einander zu helfen. Heute lebt man isolierter. Hinzu kommt: Die Familien werden kleiner. Außerdem ist man in der Wohlstandsgesellschaft nicht mehr auf sie angewiesen. Was kann man dagegen tun? Gegensteuern, indem man soziale Kontakte pflegt, nicht nur über E-Mail, Handy oder Facebook, sondern persönlich. gesunde stadt – winter 2010 zu helfen. Doch der Schein trügt. „In der modernen Welt wird erwartet, dass man alles in Eigenverantwortung löst“, erklärt ao. Univ.-Prof. Dr. Rudolf Forster vom Institut für Soziologie an der Universität Wien. Sein Schweizer Branchenkollege, Prof. Dr. Heinzpeter Znoj vom Institut für Sozialanthropologie an der Universität Bern, stößt in dasselbe Horn: „Die gesamte Umwelt hat sich gewandelt und scheint uns heute die Plattform für ein vollkommen eigenständiges Leben zu bieten.“ Längere Öffnungszeiten der Supermärkte, Waschmaschinen und Geschirrspüler in jedem Haushalt, Autos in den Garagen sowie U-Bahn-Stationen um die Ecke – all das macht selbstständig. Dadurch steigen auch die Erwartungen, das Leben ohne Unterstützung anderer zu meistern. Doch die Experten bringen es auf den Punkt: Selbsthilfe geht immer Hand in Hand mit gegenseitiger Unterstützung der Menschen. Die Illusion der „Ich-AG“. Es beginnt bei ganz simplen Situationen, wie etwa: Man ist hungrig, also macht man sich etwas zu essen. Doch dafür muss man in den Supermarkt, und zwar dann, wenn er geöffnet ist. Vor Ort gibt es Angestellte, die einem etwa die 20 Dekagramm Extrawurst herunterschneiden und einpacken, damit man sie dann an der Kassa bezahlen kann. Jede Form von Selbsthilfe ist also an eine ganze Reihe von sozialen Strukturen gebunden. Solche Prozesse sind auf nahezu alle Situa- SCHWERPUNKTTHEMA <strong>SELBSTHILFE</strong> tionen umlegbar und haben eines gemein: Es sind immer andere eingebunden. „Der Mensch ist dem Menschen ein Helfer, bewusst oder unbewusst“, sagt Dipl.-Psych. Jürgen Matzat, Leiter der Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen am Universitätsklinikum Gießen und Marburg. „Alles andere wäre banal, sonst gäbe es keine Menschen mehr.“ „In der modernen Welt wird erwartet, dass man alles selbst lösen kann. Doch das ist eine Utopie.“ Dr. Rudolf Forster, Soziologe Der Wandel sozialer Netze. Umso kurioser ist es, dass sich laut Fachleuten der menschliche Kontakt über die Zeit hinweg verringert hat. Regelmäßige Aufeinandertreffen in Waschküchen oder Gemeinschaftsgärten zum Aufhängen der Wäsche gaben der Nachbarschaft ein Gemeinschaftsgefühl und machten sie dadurch zu einer eigenen Art von „Selbsthilfegruppe“ . Das ist zur Rarität geworden. „Den Preis für die Unabhängigkeit durch die moderne Technik bezahlen wir mit Anonymität“, betont Znoj. Denn seien Sie ehrlich: Wie gehemmt wären Sie, wenn Sie jetzt sofort beim Nachbarn klingeln und um Milch bitten müssten? Familienstrukturen verlagern sich. Doch die Technik ist nicht die einzige Ursache für den Wandel der Gesellschaft – und damit der gesamten Selbst- 7