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Wenn die Glocken läuten

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<strong>Wenn</strong> <strong>die</strong> <strong>Glocken</strong> <strong>läuten</strong><br />

Predigt vom 1. Oktober 2006<br />

Matthäuskirche Luzern<br />

Pfr. Hans-Ulrich Steinemann<br />

Es kommt heutzutage vor, dass das <strong>Glocken</strong><strong>läuten</strong> als Lärm empfunden wird. Zugegeben, ich<br />

würde mir unsere <strong>Glocken</strong> manchmal etwas ruhiger wünschen, wenn ich mit einer<br />

Tauffamilie und ihrem schlafenden Kind vom Gemeindehaus zur Kirche hinübergehe, oder<br />

wenn ich unten bei der Lukastreppe stehe und jenes übermächtige Geläute zu schlagen<br />

beginnt. Aber sonst finde ich Kirchenglocken schön, sehr sogar. Das ehrwürdige Geläute der<br />

Hofkirche hat mich noch nie gestört, und auch <strong>die</strong> helleren Töne unserer Kirche sind mir ein<br />

freudiger Appell, doch näher zu kommen und dabei zu sein.<br />

Friedrich Schiller hat „Das Lied von der Glocke“ geschrieben, ein langes, weit ausgreifendes<br />

Gedicht, in dem er das Giessen einer Glocke zum Symbol des menschlichen Lebens nimmt.<br />

Dem Gedicht steht ein lateinisches Zitat voran:<br />

vivos voco, mortuos plango, fulgura frango. Auf Deutsch: Die Lebenden rufe ich, <strong>die</strong> Toten<br />

beklage ich, <strong>die</strong> Blitze zerschlage ich.<br />

<strong>Glocken</strong> gehören zur Kirche wie <strong>die</strong> Kirche ins Dorf gehört. Trotzdem war bei der<br />

Einweihung der Matthäuskirche der Turm noch glockenlos. Die finanziellen Mittel waren mit<br />

der Abtragung der Bauschuld gebunden. Aber acht Jahre später war genügend Geld<br />

zusammengekommen. Alfred August Reed aus Boston hatte in Erinnerung an seine in Luzern<br />

verstorbene Tochter tausend Franken gespendet, fünfhundert kamen von Königin Victoria<br />

anlässlich ihres Gottes<strong>die</strong>nstbesuchs, und weitere Spenden stammten von den Engländern,<br />

von Fremden im Schweizerhof, aus Luzern und der übrigen Schweiz. Am 7. April 1869<br />

wurde das vierstimmige Geläute gegossen und am 29. Mai aufgezogen. Die Lebenden rufe<br />

ich.<br />

Im Normalfall <strong>läuten</strong> <strong>die</strong> <strong>Glocken</strong> dreimal am Tag: am Morgen, Mittag und Abend. Es ist das<br />

Betzeit<strong>läuten</strong>, das aber – anders als <strong>die</strong> fünfmalige Gebetszeit bei den Muslimen – kaum mehr<br />

zum Beten läutet. Es ist zu einem Stück Tradition geworden und hat schon früher dazu<br />

ge<strong>die</strong>nt, den Ablauf des Arbeitstages zu regeln. Das Zürcher Sechse<strong>läuten</strong> kündete im<br />

beginnenden Frühling <strong>die</strong> spätere Zeit des Arbeitsschlusses an. Auch andere<br />

Bekanntmachungen, etwa eine drohende Gefahr, wurden an <strong>die</strong> grosse Glocke gehängt, also<br />

mit <strong>Glocken</strong><strong>läuten</strong> bekannt gemacht. Friedrich Schiller greift <strong>die</strong> Volksmeinung auf,<br />

<strong>Glocken</strong><strong>läuten</strong> lasse drohende Wolken zerstieben: Die Blitze zerschlage ich.<br />

Heute <strong>läuten</strong> <strong>die</strong> <strong>Glocken</strong> manchmal, um <strong>die</strong> Menschen zur Besinnung zu rufen. So haben am<br />

letzten Mittwoch, dem 27. September, <strong>die</strong> Zuger Kirchenglocken eine Viertelstunde lang<br />

geläutet, zum Gedächtnis der Opfer, <strong>die</strong> vor fünf Jahren im Kantonsratssaal ihr Leben<br />

verloren haben. Die Toten beklage ich.<br />

<strong>Glocken</strong> stellen Öffentlichkeit her, und <strong>die</strong>s genau ist <strong>die</strong> Absicht des christlichen<br />

Gottes<strong>die</strong>nstes. Kommt und seht! Wir brauchen uns nicht zu verstecken. Jeder Gottes<strong>die</strong>nst ist<br />

öffentlich, denn er enthält eine Nachricht, <strong>die</strong> an <strong>die</strong> Öffentlichkeit will. Im Römerbrief<br />

beginnt Paulus nach dem Grusswort den inhaltlichen Teil mit dem Ausruf: Ich schäme mich


des Evangeliums nicht; denn es ist <strong>die</strong> Kraft Gottes, <strong>die</strong> alle rettet, <strong>die</strong> daran glauben.<br />

Römerbrief 1,16<br />

Ich schäme mich des Evangeliums nicht. Das Wort schämen überrascht an <strong>die</strong>ser Stelle. Was<br />

hat <strong>die</strong> Scham hier zu suchen? Was richtig und wichtig ist, darf und soll laut gesagt sein. Ich<br />

schäme mich für etwas, das geschehen ist, aber nicht hätte geschehen sollen. Hat Paulus etwas<br />

Unrechtes getan?<br />

Sein Verhalten ist zumindest ungewohnt. Paulus ist Jude und hat sich sich <strong>die</strong>ser neuen<br />

Bewegung angeschlossen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> jüdischen Grundlagen verlässt. Schämst du dich nicht,<br />

Paulus? Nein, lautet <strong>die</strong> Antwort auf <strong>die</strong>se fiktive Frage. Ich schäme mich des Evangeliums<br />

nicht. Wohl wissend, dass <strong>die</strong>ses Evangelium in jenen beiden Welten, in denen sich Paulus<br />

bewegt, quersteht - in der Welt der Juden genauso wie in jener der Griechen. Für <strong>die</strong> Juden<br />

war es unvorstellbar, dass der konsequent jenseitig gedachte Gott einen Sohn haben sollte;<br />

den schönheitsbewussten Griechen sagte nicht zu, dass der ihnen verkündigte Gott dermassen<br />

gequält und geschunden am Kreuz gestorben sein sollte.<br />

Es ist aber <strong>die</strong>ses Evangelium, das schon immer Menschen draussen angesprochen hat. Was<br />

genau ist <strong>die</strong>ses Evangelium, das Paulus hier an <strong>die</strong> grosse Glocke hängt? Es ist <strong>die</strong> vierfach<br />

ausgefertigte Lebensbeschreibung des Jesus von Nazareth, und es ist <strong>die</strong> Nachricht, dass<br />

<strong>die</strong>ses Leben von heilsamer Bedeutung ist für uns Menschen, für <strong>die</strong> Welt. Das ist der helle<br />

<strong>Glocken</strong>ton des Evangeliums.<br />

Kritische Stimmen merken an, dass <strong>die</strong>ses Geläute scherbelt. Was ist das für ein<br />

Religionsgründer! Nicht erfolgreich wie Mohammed, nicht abgeklärt und altersweise wie<br />

Buddha. Jesu Leben war bruchstückhaft. Immer wieder sind darin Ecken und Kanten,<br />

Bruchstellen zu finden. Er ist nicht im satten Lebensalter gestorben, sondern wurde im<br />

Vollsaft des Lebens umgebracht. Aber genauso wie ihm das als Schwäche ausgelegt werden<br />

kann, ist es seine Stärke. Die Gebrochenheit des Lebens Jesu ist der Punkt, an dem seine Nähe<br />

zum menschlichen Leben deutlich wird.<br />

Denn nicht anders als bei ihm sind auch unsere Lebensläufe gebrochen. Das Musterleben, in<br />

dem sich alles schnurgerade aus dem Vorigen entwickelt und eine stromlinienförmige<br />

Karriere ergibt, kenne ich nicht. Was mir aber vertraut ist, sind Abbrüche, Lebenskrisen,<br />

Verzweiflungen. Wir fühlen uns nicht selten fremd – nicht nur in der Kirche, sondern<br />

überhaupt auf <strong>die</strong>ser Welt, nicht nur ausserhalb unser selbst, sondern auch in uns drin.<br />

Genau hier, an <strong>die</strong>sem Punkt, hat der Glaube etwas zu sagen. Hier <strong>läuten</strong> <strong>die</strong> christlichen<br />

<strong>Glocken</strong>. Das Evangelium beschreibt, dass Jesus genau <strong>die</strong>se Fremdheit empfunden hat, als er<br />

auf Erden war. An <strong>die</strong>ser Fremdheit ist er zerbrochen: gelitten, gekreuzigt, gestorben und<br />

begraben, wie es das Glaubensbekenntnis festhält. Dieser Christus ist das Evangelium. Gott<br />

geht nicht über Leichen – wie <strong>die</strong> Menschen es tun. Er bekennt sich zu <strong>die</strong>sem Gescheiterten,<br />

steigt mit ihm hinab in den Rachen des Todes, um ihn dann im Triumph der Auferstehung<br />

emporsteigen zu lassen.<br />

Darin erweist sich Gottes Kraft. Das griechische Wort für Kraft heisst dynamis. Das<br />

Evangelium ist das Dynamit Gottes. Was spüren wir heute noch davon? Weshalb hat <strong>die</strong>ses<br />

Evangelium <strong>die</strong> Kraft, mich zu retten? Weil es mich von falschen Bildern und Erwartungen<br />

befreit; sie werden alle weggesprengt. Müssen wir wirklich Supermenschen sein? Müssen wir<br />

arbeiten wie <strong>die</strong> Büffel? Nichts gegen eine gute Leistung. Aber ist Leistung unser einziger<br />

Ausweis? Und wenn wir alt sind, nicht mehr arbeiten, sind wir nichts mehr wert? Altes Eisen?


Heute wird viel und immer mehr von den Menschen verlangt, weil doch jeder etwas aus sich<br />

machen könne, wenn er nur wolle. Jeder kann sogar noch etwas mehr leisten, wenn er sich<br />

anstrengt. Jeder ist seines eignen Glückes Schmied, und wer Pech hat, ist selber schuld. Harte,<br />

unerbittliche Arbeit heisst <strong>die</strong> Devise. Das Gute soll noch besser werden. Dafür stählt man<br />

sich, auch in der Freizeit. Und wenn <strong>die</strong> Ferien vorbei sind, tut man sich unendlich schwer<br />

beim Gedanken, wieder in <strong>die</strong> Arbeitswelt einsteigen zu müssen. Ich kenne einige, <strong>die</strong> daran<br />

leiden und genau jenen Zeitmesser verwünschen, der den nahenden Beginn der Arbeitswoche<br />

kündet: das Aus<strong>läuten</strong> des Sonntags.<br />

Wohin wollen wir es denn mit aller Arbeit noch bringen? Die Probleme liegen nicht in den<br />

Sternen, weder auf dem Mond noch auf dem Mars, sondern vor jedes eigenen Tür. Dazu rufen<br />

uns <strong>die</strong> <strong>Glocken</strong> eben auch, zur Besinnung und Bescheidung. Zur Einsicht, dass wir nicht<br />

ewig auf <strong>die</strong>ser Welt bleiben. Zum Glauben, dass es mehr gibt als Arbeit und Ver<strong>die</strong>nst. Die<br />

<strong>Glocken</strong> wollen aller Welt bekannt machen, dass es einen andern Weg zum Glück, zur<br />

Sinnerfülung gibt: lieben und lieben lassen. Ja, sich lieben, sich von der Liebe tragen lassen.<br />

Gott ist dazu bereit, uns zu tragen. Er will Menschen, keine Arbeitstiere. Darin steckt Gottes<br />

Dynamit: dass er unsere Unvollkommenheit und Schwäche annimmt. Mag ja sein, dass wir ab<br />

und zu kräftig sind. Sollten wir deshalb <strong>die</strong> andere Kraft ausschlagen, <strong>die</strong> Gottes ist? Ich<br />

schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist <strong>die</strong> Kraft Gottes, <strong>die</strong> alle rettet, <strong>die</strong> daran<br />

glauben.<br />

Amen

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