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Ursula Wölfel<br />
<strong>Hannes</strong><br />
<strong>fehlt</strong><br />
Ursula Wölfel<br />
wurde 1922 in Duisburg-<br />
Hamborn geboren. Sie<br />
wuchs im Ruhrgebiet auf.<br />
Nach dem Studium arbeitete<br />
sie als Sonderschullehrerin.<br />
Seit 1959 lebt<br />
Ursula Wölfel als freie<br />
Schriftstellerin in Neunkirchen/Odenwald.<br />
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Sie hatten einen Schulausflug gemacht.<br />
Jetzt war es Abend und sie wollten mit<br />
dem Autobus zur Stadt zurückfahren.<br />
Aber einer <strong>fehlt</strong>e noch.<br />
<strong>Hannes</strong> <strong>fehlt</strong>e. Der Lehrer merkte es,<br />
als er die Kinder zählte. „Weiß einer<br />
etwas von <strong>Hannes</strong>?“, fragte der Lehrer.<br />
Aber keiner wusste etwas.<br />
Sie sagten: „Der kommt noch.“<br />
Sie stiegen in den Bus und setzten sich<br />
auf ihre Plätze.<br />
„Wo habt ihr ihn zuletzt gesehen?“,<br />
fragte der Lehrer.<br />
„Wen?“ fragten sie. „Den <strong>Hannes</strong>?<br />
Keine Ahnung. Irgendwo. Der wird<br />
schon kommen.“<br />
Draußen war es kühl und windig, aber<br />
hier im Bus hatten sie es warm. Sie<br />
packten ihre letzten Butterbrote aus.<br />
Der Lehrer und der Busfahrer gingen<br />
die Straße zurück.<br />
Einer im Bus fragte: „War der <strong>Hannes</strong><br />
überhaupt dabei? Den hab ich gar<br />
nicht gesehen.“<br />
„Ich auch nicht“, sagte ein anderer.<br />
Aber morgens, als sie hier ausstiegen,<br />
hatte der Lehrer sie gezählt und beim<br />
Mittagessen im Gasthaus hatte er sie<br />
wieder gezählt und dann noch einmal<br />
nach dem Geländespiel. Da war <strong>Hannes</strong><br />
also noch bei ihnen. „Der ist<br />
immer so still“, sagt einer. „Von dem<br />
merkt man gar nichts.“<br />
„Komisch, dass er keinen Freund hat“,<br />
sagte ein anderer, „ich weiß noch nicht<br />
einmal wo er wohnt.“<br />
Auch die anderen wussten das nicht.<br />
„Ist doch egal“, sagten sie.<br />
Der Lehrer und der Busfahrer gingen<br />
jetzt den Waldweg hinauf. Die Kinder sahen ihnen nach.<br />
„Wenn dem <strong>Hannes</strong> jetzt etwas passiert ist?“, sagte einer.<br />
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Was soll dem passiert sein?“, rief ein anderer.<br />
„Meinst du, den hätte die Wildsau gefressen?“<br />
Sie lachten. Sie fingen an sich über die Angler<br />
am Fluss zu unterhalten, über den lustigen<br />
alten Mann auf dem Aussichtsturm und über<br />
das Geländespiel. Mitten hinein fragte einer:<br />
„Vielleicht hat er sich verlaufen? Oder er hat<br />
sich den Fuß verstaucht und kann nicht weiter.<br />
Oder er ist bei den Kletterfelsen abgestürzt?“<br />
„Was du dir ausdenkst!“, sagten die anderen.<br />
Aber jetzt waren sie unruhig. Einige stiegen<br />
aus und liefen bis zum Waldrand und riefen<br />
nach <strong>Hannes</strong>. Unter den Bäumen war es schon<br />
ganz dunkel. Sie sahen auch die beiden Männer<br />
nicht mehr. Sie froren und gingen zum Bus<br />
zurück.<br />
Keiner redete mehr. Sie sahen aus den Fenstern<br />
und warteten. In der Dämmerung war der<br />
Waldrand kaum noch zu erkennen.<br />
Dann kamen die Männer mit <strong>Hannes</strong>. Nichts<br />
war geschehen. <strong>Hannes</strong> hatte sich einen Stock<br />
geschnitten und dabei war er hinter den anderen<br />
zurückgeblieben. Dann hatte er sich etwas<br />
verlaufen.<br />
Aber nun war er wieder da, nun saß er auf seinem<br />
Platz und kramte im Rucksack.<br />
Plötzlich sah er auf und fragte: „Warum seht<br />
ihr mich alle so an?“<br />
„Wir? Nur so“, sagten sie.<br />
Und einer rief: „Du hast ganz viele Sommersprossen<br />
auf der Nase!“<br />
Er sagte: „Die hab ich doch schon immer.“<br />
R1. Habt ihr entdeckt, wie die Erzählerin<br />
uns neugierig gemacht und den Text spannend<br />
gestaltet hat? Nennt die Stellen.<br />
R2. Woran erkennt ihr, dass <strong>Hannes</strong> nun in die<br />
Klassengemeinschaft aufgenommen ist?<br />
R3. Schreibe die Geschichte so, als wärst du selbst<br />
im Bus dabei gewesen.<br />
R4. Habt ihr ähnliche Fälle erlebt? Erzählt davon.<br />
Die grauen und<br />
die grünen Felder.<br />
Anrich Verlag,<br />
Mühlheim 1970<br />
3 1
Jean<br />
de La Fontaine<br />
Die Grille<br />
und die<br />
Ameise<br />
Jean de La<br />
Fontaine,<br />
geboren 1621 in der<br />
Champagne, gestorben<br />
1695 in Paris, wurde<br />
vor allem durch seine<br />
Fabeln bekannt. Die Zeitgenossen<br />
nannten ihn<br />
den „König der Verse“.<br />
Die Fabeln. Übertragen<br />
von Rolf Mayer.<br />
Diederichs Verlag,<br />
Düsseldorf/Köln 1964<br />
8 4<br />
5<br />
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15<br />
20<br />
Die Grille trällerte und sang<br />
den ganzen lieben Sommer lang<br />
und fand sich plötzlich sehr beklommen,<br />
als der Nordwind war gekommen:<br />
im Haus war nicht ein Bröselein,<br />
Regenwurm und Fliegenbein.<br />
Hunger schreiend lief sie hin<br />
zur Ameis’, ihrer Nachbarin,<br />
mit der Bitte, ihr zu geben<br />
etwas Korn zum Weiterleben<br />
nur bis nächstes Jahr:<br />
Ich werd euch zahlen, sprach sie gar,<br />
noch vor Verfall, mein Grillenwort,<br />
Hauptstock*, Zinsen und so fort.<br />
Die Ameis’ aber leiht nicht gern;<br />
sie krankt ein wenig an Knausrigkeit:<br />
Was triebt ihr denn zur Sommerzeit?<br />
fragt sie die Borgerin von fern.<br />
– Da war ich Tag und Nacht besetzt;<br />
ich sang und hatte viel Applaus.<br />
– Gesungen habt ihr? Ei, der Daus,<br />
wohlan, so tanzet jetzt!<br />
* Lagerbestand, Hauptvorrat<br />
R1. Bei Aesop heißt die<br />
Fabel „Die Ameise und die<br />
Grille.“ Bei La Fontaine ist<br />
es umgekehrt. Ist dies ein<br />
Zufall?<br />
R2. Vergleicht die Reihenfolge<br />
und Vorstellung der<br />
Tiere in beiden Fabeln.<br />
R3. Welche Eigenschaften<br />
schreiben Aesop und<br />
La Fontaine der Ameise<br />
und der Grille zu?<br />
R4. Mit wem sympathisieren<br />
beide Fabeldichter?<br />
R5. Wo und wie ist jeweils<br />
„die Moral von der<br />
Geschicht’“ formuliert?<br />
R6. Übernehmt jeweils die<br />
Rolle der Ameise sowie der<br />
Grille und verteidigt euch.<br />
R7. Beide Fabeln eignen<br />
sich als Spielvorlage.<br />
Welche Fassung lässt sich<br />
besser spielen?<br />
5<br />
10<br />
25<br />
40<br />
Eine Grille hatte den ganzen<br />
Sommer über nichts anderes<br />
getan, als gegeigt und<br />
gegeigt und gegeigt. Und<br />
als dann der Winter kam,<br />
hatte sie nichts zu essen, denn<br />
sie hatte das Feld nicht bestellt,<br />
also auch keine Ernte. Hatte keine Wolle<br />
gezupft, also auch keine Handschuh. Hatte kein Winterhaus gebaut,<br />
also auch keinen Ofen. Und sie fror bitterlich und sehr.<br />
Da ging sie zum Hirschkäfer und sprach:<br />
„Sie sind doch der Oberförster im<br />
Wald, denn Sie haben ein Geweih.<br />
Könnte ich bitte ein bisschen bei<br />
15 Ihnen wohnen?“ „Oh nein“,<br />
sagte der Hirschkäfer, „oh nein,<br />
gewiss nicht …“<br />
Und die Grille ging weiter, fragte<br />
die Maus, ob sie ein bisschen von<br />
20 ihren Nüsschen …<br />
„Oh nein“, sagte die Maus, „oh nein,<br />
gewiss nicht und gar nicht.“<br />
Da stapfte die Grille weiter in dieser<br />
jämmerlichen Kälte und ging<br />
zum Maulwurf, der dort hinten<br />
in einer Kellerwohnung haust, mit<br />
Ofen. „Oh, Besuch“, rief der Maulwurf.<br />
„Kommen Sie, damit<br />
ich Sie etwas befühlen<br />
30 kann, sehe nämlich nicht gut, weil ich<br />
blind bin. Kommt von der schwarzen<br />
Erde, wo ich arbeite. Macht nix.“<br />
Als er die Grille erkannt hatte, freute<br />
er sich, denn er hatte im Sommer oft<br />
35 ihrem Gefiedel gelauscht. Wer schlecht<br />
sieht, der hört gern<br />
zu, wenn einer<br />
Musik spielt. „Ah, bleib doch bei<br />
mir“, sagte der Maulwurf, „und<br />
spiel mir was auf deiner Fiedel,<br />
ja!“ Und die Grille blieb, und sie<br />
Janosch<br />
Die Grille<br />
und der<br />
Maulwurf<br />
Janosch<br />
Horst Eckert, der sich<br />
Janosch nennt, stammt<br />
aus Oberschlesien (1931<br />
geboren) und ist seit<br />
Jahrzehnten einer der<br />
fleißigsten Autoren und<br />
Illustratoren für Kinder<br />
und jung gebliebene<br />
erwachsene Leser.<br />
8 5
Bertolt Brecht<br />
Es war<br />
einmal ein<br />
Rabe<br />
Bertolt Brecht,<br />
geboren am 10.2.1898 in<br />
Augsburg, gestorben am<br />
14.8.1956 im damaligen<br />
Ost-Berlin, ist einer der<br />
bedeutendsten Dichter<br />
des 20. Jahrhunderts. Er<br />
hat viele Theaterstücke<br />
verfasst, Geschichten<br />
und zahlreiche Gedichte.<br />
Gesammelte Gedichte.<br />
Suhrkamp Verlag,Frankfurtam<br />
Main 1976<br />
8 8<br />
5<br />
Es war einmal ein Rabe,<br />
Ein schlauer alter Knabe,<br />
Dem sagte ein Kanari, der<br />
In seinem Käfig sang: Schau her<br />
Von Kunst<br />
Hast du keinen Dunst.<br />
Der Rabe sagte ärgerlich:<br />
Wenn du nicht singen könntest<br />
Wärst du so frei wie ich.<br />
R1. Worauf spielt der Rabe in seiner Antwort an?<br />
R2. Welche Eigenschaften oder Fähigkeiten werden einander gegenübergestellt?<br />
R3. Schreibt selbst ein Tiergedicht nach Brechts Muster, z.B. :<br />
„Es war einmal ein Hirsch,<br />
ging abends auf die Pirsch.“<br />
…<br />
5<br />
Alles<br />
Theater<br />
Theater spielen, sich selbst im Spiel darstellen, in der<br />
Gemeinschaft oder allein, im Unterricht, vor dem Spiegel<br />
oder im richtigen Theater – das gehört wohl zu jedem<br />
Menschen. Sicherlich könnt ihr Beispiele dafür geben,<br />
wie Theater und Spiel den Alltag beleben.<br />
Anregungen und Spielvorlagen findet ihr in diesem Kapitel.<br />
8 9
Ernst jandl<br />
fünfter sein<br />
Ernst Jandl<br />
Ernst Jandl (geboren<br />
1925 in Wien, 2000 dort<br />
gestorben) nimmt die<br />
Sprache sehr ernst und<br />
genau, gerade dort, wo<br />
er mit den Wörtern zu<br />
spielen scheint. Er führt<br />
uns so immer wieder zu<br />
verblüffenden Einsichten.<br />
Das könnt ihr auch an<br />
diesem Text aufzeigen.<br />
falamaleikum.<br />
Luchterhand<br />
Literaturverlag,<br />
Hamburg 1993<br />
9 0<br />
5<br />
10<br />
15<br />
20<br />
tür auf<br />
einer raus<br />
einer rein<br />
vierter sein<br />
tür auf<br />
einer raus<br />
einer rein<br />
dritter sein<br />
tür auf<br />
einer raus<br />
einer rein<br />
zweiter sein<br />
tür auf<br />
einer raus<br />
einer rein<br />
nächster sein<br />
tür auf<br />
einer raus<br />
einer rein<br />
tagherrdoktor<br />
R1. Das ist die ideale<br />
Vorlage für einen<br />
gekonnten Vortrag.<br />
Probiert verschiedene<br />
Vortragsweisen aus.<br />
R2. Noch spannender<br />
ist die szenische Umsetzung.<br />
Wie viele Spieler,<br />
Spielerinnen braucht ihr<br />
(5 – 6 – 7)? Auch die<br />
Stühle sind rasch herbeigeschafft.<br />
Diskutiert die<br />
gelungenste Umsetzung<br />
miteinander in der Klasse<br />
(„Publikum“).<br />
R3. Und wie sähe ein<br />
Jandl-Gedicht aus zu:<br />
„erster sein“?<br />
10<br />
15<br />
20<br />
Johann Peter<br />
Hebel<br />
Das<br />
Mittagessen<br />
im Hof<br />
5<br />
Man klagt häufig darüber, wie schwer und<br />
unmöglich es sei, mit manchen Menschen<br />
auszukommen. Das mag denn freilich auch<br />
wahr sein. Indessen sind viele von solchen<br />
Menschen nicht schlimm, sondern nur wunderlich,<br />
und wenn man sie nur immer recht<br />
kennt, inwendig und auswendig, und recht<br />
mit ihnen umzugehen wüsste, nie zu eigensinnig und nie zu nachgebend,<br />
so wäre mancher wohl und leicht zur Besinnung zu bringen.<br />
Das ist doch einem Bedienten mit seinem Herrn gelungen. Dem<br />
konnte er manchmal gar nichts recht machen und musste vieles entgelten,<br />
woran er unschuldig war, wie es oft geht.<br />
So kam einmal der Herr sehr verdrießlich nach Hause und setzte<br />
sich zum Mittagessen. Da war die Suppe zu heiß oder zu kalt oder<br />
keines von beiden; aber genug, der Herr war verdrießlich. Er fasste<br />
daher die Schüssel mit dem, was darinnen war, und warf sie durch<br />
das offene Fenster in den Hof hinab. Was tat der Diener? Kurz<br />
besonnen warf er das Fleisch, welches er eben auf den Tisch stellen<br />
wollte, mir nichts, dir nichts der Suppe nach auch in den Hof hinab,<br />
dann das Brot, dann den Wein und endlich das Tischtuch mit allem,<br />
was noch darauf war, auch in den Hof hinab. „Verwegener, was soll<br />
das sein?“, fragte der Herr und fuhr mit drohendem Zorn von dem<br />
Sessel auf. Aber der Bediente erwiderte kalt und ruhig: „Verzeihen<br />
Sie mir, wenn ich Ihre Meinung nicht erraten habe. Ich glaubte nicht<br />
25<br />
anders, als Sie wollten heute in dem<br />
Hof speisen. Die Luft ist so<br />
heiter, der Himmel<br />
so blau. Und sehen<br />
Sie nur, wie<br />
Johann Peter Hebel<br />
wurde 1760 in Basel<br />
geboren; früh verlor er<br />
seine Eltern; Gönner<br />
ermöglichten ihm den<br />
Besuch des Gymnasiums<br />
und das Studium. Er<br />
arbeitete zunächst als<br />
Hauslehrer und Hilfsgeistlicher.<br />
Mit den<br />
„Alemannischen Gedichten“<br />
(1803, Gedichten in<br />
Mundart) sicherte er sich<br />
einen Platz in der damaligen<br />
Literatur. Sein<br />
Hauptwerk aber sind die<br />
Kalendergeschichten des<br />
„Rheinischen Hausfreundes“<br />
(1807–1814). 1811<br />
erschien die bearbeitete<br />
Fassung, das „Schatzkästlein<br />
des rheinischen Hausfreundes“.<br />
J.P. Hebel starb<br />
1826 in Schwetzingen.<br />
9 1
Ingrid Bösinger<br />
Der<br />
Lügenbaron<br />
aus<br />
Bodenwerder<br />
5<br />
10<br />
15<br />
Er flog auf einer Kanonenkugel reitend<br />
durch die Luft und landete vor 200 Jahren<br />
auf dem Mond. Das war der Baron von<br />
Münchhausen. Ob er diese Abenteuer erlebt<br />
hat, ist natürlich mehr als zweifelhaft.<br />
Sicher ist nur: Er hat wirklich gelebt.<br />
Im Jahre 1748 befindet sich der niedersächsische Rittmeister in russischen<br />
Diensten, Karl Friedrich Hieronymus von Münchhausen, in<br />
einer außerordentlich schwierigen Lage. Der türkische Feind hat ihn<br />
gefangen genommen. Nun wird aus dem Adeligen ein Sklave am<br />
türkischen Hof.<br />
Die Behandlung aber ist nicht schlecht. Der Baron bekommt sogar<br />
eine Vertrauensstellung. Mit einer silbernen Axt bewacht er die Bienen<br />
des türkischen Sultans. Da werden eines Nachmittags die Bienen<br />
von einem naschsüchtigen Bären angefallen. Münchhausen schleudert<br />
seine Axt hoch um Meister Petz abzuschrecken. Das gelingt<br />
auch, der Bär ergreift die Flucht.<br />
Aber die silberne Axt ist weg!<br />
Münchhausen erzählt: „Durch allzu starken Schwung meines Armes<br />
stieg die Axt höher und höher, bis sie auf dem Mond niederfiel.<br />
Zum Glück aber wusste ich, dass türkische Bohnen sehr schnell und<br />
sehr hoch wachsen. Augenblicklich pflanzte ich eine, die wirklich<br />
bis zum Mond reichte und sich an seinen Hörnern anrankte.<br />
Nun kletterte ich hinauf und fand auch glücklich meine<br />
Axt wieder.“<br />
20 Das ist nur eine von vielen hundert Geschichten<br />
des Barons Münchhausen, die ganz harmlos<br />
beginnen und so phantastisch enden.<br />
Erzählt hat der Adelige sie seinen<br />
Nachbarn – und sie wussten nicht:<br />
25 Ist das nun alles Lüge oder Wahrheit?<br />
Denn um die Mitte des 18. Jahrhunderts<br />
glaubten die meisten<br />
Menschen noch an Hexen, Dä-<br />
30 monen, Gespenster und Vampire.<br />
Von fernen Ländern wusste man<br />
nichts – man kam ja selten mehr<br />
als ein paar Kilometer über seine<br />
Dorfgrenze hinaus …<br />
Abenteurer und Aufschneider …<br />
Der Baron aber war wirklich weit in der Welt herumgekommen.<br />
Und nachdem man lange Zeit geglaubt hat, er sei nur die Phantasiefigur<br />
eines Schriftstellers, wissen wir heute, dass Münchhausen<br />
wirklich gelebt hat!<br />
Der „Lügenbaron“ wird im Jahr 1730 im niedersächsischen Bodenwerder<br />
(bei Hameln) geboren.<br />
Mit gerade 18 Jahren tritt er als Offizier in die russische Armee ein<br />
und kämpft gegen die Türken. Und in Russland oder der Türkei<br />
nehmen fast alle seine Geschichten ihren Anfang …<br />
Belegt ist dies: Teilnahme an mehreren Schlachten, in denen sich der<br />
Baron als mutig erweist. Er bekommt ein paar Orden, wird zum<br />
Rittmeister befördert. Eben weil Münchhausen tapfer ist – vor allem<br />
aber, weil er lesen und schreiben kann. Das ist in der damaligen Zeit<br />
selbst beim Adel keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Als aber<br />
sein Vater stirbt, beendet er sein Leben als Abenteurer. Im Jahre<br />
1750 nimmt er seinen Abschied und kehrt in die Heimat zurück.<br />
1 8 4 1 8 5<br />
35<br />
40<br />
45<br />
50
Heinrich Heine<br />
Die heil’gen<br />
drei Könige<br />
aus<br />
Morgenland<br />
Heinrich Heine,<br />
geboren 1797 in Düsseldorf,<br />
gestorben 1856 in<br />
Paris, ist einer der ganz<br />
großen Dichter der deutschen<br />
Literatur.<br />
Sein „Buch der Lieder“,<br />
aus dem dieses Gedicht<br />
stammt, war eines seiner<br />
erfolgreichsten Werke.<br />
Gesamtausgabe Band 1. 10<br />
Hoffmann und Campe<br />
Verlag, Hamburg 1975<br />
5<br />
Die heil’gen drei Könige aus Morgenland,<br />
Sie frugen in jedem Städtchen:<br />
Wo geht der Weg nach Bethlehem,<br />
Ihr lieben Buben und Mädchen?<br />
Die Jungen und Alten, sie wussten es nicht,<br />
Die Könige zogen weiter;<br />
Sie folgten einem goldenen Stern,<br />
Der leuchtete lieblich und heiter.<br />
Der Stern blieb stehn über Josephs Haus,<br />
Da sind sie hineingegangen;<br />
Das Öchslein brüllte, das Kindlein schrie,<br />
Die heil’gen drei Könige sangen.<br />
R1. Nach den armen Hirten kamen die reichen Könige. Vergleicht den Inhalt des<br />
Gedichtes mit der biblischen Weihnachtsgeschichte.<br />
R2. In vielen Orten ziehen heute noch Kinder am Dreikönigstag von Haus zu Haus<br />
und bitten um eine Spende. Was wisst ihr darüber?<br />
R3. Auch dieses Gedicht eignet sich zum Vortrag, z.B. bei einer Weihnachtsfeier.<br />
R<br />
4. Malt ein Bild zu dem Gedicht. Vielleicht kann euch dabei das Bild von Oskar<br />
Kokoschka (1866–1989) helfen.<br />
Gedicht<br />
Am Ende des Kapitels sollten wir uns noch einmal überlegen,<br />
warum bestimmte Texte Gedichte genannt werden. Als Beispiel<br />
dient das Gedicht „Frühlingsglaube“ (S. 190).<br />
Gedichte sind Texte, die eine besondere Druckanordnung haben.<br />
Die einzelnen Zeilen sind nicht von Anfang bis Ende bedruckt wie<br />
bei einer Erzählung oder einem Brief. Die einzelnen Zeilen haben<br />
unterschiedliche Längen:<br />
Die linden Lüfte sind erwacht,<br />
Sie säuseln und weben Tag und Nacht, (…)<br />
Die Untergliederungen können sich aber regelmäßig wiederholen.<br />
Es scheint eine gewisse „Ordnung“ oder Anordnung zu geben:<br />
Das Gedicht „Frühlingsglaube“ besteht aus zwei Teilen zu je<br />
sechs Zeilen.<br />
Auch ist die Wortwahl bisweilen ungewohnt. Oder anders gesagt,<br />
untereinander haben wir eine andere Ausdrucksweise:<br />
Kaum jemand sagt in einer Alltagssituation „Die linden Lüfte<br />
sind erwacht“, sondern, „Es wird bald Frühling“.<br />
Wenn wir uns Gedichte laut vorlesen oder sie vortragen, dann merken<br />
wir, dass wir anders sprechen oder auch betonen als im alltäglichen<br />
Sprachgebrauch. Woran liegt das? Wir suchen eine bestimmte<br />
„Melodie“, ein Gleichmaß, das sich wiederholt. Diese Melodie<br />
kann durch den Wechsel von betonten und unbetonten Silben,<br />
durch die Länge der Verszeile oder (bei manchen Gedichten) durch<br />
den Reim gestaltet sein. Dazu im Einzelnen:<br />
– Wenn wir ein Gedicht schlecht vortragen, dann achten wir<br />
krampfhaft auf die betonten Silben, die wir deutlich hervorheben.<br />
Dies ist zwar ein schlechter Vortragsstil, aber er zeigt uns<br />
das Grundmuster mancher Gedichte. Die betonten Silben sind<br />
die Stütze der Verszeilen, sie geben den Takt an:<br />
Die Welt wird schöner jeden Tag,<br />
Man weiß nicht, was noch werden mag, (…)<br />
– Die Länge der einzelnen Zeilen hängt von den betonten Silben<br />
ab. Die Zahl der Betonungen kann sich von Zeile zu Zeile wiederholen<br />
oder auch nach einem komplizierteren Bauplan angeordnet<br />
sein:<br />
Das Gedicht „Frühlingsglaube“ besteht aus Zeilen mit vier<br />
betonten Silben; nur die dritte Zeile in jeder Strophe hat drei<br />
betonte Silben.<br />
2 0 2 2 0 3<br />
•<br />
•<br />
•
Joanne K. Rowling<br />
Harry in<br />
der Zauberschule<br />
Joanne K. Rowling<br />
„Wunder gibt es immer<br />
wieder“: Joanne Kathleen<br />
Rowling – von der Sozialhilfeempfängerin<br />
zur drittreichsten<br />
Frau Englands!<br />
Juli 1965: J.K. Rowling<br />
in Chipping Sodbury,<br />
Gloucestershire, geboren.<br />
1971 Umzug der Familie<br />
nach Winterbourne, unter<br />
den Nachbarskindern ein<br />
Junge und ein Mädchen<br />
namens POTTER.<br />
1976 Besuch der Gesamtschule,<br />
im letzten<br />
Schuljahr 1982 wird sie<br />
„Head Girl“ (Schulsprecherin).<br />
1983 Beginn des Studiums:<br />
Französisch und<br />
Altphilologie (Latein/<br />
Griechisch).<br />
2 1 2<br />
5<br />
10<br />
15<br />
20<br />
25<br />
30<br />
35<br />
„Was haben wir heute?“, fragte Harry Ron, während er Zucker auf<br />
seinen Haferbrei schüttete.<br />
„Doppelstunde Zaubertränke, zusammen mit Slytherins“, sagte<br />
Ron. „Snape ist der Hauslehrer von Slytherin. Es heißt, er bevorzugt<br />
sie immer. Wir werden ja sehen, ob das stimmt.“<br />
„Ich wünschte, die McGonagall würde uns bevorzugen“, sagte<br />
Harry. Professor McGonagall war Hauslehrerin von Gryffindor,<br />
und trotzdem hatte sie ihnen tags zuvor eine Unmenge Hausaufgaben<br />
aufgehalst.<br />
In diesem Augenblick kam die Post. Harry hatte sich<br />
inzwischen daran gewöhnt, doch am ersten Morgen<br />
hatte er einen kleinen Schreck bekommen, als<br />
während des Frühstücks plötzlich an die hundert<br />
Eulen in die Große Halle schwirrten, die Tische<br />
umkreisten, bis sie ihre Besitzer erkannten, und dann<br />
die Briefe und Päckchen auf ihren Schoß fallen<br />
ließen.<br />
Hedwig hatte Harry bisher nichts gebracht. Manchmal<br />
ließ sie sich auf seiner Schulter nieder, knabberte<br />
ein wenig an seinem Ohr und verspeiste ein Stück<br />
Toast, bevor sie sich mit den anderen Schuleulen in<br />
die Eulerei zum Schlafen verzog. An diesem Morgen<br />
jedoch landete sie flatternd zwischen dem Marmeladenglas<br />
und der Zuckerschüssel und ließ einen Brief<br />
auf Harrys Teller fallen. Harry riss ihn sofort auf.<br />
Lieber Harry,<br />
stand da sehr krakelig geschrieben,<br />
ich weiß, dass du Freitagnachmittag<br />
freihast. Hättest du nicht Lust,<br />
mich zu besuchen und eine Tasse<br />
Tee zu trinken? Ich möchte alles<br />
über deine erste Woche erfahren.<br />
Schick mir durch Hedwig eine<br />
Antwort.<br />
Hagrid<br />
40<br />
Harry borgte sich Rons Federkiel, kritzelte „Ja, gerne, wir sehen uns<br />
später“ auf die Rückseite des Briefes und schickte Hedwig damit los.<br />
Ein Glück, dass Harry sich auf den Tee mit Hagrid freuen konnte,<br />
denn der Zaubertrankunterricht stellte sich als das Schlimmste heraus,<br />
was ihm bisher passiert war.<br />
Beim Bankett zum Schuljahresbeginn hatte Harry den Eindruck<br />
gewonnen, dass Professor Snape ihn nicht mochte. Am Ende der<br />
ersten Zaubertrankstunde wusste er, dass er falsch gelegen hatte. Es<br />
war nicht so, dass Snape ihn nicht mochte – er hasste ihn.<br />
© Copyright<br />
1991 ist J.K. Rowling<br />
in Portugal als Englischlehrerin.<br />
1994 Rowling ist ohne<br />
feste Anstellung; sie<br />
wohnt mit ihrer Tochter in<br />
einer Ein-Zimmer-Wohnung,<br />
sie lebt von Sozialhilfe.<br />
Sie schreibt am<br />
ersten der Potter-Bände.<br />
1996 nimmt der Verlag<br />
Bloomsbury den Roman an.<br />
1997 erscheint „Harry<br />
Potter and the Philosopher’s<br />
Stone“,<br />
1998 „Harry Potter and<br />
the Chamber of Secrets“;<br />
1999 „Harry Potter and<br />
the Prisoner of Azkaban“.<br />
2000 Die deutsche Ausgabe<br />
von „Harry Potter<br />
und der Feuerkelch“<br />
startet mit einer Auflage<br />
von 1 Million.<br />
2001 Kinostart des Films<br />
„Harry Potter und der<br />
Stein der Weisen“ –<br />
weltweit 123 Millionen<br />
Exemplare der Harry-<br />
Potter-Bücher.<br />
2 1 3
Verursacherprinzip<br />
R.W. Brednich:<br />
Die Maus im Jumbo-Jet.<br />
Neue sagenhafte<br />
Geschichten von heute.<br />
C.H. Beck’sche<br />
Verlagsbuchhandlung,<br />
München 1991<br />
9 8<br />
5<br />
10<br />
15<br />
Ein Fabrikbesitzer im Ruhrgebiet benutzte in den fünfziger Jahren<br />
aus Prinzip jeden Morgen den Bus, um zu seiner nur zwei Haltestellen<br />
entfernten Firma zu fahren. Mit seinem schwarzen Nadelstreifenanzug,<br />
Melone und Aktenköfferchen gehörte er zum lebenden<br />
Inventar der betreffenden Straße. Auf dem Weg zur Bushaltestelle<br />
pflegte er eine dicke Zigarre zu rauchen, und sobald sich der Bus<br />
näherte, warf er den Stummel mit gekonntem Schwung zielsicher in<br />
den Gully.<br />
Dies ging einige Jahre lang gut, bis er eines schönen Morgens wieder<br />
der Haltestelle zustrebte und mit dem üblichen Schwung seine<br />
Zigarre im Gully versenkte. Diesmal aber gab es eine gewaltige<br />
Explosion, die die Straße in gesamter Länge bis zu seiner Firma in<br />
die Luft jagte.<br />
Die Untersuchungen über die Ursachen des Unglücks ergaben, dass<br />
das Unternehmen jahrelang giftige Abwässer in die Kanalisation<br />
geleitet hatte. Genau an diesem Morgen brachte der Verursacher<br />
dieser Umweltsünde selbst die hochexplosiven Gase in der Kanalisation<br />
zur Explosion.<br />
R1. Ob diese Geschichte stimmt,<br />
dafür gibt es keinen Beleg. Das ist<br />
auch nicht entscheidend. Wichtiger ist,<br />
warum sie erzählt wird, was man<br />
mit ihr verdeutlichen will. Am Schluss<br />
gibt ein Wort darüber Aufschluss.<br />
Wie heißt es?<br />
R2. Schlagt in einem Lexikon nach,<br />
was man unter „Verursacherprinzip“<br />
versteht.<br />
R3. Was unterscheidet diese<br />
moderne „unglaubliche Geschichte“<br />
von den alten Sagen?<br />
5<br />
(Sprach-)<br />
Spiele<br />
Jetzt seid ihr als Sprach- und Zungenkünstler, als<br />
Rollenspielerinnen und Alleinunterhalter gefordert.<br />
Dazu noch könnt ihr eure Schlag- und Fingerfertigkeit<br />
beweisen. Für Spaß und Überraschungen ist<br />
also hinreichend gesorgt.<br />
9 9
Robert Gernhardt<br />
Mondgedicht<br />
Robert Gernhardt,<br />
wurde 1937 in Reval<br />
(Estland) geboren. Er ist<br />
Schriftsteller und Zeichner.<br />
Seine Texte und<br />
Zeichnungen sind voll<br />
humorvoller Anspielungen<br />
und Wortspiele.<br />
1 3 8<br />
. . , – fertig ist das Mondgedicht<br />
. .<br />
,<br />
—<br />
R1. Wie heißt der Spruch eigentlich?<br />
R2. Ganz einfach: Sucht euch einen Kindervers oder Abzählreim,<br />
der sich ähnlich in eine Strichzeichnung umsetzen lässt.<br />
Gedichte 1954 –94.<br />
Haffmans Verlag,<br />
Zürich 1996<br />
7<br />
Zirkus –<br />
Manege<br />
frei<br />
Warum der Zauber des Zirkus auch in unserer Welt<br />
noch auf uns wirkt, warum uns die kleinen und großen<br />
Kunststücke noch immer in Bann ziehen, davon<br />
erzählen die Texte dieses Kapitels. Und dass man<br />
sich wie der kleine Johann in eine Zirkusprinzessin<br />
verlieben kann, werdet ihr auch verstehen können.<br />
1 3 9
Herbert<br />
Rosendorfer<br />
Briefe in die<br />
chinesische<br />
Vergangenheit<br />
Herbert Rosendorfer<br />
wurde 1934 in Südtirol<br />
geboren, wo er heute<br />
wieder lebt. Er ist Jurist<br />
und Schriftsteller.<br />
*gemeint ist Ludwig van<br />
Beethoven (1770–1827)<br />
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15<br />
20<br />
25<br />
30<br />
Ein Mandarin, ein hoher chinesischer Beamter aus dem 10. Jahrhundert,<br />
gelangt mittels Zeitmaschine in das München der 1980er<br />
Jahre („Min-chen“) und sieht sich mit dem völlig anderen Leben der<br />
„Ba Yan“ und ihren kulturellen und technischen Errungenschaften<br />
konfrontiert. In Briefen an seinen Freund im Reich der Mitte schildert<br />
er seine Beobachtungen und Eindrücke. Die grotesken, absonderlichen<br />
Erlebnisse und witzigen Kommentare des der deutschen<br />
Sprache und modernen Lebensweise zunächst unkundigen Chinesen<br />
bieten beste Unterhaltung, fordern aber auch zum kritischen Nachdenken<br />
auf.<br />
Die Fern-Blick-Maschine ist ein mäßig großer Schrein, der vorn so<br />
etwas wie ein Fenster hat. Irgendwo gibt es ein Gremium, das in der<br />
Lage ist, Bilder, die leben, durch die Luft zu schleudern. Die Bilder<br />
werden von dem Mechanismus in der Fern-Blick-Maschine aufgefangen<br />
und wiedergegeben, sofern man auf einen Knopf drückt und<br />
die Maschine nicht gerade kaputt ist. Es ist keine Zauberei, wenngleich<br />
es aufs erste Hinsehen so wirkt. Der Mechanismus ist nicht<br />
komplizierter als unsere Zeit-Reise-Berechnung. Ich habe ihn mir<br />
von Herrn Yü-len erklären lassen, aber ich nehme an, dass dich das<br />
im Einzelnen nicht interessiert.<br />
Du sitzt also vor der Fern-Blick-Maschine und schaust wie durch<br />
ein Fenster anderen Leuten zu. (Diese anderen Leute können allerdings<br />
dich, der du davorsitzt, nicht sehen. Ich habe mir das zu meiner<br />
Beruhigung versichern lassen.) Das meiste, was du durch dieses<br />
Fern-Blick-Fenster siehst, ist überflüssig. Obwohl: Ich muss zugeben,<br />
dass es mich anfangs fasziniert hat. Stelle dir vor, du hättest die<br />
Möglichkeit, anderen Leuten unbeobachtet ins Zimmer zu schauen<br />
– aber mit der Zeit wird es langweilig. Was passiert schon bei anderen<br />
Leuten? Nichts, was du dir nicht ohnedies denken kannst. Sie<br />
essen, sie trinken, sie lieben und sie verprügeln einander, sie reiten<br />
auf Pferden oder fahren in A-tao-Wägen … alles ganz langweilig,<br />
nichts, was man nicht ohnedies kennt.<br />
Wenig ansprechend ist es, wenn einer durchs Fern-Blick-Fenster<br />
singt. Dieser Gesang hat meist mit der edlen Musik des Meisters<br />
We-to-feng* und der anderen Meister nichts zu tun. Komisch ist es<br />
allerdings, und das unterhält mich ab und zu, wie die Herren und<br />
Damen, die in der Fern-Blick-Maschine singen, das Gesicht verziehen.<br />
Sehr häufig wird im Fern-Blick-Fenster aber gezeigt, welche<br />
Gegenstände man demnächst in den Läden kaufen soll. Man ist aber,<br />
habe ich mich erkundigt, nicht verpflichtet, sich danach zu richten.<br />
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Zu bestimmten Zeiten erscheint im Fern-Blick-Fenster eine Großnase,<br />
die liest von gelben Blättern ab, welche Katastrophen in den<br />
letzten Stunden in der Welt vorgefallen sind, und regelmäßig kommt<br />
danach einer, der erklärt, dass das Wetter schlechter wird. Aber das<br />
alles ist nicht das Schlimmste in der Fern-Blick-Maschine. Ich habe<br />
mir die Zusammenhänge mehrfach erklären lassen, denn dieses<br />
Fernblicken ist einer der wichtigsten Faktoren im Leben der Großnasen.<br />
Die lebenden, bunten Bilder, die einem da vorgegaukelt werden,<br />
sind so natürlich, dass man sie – und ich habe es anfangs getan<br />
und bin erschrocken – für wahr hält, das heißt: für wirklich. Das<br />
sind sie aber nicht alle. Zwar ist die Großnase, die<br />
kommt und von einem gelben Blatt abliest, dass<br />
ein Schiff gesunken ist, oder die Großnase, die<br />
verkündet, dass es morgen mehr regnen<br />
wird als heute, wirklich. Auch die Großnase,<br />
die das von sich gibt, was sie als<br />
Gesang versteht, ist wirklich, nicht<br />
aber sind es die Großnasen, die nachher<br />
kommen und zwei Stunden lang<br />
aufeinander losreden, einander beschimpfen<br />
und umbringen. Die<br />
sind unwirklich, das heißt: die tun<br />
nur so. Das ist ein – manchmal,<br />
muss ich zugeben – sehr geschickt<br />
gestelltes Schauspiel. Ich (obwohl,<br />
oder vielleicht: gerade weil von so<br />
fern kommend) durchschaue das,<br />
nicht aber die Mehrzahl der<br />
dumpfen Großnasen, die in ihre<br />
Fern-Blick-Maschine glotzt und<br />
alles für bare Münze nimmt, was<br />
sie sieht. So nimmt die Mehrzahl<br />
der Großnasen die Realität nicht<br />
mehr wahr und ersetzt die Wahrnehmung<br />
durch das, was sie aus der<br />
Fern-Blick-Maschine erfährt.<br />
Und es sitzt, habe ich mir sagen lassen,<br />
die Mehrzahl der Großnasen jede<br />
freie Minute, sofern sie eben nicht mit<br />
ihrer Arbeit beschäftigt sind, vor der<br />
Fern-Blick-Maschine.<br />
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