Testwerkstatt: Alternative Aufgabentypen entwickeln

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14.01.2013 Aufrufe

Foto: Lutz Pape STANDARDS Viele kennen sie aus der Fahrschulprüfung und aus Fernseh- Shows, aber spätestens seit der PISA-Studie erscheinen Multiple-Choice-Tests in einem neuen Licht. Können „Mehrfachwahlaufgaben“ so etwas Vielschichtiges wie das Verständnis eines literarischen Textes angemessen überprüfen? Im folgenden Beitrag zeigt eine Expertin für Aufgabenentwicklung Möglichkeiten und Grenzen dieser Testform. Testwerkstatt: Alternative Aufgabentypen entwickeln Iris Winkler Aufgabenart: Mehrfachwahlaufgaben und Kurzantwortaufgaben zu einem literarischen Text Klassenstufen: 9–10 Kopiervorlagen: 2 Das Konzept der Bildungsstandards setzt darauf, regelmäßig den Lernstand der Schülerinnen und Schüler zu überprüfen. Lehrende sind also gefordert, den Lernfortschritt der eigenen Schüler kompetent zu diagnostizieren. Nur so sind Informationen über bereits Erreichtes und noch bestehende Defizite zu gewinnen und gezielt Schlussfolgerungen für die weitere Unterrichtsgestaltung zu ziehen. Notwendig hierfür sind geeignete Instrumente zur Leistungsmessung. Wie aber sehen solche geeigneten Instrumente aus, um im Deutschunterricht literarisches Verstehen zu überprüfen? Dieser Frage geht der folgende Beitrag nach, indem er schrittweise die Entwicklung und Auswertung eines Textverstehenstests erläutert. Illustriert werden die Ausführungen anhand eines Tests zu Arthur Schnitzlers Parabel „Die grüne Krawatte“ (Text auf S. 38 in diesem Heft). Der vorgestellte Test (s. S. 44/45) ist geeignet für die 9./10. Jahrgangstufe (Mittlerer Schulabschluss) und wurde in vier neunten Klassen erprobt. Testentwicklung – Was soll überprüft werden? Diese Frage gilt es vor Beginn der Testentwicklung zu klären; denn welche Aufgaben für einen Test geeignet sind, hängt wesentlich auch davon ab, was „gemessen“ werden soll. Hinweise, auf welche einzelnen Aspekte sich Aufgaben zur Überprüfung von Leseverstehen beziehen können, finden sich in den „Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss“ 1 für das Fach Deutsch im Kompetenzbereich „Lesen – mit Texten und Medien umgehen“ (a.a.O., S. 16–18). Damit ein Textverstehenstest nicht einseitig nur bestimmte Teilkompetenzen von Lesekompetenz erfasst, bieten die in der PISA-Studie unterschiedenen Teilkompetenzen von Lesekompetenz – „Informationen ermitteln“, „Textbezogenes Interpretieren“, „Reflektieren und Bewerten“ – zusätzlich eine wichtige Hilfestellung bei der Aufgabenentwicklung (vgl. Abb. 3). 2 Um eine möglichst differenzierte Auskunft über die Lesekompetenz der Lernenden zu erbringen, muss ein Test also Aufgaben zu allen drei Teilkompetenzen enthalten. 3 Aufgabenarten – Wie soll überprüft werden? Wenn Schüler in Leistungssituationen ihr Verständnis literarischer Texte unter Beweis stellen sollen, sind sie meistens mit komplexen Aufgabenstellungen konfrontiert, die in einem Aufsatz zu bearbeiten sind. Repräsentativ für diese verbreitete Praxis sind nicht zuletzt auch die Aufgabenbeispiele in den Standards für den Mittleren Bildungsabschluss. Als Instrumente zur Überprüfung von Textverstehen sind diese Aufgabenarten gleichwohl wenig geeignet. Dies liegt zuallererst daran, dass hier der Ausweis der Leseleistung an die Schreibleistung gekoppelt und der Test damit nicht valide ist. 4 Eine sinnvolle Alternative bieten vor diesem Hintergrund Mehrfachwahl- und Kurzantwortaufgaben. Sie ermöglichen die Überprüfung jeweils eines relativ klar bestimmbaren Teilaspekts von Lesekompetenz und damit auch eine differenzierte Analyse der Ergebnisse. Insbesondere bei Mehrfachwahlaufgaben kommt als Vorteil hinzu, dass sie schnell und objektiv auszuwerten sind. Sie erlauben einen Nachweis der Leseleistung unabhängig von der Schreibleistung. Kurzantwortaufgaben geben im Unterschied zu globalen Interpretationsaufträgen den Lernenden einen Orientierungsrahmen vor, auf welchen Aspekt zu achten ist. So sind die Aufgaben auch für leistungsschwächere Schüler bearbeitbar. Weder Mehrfachwahl- noch Kurzantwortaufgaben sind deshalb 40 Deutschunterricht 5 / 2005

Foto: Lutz Pape<br />

STANDARDS<br />

Viele kennen sie aus der Fahrschulprüfung und aus Fernseh-<br />

Shows, aber spätestens seit der PISA-Studie erscheinen<br />

Multiple-Choice-Tests in einem neuen Licht. Können „Mehrfachwahlaufgaben“<br />

so etwas Vielschichtiges wie das Verständnis<br />

eines literarischen Textes angemessen überprüfen?<br />

Im folgenden Beitrag zeigt eine Expertin für Aufgabenentwicklung<br />

Möglichkeiten und Grenzen dieser Testform.<br />

<strong>Testwerkstatt</strong>: <strong>Alternative</strong><br />

<strong>Aufgabentypen</strong> <strong>entwickeln</strong><br />

Iris Winkler<br />

Aufgabenart: Mehrfachwahlaufgaben<br />

und Kurzantwortaufgaben<br />

zu einem literarischen Text<br />

Klassenstufen: 9–10<br />

Kopiervorlagen: 2<br />

Das Konzept der Bildungsstandards<br />

setzt darauf, regelmäßig den<br />

Lernstand der Schülerinnen und<br />

Schüler zu überprüfen. Lehrende<br />

sind also gefordert, den Lernfortschritt<br />

der eigenen Schüler kompetent<br />

zu diagnostizieren. Nur so<br />

sind Informationen über bereits<br />

Erreichtes und noch bestehende<br />

Defizite zu gewinnen und gezielt<br />

Schlussfolgerungen für die weitere<br />

Unterrichtsgestaltung zu ziehen.<br />

Notwendig hierfür sind geeignete<br />

Instrumente zur Leistungsmessung.<br />

Wie aber sehen solche geeigneten<br />

Instrumente aus, um im<br />

Deutschunterricht literarisches<br />

Verstehen zu überprüfen? Dieser<br />

Frage geht der folgende Beitrag<br />

nach, indem er schrittweise die<br />

Entwicklung und Auswertung eines<br />

Textverstehenstests erläutert.<br />

Illustriert werden die Ausführungen<br />

anhand eines Tests zu Arthur<br />

Schnitzlers Parabel „Die grüne<br />

Krawatte“ (Text auf S. 38 in diesem<br />

Heft). Der vorgestellte Test<br />

(s. S. 44/45) ist geeignet für die<br />

9./10. Jahrgangstufe (Mittlerer<br />

Schulabschluss) und wurde<br />

in vier neunten Klassen erprobt.<br />

Testentwicklung –<br />

Was soll überprüft<br />

werden?<br />

Diese Frage gilt es vor Beginn der<br />

Testentwicklung zu klären; denn<br />

welche Aufgaben für einen Test<br />

geeignet sind, hängt wesentlich<br />

auch davon ab, was „gemessen“<br />

werden soll. Hinweise, auf welche<br />

einzelnen Aspekte sich Aufgaben<br />

zur Überprüfung von Leseverstehen<br />

beziehen können, finden sich<br />

in den „Bildungsstandards für den<br />

Mittleren Schulabschluss“ 1 für<br />

das Fach Deutsch im Kompetenzbereich<br />

„Lesen – mit Texten und<br />

Medien umgehen“ (a.a.O., S.<br />

16–18). Damit ein Textverstehenstest<br />

nicht einseitig nur bestimmte<br />

Teilkompetenzen von Lesekompetenz<br />

erfasst, bieten die in der<br />

PISA-Studie unterschiedenen<br />

Teilkompetenzen von Lesekompetenz<br />

– „Informationen ermitteln“,<br />

„Textbezogenes Interpretieren“,<br />

„Reflektieren und Bewerten“<br />

– zusätzlich eine wichtige Hilfestellung<br />

bei der Aufgabenentwicklung<br />

(vgl. Abb. 3). 2 Um eine möglichst<br />

differenzierte Auskunft über<br />

die Lesekompetenz der Lernenden<br />

zu erbringen, muss ein Test<br />

also Aufgaben zu allen drei Teilkompetenzen<br />

enthalten. 3<br />

Aufgabenarten – Wie soll<br />

überprüft werden?<br />

Wenn Schüler in Leistungssituationen<br />

ihr Verständnis literarischer<br />

Texte unter Beweis stellen<br />

sollen, sind sie meistens mit komplexen<br />

Aufgabenstellungen konfrontiert,<br />

die in einem Aufsatz<br />

zu bearbeiten sind. Repräsentativ<br />

für diese verbreitete Praxis sind<br />

nicht zuletzt auch die Aufgabenbeispiele<br />

in den Standards für den<br />

Mittleren Bildungsabschluss. Als<br />

Instrumente zur Überprüfung von<br />

Textverstehen sind diese Aufgabenarten<br />

gleichwohl wenig geeignet.<br />

Dies liegt zuallererst daran,<br />

dass hier der Ausweis der Leseleistung<br />

an die Schreibleistung<br />

gekoppelt und der Test damit<br />

nicht valide ist. 4<br />

Eine sinnvolle <strong>Alternative</strong><br />

bieten vor diesem Hintergrund<br />

Mehrfachwahl- und Kurzantwortaufgaben.<br />

Sie ermöglichen die<br />

Überprüfung jeweils eines relativ<br />

klar bestimmbaren Teilaspekts<br />

von Lesekompetenz und damit<br />

auch eine differenzierte Analyse<br />

der Ergebnisse. Insbesondere bei<br />

Mehrfachwahlaufgaben kommt<br />

als Vorteil hinzu, dass sie schnell<br />

und objektiv auszuwerten sind.<br />

Sie erlauben einen Nachweis der<br />

Leseleistung unabhängig von der<br />

Schreibleistung. Kurzantwortaufgaben<br />

geben im Unterschied zu<br />

globalen Interpretationsaufträgen<br />

den Lernenden einen Orientierungsrahmen<br />

vor, auf welchen<br />

Aspekt zu achten ist. So sind die<br />

Aufgaben auch für leistungsschwächere<br />

Schüler bearbeitbar.<br />

Weder Mehrfachwahl- noch Kurzantwortaufgaben<br />

sind deshalb<br />

40 Deutschunterricht 5 / 2005


zwangsläufig einfache Aufgaben,<br />

wie die Ergebnisse des vorgestellten<br />

Tests zeigen.<br />

Mehrfachwahlaufgaben<br />

formulieren<br />

Bei der Formulierung von Mehrfachwahlaufgaben<br />

sind ein paar<br />

„Faustregeln“ zu beachten. Je<br />

mehr Antworten (Distraktoren)<br />

zur Wahl gestellt werden, desto<br />

geringer ist die Gefahr, dass die<br />

richtige Antwort nur durch Zufall<br />

angekreuzt wird. Im Test zu<br />

Schnitzlers „Krawatte“ wurden<br />

jeweils vier mögliche Antworten<br />

angeboten. Mit dieser Zahl erreicht<br />

man bereits eine recht geringe<br />

Zufallswahrscheinlichkeit.<br />

Gleichzeitig bleibt das Problem<br />

lösbar, die nötige Menge gleich<br />

plausibler Distraktoren zu formulieren.<br />

Grundsätzlich gilt, dass<br />

eine Mehrfachwahlaufgabe umso<br />

schwieriger zu lösen ist, je mehr<br />

sich die einzelnen Distraktoren<br />

ähneln. Liegen die Distraktoren<br />

weit auseinander, vereinfacht das<br />

die Aufgabe. Wichtig ist auch,<br />

dass die Distraktoren in derselben<br />

Kategorie liegen. Für Aufgabe 1<br />

bedeutet das etwa, dass alle Distraktoren<br />

eine „Lehre“ formulieren<br />

müssen. Die Antwort „… welche<br />

Bedeutung die grüne Krawatte<br />

im Leben von Herrn Cleophas<br />

hat“ würde z. B. nicht in diese<br />

durch die einführende Frage festgelegte<br />

Kategorie passen. Aufgabe<br />

1, die auf übergeordnetes Textverständnis<br />

zielt, wurde an den Anfang<br />

des Tests gestellt, um für die<br />

folgenden auf verschiedene Einzelaspekte<br />

bezogenen Fragen einen<br />

allgemeinen Verständnisrahmen<br />

vorzugeben, in den die Lernenden<br />

die Detailbeobachtungen<br />

einordnen können. Innerhalb des<br />

gesamten Tests ist die Position der<br />

richtigen Antworten von Aufgabe<br />

zu Aufgabe zu variieren.<br />

Schwierigkeiten<br />

einschätzen<br />

Ein Test sollte wenige sehr schwierige<br />

und sehr einfache Aufgaben<br />

und in der Mehrzahl Aufgaben<br />

mittleren Schwierigkeitsgrades<br />

enthalten. Dies ist erforderlich,<br />

damit die Ergebnisse aussagekräf-<br />

Deutschunterricht 5 / 2005<br />

tig sind. Wenn nämlich sehr viele<br />

Aufgaben so einfach (schwierig)<br />

sind, dass alle (so gut wie keine)<br />

Teilnehmenden sie lösen können,<br />

schneiden alle annähernd gleich<br />

gut (schlecht) ab. Der Test lässt<br />

dann keine Rückschlüsse zu auf<br />

das tatsächliche Leistungsvermögen<br />

der einzelnen Lernenden.<br />

Um den Schwierigkeitsgrad einer<br />

Aufgabe zum Leseverstehen vorab<br />

theoretisch zu bestimmen, sind u. a.<br />

folgende Kriterien nützlich:<br />

● bei Mehrfachwahlaufgaben:<br />

der Ähnlichkeitsgrad der Distraktoren<br />

(s. o.);<br />

● die Anforderungen an das Vorwissen<br />

(speziell, komplex oder<br />

eher allgemein?);<br />

● der Entscheidungsspielraum,<br />

den eine Aufgabe eröffnet<br />

(ist die Zahl der möglichen<br />

Antworten unbegrenzt – auf<br />

wenige reduziert – auf eine<br />

klar bestimmte Information beschränkt?);<br />

● der geforderte Präzisionsgrad<br />

(detaillierte, fokussierende<br />

oder überfliegende Lektüre?);<br />

● der notwendige Integrationsgrad<br />

(sind viele, voneinander<br />

entfernt liegende Informationen<br />

aus dem Text sinnvoll aufeinander<br />

zu beziehen oder wenige<br />

dicht beieinander liegende<br />

Informationen?). 5<br />

Dabei ist das Zusammenspiel der<br />

genannten Einflussfaktoren zu be-<br />

rücksichtigen. So macht ein niedriger<br />

Entscheidungsspielraum<br />

eine Aufgabe noch nicht einfach,<br />

wenn z. B. der geforderte Integrationsgrad<br />

sehr hoch ist (s. Abb. 3).<br />

Aufg. Nr. Standardbezug geforderte vorab eingeschätzter<br />

(vgl. (vgl. Bildungs- Teilkompetenz Schwierigkeitsgrad<br />

Material- standards für den und Begründung<br />

seiten) Mittleren Schulabschluss)<br />

2 wesentliche Elemente Textbezogenes mittel<br />

eines Textes erfassen: Interpretieren (Entscheidungsspielraum<br />

Konliktverlauf (S. 16) gering bis mittel,<br />

Präzisionsgrad mittel,<br />

Integrationsgrad hoch;<br />

weit auseinander liegende<br />

Distraktoren)<br />

7 wesentliche Elemente Informationen mittel<br />

eines Textes erfassen: ermitteln (Entscheidungsspielraum<br />

Figuren (S. 16) gering bis mittel,<br />

Präzisionsgrad mittel<br />

bis hoch, Integrationsgrad<br />

gering; relativ ähnliche<br />

Distraktoren)<br />

9 eigene Deutungen Reflektieren hoch<br />

des Textes <strong>entwickeln</strong>, und Bewerten (Entscheidungsspielraum<br />

am Text belegen (S. 17) hoch, Präzisionsgrad mittel,<br />

Integrationsgrad hoch)<br />

Abb. 3: Aufgaben aus dem Test zum Text von Schnitzler mit einer Einschätzung ihrer Schwierigkeit.<br />

41


STANDARDS<br />

Testauswertung:<br />

Aufgaben überprüfen<br />

Wie sieht die tatsächliche Schwierigkeit<br />

der Aufgaben aus, gemessen<br />

an der Lösungswahrscheinlichkeit<br />

der jeweiligen Aufgabe?<br />

Bestimmt wird die Lösungswahrscheinlichkeit<br />

über den Mittelwert<br />

der aufgetretenen Aufgabenlösungen.<br />

Dazu wird pro Schüler und<br />

Aufgabe jeweils der Wert „1“ für<br />

gelöst, der Wert „0“ für nicht gelöst<br />

vergeben, bei den offenen<br />

Aufgaben „0,5“ für teilweise gelöst<br />

(vgl. Kasten mit Lösungserwartungen).<br />

Einfach ist die Berechnung<br />

mit Statistikprogrammen<br />

wie SPSS, doch auch die Berechnung<br />

mit Taschenrechner ist<br />

problemlos möglich (dazu pro<br />

Aufgabe die Summe der vergebenen<br />

Werte ermitteln und durch<br />

die Anzahl der Schüler dividieren,<br />

die die Aufgabe bearbeitet<br />

haben). 6 Abb. 4 zeigt die auf diese<br />

Weise bestimmten tatsächlichen<br />

Aufgabenschwierigkeiten des<br />

durchgeführten Tests 7 , für die Gesamtstichprobe<br />

und differenziert<br />

nach den Schularten der teilnehmenden<br />

Schüler. So sind die Aufgaben<br />

1 (Lösungswahrscheinlichkeit<br />

33,85%) und 9 (32,31%)<br />

insgesamt die schwierigsten Aufgaben<br />

im Test. Besonders hervorzuheben<br />

ist, dass Aufgabe 1<br />

diesen Schwierigkeitsgrad trotz<br />

der Vorgabe von Antwortmöglichkeiten<br />

erreicht.<br />

Ungeeignete Aufgaben<br />

aufspüren<br />

Die ermittelten Lösungswahrscheinlichkeiten<br />

ermöglichen<br />

auch, untaugliche Aufgaben aufzuspüren.<br />

Für die am Test teilnehmenden<br />

Klassen – Spezialschüler,<br />

„Durchschnitts“-Gymnasiasten<br />

und Regelschüler – sind begründet<br />

verschiedene Leistungsniveaus<br />

anzunehmen. Die „normalen“<br />

Gymnasiasten müssten die Aufgaben<br />

demnach häufiger lösen können<br />

als die Regelschüler, aber weniger<br />

häufig als die hochbegabten<br />

Spezialschüler. Verdächtig sind<br />

also zum einen Aufgaben, bei de-<br />

Mittel- Gesamt- Gymnasium Gymnasium Regelschule<br />

werte stichprobe ‚spezial’ ‚normal’ ‚Realschulzweig’<br />

Aufgabe Nr.<br />

(n = 66) (n1 = 15) (n2 = 35) (n3 = 16)<br />

1 ,3385 ,4667 ,4118 ,0625<br />

2 ,7273 ,8667 ,7714 ,5000<br />

3 ,5234 ,5333 ,6000 ,3214<br />

4 ,8939 1,000 ,9429 ,6875<br />

5 ,8030 1,000 ,8000 ,6250<br />

6 ,4308 ,6667 ,4706 ,1250<br />

7 ,6615 ,9333 ,6765 ,3750<br />

8 ,6462 ,8667 ,6324 ,4688<br />

9 ,3231 ,5000 ,3529 ,0938<br />

10 ,7121 ,7667 ,7000 ,6875<br />

Abb. 4: Bei einer systematischen Testauswertung<br />

geben die Mittelwerte der Testteilnehmer Auskunft<br />

über die Schwierigkeit der Aufgaben. Je niedriger der<br />

Wert, umso schwieriger ist die Aufgabe.<br />

42<br />

nen alle drei Gruppen (innerhalb<br />

einer Lerngruppe: leistungsstärkste<br />

und leistungsschwächste Lernende)<br />

in etwa gleich gut antworten.<br />

Solche Aufgaben differenzieren<br />

zu wenig und wurden deshalb<br />

aus dem Test entfernt. Ebenso<br />

misstrauisch zu betrachten sind<br />

Aufgaben, bei denen die Lernenden<br />

mit dem insgesamt besten<br />

Testergebnis deutlich schlechter<br />

abschneiden als die Lernenden<br />

mit dem insgesamt schlechtesten<br />

Testergebnis. Auch diese Aufgaben<br />

eignen sich offensichtlich<br />

nicht zur Feststellung des tatsächlichen<br />

Leistungsvermögens und<br />

müssen bei einer künftigen Verwendung<br />

des Test weggelassen<br />

oder modifiziert werden. Genauer<br />

zu prüfen sind schließlich auch<br />

Mehrfachwahlaufgaben, bei denen<br />

einzelne Distraktoren überhaupt<br />

nicht gewählt wurden. Diese<br />

Distraktoren sind für die Lernenden<br />

offenbar nicht hinreichend<br />

plausibel und müssen ggf.<br />

ersetzt oder verändert werden.<br />

Schlussfolgerungen für<br />

die Lernenden ziehen<br />

Wie lässt sich ein solcher Test für<br />

die weitere Unterrichtsplanung<br />

und die Förderung der Lernenden<br />

nutzen? Hierzu ist es nötig, die<br />

Ergebnisse noch etwas genauer zu<br />

betrachten und z. B. zu erheben,<br />

wie häufig welche Antwortmöglichkeiten<br />

gewählt wurden. Für<br />

die Aufgaben 5 und 7 ergibt sich<br />

dabei folgendes Bild: Sechs von<br />

sechzehn Regelschülern wählen<br />

Antwort 5a und 5b, ein Viertel<br />

der Regelschüler/innen kreuzt<br />

Antwort 7a an. Damit offenbaren<br />

diese Lernenden deutliche Defizite<br />

im Wortschatzwissen. „Gemein“<br />

verstehen sie im Sinne von<br />

„fies“, „unangenehm“; „erlauben“<br />

hat für sie mit „dürfen“ zu tun.<br />

Hier bestehen also allem Anschein<br />

nach ganz grundlegende<br />

Hürden für das Verstehen literarischer<br />

Texte. Eine Konsequenz aus<br />

dem Ergebnis könnte gezielte<br />

Wortschatzarbeit sein (Wortfelder<br />

bilden, Synonyme finden, mit Stilebenen<br />

experimentieren).<br />

Interessant ist auch die Beobachtung,<br />

dass die meisten Lernenden<br />

offensichtlich die eigene Lebenswirklichkeit<br />

mit der literarischen<br />

Wirklichkeit identifizieren.<br />

Nur so erklärt sich u. a., dass bei<br />

Aufgabe 1 die Antworten b, c und<br />

d für die Mehrzahl der Schülerinnen<br />

und Schüler wählbar waren.<br />

Diese Distraktoren bieten Antworten<br />

an, die verstärkt die eigenen<br />

Erfahrungen der Lernenden<br />

widerspiegeln. Die Ergebnisse zu<br />

Aufgabe 10 stützen gleichfalls die<br />

angeführte These. Diese Aufgabe<br />

konnte unabhängig von der Wahl<br />

der Antwortmöglichkeit a oder b<br />

gelöst werden. Maßgeblich war<br />

die Qualität der Begründung (vgl.<br />

Kasten). Die meisten Teilnehmenden<br />

entschieden sich für Antwort<br />

a. Diejenigen, die a gewählt haben,<br />

begründen diese Wahl zum<br />

Deutschunterricht 5 / 2005


überwiegenden Teil aus pragmatisch-lebensweltlicher<br />

Perspektive<br />

und ohne Bewusstsein für die Gestaltung<br />

des literarischen Textes,<br />

z. B.: Cleophas sei schließlich unschuldig,<br />

oder: diese Leute, die C.<br />

helfen, hätten Mitleid mit ihm.<br />

Für alle an der Erprobung des<br />

Tests teilnehmenden Klassen erscheint<br />

es demnach sinnvoll, im<br />

Unterricht das Konzept von Literatur/literarischer<br />

Wirklichkeit zu<br />

thematisieren.<br />

✒<br />

Erwartete Lösungen für den Test auf Seite 45<br />

1) Mehrfachwahlaufgaben<br />

1a, 2d, 4b, 5c, 6b, 7d<br />

2) Kurzantwortaufgaben<br />

Aufgabe 3 „Raumgestaltung“<br />

Vollständige Lösung („1“): Es wird erwartet, dass die Korrespondenz<br />

zwischen der gegebenen Information (zurückgezogen<br />

oder nah der Stadt oder evtl. auch „Haus“ für reich,<br />

wohlhabend) und der Sonder-/Außenseiterstellung Cleophas‘<br />

erkannt wird und dieser Zusammenhang mit Bezug auf den<br />

Konfliktverlauf begründet wird.<br />

Teilweise gelöst („0,5“): Hinweis auf Sonder-/Außenseiterstellung/Isolation<br />

wird erkannt, aber es fehlt die Begründung/Erläuterung<br />

mit Bezug auf den Konfliktverlauf.<br />

Nicht gelöst („0“): wörtl. Wiedergabe, Paraphrase, fehlender<br />

Bezug zur gegebenen Information, Allgemeinplatz („soll über<br />

die Lebensumstände von C. informieren“ o. Ä.)<br />

Aufgabe 8 „Motiv“<br />

Vollständige Lösung (1): Neid plus Begründung; es muss<br />

deutlich werden, dass der Neid daher rührt, dass die Leute<br />

mit den Zwirnsfäden es Cleophas nicht gleich tun können.<br />

Teilweise gelöst (0,5): Neid als Motiv wird erkannt, aber es<br />

fehlt die Begründung/Erläuterung; oder: Hinweis auf den<br />

größeren Wohlstand, gepflegtere Erscheinung des C., aber<br />

fehlende Schlussfolgerung (Neid der Leute wegen fehlender<br />

eigener Möglichkeiten)<br />

Nicht gelöst (0): Paraphrase; falsche Begründung („finden<br />

Zwirnsfäden schöner“ o. Ä.); richtige und falsche Begründung<br />

sind gleichberechtigt nebeneinander genannt; fehlender<br />

Bezug zur Frage.<br />

Aufgabe 9 „Titel“<br />

Für vollständige Lösung (1) wird erwartet,<br />

● dass die Identifikation des Cleophas mit dem äußeren<br />

Merkmal der grünen Krawatte erkannt wird;<br />

Autorin<br />

Dr. Iris Winkler ist Wissenschaftliche Assistentin<br />

am Lehrstuhl für Fachdidaktik Deutsch der<br />

Universität Jena. Kontakt: FSU Jena, Institut<br />

für Germanistische Literaturwissenschaft,<br />

Fürstengraben 18, 07740 Jena<br />

Deutschunterricht 5 / 2005<br />

● dass erkannt wird, dass über dieses Merkmal die Abgrenzung<br />

der Leute von Cleophas erfolgt/dass die grüne Krawatte<br />

der Ansatzpunkt aller Vorurteile gegen Cleophas<br />

ist; Meinungsäußerung („geeigneter Titel, weil …“) muss<br />

zumindest implizit erkennbar sein.<br />

Teilweise Lösung (0,5): Die oben angeführten Aspekte werden<br />

nur z. T. angeführt (Meinungsäußerung plus eine der<br />

beiden Begründungen).<br />

Nicht gelöst (0): Grüne Krawatte wird als Nebensächlichkeit<br />

eingestuft; Bedeutung der Krawatte wird nicht erklärt, sondern<br />

nur angemerkt, dass die Krawatte zentraler Gegenstand<br />

ist; falsche Erklärung.<br />

Aufgabe 10 „Fortsetzung“<br />

Die Bewertung der Lösung erfolgt unabhängig davon, welcher<br />

Distraktor gewählt wurde. Die Begründung der Wahl<br />

gehört unbedingt zur Lösung der Aufgabe.<br />

Für vollständige Lösung (1) wird erwartet:<br />

● stimmiger Zusammenhang zwischen der gewählten Variante<br />

und der Begründung<br />

● Bezugnahme der Begründung auf die Gestaltung des Textes,<br />

ggf. implizit Begründung für die Ablehnung der anderen<br />

Variante; z. B.: zu a) Text mit Lehre; aber es soll keine<br />

negative (Variante b), sondern eine positive Lehre geben;<br />

zu b) Konflikt läuft zwingend auf das Unheil hin, permanente<br />

Steigerung, bisher hat sich keiner der Leute für<br />

C. engagiert; a ist deshalb nicht schlüssig.<br />

Teilweise gelöst (0,5): Die Begründung bezieht sich auf die<br />

Motivation der handelnden Figuren (z. B. „haben Mitleid mit<br />

C.“, „sind wütend auf ihn“) oder den Leserwunsch nach<br />

einem Happy-End/das Gerechtigkeitsempfinden des Lesers<br />

(„C. hat doch gar keine Schuld“), ohne dass der parabolische<br />

Charakter oder die Konfliktgestaltung des Textes berücksichtigt<br />

werden.<br />

Nicht gelöst (0): Keine Begründung; Paraphrase des Distraktors.<br />

ANMERKUNGEN UND LITERATUR<br />

ARTELT, CORDULA/STANAT, PETRA/SCHNEIDER, WOLFGANG/SCHIEFELE, ULRICH/LEHMANN,<br />

RAINER: Die PISA-Studie zur Lesekompetenz: Überblick und weiterführende Analysen.<br />

In: SCHIEFELE, ULRICH/ARTELT, CORDULA/SCHNEIDER, WOLFGANG/STANAT, PETRA:<br />

Struktur, Entwicklung und Förderung von Lesekompetenz. Vertiefende Analysen im Rahmen<br />

von PISA 2000. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 139 –168<br />

Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Mittleren Schulabschluss (Jahrgangsstufe 10).<br />

Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 04.12.2003<br />

(www.kmk.org)/schul/Bildungsstandards/Deutsch_MSA_BS_04-12-03.pdf)<br />

BÜHNER, MARKUS: Einführung in die Test- und Fragebogenkonstruktion. München u. a.:<br />

Pearson Studium 2004<br />

KÖSTER, JULIANE: PISA-Aufgaben sind anders. Ein Vergleich mit deutschen Prüfungsaufgaben<br />

und eine Anregung für den Unterricht. In: Praxis Deutsch (2002), H. 176,<br />

abrufbar im Internet unter www.praxis-deutsch.de<br />

1 Abbrufbar im Internet unter www.kmk.org<br />

2 Zum Lesekompetenzmodell von PISA vgl. z. B. ARTELT u. a. (2004), S. 140–144.<br />

Auf das Lesekompetenzmodell von PISA beziehen sich implizit auch die Bildungsstandards<br />

(vgl. z. B. a.a.O., S. 10, 24).<br />

3 Ein Aufgabenbeispiel, das lediglich Anforderungen im Bereich „Informationen ermitteln“<br />

stellt und deshalb als problematisch zu bewerten ist, analysiert Köster (2002).<br />

4 Vgl. ausführlicher Köster (2002).<br />

5 Vgl. ARTELT u. a. (2004), S. 154f.<br />

6 Genauere und doch gut verständliche Informationen zur Bestimmung des Mittelwertes<br />

und Schwierigkeitsindexes finden sich bei Bühner (2003), S. 74, 78/79.<br />

43


44<br />

LEISTUNGSMESSUNG I<br />

COPY<br />

Deutschunterricht<br />

5/2005<br />

Name ____________________________________________________________ Klasse _______________ Datum _________________________<br />

Arthur Schnitzler, „Die grüne Krawatte“ – ein Test zum Leseverstehen<br />

1. Wenn du davon ausgehst, dass hinter dieser Geschichte eine „Lehre“ steckt: Was soll der Text zeigen?<br />

Der Text soll zeigen,<br />

❏ a) wie es zur Ausgrenzung und Verleumdung von Außenseitern kommt.<br />

❏ b) welche Rolle die passende Kleidung für das Ansehen einer Person spielt.<br />

❏ c) welche Folgen es hat, wenn man so tut, als ob man etwas Besseres wäre.<br />

❏ d) dass man es nie allen recht machen kann.<br />

2. Wenn man die Entwicklung des Konfliktes zwischen Cleophas und den Leuten<br />

grafisch darstellen will – welche der folgenden Varianten entspricht am genauesten<br />

dem im Text dargestellten Konfliktverlauf?<br />

a)<br />

c)<br />

Ablehnung Cleophas’ durch die Leute<br />

Ablehnung Cleophas’ durch die Leute<br />

gering hoch<br />

gering hoch<br />

Anfang Zeit<br />

Ende<br />

Anfang Zeit<br />

Ende<br />

3. Im ersten Satz heißt es: „Cleophas wohnte zurückgezogen in seinem Hause nah der Stadt“.<br />

Anfang Zeit<br />

Ende<br />

Wenn du bedenkst, wie die Geschichte weitergeht: Warum ist diese Information für den Leser wichtig?<br />

4. Wofür steht in der Geschichte der Park?<br />

❏ a) Bedürfnis der Menschen nach Erholung ❏ c) Leben in der Natur<br />

❏ b) Öffentlichkeit und Gemeinschaftserleben ❏ d) Bewahrung von Recht und Ordnung<br />

b)<br />

d)<br />

Ablehnung Cleophas’ durch die Leute<br />

Ablehnung Cleophas’ durch die Leute<br />

gering hoch<br />

gering hoch<br />

Anfang Zeit<br />

Ende


LEISTUNGSMESSUNG II<br />

5. Im Text heißt es: „Einige versuchten, es ihm gleichzutun, und legten grüne Krawatten an wie er –<br />

freilich waren sie aus gemeinerem Stoff […]“ (Z. 10).<br />

Welche Erklärung für den unterstrichenen Ausdruck passt?<br />

COPY<br />

Deutschunterricht<br />

5/2005<br />

Die Krawatten der Leute waren<br />

❏ a) aus unangenehm kratzigem Stoff. ❏ c) aus nicht so kostbarem Material.<br />

❏ b) ein Zeichen für schlechten Charakter. ❏ d) von hässlichem Aussehen.<br />

6. Wenn im Text steht „Aber manche waren sehr schlau …“ (Z. 28), bedeutet das,<br />

❏ a) dass diese Leute klüger sind als die anderen.<br />

❏ b) dass diese Leute sich für besonders klug halten.<br />

❏ c) dass diese Leute sich mehr auf ihren Verstand als auf ihre Augen verlassen.<br />

❏ d) dass diese Leute dümmer sind als die anderen.<br />

7. „Besonders gab es eine Gesellschaft von Leuten, der ihre Mittel nichts anderes erlaubten,<br />

als Zwirnsfäden um den Hals zu schlingen.“<br />

Was erfährst du in diesem Teil des Textes (Z. 34–36) über die Leute mit den Zwirnsfäden?<br />

Diese Leute<br />

❏ a) dürfen keine Krawatten tragen. ❏ c) finden Zwirnsfäden schöner als Krawatten.<br />

❏ b) wollen, dass alle Leute Zwirnsfäden tragen. ❏ d) können sich keine Krawatten leisten.<br />

8. Die Leute mit den Zwirnsfäden „hassten überhaupt alle, die Krawatten trugen, und besonders Herrn Cleophas …“<br />

(Z. 40/41). Was ist der Grund für diesen Hass?<br />

9. Der Text trägt den Titel „Die grüne Krawatte“. Findest du, dass das ein passender Titel ist?<br />

Begründe deine Antwort, indem du erklärst, welche Bedeutung die grüne Krawatte in der Geschichte hat.<br />

10. Der Text verrät uns nicht, wie es mit Herrn Cleophas weiter geht.<br />

Wenn du eine Fortsetzung der Geschichte schreiben solltest, welche Variante würdest du wählen?<br />

a) Einige Leute ergreifen Partei für Herrn Cleophas und helfen ihm.<br />

b) Es kommt zu gewaltsamen Ausschreitungen gegen Herrn Cleophas.<br />

Begründe deine Wahl.<br />

45


5<br />

5<br />

10<br />

15<br />

20<br />

25<br />

30<br />

35<br />

LEICHT ODER SCHWER? – SEITE 1<br />

M 1 � Alfred Polgar: Kain und Abel<br />

Abel, wenn er vor den Mordabsichten seines Bruders Kain geflohen<br />

wäre, wäre „Emigrant“ geschimpft worden und hätte<br />

als solcher bittere Unannehmlichkeiten zu erdulden gehabt. Er<br />

wäre sein Leben lang in der Welt herumgelaufen mit dem<br />

Abel-Zeichen auf der Stirn.<br />

Quelle: Klaus Zobel (Hrsg.), Moderne Kurzprosa. Eine Textsammlung<br />

für den Deutschunterricht. Paderborn u. a. 1978 (Schöningh), S. 39<br />

M 2 � Arthur Schnitzler: Die grüne Krawatte<br />

Ein junger Herr namens Cleophas wohnte zurückgezogen in<br />

seinem Hause nah der Stadt. Eines Morgens wandelte ihn die<br />

Lust an, unter Menschen zu gehen. Da kleidete er sich wohlanständig<br />

an wie immer, tat eine grüne Krawatte um und begab<br />

sich in den Park. Die Leute grüßten ihn höflich, fanden, dass<br />

ihm die grüne Krawatte vorzüglich zu Gesicht stehe, und sprachen<br />

durch einige Tage mit viel Anerkennung von der grünen<br />

Krawatte des Herrn Cleophas. Einige versuchten, es ihm gleichzutun,<br />

und legten grüne Krawatten an wie er –<br />

freilich waren sie aus gemeinerem Stoff und ohne<br />

Anmut geknüpft.<br />

Bald darauf machte Herr Cleophas wieder<br />

einen Spaziergang durch den Park, in<br />

einem neuen Gewand, aber mit der gleichen<br />

grünen Krawatte. Da schüttelten<br />

einige bedenklich den Kopf und sagten:<br />

„Schon wieder trägt er die grüne Krawatte<br />

… Er hat wohl keine andere …“ Die etwas<br />

nervöser waren, riefen aus: „Er wird uns noch zur<br />

Verzweiflung bringen mit seiner grünen Krawatte!“<br />

Als Herr Cleophas das nächste Mal unter die<br />

Leute ging, trug er eine blaue Krawatte. Da riefen<br />

einige: „Was für eine Idee, plötzlich mit einer blauen<br />

Krawatte daherzukommen?“ Die Nervöseren<br />

aber riefen laut: „Wir sind gewohnt, ihn mit einer<br />

grünen zu sehen! Wir brauchen es uns nicht gefallen<br />

zu lassen, dass er heute mit einer blauen erscheint!“<br />

Aber manche waren sehr schlau und sagten:<br />

„Ah, uns wird er nicht einreden, dass diese<br />

Krawatte blau ist. Herr Cleophas trägt sie, und daher<br />

ist sie grün.“<br />

Das nächste Mal erschien Herr Cleophas, wohlanständig<br />

gekleidet wie immer, und trug eine Krawatte<br />

vom schönsten Violett. Als man ihn von weitem<br />

kommen sah, riefen die Leute höhnisch aus: „Da kommt<br />

der Herr mit der grünen Krawatte!“<br />

Besonders gab es eine Gesellschaft von Leuten, der ihre<br />

Mittel nichts anderes erlaubten, als Zwirnsfäden um den Hals<br />

zu schlingen. Diese erklärten, dass Zwirnsfäden das Elegan-<br />

COPY<br />

Deutschunterricht<br />

5 / 2005<br />

40 teste und Vornehmste seien, und hassten überhaupt alle, die<br />

Krawatten trugen und besonders Herrn Cleophas, der immer<br />

wohlanständig gekleidet war und schönere und besser geknüpfte<br />

Krawatten trug als irgendeiner. Da schrie einmal der<br />

Lauteste unter diesen Menschen, als er Herrn Cleophas des<br />

45 Weges kommen sah: „Die Herren mit der grünen Krawatte<br />

sind Wüstlinge!“ Herr Cleophas kümmerte sich nicht um ihn<br />

und ging seines Weges.<br />

Als Herr Cleophas das nächste Mal im Park spazieren<br />

ging, schrie der laute Herr mit dem<br />

50 Zwirnsfaden um den Hals: „Die Herren<br />

mit der grünen Krawatte sind Diebe!“<br />

Und manche schrieen mit. Cleophas<br />

zuckte die Achseln und dachte, dass es<br />

mit den Herren, die jetzt grüne Krawat-<br />

55 ten trugen, doch weit gekommen sein<br />

müsste. Als er das dritte Mal wieder kam,<br />

schrie die ganze Menge, allen voran der<br />

laute Herr mit dem Zwirnsfaden um den<br />

Hals: „Die Herren mit der grünen Krawat-<br />

60 te sind Meuchelmörder!“ Da bemerkte<br />

Cleophas, dass viele Augen auf ihn gerichtet<br />

waren. Er erinnerte sich, dass er auch<br />

öfters grüne Krawatten getragen hatte,<br />

trat auf den Gesellen mit dem Zwirnsfaden zu und<br />

65 fragte: „Wen meinen Sie denn eigentlich? Am Ende<br />

mich auch?“ Da erwiderte jener: „Aber, Herr Cleophas,<br />

wie können Sie glauben –? Sie tragen doch<br />

gar keine grüne Krawatte!“ Und er schüttelte ihm<br />

die Hand und versicherte ihn seiner Hochachtung.<br />

70 Cleophas grüßte und ging. Aber als er sich in gemessener<br />

Entfernung befand, klatschte der Mann<br />

mit dem Zwirnsfaden in die Hände und rief: „Seht<br />

ihr, wie er sich getroffen fühlt? Wer darf jetzt noch<br />

daran zweifeln, dass Cleophas ein Wüstling, Dieb und Meu-<br />

75<br />

chelmörder ist?!“<br />

Quelle: Klaus Zobel (Hrsg.), Moderne Kurzprosa. Eine Textsammlung<br />

für den Deutschunterricht. Paderborn u. a. 1978 (Schöningh), S. 40– 41

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