Krieg! AIDS! Katastrophen! - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Diskursive Widersprüche 259<br />
Argumenten der Teilnahme, ja der Teilhabe unterlaufen werden, wodurch die<br />
Müllersche These der bewußten Unengagiertheit selbst in dieser Hinsicht viel<br />
von ihrer forcierten Überzeugungskraft verliert. So geht er zwar mit der Anfangs-<br />
und Aufbauphase der DDR, in der Müller als junger Autor noch schwer<br />
um Existenz und Anerkennung zu ringen hatte, zum Teil recht scharf ins Gericht<br />
und äußert sich erbittert über die vielen Brotarbeiten, die ihn damals von eigenen<br />
Arbeiten abgehalten hätten. Allerdings betrifft diese Kritik meist nur die Beschränktheit<br />
der unteren Chargen, während Müller die Parteigrößen eher verschont.<br />
Vor allem Ulbricht erscheint in diesen Abschnitten nicht nur negativ,<br />
sondern auch als eine geradezu tragisch umwitterte Figur, die über ein Volk von<br />
»Feinden« regieren mußte. Als die DDR-Autoren, mit der Ausnahme von Peter<br />
Hacks, 1961 <strong>für</strong> seinen Ausschluß aus dem Schriftstellerverband gestimmt hätten,<br />
soll Ulbricht, wie Müller berichtet, nachträglich gesagt haben, daß er in einem solchen<br />
Fall nicht <strong>für</strong> »Ausschluß«, sondern nur <strong>für</strong> »Erziehung« eingetreten wäre (182).<br />
Daß er überhaupt über diese schwierigen Jahre hinweggekommen sei, führt<br />
Müller vor allem auf den Einfluß Brechts zurück. »Mein Parteiergreifen <strong>für</strong> die<br />
DDR«, heißt es in diesem Zusammenhang, »hing mit Brecht zusammen. Brecht<br />
war die Legitimation, warum man in der DDR sein konnte. Das war ganz wichtig.<br />
Weil Brecht da war, mußte man bleiben. Damit gab es einen Grund, das<br />
System grundsätzlich zu akzeptieren. Brecht war das Beispiel, daß man Kommunist<br />
und Künstler sein konnte.« (112) Ebenso positive Worte findet er <strong>für</strong> Helene<br />
Weigel, die ihn vor allem darin bestärkt habe, nach der scharfen Verurteilung des<br />
Dramas »Die Umsiedlerin« zur Beschwichtigung der SED eine »Selbstkritik« zu<br />
schreiben.<br />
Fast noch einsichtsvoller äußert sich Müller über die letzte Phase der DDR, in<br />
der er - auf Grund der repressiven Toleranz des Staates - zu einem geachteten<br />
Autor aufstieg und schließlich 1987 sogar den Nationalpreis erhielt. Wie viele<br />
andere DDR-Kommunisten sah er in diesen Jahren in Gorbatschows Reformprogramm<br />
ein »Hoffnungssignal <strong>für</strong> das scheiternde Unternehmen 'Sozialismus'«<br />
(348). Da<strong>für</strong> sprechen die ersten Teile seiner Szenenfolge »Wolokolamsker<br />
Chaussee«, die er 1987 sogar Honecker zur Prüfung vorlegte (349). In<br />
Abwandlung der bekannten Marxschen Devise, »Sozialismus oder Barbarei«,<br />
bekannte er sich jetzt zu der Maxime »Untergang oder Barbarei« (348), bis er<br />
mitansehen mußte, wie sich die DDR immer stärker in ein »Mausoleum« verwandelte,<br />
in dem die Toten ihre Toten bestatteten. Dennoch hätte es Müller<br />
unwürdig gefunden, diesen Staat zu verlassen oder offen gegen ihn zu agitieren.<br />
Selbst als das Ende des Kalten <strong>Krieg</strong>s im Spätherbst 1989 endgültig zur Auflösung<br />
der DDR führte, deren einzige Identität der zwanghaft eingeführte Sozialismus<br />
war, ohne den sie sang- und klanglos in der ökonomisch allmächtigen<br />
Bundesrepublik aufgehen mußte, wurde er nicht zum Thersites seines Staates,<br />
sondern beharrte auf provozierend linken Standpunkten. So rief er am 4. November<br />
1989 auf der großen Alexanderplatz-Demonstration nicht zum Sturz des<br />
Regimes, sondern zur »Gründung unabhängiger Gewerkschaften« auf, welche<br />
die »Interessen der Arbeiter gegen Staat und Partei« vertreten sollten, und stellte<br />
sich selbst als einen jener Privilegierten hin (355), den die Partei bewußt von den<br />
Werktätigen ferngehalten habe.<br />
DAS ARGUMENT 198/1993 ©