Krieg! AIDS! Katastrophen! - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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258 lost Hermand<br />
zutreffen, gilt jedoch keineswegs <strong>für</strong> seine frühen Texte, in denen eine eindeutig<br />
sozialistische Perspektive vorherrscht, die sich selbst mit noch so viel echter<br />
oder vorgetäuschter Schnoddrigkeit nicht hinauseskamotieren läßt. »Meine<br />
Werke sind meine Wächter«, notierte sich Brecht während des Zweiten Weltkriegs,<br />
als er wegen der deutschen Siege vorübergehend von resignierten Stimmungen<br />
heimgesucht wurde. Müller, der sonst den gesamten Brecht auswendig<br />
kennt, hätte diesen Satz nicht vergessen dürfen. Schließlich gibt er in dieser<br />
Autobiographie - wenn auch arg verquält und mit »gesträubten Haaren« - zu,<br />
daß er in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren nicht nur ein Hörspiel<br />
verfaßt habe, in dem es um »die Entlarvung eines bösen Buchhalters, der <strong>für</strong> den<br />
Klassenfeind sabotiert« (56), gegangen sei, sondern auch seinen »Klettwitzer<br />
Bericht« <strong>für</strong> die Parteizeitschrift Einheit (144), ein »proletarisches Fest- und Weihespiel<br />
mit Arbeiterchören und Tanzgruppen zur Eröffnung der Werner-Seelenbinder-Halle«<br />
(85), Nachdichtungen ausländischer »Stalin-Hymnen« <strong>für</strong> den<br />
Zentralrat der FDJ (117), auf Veranlassung Paul Dessaus einen »Text auf Lenin«<br />
<strong>für</strong> das Neue Deutschland und schließlich sein Aufbaustück »Der Lohndrücker«<br />
<strong>für</strong> das Sonderheft Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung in der deutschen Literatur<br />
der Zeitschrift Neue deutsche Literatur, das als Werk des »Sozialistischen<br />
Realismus« mit dem Heinrich-Mann-Preis der DDR ausgezeichnet worden sei.<br />
Ein zentrales Beispiel <strong>für</strong> dieses frühe Engagement, das Müller bei dieser Aufzählung<br />
nur am Rande erwähnt, ist das mit Hagen Stahl verfaßte Drama »Zehn<br />
Tage, die die Welt erschüttern«, das er 1957 zur vierzigsten Wiederkehr der<br />
Sowjetischen Oktoberrevolution schrieb und das mit großem Erfolg an der<br />
"volksbühne« aufgeführt wurde. Es gibt wohl kaum ein DDR-Drama dieser<br />
Jahre, das sich so eindeutig zum Kommunismus bekennt wie dieses, sowohl<br />
inhaltlich als auch sprachlich zu den besten Werken des jungen Müller zählt und<br />
an Komplexität der Fragestellungen selbst den »Lohndrücker« streckenweise<br />
übertrifft. Dieses Stück schließt mit einer Ansprache, in der sich Lenin, ohne ein<br />
Blatt vor den Mund zu nehmen, nachdrücklich <strong>für</strong> eine Parteiliteratur und Parteipresse<br />
ausspricht sowie im Hinblick auf die noch zu leistende Revolution jede<br />
falsche Toleranz liberalen Abweichlern gegenüber schärfstens ablehnt. »Wir<br />
denken nicht daran«, erklärt Lenin im letzten Satz dieses Stücks, »uns dem Ultimatum<br />
kleiner Intellektuellengruppen zu unterwerfen, hinter denen keine Massen<br />
stehen.«<br />
Die gleiche Parteilichkeit wie auch der gleiche Realismus, die bei den Hauptforderungen<br />
einer marxistischen Ästhetik, zeichnet auch Müllers Stücke »Die<br />
Korrektur«, »Die Umsiedlerin«, »Der Bau« und »Zement« aus, die sich zwar in<br />
äußerst provozierender Form mit den Schwierigkeiten beim Aufbau des Sozialismus<br />
auseinandersetzen, aber dabei keineswegs auf jene Utopie verzichten, der<br />
Müller in der Zeile »Ich bin der Ponton zwischen Eiszeit und Kommune« seine<br />
prägnanteste Formulierung gab.<br />
Es sind nicht nur Müllers frühe Werke, die gegen die These seiner absoluten<br />
U nengagiertheit sprechen. Auch seine Art der Auseinandersetzung mit dem Phänomen<br />
»DDR-Sozialismus« steckt voller versteckter und offener Widersprüche.<br />
Man braucht kein geschulter Diskursanalytiker zu sein, um zu sehen, daß auch<br />
auf diesem Gebiet die kritisch-distanzierenden Argumente immer wieder von<br />
DAS ARGUMENT 19811993 ©