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Krieg! AIDS! Katastrophen! - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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Jost Hermand<br />

Diskursive Widersprüche<br />

Fragen an Heiner Müllers »Autobiographie«*<br />

255<br />

Wer hätte von Heiner Müller, einem Dramatiker, dessen Werke in den letzten<br />

fünfzehn Jahren immer kürzer, immer »geballter« wurden, und der schließlich<br />

ganz verstummte, eine Autobiographie von 373 Seiten erwartet? Doch im gleichen<br />

Zeitraum sind viele Dinge geschehen, die fast niemand erwartet hätte: nicht nur<br />

die unaufhaltsame Kanzlerschaft Helmut Kohls, sondern auch das Wiedererstarken<br />

des deutschen Nationalismus, die Ausländerfeindschaft, der Zusammenbruch<br />

der DDR, die rapide Ausdünnung der Ozonschicht, das Sterben der Wälder<br />

- und die daraus resultierende Lähmung der früher so aktiven, auf Sozialisierung<br />

oder zumindest verstärkte Demokratisierung drängenden linken bis<br />

linksliberalen Intelligenz. Angesichts dieser Situation, in der alles - trotz der<br />

immer noch glänzenden Wohlstandsfassade unserer Bundesrepublik - aus den<br />

Fugen zu geraten droht, ist es in dieser Intelligenz, wie wir wissen, zu verbreiteten<br />

Posthistoire-Stimmungen und allen damit verbundenen Rückzügen ins<br />

Private, Eigene, Autobiographische gekommen. Zugegeben, Formen des Überindividuellen,<br />

Engagierten, Solidarischen, die innerhalb dieser Schicht in den<br />

sechziger und frühen siebziger Jahren propagiert wurden, waren damals schon<br />

schwach und gingen häufig genug auf persönliche Frustrierungen zurück. Aber<br />

es gab sie wenigstens - und sie übten auch eine gewisse Wirkung aus. Dagegen<br />

gelten jetzt, auf Grund der jüngsten Entwicklungen fast alle bisherigen Formen<br />

des Engagements als »out«. An ihre Stelle ist bei vielen eine ldeologie-, Staatsund<br />

Systemverdrossenheit getreten, die im Zuge des allgemeinen Werteverlusts<br />

nur noch das U nengagierte - meist das betont Egoistische, Materialistische, Karrierebetonte<br />

oder bestenfalls Psychologische, Geschlechtsspezifische, Biologische<br />

- als einzige Möglichkeit eines authentischen Verhaltens anerkennt. Während<br />

dieser fortschreitende Sinnverfall von manchen Vertretern sogenannter<br />

Postmoderne-Konzepte als endlich erreichte »Mündigkeit« ausgegeben wird,<br />

sehen andere, noch immer halbwegs Engagierte, in dieser Reduzierung auf das<br />

Selbst lediglich Formen einer betont unsolidarischen Haltung, die auf jeden politischen<br />

Aktivismus verzichtet und damit den Herrschenden geradewegs in die<br />

Hände spielt.<br />

Auch Heiner Müller, schon längst ein gesamtdeutscher und kein ostdeutscher<br />

Autor mehr, folgt diesem Trend bereits seit vielen Jahren. Auch bei ihm waren<br />

anfanglieh, bei aller Vorliebe <strong>für</strong> Krasses, Gewaltsames, Schockierendes, in seinen<br />

Werken unleugbar sozialistische Elemente vorherrschend, an deren Stelle<br />

jedoch seit Mitte der siebziger Jahre in zunehmendem Maße eine subjektiv-surrealistische,<br />

biologisch-geschlechtsspezifische, mythologisch -literarische, gegenaufklärerisch-poststrukturalistische,<br />

d.h. jede Möglichkeit eines historischen<br />

* Heiner Müller: <strong>Krieg</strong> ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Kiepenheuer & Witsch,<br />

Köln 1992 (424 S., Ln., 45,- DM).<br />

DAS ARGUMENT 19811993 ©

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