Krieg! AIDS! Katastrophen! - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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224 Paul M. Sweezy/Harry Magdoff<br />
dieser nicht die Dynamik erfassen, die am Werk war. Und im Laufe der Zeit<br />
paßte beides immer weniger zusammen. Das kapitalistische Wirtschaftssystem<br />
wandelte sich immer schneller, und hauptsächlich aus ideologischen Gründen<br />
beließen die Ökonomen das Schulbuchmodell im wesentlichen unverändert.<br />
Heute, anderthalb Jahrhunderte später, führt der Versuch, die herkömmliche<br />
Überzeugung, wie sie diesem Modell innewohnt, <strong>für</strong> das Verständnis der Funktionsweise<br />
des kapitalistischen Systems zu nutzen, zu jener Art von Verwirrung<br />
und Frustration, wie sie zu einem Charakteristikum der vorherrschenden<br />
Ansätze geworden ist, sich die Vorgänge der letzten Jahre zu erklären.<br />
Soviel als erläuternde Einleitung. Wir wollen nun versuchen, die wirkliche<br />
Geschichte des Kapitalismus auf eine Art zu skizzieren, die dabei helfen kann,<br />
unseren gegenwärtigen Standort und die Richtung, in die wir uns bewegen, zu<br />
verstehen. Zunächst ist es notwendig, sich klar zu machen, daß die Triebfeder<br />
des Kapitalismus schon immer die Akkumulation von Kapital gewesen ist und es<br />
auch immer sein wird. D.h. die Erwirtschaftung und Reinvestierung von Profit<br />
plus den Ersparnissen und Anlagen aus den Einkommen derer, die mehr Geld<br />
haben, als zur Befriedigung ihrer Konsumbedürfnisse nötig ist. Zu diesen Quellen,<br />
aus denen sich die Mittel <strong>für</strong> Investitionen speisen, muß man noch die Banken<br />
und andere Formen der Kreditvergabe hinzurechnen, die von <strong>Institut</strong>ionen und<br />
Praktiken geschaffen worden sind, die es schon lange vor der Entstehung des<br />
Kapitalismus als einer Wirtschaftsordnung gab. Alles zusammen genommen -<br />
Unternehmensprofit, Ersparnisse aus verfügbaren Individualeinkommen und<br />
die institutionalisierte Kreditvergabe - ergibt das Angebot an Kapital.<br />
Die Definition der Nachfrage nach Kapital, im Vergleich zum Angebot an<br />
Kapital, erweist sich als weitaus komplizierter und sperriger. Von Anfang an<br />
haben die Ökonomen darum gerungen, und oft endeten sie dabei bei übertriebenen<br />
Vereinfachungen und Plattheiten. Wir können hier nur auf die Hauptbestandteile<br />
der Nachfrageseite der Gleichung hinweisen und ihre sich verschiebende<br />
relative Bedeutung im Gesamtverlauf der kapitalistischen Geschichte betonen.<br />
Zuerst, und das ist das Wichtigste, darf man auf keinen Fall aus den Augen verlieren,<br />
was klar ersichtlich sein sollte, jedoch allzu oft vollkommen vernachlässigt<br />
wird: nämlich daß die allmähliche Verwandlung einer größtenteils ländlichen<br />
Agrargesellschaft in eine in hohem Maße urbanisierte Industriegesellschaft<br />
an und <strong>für</strong> sich eine riesige Kapitalnachfrage erzeugte, und zwar über den<br />
gesamten Zeitraum, in dem sich dieser Prozeß vollzog; d.h. ungefähr zwischen<br />
dem Ende des 18. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Natürlich umfaßte das<br />
nicht nur den Bau von Fabriken und Industriekomplexen, wo es vorher keine<br />
gab, sondern auch das Erschließen neuer Territorien, die Entwicklung angemessener<br />
Transportmittel und die Unterbringung einer rasch anwachsenden Bevölkerung,<br />
wozu ungeheuer viel Kapital nötig war. Vor diesem Hintergrund gesehen,<br />
überrascht es nicht, daß die volkswirtschaftliche Fibel jener Zeit, Alfred<br />
Marshalls Principles oi Economics (1890) - bei weitem das herausragende Beispiel<br />
-, die Nachfrage nach Kapital als im Grunde stabil und unproblematisch<br />
ansah.<br />
Die Ökonomen jener Zeit erkannten jedoch nicht, daß diese Stabilität der<br />
Kapitalnachfrage keines dem Kapitalismus als solchem innewohnendes Merkmal<br />
DAS ARGUMENT 198/1993 ©