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Krieg! AIDS! Katastrophen! - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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Perspektiven nach dem Scheitern der "Schocktherapie« in Rußland 191<br />

die gesellschaftlichen Beziehungen und ersetzte sie durch eine vertikale administrative<br />

Struktur. ?? Jeder Interessenartikulation, ausgehend von innergesellschaftlichen<br />

Positionen, wurde damit der Boden entzogen, die Gesellschaft<br />

amorph. ?? Die totalitäre Gesellschaft konnte keine Staatsbürger brauchen, sie<br />

verlangte Untertanen, keine citoyens, sondern Subjekte. Die staatspaternalistisehe<br />

Gleichmacherei erstickte die Initiative. Ein Vorrang öffentlicher Interessen<br />

konnte sich nicht öffentlich herausbilden, wurde statt dessen propagandistisch<br />

und repressiv behauptet und dadurch ritualisiert. Die Entwicklung geriet so endgültig<br />

in ein korporatistisches Fahrwasser, statt die Fundamente einer wirklich<br />

staatsbürgerlichen oder zivilgesellschaftlichen Orientierung zu legen. Die hiermit<br />

angedeutete spezifische Eigenart des russischen Totalitarismus als eines<br />

kasernenmäßigen Quasisozialismus verlangt auch einen spezifischen Weg <strong>für</strong><br />

den Übergang zur Demokratie. In anderen Ländern, wo unter sowjetischer<br />

Hegemonie Formen des Privateigentums bewahrt worden waren, blieben auch<br />

einige zivilgesellschaftliche Strukturen am Leben, an die beim Übergang angeknüpft<br />

werden konnte. In Rußland dagegen ist der Boden <strong>für</strong> Zivilgesellschaft<br />

und Demokratie heute weithin von den Trümmern des Totalitarismus bedeckt.<br />

Noch immer ist die Sozialstruktur bestimmt durch eine amorphe Verfassung in<br />

sozialer und klassenmäßiger Hinsicht. Es gibt keine stabile Grundlage <strong>für</strong> ein<br />

Parteiensystem. Parteien werden oft auf Basis künstlicher Elemente wie Führer<br />

oder Privatinteressen gebildet. Es sind dies hauptsächlich Quasiparteien, und es<br />

ist verfrüht, in Rußland von einem Mehrparteiensystem zu sprechen. Die<br />

Unreife von ziviler und politischer Gesellschaft führen zur massenhaften Ausbreitung<br />

von Politikenthaltung, was von einigen Soziologen fälschlich als Indiz<br />

<strong>für</strong> ein niedriges Niveau sozialer Spannungen interpretiert wird. Politische Passivität<br />

und Gleichgültigkeit bedeuten häufig Ablehnung der amtlichen Politik.<br />

Soziale Spannungen werden solange nicht in direkte Protestakte umgesetzt, als<br />

die Behörden die Existenz korporativer und regionaler »toter« Zonen dulden, wo<br />

ihre Entscheidungen nicht ausgeführt werden. Sollte es aber auch nur die geringste<br />

Beeinträchtigung dieser »privaten« Souveränität geben, kann die latente Form<br />

sozialer Spannung rasch in eine offene und aggressive Form umschlagen. Da<br />

nicht strukturelle ökonomische Interessen die politischen Zusammenhänge verstärken,<br />

beherrscht politischer Klientismus das Feld, Gruppensolidarität, die<br />

durch persönliche Loyalität gegenüber einem charismatischen Führer und durch<br />

Mitgliedschaft in seinem Team gewährleistet ist. Damit sind autoritäre Elemente<br />

ins Fundament politischer Loyalitäten eingebaut.<br />

So gibt es keinerlei Automatik oder Prädeterminiertheit eines Weges in Richtung<br />

auf mehr Demokratie. Eine Vorhersage, was aus den Konfrontationen und<br />

Kapitalverhältnissen entspringt, ist unter diesen Umständen unmöglich. Die Instabilität<br />

wird anhalten, bis der schmerzhafte und vermutlich im Zick-Zack verlaufende<br />

Prozeß eine normale Zivilgesellschaft hervorbringt, bis ein stabiles<br />

politisches System mit klarer Gewaltenteilung und Verteilung von Machtfunktionen<br />

zwischen dem Zentrum und den Regionen auftaucht. Eine unmittelbare<br />

Kernfrage heute ist aber die der Aufrechterhaltung und Entwicklung von Staatlichkeit:<br />

Aufrechterhaltung, denn sie ist in Auflösung begriffen; Entwicklung,<br />

denn sie bedarf tiefgehender Reformen. Ein Hauptproblem der demokratischen<br />

DAS ARGUMENT 198/1993 ©

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