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Krieg! AIDS! Katastrophen! - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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188 Yuri Krasin<br />

Kurz, die »Schocktherapie« hat nicht stattgefunden in Rußland. Mit dem<br />

Regierungswechsel ist es nicht getan. Die Regierung Gajdar vermochte die neoliberale<br />

Wirtschaftsdoktrin nicht konsistent umzusetzen und mußte in der Praxis<br />

den Rückzug antreten. Die »Schocktherapie« erstickte an einer Welle von Widersprüchen,<br />

die sie selbst hervorgebracht hatte. Im Scheitern der Strategie des<br />

schnellen Durchbruchs zum Markt lag eine unerbittliche Konsequenz. Bereits<br />

vor Gajdars Rücktritt wurde die Wirtschaftsreform zurückgefahren, begann die<br />

partielle Wiederherstellung der zerstörten staatlichen Regulierungsmechanismen,<br />

wurden die sozialen Puffer aktiviert, um die Folgen des Schocks <strong>für</strong> die<br />

Bevölkerung abzumildern.<br />

Die Frage stellt sich, warum all diese Umstände nicht zu Beginn der Reform<br />

berücksichtigt wurden, um den konservativen Kräften, die zu autoritären Verhältnissen<br />

zurückwollten, nicht solche Trümpfe an die Hand zu geben. Natürlich<br />

riecht die nachträgliche Kritik am Handeln der Regierung in einer derart komplizierten<br />

Lage immer etwas nach Dogmatismus. Aber mit der Episode der<br />

»Schocktherapie« verhält es sich offensichtlich anders. Sie ist selbst die schlichte<br />

Konsequenz einer dogmatischen Ideologisierung der Situationsanalyse und ein<br />

Forcieren einer kritiklosen Umsetzung des neoliberalen Musters des Übergangs<br />

zu Marktwirtschaft, die den russischen Bedingungen unangemessen ist. Das<br />

Mißgeschick der Schockpolitik rührt daher, daß sie nicht vom Leben, sondern<br />

von der Lehre ausgeht. Und diese Lehre hat ihre historischen Grenzen und läßt<br />

sich nicht überall anwenden. Keine Ökonomie der Welt entwickelt sich in Übereinstimmung<br />

mit dem neoliberalen Modell Hajeks - nämlich als spontaner Prozeß<br />

ohne irgendeine Einmischung des Staates. Der Komplex einer modernen<br />

Volkswirtschaft braucht ebenso wie das private Unternehmen staatliche Unterstützung<br />

und Regulierung. Eine der Staatsfunktionen in der Übergangsperiode<br />

besteht darin, <strong>für</strong> rechtliche und machtmäßige Rahmenbedingungen zur Etablierung<br />

einer Zivilgesellschaft und eines stabilen demokratischen Systems zu sorgen.<br />

Der populäre Mythos, daß Demokratie von selbst aus Marktbeziehungen<br />

entspringen wird, findet nirgendwo Bestätigung. Einzig das Monopol, das Diktat<br />

der Mächtigen, entspringt von selbst aus den Marktbeziehungen. Die Bändigung<br />

der Marktspontaneität, Neutralisierung seiner Grausamkeit und Erbarmungslosigkeit<br />

und Bildung eines zivilisierten Marktes erfolgt, wie die Erfahrung der<br />

westlichen Länder zeigt, im Verlauf eines politischen Prozesses, vermittelt durch<br />

den Kampf sozialer Kräfte um Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Der zivilisierte<br />

Markt des Westens hat Jahrhunderte aktiven Wirkens der Arbeiterklasse<br />

und der demokratischen Bewegungen hinter sich. Die Befreiung des Marktes von<br />

jeglicher staatlichen Schranke wird nicht zur Demokratie, sondern weg von ihr<br />

führen, indem sie die Gesellschaftsmitglieder ins Medium der Privatinteressen<br />

wirft und ihnen jede zivile Orientierung nimmt.<br />

Erfolge hatte der Neoliberalismus in den achtziger Jahren in den entwickelten<br />

kapitalistischen Ländern. Das neue Stadium der technologischen Revolution,<br />

das damals begann, machte größere Freiheitsräume <strong>für</strong> die Subjekte der Produktion<br />

(<strong>für</strong> Unternehmer wie <strong>für</strong> Arbeiter) nötig, und dieses Bedürfnis lief den rigiden<br />

Formen des Staatseingriffs zuwider, die sich im Rahmen des sozialstaatlichen<br />

Keynesianismus herausgebildet hatten. Die wirtschaftsliberale Konzeption<br />

DAS ARGUMENT 198/1993 ©

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