Krieg! AIDS! Katastrophen! - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Perspektiven nach dem Scheitern der "Schocktherapie« in Rußland 187<br />
Produktionsrückgang mit monopolistischen Preiserhöhungen aufwog. Und sie<br />
wurden auf sich selbst zurückgeworfen.<br />
Inzwischen wurde der »wilde Markt« zum bevorzugten Wachstumsterrain<br />
nicht etwa der unternehmerischen Initiative, sondern eines räuberischen<br />
Gewinnstrebens-um-jeden-Preis. Den Umfragen zufolge orientieren sich 66<br />
Prozent der russischen Manager an ihrem Privatinteresse, und nur 9 Prozent ziehen<br />
die gesellschaftlichen Folgen ihres Handeins in Betracht. Den unter solchen<br />
Bedingungen sich herausbildenden russischen Arbeitgebern sind Motive sozialer<br />
Gerechtigkeit fremd. Ihre Einstellungen sind rigider und konservativer als die<br />
der strengsten westlichen Neoliberalen. Reaganismus und Thatcherismus nehmen<br />
sich vor dem Hintergrund ihrer Vorstellungen und Haltungen geradezu<br />
sozial aus.<br />
Die anti sozialen Aspekte des »wilden Marktes« und die rasch fortschreitende<br />
Polarisierung der Bevölkerung geraten in akuten Widerspruch zu sozialpsychologischen<br />
Mustern des Massenbewußtseins, die sich historisch in der russischen<br />
Gesellschaft herausgebildet haben und in denen Vorstellungen von sozialer<br />
Gleichheit und Gerechtigkeit akkumuliert sind. Sozialer Sprengstoff häuft sich,<br />
der zu bewirken droht, daß die politische Kultur der Konfrontation, die in Rußland<br />
mehr als einmal zu nationalen Krisen und Revolutionen geführt hat, sich auf<br />
neuer Grundlage reproduziert.<br />
Auch das Privatisierungsprogramm ist im Kontext der SchoCk-Strategie deformiert<br />
worden. Um so schnell wie möglich breite besitzende Schichten zu schaffen,<br />
beschloß die Regierung, an alle Bürger Anrechtscheine auf einen gewisssen<br />
Teil des Staatseigentums auszugeben. Sie tat dies aber überstürzt, und das Programm<br />
geriet zur Karikatur. Wegen der hohen Inflation, der allgemeinen Verarmung<br />
und mangels klarer Veranlagungskriterien <strong>für</strong> die Werte und den Modus<br />
ihrer Privatisierung konnten die Anteilscheine nicht als Äquivalente eines Eigentumstitels<br />
fungieren. Sie wurden zum zusätzlichen Zahlungsmittel und haben<br />
nur die Geldmenge enorm aufgebläht. Das Aufkaufen der im Wert sinkenden<br />
Anteilscheine eröffnet außerdem die Perspektive ihrer Umfunktionierung in<br />
Mittel zur Konzentration von privatisiertem Staatseigentum in der Hand einer<br />
kleinen Gruppe monopolistischer Privatbesitzer.<br />
Die »Schocktherapie« war ein schwerer Schlag <strong>für</strong> die Kultur. Alle bisherige<br />
Erfahrung der Welt zeigt, daß geistige Grundwerte, Wissenschaft, Kunst sich<br />
nicht in das Prokrustesbett des Marktes zwängen lassen. Der Übergang von der<br />
Staatswirtschaft zum Markt verlangt die Entwicklung eines staatlichen Maßnahmenpakets<br />
zum Schutz und zur Förderung kultureller Werte und zur Bereitstellung<br />
der da<strong>für</strong> nötigen Mittel. Das Regierungsprogramm bewegte sich strikt auf<br />
der Linie neoliberaler Rationalität; es sah keine derartigen Maßnahmen vor. Die<br />
verzweifelten Versuche, auch die Kultur auf den Weg der Kommerzialisierung zu<br />
bringen, haben nur die massenkulturellen Surrogate aufkommen lassen, die der<br />
künstlerisl:hell Kreativität die Basis entzogen. Die wissenschaftliche, Grundlagenforschung<br />
verlor ihre Finanzierungsquellen, was einen intellektuellen Exodus<br />
zur Folge hatte. Es liegt auf der Hand, daß die Kommerzialisierung der Kultur<br />
Rußland zur Geistlosigkeit und zum Verlust seines einzigartigen kulturellen<br />
Erbes verurteilt.<br />
DAS ARGUMENT 19811993 ©