Krieg! AIDS! Katastrophen! - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Yuri Krasin<br />
Perspektiven nach dem Scheitern der »Schocktherapie«<br />
in Rußland<br />
Die Erfahrungen mit der neo liberalen Politik<br />
An der Krankheit besteht kein Zweifel: Rußlands Wirtschaft liegt danieder, seine<br />
gesellschaftlichen Handlungsmechanismen sind gestört, die Machtstrukturen<br />
geschwächt. Die politischen und theoretischen Debatten drehen sich um die<br />
Frage der Therapie. Wie so oft in der russischen Geschichte steht die Gesellschaft<br />
vor der Wahl zwischen verschiedenen Konzeptionen des Übergangs zu<br />
einem stabilen und lebensfähigen Gesellschaftssystem. Wird es der Weg einer<br />
evolutionären Transformation sein oder der eines weiteren revolutionären<br />
Bruchs mit den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen?<br />
In den sechs Jahren der Perestrojka verfolgte man mit Nachdruck den evolutionären<br />
Weg, ohne daß diese Versuche ein positives Resultat gezeitigt haben. Die<br />
verkündeten umfassenden Strukturreformen hatten zaghaft und unzusammenhängend<br />
ausgesehen, sobald sie ins Stadium der Realisierung eintraten; oft<br />
waren sie zu spät in Gang gesetzt worden und waren auf den sturen Konservatismus<br />
der Machtelite gestoßen. Dies hat die evolutionäre Politik diskreditiert und<br />
den Boden bereitet <strong>für</strong> die »Radikaldemokraten«, die auf den revolutionären<br />
»Durchbruch« zum Markt setzten. Das Scheitern des Staatsstreichs vom August<br />
1991 brachte diese Kräfte an die Macht. Statt aber die neuen Möglichkeiten <strong>für</strong><br />
eine ausgewogene Analyse des Perestrojkaprozesses zu nutzen und einen wirksamen<br />
Mechanismus <strong>für</strong> die evolutionäre Gesellschaftsreform zu entwickeln,<br />
nahmen die Radikaldemokraten Kurs auf ein neues revolutionäres Experiment.<br />
Das neoliberale Arsenal von Rezepten der »Schocktherapie« wurde zum wichtigsten<br />
Element einer Strategie des revolutionären Sprungs in den Markt. Die<br />
Regierung Gajdar begann im Januar 1992 mit der »Behandlung«. Das seither vergangene<br />
Jahr monetaristisch-liberaler Experimente liefert genügend Material <strong>für</strong><br />
einige Schlußfolgerungen.<br />
Gerechtigkeitshalber ist festzuhalten, daß die Aktivitäten der Regierung<br />
Gajdar einen positiven Gehalt hatten. Die Wirtschaftsreform wurde aus der<br />
Sackgasse geführt und Rußland aus der Lethargie geweckt, die sich unter dem<br />
Druck der schlimmer werdenden Krise ausbreitete. Trotz ihrer ungeheuren und<br />
größtenteils nicht zu rechtfertigenden Unkosten haben weite Kreise der demokratischen<br />
Öffentlichkeit deshalb mit der Schocktherapie sympathisiert. Zuvor<br />
hatten viele Jahre lang bürokratische Potentaten mit großspurigem Gehabe<br />
regiert. Nun waren junge Wissenschaftler und Praktiker mit leuchtenden Augen<br />
uml dem Willen zu selbständigen, unkonventionellen Entscheidungen an den<br />
Hebeln der Macht. Niemand, der eine Veränderung wollte, konnte ihnen die<br />
Sympathie verweigern.<br />
Es wäre ungerecht, die gesamten harten Folgen der Zerrüttung der russischen<br />
Wirtschaft der »Schocktherapie« anzulasten. Die Gründe liegen allgemeiner im<br />
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DAS ARGUMENT 198/1993 ©