Krieg! AIDS! Katastrophen! - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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292 Besprechungen<br />
zur Jahreswende 1989/90 an der <strong>Berliner</strong> Mauer gefeiert wurde, ermöglichte das<br />
DDR-Fernsehen das simultane Erleben des Erlebens auf einer Riesenleinwand.<br />
»Erst in der Welt der inszenierten Bilder werden Geschehnisse zu Wirklichkeit in<br />
einer Welt der inszenierten Bilder.« (13) Bilder müssen nicht lügen; Willy Brandts<br />
Kniefall vor dem Warschauer Ghetto war symbolische Politik als Aufklärung: Brandt<br />
tat unter der Last der Erinnerung, was Menschen tun, wenn es ihnen die Sprache<br />
verschlägt. Das Symbol sprach <strong>für</strong> den bezeichneten historischen Zusammenhang.<br />
In seiner Unterscheidung zwischen symbolischer Politik und einer Politik der<br />
Symbole orientiert sich Meyer an Susanne K. Langers Symbolbegriff: danach sind<br />
Symbole nicht Substitute ihrer Gegenstände, sondern Vehikel der Vorstellung von<br />
Gegenständen. Symbolische Politik manipuliert mit kommunikativen Strategien die<br />
Vorstellungen des Publikums von den offerierten Gegenständen. Der Ex-Wirtschaftsminister<br />
Möllemann galt gemeinhin als PR-As, als Meister der Selbstdarstellung.<br />
Mal sprang er irgendwo mit Fallschirm ab, um Aufmerksamkeit zu erhaschen, oder<br />
er erschien bei der Pressekonferenz zur Begründung seines Rücktritts mit Hut. Die<br />
Fotografen dankten es ihm. Als »perfekt inszeniert« beschrieb die Presse den Rücktritt.<br />
Meyer bestimmt darum an zahlreichen Beispielen symbolische Politik als<br />
»Gebrauch von Symbolwirkungen zu politisch kalkulierten Zwecken. Sie ist nicht<br />
Kommunikation, sondern Strategie.« (150)<br />
Die Tendenz ist nun, daß sich die Inszenierung verselbständigt, daß Wirklichkeit<br />
nur als ihr Schein erfahrbar ist. Um zu symbolisieren, daß der Rhein dank der vehementen<br />
ökologischen Anstrengungen der Bundesregierung keine Kloake mehr sei,<br />
stieg etwa Umweltminister Töpfer 1985 todesmutig mit Schutzanzug in den Rhein,<br />
um von Rettungsbooten umgeben und mit einem Hubschrauber über sich einige hundert<br />
Meter auf das Ufer mit den wartenden Fotografen zuzuschwimmen. Wasserproben<br />
rechtfertigten dennoch die Qualifizierung des Flusses als Kloake. Großmeister<br />
der symbolischen Politik aber ist nach Meyer Ronald Reagan, der acht Jahre einer<br />
makellosen »Schnappschußpräsidentschaft« hinter sich brachte. Mit ihm hatten die<br />
Medienberater endlich das Objekt ihrer professionellen Begierde gefunden, »das<br />
perfekte Medium <strong>für</strong> ihren <strong>Krieg</strong> der Bilder gegen die Urteilskraft der Bürger in die<br />
Hand bekommen« (93). In seinen Analysen solcher Darstellungsmuster und in der<br />
Auseinandersetzung mit Jean Baudrillards »Agonie des Realen«, der fatalistischen<br />
Hinnahme von Realität als Simulation, legt Meyer aufklärerisches Potential frei.<br />
Symbolische Politik ist <strong>für</strong> ihn »systematisch verzerrte Kommunikation«, ihr zentrales<br />
Charakteristikum ist die »Inszenierung des Scheins durch Personalisierung«.<br />
An die Stelle von Argumenten treten Bilder. In der »Zuschauerdemokratie« (Rudolf<br />
Wassermann) wird politische Partizipation zur Farce. Die Folgen lassen sich an den<br />
Reaktionen auf rechtsradikale Gewaltverbrechen beobachten. Denn der Verselbständigung<br />
des Scheins entgeht auch eine »symbolische Politik von unten« nicht, also<br />
ziviler Ungehorsam. Die vertrauten sympathischen Gesichter der Carola Stern,<br />
Grass, Richter oder Jens in den Blockadeketten bieten keine Gewähr, daß auf die Bilder,<br />
die Öffentlichkeit schaffen, auch Argumentationen folgen.<br />
Meyer plädiert mit Habermas gleichwohl gegen die »Entmoralisierung der öffentlichen<br />
Kommunikationsbedingungen« als Voraussetzung einer partizipatorischen<br />
politischen Kultur. Seine Essay-Montage bietet reichlich Material und Gedanken.<br />
Felix Semmelroth (Frankfurt/M.)<br />
DAS ARGUMENT 198/1993 ©