Krieg! AIDS! Katastrophen! - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Kunst- und Kulturwissenschaft 291<br />
der Geschichte zu leben« (11). Um die Geschichte dieses Wunsches in der »kulturellen<br />
Avantgarde«, »die immer wieder die Stimme erhebt und sie von neuem verliert«<br />
(28), geht es. Diese Betonung des ekliptischen Aufscheinens der Subversion leuchtet<br />
unmittelbar ein, wenn man sich erinnert, mit welcher Schnelligkeit kulturelle<br />
Gegendiskurse vereinnahmt und ins kulturelle Establishment überführt werden können.<br />
Marcus weiß, daß subkulturelle Bewegungen wie Punk scheitern, wenn ihr Ziel<br />
die Umwälzung grundlegender Strukturen sein sollte, doch was ihn interessiert, ist<br />
die Negation, die zu einer Situation führt, in der sich das Publikum zur Produktion<br />
berufen fühlt: »Auf einmal konnten wir alles machen« (70).<br />
Zu dieser Geschichte werden zwei >,versionen« geboten. Die erste geht vom erwähnten<br />
Konzert der Sex Pistols aus und erstellt von dort aus einen Zusammenhang,<br />
der den Mai '68, die Anfange des Rock 'n Roll, Adornos »Minima Moralia«, Münsteraner<br />
Wiedertäufer, Solidarnosc, gnostische Gesänge, Dada und die Pariser Kommune<br />
als Artikulationen desselben Wunsches von vergleichbarer emotionaler Intensität<br />
identifiziert. Version zwei erzählt in chronologischer Folge die Wandlungen der<br />
nur noch eingeschränkt als »subkultureIl« zu bezeichnenden Avantgarden dieses<br />
Jahrhunderts: Dada, Lettrismus, Situationismus und Punk. Hier kann eine Traditionslinie<br />
aufgezeigt werden, die über verschiedene Vermittlungen vom »Cabaret<br />
Voltaire bis zu den Sex Pistols« (366) reicht. Das Gemeinsame dieser sich in »der<br />
Domäne der Unterhaltung und deren Waren abspielende(n) Story von Kunst und<br />
Revolution« besteht darin, daß es sich um die »Geschichte eines Wunsches, der die<br />
Kunst hinter sich ließ. sich aber wieder auf die Kunst zurückgeworfen sah« (461),<br />
handelt. Insofern ist sie Teil einer größeren Geschichte anarchischer Expressivität,<br />
was dem Autor auch bewußt ist (vgl. ebd.), doch vermag er nicht die spezifischen<br />
historischen Differenzen herauszustellen - wonach er allerdings auch nicht fragt.<br />
Ein Versäumnis stellt der Verzicht auf die Frage nach anschlußfahigen politischen<br />
Handlungsformen dar, wodurch eine durch Punk ausgelöste Debatte über die Möglichkeiten<br />
des politischen Handdeins innerhalb der Kulturindustrie verschwiegen<br />
wird. Eine solche Reflexion hätte konsequenterweise auch das Verhältnis von Pop<br />
Musik und Terrorismus erörtern müssen (vgl. dazu Diederichsen in konkret 6/92).<br />
Trotz dieser Einschränkungen bleibt das mit zum Teil raren Abbildungen versehene<br />
Buch als materialreiche Darstellung der besagten Geheimgeschichte empfehlenswert.<br />
Es ist nur über »Zweitausendeins« (Läden/Versand) zu beziehen.<br />
Christian Jäger (Berlin)<br />
Meyer, Thomas: Die Inszenierung des Scheins. Essay-Montage. Suhrkamp Verlag,<br />
Frankfurt/M. 1992 (203 S" br., 16,- DM)<br />
Der amerikanische Oberst war stocksauer, und die Soldaten hatten sich ihre Landung<br />
an Somalias Küste auch anders vorgestellt. Wozu hatten sie sich die Gesichter<br />
schwarz angemalt und militärische Tarnkleidung angelegt, wenn sie nun bei diesem<br />
klandestinen Landgang von einer Phalanx aus Fotoreportern und Fernsehteams<br />
erwartet wurden. Schließlich hatten sie eine große Aufgabe vor sich und wollten<br />
nicht bloß in die Kamera winken: Hi, Ma, here I am! Ihr Päsident und seine Berater<br />
sahen das wohl anders, die Landung amerikanischer Ledernacken symbolisierte <strong>für</strong><br />
das TV-Publikum Entschlossenheit. Das Fernsehen vermittelt Wirklichkeit. In seiner<br />
Essay-Montage, die teilweise vorzügliches Fotomaterial enthält, untersucht der<br />
Sozialwissenschaftier Thomas Meyer die Entwicklung von der Inszenierung der<br />
Wirklichkeit als Schein über die Verkehrung bis zu ihrer Amalgamierung im<br />
Bewußtsein der Rezipienten.<br />
Symbolische Politik bedeutet die Organisation eines Ereignisses als Ereignis: Als<br />
DAS ARGUMENT 19811993 ©