Krieg! AIDS! Katastrophen! - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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284 Besprechungen<br />
traditionellen Roman konstituierte Welt, innerhalb derer alles Erzählte als gesichert<br />
gilt, wird durchbrochen, und das Erzählte figuriert nur mehr als bloß ausgedachte<br />
Version unter anderen denkbaren Versionen. Damit verbindet sich ein Verlust des<br />
(Geschichten-)Erzählens, indem z.B. Reflexionen über die Welt ihre Schilderung<br />
überwiegen.<br />
Die von Petersen entworfene Typologie setzt an bei der »Ursituation des Erzählens«<br />
(Wolfgang Kayser) und ihren drei Elementen des Erzählers, des Erzählten und<br />
des Rezipienten. Je nachdem, an welchem dieser Pole »reine Möglichkeit« (62)<br />
gestaltet wird, entsteht einer der drei »Fundamentaltypen« des modernen Romans.<br />
Im zweiten Teil des Bandes werden an Hand von Beispielen diese Typen entfaltet.<br />
Rilkes Malte Laurids Brigge und Carl Einsteins Behuquin stehen <strong>für</strong> den »rezeptionsästhetischen<br />
Paradigmawechsel«, d.h. <strong>für</strong> eine freie (statt der traditionell gelenkten)<br />
Rezeption, denn die Zerschlagung des epischen Kontinuums, blinde Motive, absurde<br />
und irreale Vorgänge u.a. machen die Romane vieldeutig und eröffnen eine Vielfalt<br />
von Verständnismöglichkeiten. Die Undurchschaubarkeit des akausalen Geschehens<br />
und eine gänzlich unbestimmbare Welt, wie sie Kafka in seinem Proceß gestaltet, gilt<br />
Petersen ebenso als Realisierung der Möglichkeitsthematik wie Musils Mann ohne<br />
Eigenschaften, in dem die Welt allein hypothetische Wirklichkeit beanspruchen kann<br />
und als Spielfeld <strong>für</strong> die unterschiedlichen Lebensvarianten des Protagonisten dient.<br />
Thomas Manns Joseph und seine Brüder und Max Frischs Mein Name sei Gantenhein<br />
schließlich illustrieren den »textontologischen Paradigmawechsek Indem sich<br />
das Erzählte als Ausgedachtes zu erkennen gibt - im Joseph-Roman spricht der<br />
Erzähler von Versionen, die er erörtert, im Gantenhein stellt er seine Geschichten<br />
unter den Vorbehalt eines wiederkehrenden »Ich stelle mir vor« -, wird es zum<br />
Spielmaterial, zur bloßen Denkmöglichkeit des souverän schaltenden Erzählers.<br />
Was diese Romane trotz aller Unterschiede verbindet: "Sie wenden sich von der<br />
Wirklichkeitsorientierung des traditionellen Romans ab und etablieren ein Spiel mit<br />
reiner Möglichkeit.« (164) Das war schon die Voraussetzung, von der Petersen ausgegangen<br />
war. Wenn jedoch die moderne Welt eine Möglichkeitswelt ist, präsentiert<br />
dann nicht der Roman der Möglichkeit die neue Wirklichkeit, und ist er nicht insofern,<br />
auf neue Weise, auch ein Roman der Wirklichkeit?<br />
Nicht nur hier drängt sich der Eindruck auf, daß Petersen den Begriff der »Möglichkeit«<br />
überstrapaziert. Ihre Gestaltung als Muß <strong>für</strong> den modernen Roman zu<br />
postulieren, steht in frappierendem Gegensatz zu der Offenheit, die in der Kategorie<br />
selbst enthalten ist. Und daß daraus gar ein Katalog von »Elementen der Moderne«<br />
abgeleitet wird - zumal einer, der lediglich Altbekanntes wiederholt: Perspektivismus,<br />
Diskursivität und Essayismus, Unterminierung der Realiltät, Weltverlust und<br />
Subjektivismus -, gibt dem Ganzen fast normativen Charakter. Das bestätigt der<br />
dritte Teil der Untersuchung, der die Entwicklung des modernen deutschen Romans<br />
zeigen soll und dabei einzelne Genres von vornherein ausschließt, weil sie die vorausgesetzten<br />
Kriterien nicht erfüllen. Der stärkste Vorbehalt betrifft jedoch Petersens<br />
Behauptung, daß eine »traditionelle Interpretation«, indem sie Sinn aufzudecken<br />
versucht, das Kunstwerk festlegt, »während es doch bei moderner Kunst darauf<br />
ankommt, die Offenheit des Kunstwerks nachzuzeichnen und so reine Möglichkeit<br />
beschreibbar zu machen« (42) - damit wären wir auch als Interpreten bei der<br />
reinen Möglichkeit angelangt. Brigitte Bergheim (Karlsruhe)<br />
DAS ARGUMENT 198/1993 ©