Krieg! AIDS! Katastrophen! - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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272 Besprechungen<br />
Philosophen verwandt« waren (131). Vor allem ihre Verstöße gegen die Frauenrolle<br />
sind es, die tradiert worden sind: So soll Hipparcheia, die um 300 v. C. »mit ihrem<br />
Mann Krates herumreiste und Vorträge hielt« (34; vgl. Diog. Laert., 6.96), den gleichen<br />
Philosophenmantel wie Krates getragen, mit ihm im Freien geschlafen und zu<br />
Gastmählern mitgegangen sein. Ein Streitgespräch mit Theodoros soll sie mit dem<br />
Sophisma gewonnen haben: »was Theodoros tut, ohne eines Unrechts geziehen zu<br />
werden, kann auch Hipparcheia tun; Theodoros aber tut nicht Unrecht, wenn er sich<br />
selbst schlägt, also tut auch Hipparcheia nicht Unrecht, wenn sie Theodoros<br />
schlägt«. Statt eines Gegenarguments soll Theodoros ihr den (männlich artikulierten)<br />
Mantel hochgezogen haben, um darunter die Frau zum Vorschein zu bringen<br />
und ihr vorzuwerfen, den Webstuhl verlassen zu haben; worauf sie entgegnet haben<br />
soll: »der Bildung wegen«. Die Anekdote zeigt, welchen kulturellen Skandal die<br />
Aneignung der Philosophenrolle durch eine Frau bedeutet haben muß. - Immerhin<br />
ist noch der Name der Menophila aus Sardis überliefert (nicht jedoch bei Diogenes<br />
Laertius), die von ihrer Stadt wegen ihrer Klugheit und Führungskunst geehrt und<br />
mit einem Buch dargestellt worden sein soll (35).<br />
Der Fall des von Christen 415 n. C. an der Philosophin Hypatia von Alexandria<br />
verübten kirchlich geschürten Lynchmords ist geeignet, die Spätantike als<br />
Umbruchszeit zu beleuchten (vgl. 130ft'.). Hypatia lehrte in Alexandria und in Athen<br />
Platon und Aristoteles. Weil so viele Vornehme sich bei ihr als Hörer drängten,<br />
wurde der Patriarch Cyrillus neidisch. Laut Gibbon ließ er Hypatia vom Wagen<br />
reißen, entblößen und zur Kirche schleifen, wo man ihr mit Austernschalen das<br />
Fleisch von den Knochen riß und ihren zuckenden Leib ins Feuer warf. Die antike<br />
Biographie in der Suda (Enzyklopädie) sagt allerdings nur: »Sie wurde von Alexandrinern<br />
in Stücke gerissen, ihr verstümmelter Körper in der Stadt verstreut.« - Der<br />
Fall ist geeignet. einen Mentalitätswandel zu verdeutlichen, der seit Jahrhunderten<br />
angebahnt war: Hypatia hatte Jungfräulichkeit geschworen. Ihr Urteil über körperliche<br />
Liebe läßt sich aus einer Anekdote ablesen: »Als einer ihrer Schüler sich in sie<br />
verliebte, zog sie eine ihrer Monatsbinden hervor, warf sie ihm vor die Füße und<br />
sagte: 'Du bist in dieses verliebt, junger Mann, nicht in das (platonische) Ideal des<br />
Schönen.'« (160; zit. Suda 644, 12ff.) Anscheinend war sie (wie christliche Märtyrerinnen<br />
vor ihr) der Überzeugung, »ihr Werk nur fortführen zu können, wenn sie<br />
ihre Weiblichkeit verleugnete« (das Beispiel zeigt allerdings nur sexuelle Enthaltsamkeit).<br />
- Die daneben fortbestehende Hochschätzung der Mutterschaft schoß<br />
schließlich mit dem damit real unvereinbaren Ideal weiblicher Keuschheit (sophrosune)<br />
imaginär zum Höchsten der Ziele zusammen - im Marienkult.<br />
Trotz der bei Hypatia sichtbar werden Wertegemeinschaft zwischen »heidnischen«<br />
und christlichen Gebildeten bekräftigt die Verfasserin die althergebrachte Auffassung,<br />
»daß es die Urchristen und nicht die alten Griechen waren, die als erste ein<br />
geradezu zwanghaftes Bewußtsein <strong>für</strong> die Gefahren der weiblichen Sexualität entwickelten,<br />
und daß die Furcht vor dem weiblichen Körper (im Gegensatz zur weiblichen<br />
Gesinnung) letzten Endes von ihnen und nicht von Aischylos, Euripides oder<br />
Platon herrührt« (160). Aber indem sie so die alten Griechen und die spätantiken<br />
Christen unvermittelt einander gegenüberstellt, entgeht ihrem Blick die stoisch beeinflußte<br />
heidnische Produktion der »christlichen« Moral in den ersten Jahrhunderten<br />
unserer Zeitrechnung (vgl. etwa Philippe Aries, »Le mariage indissoluble«, in:<br />
Communications 35, 1982, 123-137). Aries wird nicht genannt, sowenig wie M. Foucault,<br />
doch deren Thesen scheinen das Angriffsziel zu sein. Wenn die Verfasserin es<br />
etwa <strong>für</strong> nötig hält, aus Inschriften und anderen Quellen die Aussage zu rechtfertigen,<br />
daß es auch im alten Griechenland »selbst in gewöhnlichen Ehen« »oft starke<br />
DAS ARGUMENT 198/1993 ©