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Krieg! AIDS! Katastrophen! - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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262 lost Hermand<br />

frustrierenden Kulturpolitik notwendigerweise eine Fülle vielversprechender<br />

junger Künstler gebe, also dieser Staat - gegen seinen Willen - eine wahre<br />

Talentfabrik sei, während es im Westen auf Grund der Tendenz ins Konsumistisch-Verflachende,<br />

d.h. der von Marcuse konstatierten Eindimensionalität,<br />

keine ernstzunehmende Literatur mehr gebe - und man dort lange Zeit nur von<br />

östlichen Dissidenten gezehrt habe. Auch die im Westen seit Jahrzehnten grassierende<br />

Pop- und Rockwelle findet vor Müllers Augen keine Gnade, vor allem<br />

nicht in ihrer in die DDR importierten Form, die er in ihrem »Second-Hand­<br />

Charakter« als eine »verspätete Kopie von Moden« charakterisiert (288). Genau<br />

besehen, gebe es auch im Westen nur eine »repressive Kulturpolitik«, wenn auch<br />

nicht durch eine bestimmte Partei, sondern durch den »Druck des Kommerzes«<br />

erzeugt (160). Die Kultur sei dort so flach, d.h. so arm an weltbewegenden Themen,<br />

daß man beispielsweise in Westdeutschland <strong>für</strong> die politische Tragik eines<br />

»Philoktet«, wie überhaupt <strong>für</strong> die »tragische Dimension der Geschichte«, keinen<br />

Blick habe (190). Daher hätten ihn auch die kulturpolitischen Forderungen der<br />

Achtundsechziger weitgehend kalt gelassen, deren praktische Folgen letztlich<br />

darin bestanden hätten, wie ihm später Foucault bestätigt habe, »die Struktur der<br />

Universitäten <strong>für</strong> die Bedürfnisse der modernen Industrie zu verändern« (212).<br />

Im Hinblick auf all diese Äußerungen, die sich beliebig vermehren ließen, läßt<br />

sich schwerlich sagen, daß Heiner Müller in den politischen, sozialen und kulturellen<br />

Verhältnissen des Westens eine bedenkenswerte Alternative zu dem von<br />

ihm abgelehnten stalinistischen Sozialismus sieht. Doch was ist dann seine<br />

Alternative, werden jene Kalten <strong>Krieg</strong>er in beiden Lagern sagen, die nie über<br />

ihre Schwarz-Weiß-Klischees hinausdenken konnten? Bei genauerer Lektüre dieses<br />

Buchs wie auch aller ihm vorausgegangenen Dramen, Statements und Interviews<br />

ist es letzten Endes - höchst verknappt gesagt - eine andere, bessere, radikalere<br />

Form des Sozialismus, in der Müller die einzige Alternative zu den in Ost<br />

und West versteinerten Verhältnissen sieht. Es ist seine Absicht gewesen und<br />

seine Absicht geblieben, und zwar sowohl politisch als auch kulturell, diese versteinerten<br />

Verhältnisse zum Tanzen zu bringen.<br />

Im Politischen äußert sich dieser Wunsch, ja diese Utopie, von der letztlich<br />

kein Marxist freikommen kann, in einer ständigen Akzentuierung der spezifisch<br />

proletarischen Elemente innerhalb des Kommunismus, um so all jenen entgegenzuwirken,<br />

die sich - in einem anti-utopischen Sinn - zu früh der Illusion hingegeben<br />

hätten, daß es möglich sei, sich in einem bereits »real existierenden«<br />

Sozialismus häuslich einzurichten, ohne da<strong>für</strong> die sozialen, ökonomischen und<br />

kulturellen Voraussetzungen zu schaffen. Müller betont daher immer wieder,<br />

daß er »von unten« komme und auch in seinem späteren Leben nie seine proletarische<br />

Perspektive aufgegeben habe. Er teilt daher mit Brecht, wie überhaupt mit<br />

allen Vertretern der alten Einheitsfrontpolitik, durchaus die Forderung nach<br />

einer »Diktatur des Proletariats«. Nichts erscheint ihm verfehlter, als im Zuge<br />

einer verlogenen Volksfrontpolitik den Klassenkampf einfach abzuschaffen und<br />

zu erklären, bereits in einer »sozialistischen Menschengemeinschaft« zu leben,<br />

in der es »keine Klassen und keinen Klassenkampf« mehr gebe (124). Ja, noch<br />

empörter ist Müller darüber, daß man auf seiten der SED - vor allem in der<br />

Frühzeit der DDR - immer wieder Zugeständnisse an die deutsch-nationalen<br />

DAS ARGUMENT 198/1993 ©

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