Krieg! AIDS! Katastrophen! - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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172<br />
Günter Grass<br />
Zwei Sonette vom »Novemberland«<br />
Das Unsere<br />
Breit liegt das Land, in dessen Lied wie in Prospekten<br />
sich Schönheit weit gebügelt austrägt, gegen Norden flach,<br />
besiedelt eng (in dieser Zeit) bis unters Dach.<br />
Wo sich die Kinder einst vor Vaters Zorn versteckten,<br />
ist keine Zuflucht mehr, nein, nichts schließt mehr geheim.<br />
So offen sind wir kenntlich, allseits ausgestellt,<br />
daß jeder Nachbar, ringsum alle Welt<br />
als Unglück treiben sieht, was unsres Glückes Keim.<br />
Wo wir uns finden, hat verkehrte Konjunktur<br />
uns fett gemacht. Dank Leid und Kummer satt<br />
schlug mästend Elend an als freien Marktes Kur;<br />
und selbst auf unsre Sünden gab's Rabatt.<br />
Stillliegt Novemberland, verflucht zum tugendhaften Fleiß<br />
in Angst vorm Jüngstgericht, dem überhöhten Preis.<br />
Andauernder Regen<br />
Die Angst geht um, November droht zu bleiben.<br />
Nie wieder langer Tage Heiterkeit.<br />
Die letzten Fliegen fallen von den Scheiben,<br />
und Stillstand folgt dem Schnellimbiß der Zeit.<br />
Des Bauherrn Ängste gründen sich auf Fundamente,<br />
denn Pfusch von gestern könnte heut zutage treten.<br />
Die Jugend bangt - schon früh vergreist - um ihre Rente.<br />
Und auch des Volkes Diener üppige Diäten<br />
sind ängstlich rasch verdoppelt worden.<br />
Die Skins mit Schlips und Scheitel kriegen Orden.<br />
Wer dieser Wirtschaft Zukunftsmärkte lobt,<br />
den hat der Zeitgeist regelrecht gedopt,<br />
dem steht Zweidrittelmehrheit stramm, aus Angst geeint;<br />
ein Narr, der im Novemberregen weint.<br />
Auszug aus »Novemberland«, Steidl Verlag 1993. Abdruck mit freundlicher Genehmigung<br />
des Verlags.<br />
DAS ARGUMENT 19811993 ©