Materialien für das Unterrichtsfach Deutsch

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40 45 50 55 60 65 70 75 Materiale für das Unterrichtsfach Deutsch im Fachgymnasium Baustein A Kommunikationstheorien und -modelle A4 Sprache, Denken und Wirklichkeit im Kontext eines Seite A74 von 60 humanistischen Menschenbildes Lasset jenes Lamm, als Bild, sein Auge vorbeigehn: ihm wie keinem andern Tiere. Nicht wie dem hungrigen, witternden Wolfe! nicht wie dem blutleckenden Löwen - die wittern und schmecken schon im Geiste! die Sinnlichkeit hat sie überwältigt! der Instinkt wirft sie darüber her! — Nicht wie dem brünstigen Schafmanne, der es nur als den Gegenstand seines Genusses fühlt, den also wieder die Sinnlichkeit überwältigt und der Instinkt darüber herwirft! — Nicht wie jedem andern Tier, dem das Schaf gleichgültig ist, das es also klardunkel vorbeistreichen läßt, weil ihn sein Instinkt aus etwas anders wendet. — Nicht so dem Menschen! Sobald er in die Bedürfnis kommt, das Schaf kennen zu lernen: so störet ihn kein Instinkt: so reißt ihn kein Sinn auf dasselbe zu nahe hin, oder davon ab: es steht da, ganz wie es sich seinen Sinnen äußert. Weiß, sanft, wollicht — seine besonnen sich übende Seele sucht ein Merkmal, — das Schaf blöket sie hat Merkmal gefunden. Der innere Sinn würket. Dies Blöken, das ihr am stärksten Eindruck macht, das sich von allen andern Eigenschaften des Beschauens und Betastens losriß, hervorspran,. am tiefsten eindrang, bleibt ihr. Das Schaf kommt wieder. Weiß, sanft, wollicht — sie sieht, tastet, besinnet sich; sucht Merkmal — es blökt, und nun erkennet sie‘s wieder! „He! Du bist das Blökende!“ fühlt sie innerlich, sie hat es menschlich erkannt, da sie‘s deutlich, das ist, mit einem Merkmal erkennet und nennet. Dunkler? so wäre es ihr gar nicht wahrgenommen, weil keine Sinnlichkeit, kein Instinkt zum Schale ihr den Mangel des Deutlichen durch ein lebhafteres Klare ersetzte. Deutlich unmittelbar, ohne Merkmal? so kann kein sinnliches Geschöpf außer sich empfinden: da es immer andre Gefühle unterdrücken, gleichsam vernichten, und immer den Unterschied von zwen durch ein drittes erkennen muß. Mit einem Merkmal also? und was war das anders als ein innerliches Merkwort? Der Schall des Blökens von einer menschlichen Seele, als Kennzeichen des Schafs, wahrgenommen, ward, kraft dieser Besinnung, Name des Schals, und wenn ihn nie seine Zunge zu stammeln versucht hätte. Er erkannte das Schaf am Blöken: es war gefaßtes Zeichen, bei welchem sich die Seele an eine Idee deutlich besann — was ist das anders als Wort? und was ist die ganze menschliche Sprache, als eine Sammlung solcher Worte? Käme er also auch nie in den Fall, einem andern Geschöpf diese Idee zu geben, und also dies Merkmal der Besinnung ihm mit den Lippen vorblöken zu wollen oder zu können: seine Seele hat gleichsam in ihrem Inwendigen geblökt, da sie diesen Schall zum Erinnerungszeichen wählte, und wieder geblökt, da sie ihn daran erkannte — die Sprache ist erfunden! eben so natürlich und dem Menschen notwendig erfunden, als der Mensch ein Mensch war.

Seite A75 von 60 Wilhelm von Humboldt: Über Denken und Sprechen 1 1. Das Wesen des Denkens besteht im Reflektieren, d. h. im Unterscheiden des Denkenden von dem Gedachten. 2. Um zu reflektieren, muß der Geist in seiner fortschreitenden Tätigkeit einen Augenblick stillstehn, das eben Vorgestellte in eine Einheit fassen, und auf diese Weise, als Gegenstand, sich selbst entgegenstellen. 3. Die Einheiten, deren er auf diesem Wege mehrere bilden kann, vergleicht er wiederum untereinander, und trennt und verbindet sie nach seinem Bedürfnis. 4. Das Wesen des Denkens besteht also darin Abschnitte in seinem eignen Gange zu machen; dadurch aus gewissen Portionen seiner Tätigkeit Ganze zu bilden; und diese Bildungen einzeln sich selbst untereinander, alle zusammen aber, als Objekte, dem denkenden Subjekte entgegenzusetzen. 5. Kein Denken, auch das reinste nicht, kann anders, als mit Hülfe der allgemeinen Formen unsrer Sinnlichkeit geschehen; nur in ihnen können wir es auffassen und gleichsam festhalten. 6. Die sinnliche Bezeichnung der Einheiten nun, zu welchen gewisse Portionen des Denkens vereinigt werden, um als Teile andern Teilen eines größeren Ganzen, als Objekte dem Subjekte gegenübergestellt zu werden, heißt im weitesten Verstande des Worts: Sprache. 7. Die Sprache beginnt daher unmittelbar und sogleich mit dem ersten Akt der Reflexion, und so wie der Mensch aus der Dumpfheit der Begierde, in welcher das Subjekt das Objekt verschlingt, zum Selbstbewußtsein erwacht, so ist auch das Wort da — gleichsam der erste Anstoß, den sich der Mensch selbst gibt, plötzlich stillzustehen, sich umzusehen und zu orientieren. 8. Der Sprache suchende Mensch sucht Zeichen, unter denen er, vermöge der Abschnitte, die er in seinem Denken macht, Ganze als Einheiten zusammenfassen kann. Zu solchen Zeichen sind die unter der Zeit begriffenen Erscheinungen bequemer, als die unter dem Raume. 9. Die Umrisse ruhig nebeneinanderliegender Dinge vermischen sich leicht vor der Einbildungskraft, wie vor dem Auge. In der Zeitfolge hingegen schneidet der gegenwärtige Augenblick eine bestimmte Grenze zwischen dem vergangenen 1 Wilhelm von Humboldt: Über Denken und Sprechen. In: Ders.: Schriften zur Sprache. Stuttgart 1995. S. 9 und zukünftigen ab. Zwischen Sein und Nicht-mehr-sein ist keine Verwechslung möglich.

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Wilhelm von Humboldt: Über Denken und Sprechen 1<br />

1. Das Wesen des Denkens besteht im Reflektieren, d. h. im<br />

Unterscheiden des Denkenden von dem Gedachten.<br />

2. Um zu reflektieren, muß der Geist in seiner<br />

fortschreitenden Tätigkeit einen Augenblick stillstehn, <strong>das</strong> eben<br />

Vorgestellte in eine Einheit fassen, und auf diese Weise, als<br />

Gegenstand, sich selbst entgegenstellen.<br />

3. Die Einheiten, deren er auf diesem Wege mehrere bilden<br />

kann, vergleicht er wiederum untereinander, und trennt und<br />

verbindet sie nach seinem Bedürfnis.<br />

4. Das Wesen des Denkens besteht also darin Abschnitte in<br />

seinem eignen Gange zu machen; dadurch aus gewissen<br />

Portionen seiner Tätigkeit Ganze zu bilden; und diese Bildungen<br />

einzeln sich selbst untereinander, alle zusammen aber, als<br />

Objekte, dem denkenden Subjekte entgegenzusetzen.<br />

5. Kein Denken, auch <strong>das</strong> reinste nicht, kann anders, als mit<br />

Hülfe der allgemeinen Formen unsrer Sinnlichkeit geschehen;<br />

nur in ihnen können wir es auffassen und gleichsam festhalten.<br />

6. Die sinnliche Bezeichnung der Einheiten nun, zu welchen<br />

gewisse Portionen des Denkens vereinigt werden, um als Teile<br />

andern Teilen eines größeren Ganzen, als Objekte dem Subjekte<br />

gegenübergestellt zu werden, heißt im weitesten Verstande des<br />

Worts: Sprache.<br />

7. Die Sprache beginnt daher unmittelbar und sogleich mit<br />

dem ersten Akt der Reflexion, und so wie der Mensch aus der<br />

Dumpfheit der Begierde, in welcher <strong>das</strong> Subjekt <strong>das</strong> Objekt<br />

verschlingt, zum Selbstbewußtsein erwacht, so ist auch <strong>das</strong><br />

Wort da — gleichsam der erste Anstoß, den sich der Mensch<br />

selbst gibt, plötzlich stillzustehen, sich umzusehen und zu<br />

orientieren.<br />

8. Der Sprache suchende Mensch sucht Zeichen, unter denen<br />

er, vermöge der Abschnitte, die er in seinem Denken macht,<br />

Ganze als Einheiten zusammenfassen kann. Zu solchen Zeichen<br />

sind die unter der Zeit begriffenen Erscheinungen bequemer, als<br />

die unter dem Raume.<br />

9. Die Umrisse ruhig nebeneinanderliegender Dinge vermischen<br />

sich leicht vor der Einbildungskraft, wie vor dem Auge.<br />

In der Zeitfolge hingegen schneidet der gegenwärtige<br />

Augenblick eine bestimmte Grenze zwischen dem vergangenen<br />

1 Wilhelm von Humboldt: Über Denken und Sprechen. In:<br />

Ders.: Schriften zur Sprache. Stuttgart 1995. S. 9<br />

und zukünftigen ab. Zwischen Sein und Nicht-mehr-sein ist keine<br />

Verwechslung möglich.

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