Materialien für das Unterrichtsfach Deutsch
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Materialen für das Unterrichtsfach Deutsch im Fachgymnasium Baustein A Kommunikationstheorien und -modelle A1 Der Radikale Konstruktivismus Klausurvorschlag Warum einfach, wenn's kompliziert auch geht? Paul Watzlawick stellt in seinem Buch „Wie wirklich ist die Wirklichkeit“ ein Experiment vor, in dem eine Versuchsperson glaubt, es bestehe eine unmittelbare und erfassbare Beziehung (eine sogenannte Kontingenz) zwischen seinem Verhalten und den sich daraus ergebenen Folgen. Diese besteht aber nicht; daher die Bezeichnung nichtkontingentes Experiment. „Die eben beschriebenen Wirkungen der Nichtkontingenz sind im menschlichen Bereich natürlich viel ausgeprägter und können unsere Wirklichkeitsauffassung nachhaltig beeinflussen, wie mehrere, unter Leitung von Professor Bavelas an der Stanford-Universität ausgeführte Versuche beweisen. In einem dieser Experimente sitzen zwei Versuchspersonen, A und B, vor einem Projektionsschirm. Zwischen ihnen ist eine Trennwand, so daß sie sich gegenseitig nicht sehen können, und es wird ihnen außerdem zur Auflage gemacht, nicht miteinander zu sprechen. Beide haben vor sich je zwei Drucktasten mit der Bezeichnung »gesund« und »krank« sowie zwei Signallämpchen mit der Aufschrift >richtig< beziehungsweise »falsch«. Der Versuchsleiter projiziert nun eine Reihe von Mikrodiapositiven von Gewebezellen, und es ist die Aufgabe der Versuchspersonen, durch Versuch und Irrtum die gesunden von den kranken Zellen unterscheiden zu lernen. Sie werden aufgefordert, zu jedem Bild durch Drücken des betreffenden Knopfs ihre (individuelle) Diagnose bekanntzugeben, worauf sofort das Lämpchen »richtig« oder »falsch« aufleuchtet. Diese scheinbar sehr einfache Versuchsanordnung hat aber ihre geheimen Tücken: A erhält jedesmal die zutreffende Antwort auf seine Diagnose, das heißt, das Aufleuchten des betreffenden Signals teilt ihm mit, ob er das betreffende Diapositiv richtig oder falsch diagnostizierte. Für ihn besteht das Experiment also im verhältnismäßig einfachen Erlernen einer ihm bisher unbekannten Unterscheidung durch Versuch und Irrtum; und im Verlauf des Versuchs erlernen die meisten A-Personen bald, gesunde von kranken Zellen mit einer Verläßlichkeit von etwa 8o % zu unterscheiden. B's Situation dagegen ist eine ganz andere. Die Antworten, die er erhält, beruhen nicht auf seinen eigenen Diagnosen, sondern auf denen A's. Es ist daher völlig gleichgültig, wie er ein bestimmtes Diapositiv einschätzt. Er erhält die Antwort »richtig«, wenn A den Gesundheitszustand der betreffenden Zelle richtig erriet; wenn A dagegen sich irrte, erhält auch B die Antwort »falsch«, ungeachtet der Diagnose, die er selbst stellte. B weiß das aber nicht; er lebt daher in einer »Welt«, von der er annimmt, daß sie eine bestimmte Ordnung hat und daß er diese Ordnung entdecken muß, indem er Vermutungen anstellt und dann jeweils erfährt, ob diese richtig oder falsch waren. Was er aber nicht weiß, ist, daß die Antworten, die ihm die »Sphinx« auf seine Seite A18 von 60
Materialen für das Unterrichtsfach Deutsch im Fachgymnasium Baustein A Kommunikationstheorien und -modelle A1 Der Radikale Konstruktivismus Vermutungen gibt, nichts mit diesen zu tun haben, weil die »Sphinx« ja nicht zu ihm, sondern nur zu A spricht. In anderen Worten, es besteht für ihn keinerlei Möglichkeit, herauszufinden, daß die Antworten, die er erhält, nichtkontingent sind (das heißt, nichts mit seinen Mutmaßungen zu tun haben), und ihm daher nichts über die Richtigkeit seiner Diagnosen vermitteln. Er sucht also nach einer Ordnung, die zwar besteht, ihm aber nicht zugänglich ist. A und B werden nun ersucht, gemeinsam zu besprechen, welche Grundsätze für die Unterscheidung zwischen gesunden und kranken Zellen sie entdeckt haben. A's Erklärungen sind meist einfach und konkret. B's Annahmen dagegen sind subtil und komplex - schließlich gelangte er zu ihnen ja auf Grund sehr dürftiger und widersprüchlicher Mutmaßungen. Das Erstaunliche ist nun, daß A die Erklärungen B´s nicht einfach als unnötig kompliziert oder geradezu absurd ablehnt, sondern von ihrer detaillierten Brillanz beeindruckt ist. Beide wissen nicht, daß sie buchstäblich über zwei verschiedene Wirklichkeiten sprechen, und A kommt daher zur Ansicht, daß die banale Einfachheit seiner Erklärungsprinzipien der Subtilität von B's Diagnosen unterlegen ist. Das bedeutet aber nicht mehr und nicht weniger, als daß B´s Ideen für A um so überzeugender klingen, je absurder sie sind. Seite A19 von 60
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Baustein A Kommunikationstheorien und -modelle<br />
A1 Der Radikale Konstruktivismus<br />
Vermutungen gibt, nichts mit diesen zu tun haben, weil die »Sphinx« ja nicht<br />
zu ihm, sondern nur zu A spricht. In anderen Worten, es besteht <strong>für</strong> ihn<br />
keinerlei Möglichkeit, herauszufinden, daß die Antworten, die er erhält,<br />
nichtkontingent sind (<strong>das</strong> heißt, nichts mit seinen Mutmaßungen zu tun<br />
haben), und ihm daher nichts über die Richtigkeit seiner Diagnosen<br />
vermitteln. Er sucht also nach einer Ordnung, die zwar besteht, ihm aber<br />
nicht zugänglich ist.<br />
A und B werden nun ersucht, gemeinsam zu besprechen, welche Grundsätze<br />
<strong>für</strong> die Unterscheidung zwischen gesunden und kranken Zellen sie entdeckt<br />
haben. A's Erklärungen sind meist einfach und konkret. B's Annahmen<br />
dagegen sind subtil und komplex - schließlich gelangte er zu ihnen ja auf<br />
Grund sehr dürftiger und widersprüchlicher Mutmaßungen.<br />
Das Erstaunliche ist nun, daß A die Erklärungen B´s nicht einfach als unnötig<br />
kompliziert oder geradezu absurd ablehnt, sondern von ihrer detaillierten<br />
Brillanz beeindruckt ist. Beide wissen nicht, daß sie buchstäblich über zwei<br />
verschiedene Wirklichkeiten sprechen, und A kommt daher zur Ansicht, daß<br />
die banale Einfachheit seiner Erklärungsprinzipien der Subtilität von B's<br />
Diagnosen unterlegen ist. Das bedeutet aber nicht mehr und nicht weniger,<br />
als daß B´s Ideen <strong>für</strong> A um so überzeugender klingen, je absurder sie sind.<br />
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