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Ich lebt in einer Mietskaserne Mit Flur- und Leiermannsmusik! Das ...

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Folge 96 Arno Holz<br />

Arno Holz Folge 96<br />

<strong>Ich</strong> <strong>lebt</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er <strong>Mietskaserne</strong><br />

<strong>Mit</strong> <strong>Flur</strong>- <strong>und</strong> <strong>Leiermannsmusik</strong>!<br />

<strong>Das</strong> Dach stieß fast bis an die Sterne.<br />

Vom Hof her stampfte die Fabrik.<br />

Im Keller nistete die Ratte.<br />

Parterre gabs Branntwe<strong>in</strong>, Grog <strong>und</strong> Bier,<br />

Und bis <strong>in</strong>s fünfte Stockwerk hatte<br />

<strong>Das</strong> Vorstadtelend se<strong>in</strong> Quartier.<br />

Dort saß ich nachts vor me<strong>in</strong>em Lichte.<br />

Duck nieder, nieder, wilder Hohn!<br />

Und fi eberte <strong>und</strong> schrieb Gedichte.<br />

E<strong>in</strong> Träumer, e<strong>in</strong> verlorner Sohn!<br />

Me<strong>in</strong> Stübchen konnte grade fassen<br />

E<strong>in</strong> Tischchen <strong>und</strong> e<strong>in</strong> schmales Bett.<br />

<strong>Ich</strong> war so arm <strong>und</strong> so verlassen,<br />

Wie jener Gott aus Nazareth!<br />

In Fetzen h<strong>in</strong>g mir me<strong>in</strong>e Bluse.<br />

Me<strong>in</strong> Nachbar lieh mir trocknes Brot.<br />

<strong>Ich</strong> aber stammelte: O Muse!<br />

Und wusste nichts von me<strong>in</strong>er Not.<br />

<strong>Ich</strong> saß nur still vor me<strong>in</strong>em Lichte,<br />

Allnächtlich, wenn der Tag entfl ohn,<br />

Und fi eberte <strong>und</strong> schrieb Gedichte.<br />

E<strong>in</strong> Träumer, e<strong>in</strong> verlorner Sohn!<br />

Dieser Träumer, dieser verlorene Sohn, dieser Arno Holz,<br />

ist 1863 <strong>in</strong> Ostpreußen geboren. »Vater der Moderne« wird<br />

er genannt, wegen se<strong>in</strong>es E<strong>in</strong>tretens für den Naturalismus.<br />

Arno Holz war Theoretiker <strong>und</strong> Praktiker. Vom spätromantischen<br />

Epigonentum Emanuel Geibels ausgehend entwickelte<br />

er sich immer mehr zum sozialkritischen Autor,<br />

gefördert von Detlev von Liliencron.


Folge 96 Arno Holz<br />

E<strong>in</strong> Bild<br />

Aus Sandste<strong>in</strong> ist das gelbliche Portal,<br />

Die roten Säulen aus Granit gehauen,<br />

Und seitwärts <strong>in</strong> e<strong>in</strong> weißes Piedestal<br />

Vergräbt e<strong>in</strong> Löwe se<strong>in</strong>e Marmorklauen.<br />

Doch schwarz verhängt s<strong>in</strong>d alle Fenster heut,<br />

Und Lichter brennen nur im Erdgeschosse.<br />

Der Straßendamm ist hoch mit Stroh bestreut,<br />

Und lautlos drüberh<strong>in</strong> rollt die Karosse.<br />

Im Prunksaal trauern h<strong>in</strong>ter Flor <strong>und</strong> Taft<br />

Die bunten Inderstoffe aus Lahore.<br />

Auch schleicht die goldbetresste Dienerschaft<br />

Nur auf Spitzzehen durch die Korridore.<br />

Der hochgeborne Hausherr, Exzellenz,<br />

Schwankt wie e<strong>in</strong> Rohr umher auf bleicher Düne.<br />

Die erste Redekraft des Parlaments<br />

Fehlt heute abermals auf der Tribüne.<br />

Zwar trat man gestern erst <strong>in</strong> den Etat,<br />

Doch hat se<strong>in</strong> Fehlen diesmal gute Gründe:<br />

Schon viermal war der greise Hausarzt da<br />

Und me<strong>in</strong>te, dass es sehr bedenklich stünde.<br />

Nach Eis <strong>und</strong> Himbeer wird gar oft geschellt,<br />

Doch mäuschenstill ist es im Krankenzimmer.<br />

Und se<strong>in</strong>e düstre Teppichpracht erhellt<br />

Nur e<strong>in</strong>er Ampel rötliches Gefl immer.<br />

Weit offen steht die Tür zum Vestibül,<br />

Und wie im Traum nur plätschert die Fontäne.<br />

Die Luft umher ist wie gewitterschwül,<br />

Denn ach, die »gnädge Frau« hat heut – Migräne!<br />

E<strong>in</strong> andres Bild<br />

Arno Holz Folge 96<br />

Fünf wurmzernagte Stiegen gehts h<strong>in</strong>auf<br />

Ins letzte Stockwerk e<strong>in</strong>er <strong>Mietskaserne</strong>.<br />

Hier hält der Nordw<strong>in</strong>d sich am liebsten auf<br />

Und durch das Dachwerk schaun des Himmels Sterne.<br />

Was sie erspähn, oh, es ist grad genug,<br />

Um mit dem Elend brüderlich zu we<strong>in</strong>en:<br />

E<strong>in</strong> Stückchen Schwarzbrot <strong>und</strong> e<strong>in</strong> Wasserkrug,<br />

E<strong>in</strong> Werktisch <strong>und</strong> e<strong>in</strong> Schemel mit drei Be<strong>in</strong>en.<br />

<strong>Das</strong> Fenster ist vernagelt durch e<strong>in</strong> Brett,<br />

Und doch durchpfeift der W<strong>in</strong>d es h<strong>in</strong> <strong>und</strong> wieder.<br />

Und dort auf jenem strohgestopften Bett<br />

Liegt fi eberkrank e<strong>in</strong> junges Weib darnieder.<br />

Drei kle<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>der stehn um sie herum,<br />

Die stieren Blicks an ihren Zügen hangen.<br />

Vor vielem We<strong>in</strong>en ward ihr Mündle<strong>in</strong> stumm,<br />

Und ke<strong>in</strong>e Träne mehr netzt ihre Wangen.<br />

E<strong>in</strong> Stümpfchen Talglicht gibt nur trüben Sche<strong>in</strong>.<br />

Doch horch, es klopft, was mag das nur bedeuten?<br />

Es klopft, <strong>und</strong> durch die Tür tritt nun here<strong>in</strong><br />

E<strong>in</strong> junger Herr, geführt von Nachbarsleuten.<br />

Der Armenhilfsarzt ists aus dem Revier,


Folge 96 Arno Holz<br />

Den sie geholt aus <strong>Mit</strong>leid mit der Kranken.<br />

Indes ihr Mann <strong>in</strong> Branntwe<strong>in</strong> <strong>und</strong> <strong>in</strong> Bier<br />

Sich selbst betäubt <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Wutgedanken.<br />

Der junge Doktor aber nimmt das Licht<br />

Und tritt mit ihm ans Bett des armen Weibes.<br />

Doch gelb wie Wachs <strong>und</strong> spitz ist ihr Gesicht<br />

Und kalt <strong>und</strong> starr die Glieder ihres Leibes.<br />

Da schluchzt se<strong>in</strong> Herz, <strong>in</strong>des das Licht verkohlt,<br />

Von nie gekannter Wehmut überschlichen:<br />

We<strong>in</strong>t, K<strong>in</strong>der, we<strong>in</strong>t! <strong>Ich</strong> b<strong>in</strong> zu spät geholt,<br />

Denn eure Mutter ist bereits – verblichen.<br />

Arno Holz hatte ke<strong>in</strong>e reichen Eltern, er konnte deshalb<br />

das Gymnasium nicht beenden, er konnte nicht studieren<br />

<strong>und</strong> da er literarisch dem Neuen <strong>und</strong> nicht dem Gängigen<br />

verpfl ichtet war, verdiente er mit se<strong>in</strong>er literarischen Arbeit<br />

wenig. Er war arm. Sammlungen mussten für ihn veranstaltet<br />

werden. Doch se<strong>in</strong> E<strong>in</strong>fl uss auf die moderne Sprachkunst<br />

war enorm. Auf dem Theater setzte er den Naturalismus mit<br />

anderen zusammen durch <strong>und</strong> auch <strong>in</strong> der naturalistischen<br />

Lyrik g<strong>in</strong>g er voran. Er zerstörte den Reim, die Strophe <strong>und</strong><br />

das feste Metrum. Er sagte: »Man revolutioniert e<strong>in</strong>e Kunst<br />

nur, <strong>in</strong>dem man ihre <strong>Mit</strong>tel revolutioniert« <strong>und</strong> er erfand die<br />

Formel: Kunst = Natur - x. Die Formel des Naturalismus,<br />

den Detlev von Liliencron mit se<strong>in</strong>er impressionistischen<br />

Lyrik vorbereitet hatte.<br />

Zum Schluss noch e<strong>in</strong>es dieser naturalistischen Gedichte,<br />

ohne Reim, ohne Strophen <strong>und</strong> ohne festes Metrum.<br />

Für damalige Zeiten so unvorstellbar wie Arnold Schönbergs<br />

Zwölftonmusik.<br />

Unvergeßbare Sommersüße<br />

Rote Dächer!<br />

Aus den Schornste<strong>in</strong>en,<br />

Hier <strong>und</strong> da<br />

Rauch.<br />

Oben, hoch, <strong>in</strong> sonniger Luft,<br />

Ab <strong>und</strong> zu<br />

Tauben!<br />

Es ist Nachmittag.<br />

Aus Mohdrickers Garten her<br />

Gackert<br />

E<strong>in</strong>e Henne.<br />

Bruthitze<br />

Braselt.<br />

Die ganze Stadt ... riecht nach Kaffee.<br />

<strong>Das</strong>s mir doch dies alles noch so lebendig geblieben ist!<br />

<strong>Ich</strong> b<strong>in</strong> e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er achtjähriger Junge,<br />

Liege,<br />

<strong>Das</strong> K<strong>in</strong>n <strong>in</strong> beide Fäuste,<br />

Platt auf dem Bauch<br />

Und<br />

Kucke durch die Bodenluke.<br />

Unter mir ... steil, der Hof ... h<strong>in</strong>ter mir,<br />

Weggeworfen,<br />

E<strong>in</strong> Buch.<br />

... Franz Hoffmann ...<br />

Arno Holz Folge 96


Folge 96 Arno Holz<br />

»Die Sklavenjäger«.<br />

Wie still das ist!<br />

Nur drüben,<br />

In Knorrs Regenr<strong>in</strong>ne,<br />

Zwei Spatzen, die sich um e<strong>in</strong>en Strohhalm zanken.<br />

Irgendwo e<strong>in</strong> Mann, der sägt.<br />

Und<br />

Dazwischen,<br />

Deutlich von der Kirche her,<br />

In kurzen Pausen regelmäßig hämmernd,<br />

Der Kupferschmied Thiel.<br />

Wenn ich unten runter sehe,<br />

Sehe ich gerade auf Mutters Blumenbrett.<br />

E<strong>in</strong> Topf Goldlack,<br />

Zwei<br />

Töpfe Levkojen, e<strong>in</strong>e Geranie,<br />

Fuchsien<br />

Und<br />

<strong>Mit</strong>tendr<strong>in</strong>,<br />

Zierlich, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zigarrenkistchen,<br />

E<strong>in</strong><br />

Hümpelchen Reseda.<br />

Wie ... das ... riecht!<br />

Bis<br />

Zu ... mir ... rauf!<br />

Und<br />

Die ... Farben ... die<br />

Farben!<br />

Jetzt!<br />

Wie der W<strong>in</strong>d drüber weht!<br />

Die<br />

W<strong>und</strong>er-,<br />

W<strong>und</strong>er-, w<strong>und</strong>er-<br />

... schönen ...<br />

Farben!<br />

Nie ... bl<strong>in</strong>kten ... mir<br />

Schönere!<br />

E<strong>in</strong> halbes Leben,<br />

E<strong>in</strong><br />

Ganzes Menschenalter<br />

Verrann!<br />

<strong>Ich</strong><br />

Schließe die Augen.<br />

<strong>Ich</strong><br />

Sehe sie ... noch immer!<br />

Arno Holz Folge 96<br />

Soviel zu Arno Holz, der 1929, mit sechs<strong>und</strong>sechzig Jahren,<br />

<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, wo er se<strong>in</strong> gesamtes Dichterleben zubrachte,<br />

gestorben ist.<br />

Ende CD <strong>und</strong> DVD 15

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