I Marx unci der Marz'83 Marxismus - Prokla
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I Marx unci der Marz'83 Marxismus - Prokla
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Anmerkungen<br />
YgL Scarlet Women Collective (1981); ahnliche Formulierungen in: Red Apple Collective (1978),<br />
Berkeley-Oakland Women's Union (1974)<br />
2 1m Vorwon zu Heft 3 »Frauen und 'Dritte Welt'« del' »Beitdige ZUr fcministischen Theorie lind<br />
Praxis, Mlil1chen 1980,5.4-6,5.4<br />
3 Ich danke Elke Biesold, Hclgard Kramer und lutta Kolkenbrock-Netz fur DisktJssionen, Anregungen<br />
<strong>unci</strong> Kritik del' Erstfassung dieses Beitrags.<br />
4 C. v. Werlhof setzt das Wort »sachlich« in AnfUhrungszeichen<br />
5 Diesel' Punkt war Diskussionsgegenstand ciner Arbeitsgruppe del' Marburger Konferenz "Politik<br />
<strong>der</strong> Frauen« am 5. / 6.6.82. Del' gemeinsamen Dberlegung verdanken sich Argllmente im Zusammenhang<br />
del' Wertbestimmung von Arbeitskraft.<br />
6 So das Ergebnis meiner Dissertation »Theorien des sozialistischen Feminismus«, einer Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit del' neuercn anglo-amcl'ikanischen Theoriediskussion<br />
7 Die Me6gro6c »gesellscbaftlich durchschnittliche Arbeitszeit" als Grllndlage del' Wertbestimmung<br />
von Arbeitskraft richtet sich nach dem jewciligen Stand del" Arbeitsproduktivitat. Hohe<br />
Arbcitsproduktivitat senkt den Zeitanteil des Arbcitstages des Lohnarbeiters zur hmilialcn und<br />
individuellen Reproduktion und damit den Wert von Arbeitskraft und erh6ht den Zeitanteil des<br />
Arbeitstages, in dem del' Lohnarbeiter Mehrwert erzcugt. Weil del' Begriff »gescllschaftlich<br />
durc.;hschnittliche Arbeitszeit« den Verweis auf den jeweiligen Stand cler Produktivkraftemwicklung<br />
enthalt, ist die Arbeitsstunde zwar Ma6einhcit, jedoch nicht mit dem Begriff identisch.<br />
8 Zur Unvereinbarkeit del' Wertbestimmung del' Ware (einschlie61ich def Ware Arbeitskraft) mit<br />
del' Bestinunung YQI1 f-Iausarbeit vgl. Smith (1978). Er weist UberZC\lgend nach, da6 sich keine<br />
einzige Begriffsbcstimmul1g <strong>der</strong> Werttheoric auf Hallsarbeit iibertmgen lark Lesenswert ist weiterhin:<br />
Cousins (1978).<br />
9 DaS" deutsche Familicnrecht hat seinen Urspnmg im Rechtsinstitut del' Mum. Sie war ein Gewaltverhaltnis<br />
im Interesse des Hausherrn und bcdeutete politisch »Herrschaft libel' personlich unfreie<br />
Menscben« und 6konomisch "YerfUgung tiber unbezahlte Arbeit«; vgL Oekinghaus 1925,<br />
5.7<br />
10 Yon besondcrcm Interesse ist die Kontroverse zwischen Michele Barrett/Mary Mcintosh (1979)<br />
und Christine Delphy (1980). Sie zeigt, wie a116erhalb del' Bundesrepublik Deutschland zwei<br />
deutlich voncinan<strong>der</strong> untcrschiedene I'ositionen del' Frauenbewegung, beide mit marxistischem<br />
Anspruch, aufeinan<strong>der</strong>prallen. Lesenswert in diesem Zusammenbang weiterhin: Malos (1978),<br />
Molyneux (1979), Beechey (1979), die auf differenzierte Weise die VOl"'l..lige llnd Nachteile del' je- .<br />
weiligen Theorien <strong>der</strong> Nellen Frallenbewegung er6rtcrn und allch einen historiscben Dberblick<br />
geben. Zur Diskussion in Deutschland vgl. Wolf-Graaf (1981).<br />
11 Einc hervorragende Darstellung und Analyse del' verschiedcnen Dimensionen del' GeschlechterulltcrdrUckl.!ng<br />
in einem Land def 3. Welt (Tansania) gibt Iris Breuning (1982), basierend auf cineI'<br />
umfassenden Auswenung ethnologischer Literatur.<br />
Literatur<br />
Barrett/Mcintosh (1979): Barrett, Michele, Mcintosh, Mary, Christine Delphy: Towards a Materialist<br />
Feminism? In: Feminist Review 1 (1979), S.95-106<br />
Beechey (1979): Beechey, Veronica, On Patriarchy, in: Feminist Review 3 (1979), $.66-82<br />
Beer (1982): Beer, Ursula, Theorien des sozia!istischen Feminislllus, Diss. Frankfurt 1982, llnverOff.<br />
Berkeley-Oakland Women's Union (1974): The »Principles of Unity" of the Berkeley-Oakland Women's<br />
Union, in: Socialist Revolution 19 (1974), $.69-81<br />
Breuning (1982): Breuning, Edith Iris, Geschlechterantagonismus lind Rechtfertigungsideologien. 50-<br />
36 Unllia Beer
tig ab, wie <strong>Marx</strong> von <strong>der</strong> Sklaverei sagte. Und da wir im Kapitalismus leben, handelt es sich<br />
selbstverstandlich urn cine kapitalistische Sklaverei, und nicht um die vorkapitalistische.<br />
Denn so sehr die heutige <strong>der</strong> fruheren formal auch ahnlich sei, Sinn und Zweck ih1'e1' Existenz,<br />
ih1'er Neuschaffung heute, ist ja nicht <strong>der</strong>selbe wie im Vorkapitalismus. Die heutige<br />
Sklaverei, Leibeigenschaft usw. ist daher etwas ganz an<strong>der</strong>es als die frtihere, so wie sie eben<br />
auch etwas ganz an<strong>der</strong>es ais die proletarische Lohnarbeit ist.<br />
Warum ist es denn so schwer vorstellbar, daB friihere, historisch altere Ausbeutungsformen<br />
flir heutige Zwecke benutzt werden, wie z.ll. auch die Zwangsarbeit, und damit einen<br />
heutigen, einen kapitalistischen Charakter erhalten? Es ist eben etwas an<strong>der</strong>es, ob jemand<br />
bei del' Zwangsarbeit umkommt, odeI' ob e1' Zwangsarbeit leisten muB, damit er dabei umkommt,<br />
wie bei del' » Ve1'llichtung durch Arbeit« im 3. Reich.<br />
Genauso verhalt es sich mit dem Patriarchat. Es ist zwar keine Erfindung des Kapitalismus,<br />
abel' seinen Zwecken unterworfen. Daher ist es heute eine Angelegenheit des Kapitalismus<br />
und nicht cine »neben«, aufle1', hinter odeI' libel' ihm. Ware das Patriarchat nicht integrierbar<br />
gewesen, es ware langst abgeschafft. So abel' wllrde es neu geschaffen. Und ebenso verhalt<br />
cs sich mit del' Rente, die hellte eben gar keine vorkapitalistische sein kann. Sie kann<br />
heute nur eine kapitalistische sein.<br />
Auch fUr die Institution del' Familie gilt das, genauso wie z.B. fiir die Kirche odel' den Staat.<br />
Kurz, es geht heute nicht darum, in aller Ruhe auf die »Entwicklung« zu warten, o<strong>der</strong> darum,<br />
die »Unterentwicklung« moglichst schnell zu beseitigen, z.B. durch die Abschaffung<br />
del' Sklaverei, del' Hallsarbeit, del' Religion odeI' des Patriarchats, wie dies z.B. in den sozia<br />
Iistischen Landem haufig so dargestellt wil'd. Denn diese »Unterentwicldung« ist nichts an<strong>der</strong>es<br />
als unsel'e }}Entwicklllng«, auf die wir dahcr auch ganz umsonst warten wii1'den. Sie<br />
ist schon da. D;1S ist sie. Eine an<strong>der</strong>e gibt es nicht in diesem System.<br />
Das Fortschreiten des Kapitalismlls ist daher wedel' ein Fortschritt im positiven, noch dn<br />
Riickschritt im histol'ischen Sinne. U nd das kann angeblich nicht sein, weil es - del' bi.irgcl'lichen<br />
wie linken Theorie nach - nicht sein dad.<br />
Und wenn - wie beide behaupten - Entwicklung Foftschl'itt ist, dann kann und darf es<br />
auch nicht sein, daB die Sklaven und Leibeigellen des Kapitalismus die Frauen und die<br />
Menschen in del' »)3.« Welt sind. Dellll da es die Sklaverei und die Leibeigenschaft »nicht<br />
mehr« 'gibt, abel' auch nicht »schon wie<strong>der</strong>((, kann cs sic iiberhaupt nicht geben. Mit an<strong>der</strong>en<br />
Worten: Es kann nicht sein, dafl Frauen (und die »3.« Welt) kapitalistisch ausgebeutet<br />
werden. (Dann schon eher »vor«- odeI' »nicht«-kapitalistisch, vgl. )}Feudalismus«HDebatte).<br />
Und das heiBt, daB sie angeblich iiberhaupt nicht ausgebelltet werden (vgl. Debatte liber<br />
den )Hlllgleichen Tallsch,(). Bei Frauen (und del' »3.« Welt) dad liberhaupt nicht von "Ausbelltllng«<br />
gesprochen werden, schon gar nicht bei Hallsfrauen. So etwas Ernsthaftes wie<br />
Ausbeutung kann ja nul' Manner betreffen, und »)selbst-;-; die Bauern sind doch unvergleichH<br />
lich viel mehr ausgebeutet als die Frauen, wcnn auch viel weniger als die Lohnarbeiter,<br />
o<strong>der</strong>? Also: Ausbeutung ist Mannersache!<br />
Das finde ich allch (allerdings an<strong>der</strong>shcrum). Und jetzt, Ursula, komm mil' nicht mit del'<br />
berlihmten »Frau des U nternehmers«, die parasital' daherlebt und auch noch ihr weibliches<br />
Dienstpersonal (von WCgCll, daE nul' Manner Frauen ausbeuteten) hat.<br />
So leid es mil' tut, und so untatig dicse Prau auch scin mag, abel' auch sic verfiigt im Grunde<br />
!loch nicht cinmaI- so wie aIle Frauen, <strong>unci</strong> ob ihr das IdaI' ist odeI' nicht - libcr ihren KorH<br />
pcr nebst Geist, und wenn sie nicht mitspielt und kein eigenes Geld hat odeI' vel'dient,<br />
dann fallt sic ganz plOtzlich aus den Wolken des Klassenhimmels hart auf den Boden del'<br />
Lohn ist ein "Wert«, Leben nicht? 55
leibt. Abel' es ist doch nun wirklich langsam Zeit, diese Tatsachen endlich wahrzunehmen<br />
und bestimmte Konsequenzen daraus zu ziehen. Denn was da an - im negativen Sinne - })feminisiertel'«,<br />
»hausfrauisierter({, »naturalisierter« odeI' »mal'ginalisiertel'« Wal'enokonomie<br />
auf uns zukomlllt, uns schon e1'reicht hat, ist doch keine positive »Alternative«, son<strong>der</strong>n eine<br />
kapitalistische Kriegswirtschaft, bei del' es urn Leben und Tod geht.<br />
Die Alternative: Feminismus statt Feminisiemng<br />
Dein Versuch, Ursula, an »meinem theoretischen Entwurf« die »linke« Diskriminierung<br />
des Feminismus zu exerzieren, ist historisch iiberholt, iiberfliissig und langweilig. Vielleicht<br />
client er abel' auch als Warnung fUr die neue Generation junger Frauen, die eine an<strong>der</strong>e<br />
ais nur oberfHichliche ErkHirung fUr die Lage such en, in del' sie sind, und die sonst nicht<br />
so schnell gemel'kt hatten, daB die Frauenbewegung auch rnaterialistische Ansatze hervorgeb1'acht<br />
hat, nnd zwar an<strong>der</strong>e als die Linke.<br />
Dariiberhinaus konnten die Frauen es aber auch peinlich finden, daB es imrner wie<strong>der</strong> welche<br />
unter ihnen gibt, die sich dafUr hergeben, die rnannlichen »Standpunkte« zu vertreten,<br />
und zwar auch dann noch, wenn es urn die Fl'auenfrage selbst, urn ihre ureigensten Interessen<br />
geht!<br />
Dein Aufsatz, Ursula, ist abel' auch schadlich fUr die Frauen, was - wie irnmer - niitzlich fUr<br />
die Manner ist: 1st es nicht vie! besser, wenn die Unterdl'iickten behaupten, sic scicn gar<br />
nicht unterdriickt, als wenn dies die Unterdriicker behaupteten?<br />
Das solltet Ih1' als »Politik del' Fl'auen« in Marburg und an<strong>der</strong>swo diskutieren: daB wir keine<br />
an<strong>der</strong>e Wahl haben, als Feministinnen zu sein.<br />
Denn auch die neue Bewegung cler Griin-Alternativen ist bisher kein Platz fUr die Frauen:<br />
Auch sie verschweigen die Frauenfl'age wie Ubrigens genauso die }>3.«-Welt-Frage. Und<br />
wulhest Du nicht, daB nul' das verschwiegen wircl, was ausgebeutet werden soll?<br />
Weitel'e Beitdigc ZUlU Thcmcnbcl'cich:<br />
Albert K1"611s: Lohn fiir Hausarbeit: Die h6ehst emanzipatorischc Vcrbindung von Frauen, Lohn und<br />
Arbeit, PROKLA 39<br />
Lothar Lappe: Frauen im Ghetto. Dcr fraucI1spezifische Arbcitsmarkt und seine Folgcn> PROKLA<br />
49<br />
Andrca Ruby, Brigitte G6ttgells, Sigrid Koeppinghoff: Renteme/mm '84: Fraucn bleiben diskriminien,<br />
PROKLA 49<br />
Ursula Westphal-Georgi: Der So:zitdstaat wini Ilmgebat/t - Perspektiven fi.il' die Frauen, PROKLA 49<br />
58 Clauditl 'IJ. Werlho/
1.<br />
Die Mittel fur diese Selbstverstandigung bei den akademischcn Sozialwissenschaften zu su¥<br />
chen, halteD aber nieht nor die Mitglie<strong>der</strong> dieser Bewegungen fiir vergeblich. Wic schwer<br />
sieh die heutige Gesellschaftstheorie tut, diese neue gesellschaftskritische Praxis zu analysieren,<br />
kaon man gerade an ihfer jiingsten KonzeptioD, an Haberm
miert, reglementiert und einschnUrt.<br />
Jenseits dieses postkapitalistischen, aber immer noch mit den Muttermalen <strong>der</strong> aiten Gesellschaft<br />
behafteten Gemeinwesens konzipierte <strong>Marx</strong> cine Form gesellschaftlichen Zusammenlebens,<br />
»worin die freie Entwicklung cines jeden die Bedingung fUr die freie Entwicklung<br />
aIler ist« (4, 482). Dicse frcie Selbstbestimmung <strong>der</strong> Individuen bezieht sich nicht nur<br />
auf ihre produktive Tatigkeit. Wie ihre Arbeit Selbstbedi.tigung ihrer korperlichen, geistigen,<br />
sinnlichen und kiinstlerischen Fahigkeiten und Krafte und damit ihre Selbstverwirklichung<br />
ais produktive Individuen darstellt, so sind die gesellschaftlichen Verkehrsformen,<br />
die sie praktizieren, Selbstbestimmung und Selbstbetatigung ihrer sozialen Bediirfnisse, Fahigkeiten<br />
und Krafte und damit ihre Selbstverwirklichung als soziale Individuen. Gesellschaft<br />
stellt sich nicht langer hinter dem Riicken <strong>der</strong> Individuen als Synthese ihrer geteilten<br />
und privat betriebenen Gesamtarbeit her. Sie ist auch nicht Hinger eine Assoziation zum<br />
Zwccke <strong>der</strong> Selbstregierung und gemeinsamen Planung <strong>der</strong> ·Produktion. Vergesellschaftung,<br />
gesellschaftliche Beziehungen, gesellschaftliche Verbindungen, gesellschaftliche Verhaltnisse<br />
existieren nicht mehr jcnseits und liber <strong>der</strong> konkreten Lcbenspraxis cler Individuen,<br />
son<strong>der</strong>n sind nur noch da zu finden, wo ein Mensch mit irgendeinem Organ seiner Individualitat<br />
sich konkret und direkt zu einem andcren Menschen gesellt, sich auf eincn an<strong>der</strong>en<br />
bezieht, sich mit einem an<strong>der</strong>en verbindet und sich zu einem an<strong>der</strong>n verhalt. Erst in dieser<br />
zweiten Phase des Kommunismus iiberwinden clie Menschen nach <strong>Marx</strong> ihre knechtende<br />
Unterordnung uoter Bestimmungen ihres Vergesellschaftungsprozesses, die sich ais okomomische<br />
Kategorien, soziale RoUen o<strong>der</strong> politische Funktionen ihnen aufzwingen, und<br />
gewinnen sich als Menschen wie<strong>der</strong>. Wenn <strong>Marx</strong> feststellt, daB das Bediirfnis des Menschen<br />
nach dem Menschen als Menschen ein (spates) Proclukt <strong>der</strong> Geschichte ist, so meint er das<br />
nicht emphatisch, son<strong>der</strong>n analytisch. Er spricht hier von clem Bediirfnis des Menschen,<br />
sich selbst nicht Hinger als Mitglied cines Stammes, einer Familie, cines Standes, einer Klasse<br />
o<strong>der</strong> ciner sonstigen gesellschaftlichen Kategorie, son<strong>der</strong>n als beson<strong>der</strong>es Individuum zu<br />
empfinclen, und von dem BedUrfnis, sich als soIches auch auf den an<strong>der</strong>en Menschen als einem<br />
selbstbestimmten, konkreten und ganzen Menschen zu beziehen, del' mehr ist als das<br />
Ensemble gesellschaftlicher Bestimmungen.<br />
Zwar verlangte auch del' BUrger, zumal des neunzehnten Jahrhunclerts, als eine beson<strong>der</strong>e<br />
»Personlichkeit« zu gelten. Allerdings war er mit clicsem Anspruch nie in cler Lage, von einer<br />
hohen Position auf <strong>der</strong> gesellschaftlich normierten Berufs-, Einkommens- o<strong>der</strong> Prestigeskala<br />
abzusehen. Das Bediirfnis nach einem menschlichen Verhaltnis zu sich und zu<br />
an<strong>der</strong>en und nach cineI' Procluktionsform, in cler eine menschliche Sprache nicht effektlos<br />
bliebe (vgl. E 1, 461), dagegen ist neu. Gesellschafdiche Bestrebungen, zu denen clieses Bediirfnis<br />
motivielt, mit <strong>Marx</strong> kommunistisch zu nennen, halte ich allerdings fUr verfehlt,<br />
nicht nur, weil dieser Begriff durch die Geschichtc mit einem <strong>der</strong> <strong>Marx</strong>schen Konzeption<br />
entfremdeten Bedeutungsgehalt besetzt wurde, sonclcrn auch weil Begriffe wie Sozialismus<br />
<strong>unci</strong> Kommunismus den Charakter cles Kollektiven betoncn, clen <strong>Marx</strong>' zweite Phase des<br />
Kommunismus nicht mehr besitzt. 5011 doch in dieser Gesellschafftsform del' Primat des<br />
sozialcn Individuums geitcn, dem die produktive Bctatigung wic seine Vergcsellschaftung<br />
mit an<strong>der</strong>en die Befriedigung individueller Bedlirfnisse sind und dessen frcie Entwicklung<br />
die Bedingung fiir die freie Entwicklung alIer ist.<br />
Erst heute entwickeln sich gesellschaftliche Becliirfnisse und Bestrebungen, die man als das<br />
praktische Element <strong>der</strong> Emanzipation des Menschen zu einem sozialen Individualismus begreifen<br />
konnte. SoIche Bediirfnisse und Bestrebungen kommen zum Ausdruck, wo Frauen<br />
76 AlexaMohl
das Denken sich ais Subjekt einem Objekt (Gegenstand) gegeniiber verhalten, wenn dieses<br />
Objekt sich zugleich als Subjekt gegenliber dem Denken verhalt?<br />
Schmied-Kowarzik formuliert dieses Verrnittlungsproblem del' beiden Subjekt/Objekt<br />
ProzeBreihen von Praxis und Theorie primal' aus del' Perspektive einer Selbstrechtfertigung<br />
del' materialistischen Theorie aus dem 'An<strong>der</strong>en', <strong>der</strong> Praxis, 'ohne sich dabei als Theorie<br />
aufzugeben'. (VgI. S,210 f) Er sieht darin ein Hauptanliegen seiner Arbeit. Gleichwohl<br />
geht dieser Teil m,E, kaum libel' eine Formulierung des Problems hinaus,<br />
Sich weitgehend auf das Rekonstruktions-Anliegen zurlickziehend will Schmied-Kowarzik<br />
zeigen, daB sich bereits bei <strong>Marx</strong>, in del' 'Kritik del' Hegelschen Dialektik und Philosophie<br />
iiberhaupt', dem SchluBkapitel <strong>der</strong> okonomisch-philosophischen Manuskripte von 1844,<br />
erste Dberlegungen zu einer dialektischen und materialistischen Selbstbegriindung dialektischer<br />
und materialistischel' Theorie finden, Erganzt wird diesel' Teil durch einen interessanten<br />
Einblick in die bisher weitgehend unbeachtet gebliebene materialistische Hegelkritik<br />
des spaten Schelling, Dieses, auch fUr die Naturdialektik re1evante Defizit ist nicht zuletzt<br />
eine FoIge epigonaler Autoritatsglaubigkeit gegenUber den zu Gurus verbogenen<br />
<strong>Marx</strong> und Engels, die Schellings Spatwerk entwe<strong>der</strong> nicht kannten - gilt wohl flir <strong>Marx</strong> -<br />
o<strong>der</strong> mit ihm nul' wenig anzufangen wuBten - gilt fUr Engels,<br />
Flir eine Selbstbegriindung materialistischer Dialektik, so Schmied-Kowarzik, reiche eine<br />
geschichtsmaterialistische Darstellung del' Riickgebundenheit von Denken und BewuBtsein<br />
an die gesellschaftliche Praxis, wie sie von <strong>Marx</strong> und Engels in del' 'Deutschen Ideologie'<br />
geleistet werde, nicht aus, Die Begriindung aus <strong>der</strong> gesellschaftlichen Praxis miisse sich<br />
vielmehr im Medium des Denkens se1bst vollziehen. Del' <strong>Marx</strong>schen Hegelkritik hingegen<br />
lieBe sich entnehmen, daB materialistische Dialektik sich selbst begrUllden kenne, illdem<br />
sie )}In materialistischer Kritik die Entfremdung del' idealistischen Dialektik aufdeckt und<br />
in dialektischer Aufhebung dieser Entfremdung '" sich die Dialektik in ihrer wahren und<br />
wirklichen Gestalt aneignet,{( (S,218) So habe <strong>Marx</strong> zunachst einen 'doppelten Fehler' bei<br />
Hegel aufgedeckt:<br />
1. Hegel faBt <strong>der</strong>i dialektischen Pl'OzeB ais reine immanente Gedankenbewegung, als<br />
Selbsterzeugung des BewuBtseins, zu-sich-selbst-Gelangen des absohlten Geistes, Er vermag<br />
in diesel' Bewegung nicht den wirklichen ProzeB del' gesellschaftlichen Praxis zu<br />
erblicken. Er kann daher auch nicht erkennen, daB das einzig Wirkliche am Denken<br />
das Denken selbst ist, daB das Denken wirkliches BewuBtsein des gesellschaftlichen<br />
Menschen ist und solcherart eine menschliche Produktiv- bzw, Wesenskraft,<br />
Die idealistische Verabsolutierung des Dellkens zur Wirklichkeit schlechthin hat<br />
gleichfalls Schelling zuriickgewiesen, wenn er auseinan<strong>der</strong>legt, es kenne nicht kritisiert<br />
werden, daB del' Inhalt del' Philosophie nul' Gedanken seien, wohl abel' sei an<strong>der</strong>erseits<br />
unannehmbar, daB del' Inhalt diesel' Gedanken nul' Begriff bzw, Begriffe seien, (vgl.<br />
5.255)<br />
2, Hegel habe Vergegenstandlichung mit Entfremdung identifiziert - Konsequenz del' idealistischen<br />
Verklarung von Wirklichkeit zu Begrifflichkeit, Aufhebung del' Entfremdung<br />
bedeute daher Aufhebung des Vergegenstandlichten und dessen Einholen in den<br />
Begriff, Diesel' Vorgang del' Aufhebung del' Entfremdullg bleibt jedoch, wie <strong>Marx</strong> auf·<br />
zeige, ein Akt innerhalb des sich sclbst entfremdeten Denkens, Die Vermengung von<br />
Vergegenstandlichung und Entfremdung im Begriff del' EntauBerung bewirke also, daB<br />
in del' Aufhebung del' Entfremdung das entfremdete Denken bei sich selbst bleibt,<br />
Diesen 'Fehler?', so Schmied-Kowarzik, stelle <strong>Marx</strong> zwei 'El'l'ungenschaften' gegeniiber:<br />
GeschichtLiches Handeln lind Nattlrdialektik 95
1. Hegel habe, wenngIeieh in entfremdeter Gestalt, fUr den gesehichtlieh-gesellsehaftlichen<br />
Prozefi <strong>der</strong> Praxis die Struktur <strong>der</strong> doppelten Negation (<strong>der</strong> Aufhebung des Wi<strong>der</strong>spruchs<br />
und <strong>der</strong> Aufbewahrung des in ihm Herausprozessicrten) naehgewiesen. Urn<br />
nun nicht hinter dieses Niveau des ProzeBdenkens und <strong>der</strong> Kritik zurUckzufalleu, mUsse<br />
Uber cine einfaehe Negation <strong>der</strong> hegelschen Philosophic hinausgegangen werden. Die<br />
biofie Negation des sich ais aIle Wirklichkeit setzenden Denkens leistet allenfalls eine<br />
abstrakte, inhaltsiose ZurUckweisung desselben und cine Verabsolutierung materiell<br />
sinnIieher Unmittelbarkeit. Die auBerliche Kritik gedit daher in den Wi<strong>der</strong>spruch, sich<br />
einerseits im Medium des Denkens zu artikulieren, an<strong>der</strong>erseits dem Denken selbst die<br />
ihm eigentiimliche Wil'klichkeit zu bestreiten. Es gelte hingcgen, vermittelt liber eine<br />
Kritik des Versuchs, eine 'positiv von sieh selbst bcginnende' materialistisehe Theorie<br />
zu begrUnden, dureh Negation mithin, zu einer Aneignung des in <strong>der</strong> Philosophie in<br />
entfremdeter Form vergegenstandIiehten Reichtums mensehliehen Denkens zu gelangen.<br />
(Vgl. $.221) In <strong>der</strong> Negation <strong>der</strong> Negation des von sich sdbst entfremdeten philosophisehen<br />
Denkens steht Sehmied-Kowarzik jene, sich im Medium des Denkens vollziehende<br />
Bewegung, innerhalb <strong>der</strong>er die Selbstbegriindung materialistischer Dialektik<br />
sieh vollzieht.<br />
2. Hegel habe in seiner Logik "- die insgesamt den Beweis el'braehte, daf1 das Denken fUr<br />
sieh nichts ist - in entfremdeter Form den gesamten Ertrag <strong>der</strong> Gesehichte del' geistigen<br />
Arbeit <strong>der</strong> Philosophie zusammengefaBt, jene fUr jeden Inhalt gUltigen Abstraktionsformen,<br />
Begriffc, Denkformen und logischen Kategorien. Dureh eine ais Ncgation <strong>der</strong><br />
Negation vollzogene Kritik <strong>der</strong> Logik konne dieser Reichtum als Produkt eines selbstbewuBten<br />
Denkens angeeignet werden.<br />
Schmied-Kowal'zik umreif1t abschliefiend die Problem-Konstellation einer SelbstbegrUndung<br />
materialistiseher Dialektik wie foIgt:<br />
»Da die SelbstbegrUndung del' materialistischen Dialektik gerade nicht, wie die Hegelsche<br />
Dialektik, sieh aus sich selbst vollziehen kann, sondel'll sich aus 'ihrem' An<strong>der</strong>en, del' gesellschaftliehen<br />
Praxis, begrondet weiB, gleichzeitig aber daran festhalten muB, daB ihre Begriindung<br />
nieht unvennittelt gegeben ist, sandel'll nul' im Medium ihrer selbst ais Theorie<br />
erfolgen kann, ergibt sieh daraus eine prinzipiell doppelte dialektische Struktur. Die gesellsehaftliehe<br />
Praxis aIs das Dbergreifende libel' sich und ihl' an<strong>der</strong>es, die Theoric, kann sieh<br />
ihrer se1bst ais das Dbergreifende nur bewuBt werden durch eine sie ausdriickende Theorie,<br />
vermittelt Uber die gesellsehaftlich bewuf1ten Subjekte; aber die Theorie, die das Dbel'greiH<br />
fende del' gesellsehaftliehen Praxis ausdl'Ucken solI, muB - ohne sich aIs Theorie aufgeben<br />
zu k6nnen und zu dUrfen - sich an sich selbst als von del' gesellschaftliehen Praxis Ubergriffenes<br />
Moment begrUnden - sonst fallen Theorie und Praxis wie<strong>der</strong> auseinan<strong>der</strong>. Flir sieh<br />
abel' kann we<strong>der</strong> die gesellsehaftliehe Praxis jemals sich ais das Dbergl'eifende explizieren<br />
noeh die Theorie ... je die gesellschaftliche Praxis einholen.« (S.255)<br />
Schmied-Kowarziks Darlegung del' Pl'oblematik einer Selbstrechtfertigung materialistiH<br />
scher Dialektik wirft zahlreiehe Fl'agen auf. Was bedeutet iiberhaupt ·Selbstbegri.indung'<br />
fUr eine Philosophie <strong>der</strong> Praxis; fUr ein Denken mithin, das sich gerade darin verwirkIieht,<br />
daf1 es sieh als (reines) Dcnken aufgibt? Wie vermag sieh ein Denken, das gleichsam von<br />
sich selbst Abstand nehmen mul1, um sich im Bewul1tsein bewuBter, umwaizen<strong>der</strong> gesellschaftlieher<br />
Praxis ais Denken bejahen zu k6nnen, aus <strong>der</strong> Praxis zu begrlinden, »ohne VOll<br />
sich ais Theoric zu lassen«? Was also ist cine theo?wische Selbstl'eehtfertigung von l'heorie<br />
96 Dieter Hassenpflllg
fertigung bewuBter gesellschaftlicher Praxis stellen muB? Die Fl'age wiirde dann nieht<br />
mehr lauten: Wie kommt das erkennende Subjekt an den' zu erkennenden Inhalt, einen<br />
Inhalt, <strong>der</strong> das el'kennende Subjekt je schon umschlieBt; die Frage kannte nun lauten: Wie<br />
kommt das tatige Subjekt an den zu vel'mensehlichenden Inhalt, an die wirkliehen Gegenstaude<br />
seiner bewuBten Selbsterzeugung? Diese Fragestellung sehiene mil' dureh den Versuch<br />
motiviert, die theoretische Selbstbegriindung materialistiseher Dialektik auf ein Zur<br />
Spraehe-Bl'ingen umwalzen<strong>der</strong>, konkret-utopisch orientierter Praxis zuriickzunehmen.<br />
Denn mil' scheint eine dialektisch-materialistische Selbstbegriindung, die sich nur zur Spraehe,<br />
zum Denken und nieht zul' ratigen Konstruktion, Vergegenstandliehung eines ncuen<br />
mensehlichen Inhalts zu bringen vermag, erneut in del' Gefahr einer Vermengung von<br />
Wirklichkeit mit Begriffliehkeit zu stehen.<br />
So wenig die Theorie die Wirklichkeit zu erreichen vermag, so wenig vennag die TheOl'ie<br />
die Wirkliehkeit aIs Wirkliehkeit zu iiberschreiten. Sie kann sich selbst iibersehreiten, um<br />
doch nul' bei sich selbst anzukommen. Sie vermag abel' die Wirkliehkeit im Begriff z1.1 ubersehl'eiten,<br />
die begriffliche Wirkliehkeit. In diesel' Fahigkeit ist die spezifisch menschliche<br />
Produktivkraft des Denkens begriindet. A1.1eh eine materialistische TheOl·ie vermag ais<br />
Theorie nicht dem Idealism1.1s z1.1 entkommen. 1st Idealismus nieht del' Name fUr die Grcnze,<br />
die eigentiimliche Rcalitat alIer Theorie? Besteht <strong>der</strong> Materialismus <strong>der</strong> TheOl·ie nicht<br />
darin, daB diese sich ihl'es Idealismus bewuBt ist, bzw. darin, daB diese ihre'Wirkliehkeit in<br />
bewuBter gesellsehaftsveran<strong>der</strong>n<strong>der</strong> Praxis hat? Die Aufhebung <strong>der</strong> Entfremdung des Denkens<br />
hebt ja nieht den Idealismus des Denkens auf (nul' den Idealismus des sich absolut setzenden<br />
Denkens, was ein groBer Untersehied ist).<br />
Die Wirklichkeit vermagen die Menschen allein in gesellschaftlicher Praxis zu transzendieren<br />
(und nul' von hierher auch in <strong>der</strong> Theorie). Ein die \'Xfirklichkeit praktisch iiberbieten<strong>der</strong><br />
Mensch aber ist ein selbstbewuBte1', denkende1' Mensch. E1' hat eine Idee, ehe er sie ausfUhrt.<br />
Das Denken des wil'kliehen, sich praktisch selbst erzeugenden Mensehen bewirkt,<br />
daB das Transzendieren del' WirkIiehkeit ein bewuBtes Uberseh1'eiten (ein p1'aktisches Kritisieren,<br />
Umarbeiten, Veran<strong>der</strong>n) ist, also ein menschliches, dem Mensehen eigentiimliches<br />
Uberschreiten. Praxis heiBt Uberschreiten. Dureh die Potenz des Transzendie1'ens im Begriff<br />
bedeutet das Denken seinerseits die Ermaglichung dicses praktisehen Ubersehreitensais<br />
ein menschliehes.<br />
Droht Sehmied-Kowarzik das Problem <strong>der</strong> Selbstbegriindung materialistischer Dialektik<br />
auf bloBe Philosophie zuriickzunehmen? Die theoretisehe Kritik - und in einem an<strong>der</strong>en<br />
5inne sprieht Sehmiecl-Kowarzik m.E. an keinel' Stelle von Kritik - bewegt niehts als Begriffe<br />
und Abstraktionen. Urn etwas Wirkliches zu bewegen, muB die Theorie das intellektuelle<br />
Moment wil'klichen Tatigseins sein. Die Philosophic del' Praxis lebt in ihrem An<strong>der</strong>en,<br />
in <strong>der</strong> die entfremdeten Verhaltnisse wi1'klieh aufhebenden Praxis, in <strong>der</strong> industriekritischen<br />
Bewegung.<br />
98 Dieter HassenpfiHg
12 Sehr deut1ich wird dies beispielsweise an den frUhen Aufsatzen Max Horkheimers, etwa in 'Traditionelle<br />
lind kritische I1Jcorie', Frankfun/M. 1970.<br />
13 Diese Position wird z.B. durch Friedrich Tomberg vertreten, auf dessen verbreitete Schrift 'Stlrgerliche<br />
WissenschaJt, Begriff, Geschichte, Kritik', Frankfurt/M. 1973 ich hier hinweisen mochte.<br />
14 Propagandisten, die hellte ja nicht nUl', wic klassisch, in <strong>der</strong> Bourgeoisie zu finden sind, sondeI'll<br />
zunehmend in <strong>der</strong> Arbeiterschaft del' entwickelten Industrienationen, die einerseits gegenUber<br />
den Arbeitern in Lin<strong>der</strong>n del' sogenannten Dritten Welt selbst als Bourgeois erscheinen, an<strong>der</strong>erseits<br />
nicht mehr nur Verkaufer ihrer Arbeitskraft, son<strong>der</strong>n diese tendenziell gleichsam an sich<br />
selbst verkaufen, d.h. Unternehmer und Unternommene zugleich sind. Heute ist doch bereits die<br />
absurde Situation antizipierbar, wo die Arbeiter im Rahmen ciner erheblich erweiterten Mitbestimmung<br />
ihre eigenc Entlassung verftigen, wenll es die Rationalitat del' Kapitalverwertung so<br />
will ... Situation des auf die Spitze getriebenen Wi<strong>der</strong>spruchs freilich, die daher nach revolutionarer<br />
Losung schreit.<br />
15 <strong>Marx</strong>, Ober F. Lists Bllch Vas nationale System <strong>der</strong> politischen Okonomie', Berlin 72 VSA, S. 32f.<br />
16 SO VOl' aHem in den Grllndrissen <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong> Politischen Okonomie, EVA-Nachdruek, S.310-<br />
315 <strong>unci</strong> S.582-600.<br />
17 Diesel' Begriff von Humanismlls verweist auf Demokratie und Sozialismus. In beidem verwirklicht<br />
sich die menschliche Natur, <strong>der</strong> seiner Natur bewllBt gewordene Mensch. Die mensehliehe<br />
Natllr ist jedoch nul' dann zllgleieh naturalisierter Mensch, wenn dieser sich in seiner Lebensgewinnung<br />
aus del' Nawt, del' auBer ihm und durch ihn hindurch prozessierenden Totalitat be"<br />
greift.<br />
Daher sind wahre Demokratie und wahret Sozialismus lind cine okologisch vel'antworlichc, dem<br />
soJidarisehen Zusammenhang des Natur und Gesehichte Uberwolbenden Ganzen gerecht werdende<br />
Praxis erst in ihret Einheit verwirklieht.<br />
18 Inwieweit Georg Lukacs dicsen Zusammenhang hereits gesehen hat, wird mit seinem Begriff <strong>der</strong><br />
»'StmktmJ01men " die die Gegenstandlichkeit seines (des Menschen) inneren wie auBeren Lebens<br />
bestimmen«, und welche er auch mit dem Begriff <strong>der</strong> Industrie bzw. del' Industriegestalt zusammenbringt,<br />
nicht ganz kIal'.<br />
Vgl. Geschichte lind Klassenbewufttsein ." a.a.O., S.272ff, S.304f, 5.242 usw.<br />
19 Vgl. Alfred Sohn"Rethel, Geistige Imd korperliche Arbeit, a.a.O. Alfred Sohn"Rethel setzt del' pseudohistorisehen<br />
Erkenntnislehrc des naturolltologischen Vulgarmarxismus sozusagen eine 'kantianisierte'<br />
geschichtsmatel'ialistische Erkenntnistheorie entgegcn. Die apriorischen Fonuen naturwissenschaftlichen<br />
Erkennells werdell als geschichtliche ausgemacht, das transzendcntale Subjekt<br />
als ein durch Tauschabstraktioncn konstitllicnes.<br />
Was bestehen bleibt, ist del' kantische erkelllltnistheoretisehe Subjektivismus. Die geschichtsmaterialistische<br />
Erkenntnistheoric Sohn-Rethels droht in negativer Fixierung auf die objcktivistischen<br />
Konzeptionen des Vulgarmaterialismus (Widcrspiegelungstheoriell) zu verharren. Besondel's<br />
deutlich tritt diese latent aporetisehe Konstellatioll bei Bodo v. Greiff in Gesellschafisform<br />
lind E1'kenntnisfonn (s.tI.) hervor. Eine gesehiehtsmaterialistische Erkelllltnisiehre, die Subjektivitat<br />
und Objektivitat von Erfahnmg, Anschauung und Erkcnntnis einan<strong>der</strong> dialektisch vermit·<br />
telt, ist von Sohn-Rethel her nicht zu gcwinnen. Sie steht noeh aus.<br />
20 Bodo v. Greiff, Gesellschafisform lind Erkenntnisform, Frankfurt/New York 1976.<br />
Rudolf W. Muller, Geld und Geist, Frankfurt/M. 1977.<br />
Christine Woesler de Panafictl, Flir eine be-greifende Praxis in <strong>der</strong> Natttr, Giessen 1978. Hier sehe<br />
ich gutc Ansatzc fUr eine weitertreibcnde Kritik an Sohn·Rcthel.<br />
21 Vgl. Ernst Bloch, Drts hinzip Hoffnrmg, Frankfurt/M. 1974.2. Band, S.807ff.<br />
100 Dieter H(lSSenpjlug
vergaBen - mit im Laufe seines Lebens untersehiedlicher Akzentuierung - we<strong>der</strong> die tatige<br />
Seite noeh den Begriff <strong>der</strong> Natur, haben we<strong>der</strong> die Totalitat <strong>der</strong> gescllschaftlichen Praxis<br />
(vgl. Lukacs 1923) noch jene <strong>der</strong> Natur einzeln absolut gesetzt: <strong>der</strong> Mensch eigne sich Natur<br />
in <strong>der</strong> materiellen Produktion an, mache sie zu einem gesehichtlich spezifischen Produkt,<br />
und sei doch zugleieh Teil del' Natur. Auch wird in den Al'beiten zwischen 1919 und<br />
1931 die gesellsehaftliche Fol'mbestimmtheit del' (natur-)wissenschaftliehen Erkenntnisweise<br />
als ein bedeutsamer politischer Zusammenhang formuliert. El'weist sieh nieht die Rationalitat<br />
reiner, voraussetzungsloser und positiveI' Wissenschaft als <strong>der</strong> bestimmte Ausdruck<br />
<strong>der</strong> okonomisehen Basis del' biirgerlichen Gesellsehaft? Ihre Adaption im <strong>Marx</strong>ismus hatte<br />
die verheerenden Folgen, del'enthalben das Buch »<strong>Marx</strong>ismus und Philosophie« auf das<br />
Wesen revolutionarer Dialektik und kritischer Philosophie aufmerksam machte. 1m kulturrevolutionaren<br />
Konzept del' »geistigen Aktion« fand die revoltierende studentisehe Generation<br />
del' Sechzigcr Jahre den begrifflichen Hol'izont fUr die Kritik del' bUrgerlichen<br />
Denk- und Lebensfol'men und fiir die Ausseinan<strong>der</strong>setzung mit del' Geschichte del' Arbeitel'bewegung<br />
und Fragen del' Mal'xschen Theorie. Einel'seits wird die vol'liegencle El'orterung<br />
unabdingbare Bestandteile del' damaligen Diskussionen aufnehmen und zitieren. Indessen<br />
haben sich unsere Interessen und Probleme historisch verandel't und wenn es<br />
scheint, daB Korsch heute nul' als Klassiker del' akademischen Lehre sich am Leben crhalte,<br />
ist manchesmal als Ursache zu vermuten; die Verlangerung und Verhartung del' familiaren<br />
wissenschaftlichen Rezeption Anfang del' Siebziger Jahre!. Unserc Aktualitat Korschs entfalte<br />
sich nach vornehmlich zwci Richtungen: a) dem Zusammenhang von Erkcnntnistheorie<br />
und gcsellschaftlicher Praxis in Unterscheidung des naturwissenschaftlichen Dcnkens<br />
von del' Dialektik, dem - historische El'cignisse reflektierenden Vel'such - Klarheit iiber kritische<br />
Wissenschaft und Philosophie zu erringen; b) die inhaltliche Seite bestimme das Problem<br />
'Natur und Geschichte' zwischen Technikkritik und qualitativem Naturbegriff.<br />
Die Akzentuicrung mag angesichts sehr differenziertcr Analysen tiber Gesellschaft und BewuBtsein<br />
in del' Weimarer Zeit iiberraschen. Richard Vahrenkamp zahlte die Arbeiterbewegung<br />
geschlossen nicht zu den Kritikern von Wissenschaft und Technik, sie habe die<br />
))vol'herrschenden Ol'ientierungen des Biirgertums iibernommen und sogar auch zu Extrempositioncn<br />
wcitcrcntwickelt« (Vahl'enkamp 1980, S.l). Belege lassen sich tatsachlieh<br />
findcn, schon im Kaiserreich demonstrierte dic Sozialdemokratie eine allgemeine Wissenschafts-<br />
und Fortschrittsglaubigkeit, die u.a. in del' interessierten Rezeption des Darwinismus<br />
sich nie<strong>der</strong>schlug. Die exakte Wissenschaft galt mit objektivistischem Dberhang als<br />
Triebfedcr del' gesellschaftlichen Entwicklung wie als identitatsstiftcnde Grundlage eines<br />
sozialistischen Weltbilds 2. In dcn Zwanziger Jahren kam del' Debatte libel' Rationalisierung<br />
cine Schliissclfunktion zu, im Verlauf <strong>der</strong>er die Al'beitel'bewegung (hier: SPD,<br />
ADGB) die Mo<strong>der</strong>nisierung del' kapitalistischcn Produktion durch neue T echnologicn und<br />
neue effektivitatssteigerndc Arbeitsorganisation auf breiter Basis untersttitzte. Man glaubte<br />
an die technisch-wissenschaftliche Vernunft als Gesamtinteresse des Volkes. Die KPD differenzierte<br />
zwar nach Vahrenkamp mittels <strong>der</strong> getl'ennt 6konomischen und ingenieursma<br />
Bigen Bewertung, begriiBte im Sinne <strong>der</strong> Anwendungsdiskussion gleichwohl den eincn<br />
technischen Fortschritt fiir eine kommunistische Wirtschaft. Christel NeusiiB fragte in einem<br />
zuriickliegenden PROKLA-Aufsatz, ob es sich nicht urn einen notwendigen Schritt in<br />
del' Entwicklung del' Pl'Oduktion und des BewuBtseins handle. ))Es ist nicht vorstellbar,<br />
daB, wenn an<strong>der</strong>es zu den ken moglich gewesen ware, es nicht zumindest im Moment <strong>der</strong><br />
Revolution nach dem ersten Weltkrieg in del' Al'beiterbewcgung gedacht worden ware.«<br />
102 Michael Grauer
tung differenzieren mussen. Insofern bis heute Kant als das fortgeschrittenste Se1bstverstandnis<br />
<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen (Natur-)\Vissenschaft angesprochen werden darf, bietet sich del'<br />
fachphilosophische Vergleich zu Kautskys Rezeption des »Ding an sich« geradezu an. Mit<br />
Kant kann das Dasein del' Dinge an sich wedel' durch Erfahrung a posteriori, noch clurch<br />
apriorische Vernunftaussagen erkennbal' gemacht werden. Die Welt del' Wissenschaft<br />
meint Iediglich das Dasein cler Dinge ais Gegenstand moglicher Erfahrung, d.h. die Erkenntnisse<br />
sind je determiniert durch die Verstandesformen des Subjekts - ais Ursprung<br />
del' Gesetzlichkeit. Unter dem Titel del' Konstitution, dem expliziten Anknlipfungspunkt<br />
Korschs an die deutsche Idealphilosophie (vgl. Negt 1973), entfaltet Kant den Anteil des<br />
Subjekts an del' Gegenstandlichkeit del' Welt und verweist uns - trotz transzendentalem<br />
Standpunkt - auf die Grenzen del' El'kenntnismoglichkeit gegenliber clem An Sieh, d.i. genauer<br />
die Grenze einer theoretischen Erkenntnis, die als blirgerliche Rationalitat verortet<br />
werden muB (Sohn-Rethel1978, S.27ff). Diese Reichweite konnte Kautsky an keiner Stelle<br />
seiner Kant-Interpretation, auf die er sich so gerne stiitzen mochte, einholen; unter del'<br />
Hand verwandelt sich ihm die Frage nach clem Ding an sich positivistisch in cliejenige del'<br />
bloBen Perfektibilitat del' menschlichen Erkenntnis im Horizont eines biologisch-historischen<br />
Problems unserer Sinne. »Unsere Erkenntnisse sind also noch relativer, als Kant annahm<br />
... Es gibt keine absolute Erkenmnis, sondel'll nul' einen in seinem Ende unabgeschlossenen<br />
Pl'ozeB des Erkennens. Dies ist die Erkenntnistheorie del' materialistischen Gesehichtsauffassung.«<br />
(Kautsky 1927, Bd.l, S.58f; vgl. Korsch 1929, S.112£) Die Oberfliich·<br />
Iichkeit einer solchen, aIle formationsspezifische Bestimmtheit auflosenden, linearen naturalistischen<br />
Auffassung des Entwicklungsganges (hier: del' Erkenntnis) gemahnt Korsch erneut<br />
del' Aufl'ollung des (positiven) VerhaItnisses von <strong>Marx</strong>ismus und Philosophie.<br />
Schliel1lich fiihrte die methodische Konsequenz, mit doer Korsch die Selbstanwendung del'<br />
materialistischen Geschichtsauffassung formulierte, in Gestalt einer linksphilosophischen<br />
Opposition zur KPD und Komintern - von diesel' Seire fruh erkanut und bekampft - notwendig<br />
zum Konflikt mit dem leninistischen Theoriebestand. 1m Geleitwort zur zweiten<br />
Auflage von »<strong>Marx</strong>ismus und Philosophie« eroffnet Korsch die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit<br />
del' philosophiefremden, positivistisch wissenschaftlichen Auffassung des russischen <strong>Marx</strong>ismus:<br />
» ... in del' ... jetzt begonnenen gmndsatzlichen Auseinan<strong>der</strong>setzung uber die gesamte<br />
Lage des hetttigen <strong>Marx</strong>ismus werden trotz aIler sekund1i.ren und vorlibergehenden hauslichen<br />
Stl'eitigkeiten in allen grofien und entscheidenden Fragen die aIte <strong>Marx</strong>-Orthodoxie<br />
Karl Kautskys und die neue <strong>Marx</strong>-Orthodoxie des russischen odeI' 'Ieninistischen' <strong>Marx</strong>ismus<br />
auf del' einen Seite und aIle kritischen und fortschl'ittlichen Tendenzen in del' Theorie<br />
del' heutigen Al'beiterklassenbewegung auf del' an<strong>der</strong>en Seite zusammenstehen.« (Korsch<br />
1930a, S. 33) 2um Vorwurf machte Korsch del' III. Intel'llationale ihr vordialektisches Fundament,<br />
wie es Lenin 1908/09 in del' Streitschrift »Materialismus und Empiriokritizismus«<br />
gewissermaBen als Ausdruck del' zurlickgebliebenen Zustande in Rufiland 8 formuliel't hatte,<br />
in die Gegenwart del' Zwanziger Jahre fortgeschrieben und durch seine Nachfoiger ais<br />
verbindliches Modell schIieBlich exportiert wurde. Die Wi<strong>der</strong>spiegelungstheorie kniipft in<br />
del' strikten Tl'ennung von BewuBtsein und Welt, abseits aller idealistischen Philosophie,<br />
an die Tradition des bi.irgerlichen Matel'ialismus des 17. und 18.Jahrhun<strong>der</strong>ts an. Gerade in<br />
Anbetracht del' allerorts vorhe1'1'schenclen Gl'undrichtung del' blirgerlichen Philosophie,<br />
Natur- und Geisteswissenschaft halt Korsch diese Betonung fUr verfehIt; <strong>Marx</strong> und Engels<br />
waren eher Dialektikcr, als sie Materialisten wurden. Gegeni.iber del' gemeinen naturwissenschaftlichen<br />
Vorstellung bleibe die Quintessenz del' deutschen idealistischen Philoso-<br />
106 MichaeL Graner
Korsch in <strong>der</strong> wechselseitigen Zugehorigkeit einer naturwissenschaftlichen Begriindung<br />
des Gesellschaftsbegriffes einerseits und einer idealistischen Tradition an<strong>der</strong>erseits, da yom<br />
ersten Standort das Problem <strong>der</strong> mensch lichen Willensfl'eiheit dUl'chaus ungelost bleiben<br />
muB. }}Da scheint doch nichts an<strong>der</strong>es iibrig zu bleiben, als dem menschlichen Geist die Fahigkeit<br />
<strong>der</strong> Spontaneidit zuzuschreiben, die Freiheit des Willens, <strong>der</strong> die Fahigkeit besitzt,<br />
AnstoBe hervorzubringen, ohne selbst welche empfunden zu haben, Ursache zu werden,<br />
ohne Wirkung zu sein.« (Kautsky 1927, Bd. 1, S.580) De'm ist natiirlich nicht ganz so, da<br />
Kautsky im weiteren, freilich nicht min<strong>der</strong> idealistisch, die List, ob <strong>der</strong> Vernunft o<strong>der</strong> del"<br />
Natur bleibt bis auf einige streng biologiseh-naturalistische AuBerungen unentschieden, als<br />
Beweger und Vollstrecker eines ewig geltenden Gesetzes entfiihrt: obwohl die Menschen<br />
individuell bewuBt handeln, setze sich insgesamt cine ihrem Wissen und Wollen entzogene<br />
Entwicklung durch. Parallel <strong>der</strong> dargelegten Rezeption des Kantischen Ding an sieh<br />
stimmt Kautskys Entwicklungsbegriff in graben Ziigen mit fruhburgerliehen iiberein 11 , die<br />
indessen ihre vormalige Progressivitat in <strong>der</strong> Auseinandel'setzung mit dem mittelalterlichen<br />
Denken heme verloren haben. In <strong>der</strong> Gegenwart verlangert ein entsprechen<strong>der</strong> Begriff<br />
die gesellschaftliehen Naturgesetze <strong>der</strong> bUrgerlichen Gesellschaft nur ideologisch.<br />
»Wir haben gesehen. wie <strong>der</strong> Erneuerer und 'Erweiterer' <strong>der</strong> materialistischen Geschichtsauffasung<br />
von <strong>Marx</strong> und Engels bei dem Versuch, die Einseitigkeit seines ursprUnglichen,<br />
rein naturwissenschaftlichen Gesellschaftsbegriffes zu Uberwinden, nur aus einer biirgerlichen<br />
Gefangenschaft in die an<strong>der</strong>e geraten ist.« (Korsch 1929,5.56) Die Wechselseitigkeit<br />
zwischen <strong>der</strong> Scylla <strong>der</strong> Naturwissenschaft und <strong>der</strong> Charybdis des philosophischen Idealismus<br />
wird generell aufgefunden. Mit auf1erordentlicher Scharfe und Redlichkeit entwickelte<br />
Max Weber den Wi<strong>der</strong>streit <strong>der</strong> rationalistischen Entzauberung <strong>der</strong> Welt und <strong>der</strong> resultierenden<br />
Notwendigkeit einer idealistischen Ethik und Sinnstiftung, die sich doch nicht<br />
wirklich vermitteln lief1. Einen ahnlichen politischen Aspekt in <strong>der</strong> sozialistischen Theorie<br />
hatte Korsch 1922 gegeniiber Woltmann in Anschlag gebracht: <strong>der</strong> naturalistische Materialismus<br />
lOse in keiner Weise das Problem <strong>der</strong> sozialen Revolution, da er entwe<strong>der</strong> - die naturwissenschaftliche<br />
Logik fortgedacht - in einer okonomistischen Zusammenbruchsmechanik<br />
ende o<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> gleichen Basis die tatige Seite idealistisch-voluntaristisch crganze<br />
(Korsch 1922a, S.162f.). Wenn Kautsky 1927 keinen dieser Wege einschlug, son<strong>der</strong>n sich<br />
einem linearen Entwicklungskonzept verschricb, mochte das fur Korsch nUl" den reformistischen<br />
Standpunkt des Politikers ausdriicken.<br />
Trotz <strong>der</strong> Betonung <strong>der</strong> Naturmomente ist Kautsky die Vorstellung einer Dialektik <strong>der</strong><br />
Natur in je<strong>der</strong> Form fremd. »Wenn K. trotz dieser restlosen Absage an das dialektische<br />
Denken von einer in Natur und Gesellschafi auftretenden
strakten zum Konkreten. Man miiBte also in einem zweiten Schritt iiberpl'iifen, ob del'<br />
Modus, in dem die Begriffe auf die Szene treten, naher bestimmt und transformiert werden,<br />
wil'klich - wie Hegel es behauptet - ),a priol'i({ durch jene »absolute Methode({ gesteuert<br />
wird, durch die »Negation del' Negation«, durch die Attjhebung. Abel', wenn man von dieser<br />
Differenz einmal absieht - die sich auf die "Konstruktion({ und nicht auf die ,)Produktion«<br />
bezieht -, kann man keinesfalls sagen, daft die blofle Bewegung 'Vom Abstrakten zum<br />
Konkreten bereits die Antwort auf die Frage nach dem <strong>Marx</strong>schen Denken darstellte und dieses<br />
Denken klar 'Von dem Hegels 2ft unterscheiden in <strong>der</strong> Lage ware.<br />
Auf eben diesen Punkt beziehen sich die gewichtigen Thesen, die von Dumenil vertreten<br />
werden. Ich hoffe, seinem Denken gerecht zu werden, indem ich behaupte, daB nach seiner<br />
Auffassung das <strong>Marx</strong>sche Denken weit davon entfernt ist, sich als eine Selbstherstellttng des<br />
Begriffs darzustellen, son<strong>der</strong>n sich eher dadurch vollzieht, daB zunachst ein Begriff gesetzt<br />
wird und sich daran die Untcrsuchung des theoretischen Raumes anschlieBt, del' durch die<br />
Setzung ebenso eroffnet wie a1.1ch wie<strong>der</strong>um abgeschlossen worden ist. Dann wird das theol'etische<br />
Feld dlll'ch die Setzung eines neuen Begriffs erweitert usf. - bis schlieBlich theoretische<br />
Fel<strong>der</strong> mit einer auBerst komplexen Struktur aufgebaut sind.<br />
Diese Betrachtungsweise hat den Vortcil, klar und systematisch bcstimmte Erfo1'<strong>der</strong>nisse<br />
formulieren zu konnen, die sich bei del' Lektlire von <strong>Marx</strong> aufdrangen. Zunachst etwa die<br />
Eigenschaft del' von <strong>Marx</strong> behaupteten "Gesetze«, die darin liegt, daB sie "innere« GesetzmaBigkeiten<br />
sind. Dumenil tritt mutig fiir den Gedanken ein, daB diese Problematik, so<br />
wie sie bei <strong>Marx</strong> vorliegt, iiberhaupt nichts mit dem zu tun hat, was gewohnlich nnter 1'ationalistischem<br />
o<strong>der</strong> empiristischen Vorzeichen unter diesen Stichworten diskutiert wird:<br />
Del' »innere« Charakter del' GesetzmaBigkeit bezeichnet hier kein Wesen im Gegensatz zu<br />
den Erscheinungen, son<strong>der</strong>n schlicht den Umstand, daB diese Bestimmungen »innerhalb«<br />
eines Begriffes bzw. des 'Von ihm eroffneten theoretischen Feldes liegen. 1m Kapital nimmt<br />
<strong>Marx</strong> in aller Strenge nul' diejenigen Bestimmungen eines Begriffes o<strong>der</strong> einer »phanomenalen<br />
Totalitat« in seine Betrachtung auf, die innerhalb des auf dem jeweiligen Stand del' Darstellung<br />
konstituierten theoretischen Feld seinen Platz finden konnen. O<strong>der</strong>, wie <strong>Marx</strong> geM<br />
Icgentlich sagt, wenn cr auf eine Bestimmllng zu sprechen kommt, die von diesem Feld ausgeschlossen<br />
ist, »sie existiert fUr uns nicht«, womit er die Differenz zwischen dem 1nneren<br />
del' theoretischen Entwicklung von ilu'ern AuBeren abgrenzt.<br />
Diese Definition des "Inneren« del' theoretischen Darstellung (Dumenil formuliert sie im<br />
Ausgang von einer Definition des "Gesetzes«, die <strong>Marx</strong> im Dritten Band des Kapital gibt -<br />
als "del' innere und notwendige Zusammenhang zwischen zwei Sachen ... «, MEW 25,<br />
S.235) zieht eine entsprechende Definition des "AuBeren({ nach sich: Es wird nicht etwa als<br />
phanomenale Manifestation betrachtet, <strong>der</strong>en "Gesetz({ im "inneren« Wesen liegt, sondel'll<br />
als eine »an<strong>der</strong>e logische Tot"alitat«, die sich mit <strong>der</strong> cles "Inne1'en« nicht liberschneidet. So<br />
gehort etwa, um sich hier auf diescs Beispiel zu beschl'anken, <strong>der</strong> Tauschwert (odeI' del'<br />
Wert) zu dem »grundlegenden« theoretischen Feld, mit clem das Kapital eroffnet wird,<br />
wahrend dagegen del' Gebrauchswert - so sehr diese ),an<strong>der</strong>e Scite <strong>der</strong> Ware« auch notwendig<br />
ist, 1.1m die Ware liberhaupt denken zu konnen, da er doch del' materielle ),Trager« des<br />
Wertes ist - zu einem an<strong>der</strong>en theoretischen Feld gehort, zu demjenigen, in dem die physikalischen<br />
und biologischen Eigenschaften <strong>der</strong> Gebrauchsgliter (untel' dem Gesichtspunkt<br />
ihrer Nutzbarkeit, FOW) unte1'sucht werden - wobei jede dieser beiden »logischen Totalitaten«<br />
flir 5ich autonom bleibt.<br />
Aufgrund diesel' Thesen liber das Verhaltnis von »Innercm« und »AuBerem« im <strong>Marx</strong>schen<br />
<strong>Marx</strong>'Denken im KapitaL 139
Autorenregister <strong>der</strong> Hefie 22 his 50
Frie<strong>der</strong> O. Wolf<br />
Portugal im kapitalistischen Europa. 37<br />
Frie<strong>der</strong> 0. Wolf<br />
Einwande zu Andre Gorz' Liquidation des <strong>Marx</strong>ismus. 43<br />
Frie<strong>der</strong> 0. Wolf<br />
Abschied vom Wohlfahrtsstaat? 47<br />
Bodo Zelmer<br />
»50lidaritat« mit def SPD o<strong>der</strong> Solidaritat mit <strong>der</strong> Klasse? 2ur 5PD-Bindung <strong>der</strong> DGB-Gewerkschaften.<br />
26<br />
Rainer Zoll<br />
2eiterfahrllng lind Gesellschaftsform. 46 '<br />
PROKLA 22 - 50 163
TECHNIK NATURWISSENSCHAFT<br />
GESELLSCHAFT<br />
Schwcrpunkt:<br />
EDV: Vandalismus und<br />
Sabotage :t< WaIte nicht<br />
auf beBre Zeiton '" Fortschritte<br />
in <strong>der</strong> Kafighal·<br />
tung * Das MaB ist voll!<br />
* ZUI therapeutischcn<br />
Wirkung von Sabotage *<br />
Der Computer-Krimincllc<br />
* Zeltn Wege, oin Terminal<br />
zugrunde zu dcilten<br />
* Sabotage - das<br />
scharfste Videospicl *<br />
NIX-Computer :/I Sabotage<br />
selbstgemacht *<br />
Weitere Themen:<br />
Arbeitercrfindcr in Nicaragua<br />
:I< NaturalisicIung<br />
<strong>der</strong> Politik :I< C>koiogische<br />
Wisscnschaft '" Forschungspolitiksozialliberat<br />
* Der lange Arm <strong>der</strong><br />
chemischen Industrie *<br />
Salzstopp in Berlin *<br />
Stadt und Utopie :I<<br />
WECHSELWIRKUNG berichtet tiber politische Aktivitaten im naturwissenschaftlichtechnischcn<br />
Bereich, Gewerkschaftsarbcit und soziale Konflikte.<br />
WECHSELWIRKUNG analysiert die. soziale, politische und 6konomiscile Funktion von<br />
Wisscnschaft lind Technik und zcigt <strong>der</strong>cn Pel'spektivcn und Alternativen auf.<br />
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