1 DISKUSSIONSPAPIER DER AG Spiritualit
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<strong>DISKUSSIONSPAPIER</strong> <strong>DER</strong> <strong>AG</strong> SPIRITUALITÄT<br />
AUF DEM WEG ZUM SCHRITT „URTEILEN“<br />
1. SEHEN - Ergebnisse aus der Situationsanalyse der <strong>AG</strong> <strong>Spiritualit</strong>ät<br />
1.1. Einleitung<br />
Jugendliche wachsen heute in einer individualisierten Gesellschaft auf, in der ihnen viel<br />
Verantwortung zugetraut und zugemutet wird. Das ist allgemein bekannt und wurde<br />
schon sehr oft wiederholt. Auch dass eine veränderte Welt tiefgreifende Konsequenzen<br />
für Erziehung, Ausbildung, Sozialisation und auch Religiosität aufwirft, ist allgemein bekannt<br />
und anerkannt. Dennoch ist es nicht einfach, hieraus Konsequenzen für die religiöse<br />
Bildung und Begleitung zu ziehen. Für die einen ist die Entgegnung auf diese veränderte<br />
Welt eine bewusst auftretende Pastoral, welche die katholische Identität wieder<br />
stärker betont. In einer pluralistischen Gesellschaft, die stark zur Beliebigkeit tendiere,<br />
suchten und bräuchten junge Menschen klare Identitäten und Grenzen, an denen sie<br />
sich orientieren könnten. Andere meinen eher, dass die Kirche ihre Chancen schon oft<br />
genug verpasst und endgültig verspielt habe, so dass wir bei der Jugend (und nicht nur<br />
bei ihr) auf taube Ohren stiessen. Jugendliche würden sich ihre Lebensphilosophie sowieso<br />
selber basteln und erwarteten von der Kirche keine Orientierungshilfe mehr, weil<br />
sie das Vertrauen in diese Institution schon längst verloren hätten.<br />
Einer der spezifischsten Aufträge der Kirche besteht darin, die Gottesbeziehung besonders<br />
bei den jungen Generationen zu fördern und zu ermöglichen. In der gegenwärtigen<br />
Welt ist es schwierig, diesen Auftrag zu erfüllen und es braucht sehr viel Innovation und<br />
Kreativität, auch Mut und Entschlossenheit, um diesbezüglich einen gangbaren Weg zu<br />
finden. Die <strong>AG</strong> <strong>Spiritualit</strong>ät kann sich weder mit der rückwärtsgewandten (mehr katholische<br />
Identität) noch mit der pessimistischen Antwort (es ist vorbei) zufriedengeben. Es<br />
stimmt, dass viele junge Menschen die Kirche mit Skepsis, Gleichgültigkeit und aus Distanz<br />
betrachten. Gleichzeitig sind wir uns bewusst, dass im Überfluss der heutigen<br />
Sinnangebote viele junge Menschen überfordert sind und nach einfachen Antworten<br />
suchen, welche die verlorene Sicherheit wieder zu gewinnen versprechen.<br />
Jede Krise und jedes Problem birgt in sich eine Chance. Es ist ein gutes Zeichen, dass<br />
Zweifel und Widersprüche heute sichtbar werden und niemand Angst haben muss, sie<br />
zu benennen. Dadurch eröffnen sich neue Möglichkeiten einer persönlichen <strong>Spiritualit</strong>ät,<br />
die vielleicht kaum in unseren Erwachsenenköpfen Platz finden, bei denen jedoch der<br />
Geist Gottes sicherlich am Werk ist. Für Menschen, die sich mit Jugendpastoral befassen<br />
bleibt aber die Frage, wie Religiosität Jugendlicher unterstützt und wie Religion<br />
überhaupt zur Sprache gebracht werden kann. Die Motivation der <strong>AG</strong> <strong>Spiritualit</strong>ät war<br />
und ist, die Herausforderungen der Zeit ernst zu nehmen, Konsequenzen daraus zu ziehen<br />
, Prinzipien und Handlungsansätze für die religiöse Arbeit mit Jugendlichen zu entwickeln.<br />
1
In diesem Sinn hat die <strong>AG</strong> <strong>Spiritualit</strong>ät 17 Monate an ihrem ersten Schritt „Sehen“<br />
gearbeitet. Der erste Schritt „Sehen“, bestand aus drei Elementen:<br />
• einer Fragebogenuntersuchung „Jugendliche und Religion“<br />
• einer Meinungsumfrage bei kirchlichen Jugendverantwortlichen „Einschätzung<br />
zur religiösen Situation Jugendlicher“,<br />
• der Auseinandersetzung mit religionspädagogischen Ansätzen.<br />
Mit diesem Diskussionspapier legt Ihnen die Arbeitsgruppe ihre Gedanken zum<br />
Schritt „Urteilen“ vor. In einem ersten Teil werden einige wesentliche Beobachtungen<br />
aus der Analyse referiert, im zweiten das zugrunde gelegte Verständnis von Religion<br />
und Kirche dargestellt und im dritten die zu diskutierenden Postulate formuliert. Es<br />
sind Postulate, denen die Wahrnehmung, aber auch die Kompetenz kirchlicher Jugendverantwortlicher<br />
zugrunde liegt. Was die Mitglieder der <strong>AG</strong> <strong>Spiritualit</strong>ät, JugendseelsorgerInnen,<br />
KatechetInnen und MitarbeiterInnen von Jugendverbänden<br />
postulieren, soll hiermit den anderen „Akteuren“ der kirchlichen Katechese und Jugendarbeit<br />
vorgestellt werden, damit sie reagieren und ihre Sicht in den Prozess der<br />
<strong>AG</strong> <strong>Spiritualit</strong>ät einbringen können.<br />
1.2. Fragebogen Untersuchung „Jugendliche und Religion“<br />
Der Fragebogen zum Thema „Jugend und Religion“ wurde von 1031 Jugendlichen in<br />
der Deutschschweiz ausgefüllt. Das besondere Interesse der Studie galt den 12- bis<br />
16jährigen, die durch Angebote der Kirche ansprechbar sind. Es handelt sich vorwiegend<br />
um eine quantitative Studie mit einem qualitativen Teil, der jedoch noch<br />
nicht abschliessend ausgewertet ist.<br />
Bei der Auswertung des quantitativen Teils konnten folgende Tendenzen festgestellt<br />
werden:<br />
• Rückzug der Religion aus der Öffentlichkeit hin zu unsichtbaren Formen.<br />
• Schwierigkeit, den Glauben im Alltag verwirklichen zu können, weil „viele andere<br />
Dinge wichtiger als Gott“ sind.<br />
• Unproblematische Gegenüberstellung von Glaubensinhalten aus verschiedenen<br />
Glaubenstraditionen, besonders bezüglich der Nachtodesvorstellungen.<br />
• Bekenntnis zum Christentum, wobei mit Christentum nicht in erster Linie Zustimmung<br />
zu christlichen Glaubenssätzen gemeint ist.<br />
Eine inhaltlich definierte Religion und insbesondere lehramtliche Glaubensaussagen<br />
spielen bei Jugendlichen keine wichtige Rolle. Viel mehr geht es ihnen um eine persönliche<br />
Form von Religion (hier <strong>Spiritualit</strong>ät), die ihnen bei der Bewältigung von Lebensschwierigkeiten<br />
und der Entwicklung eines persönlichen Lebensentwurfes hilft.<br />
Diesbezüglich besteht ein grosses Bedürfnis, da vier Fünftel (!) angeben, den Glauben<br />
im Alltag nicht verwirklichen zu können. Bedeutet dies, dass Jugendliche mehrheitlich<br />
nach einem anderen Glauben (der nicht der eigene ist) handeln müssen?<br />
2
1.3. Meinungsumfrage bei kirchlichen Jugendverantwortlichen „Einschätzung<br />
zur religiösen Situation Jugendlicher“<br />
Parallel zur Fragebogenuntersuchung bei Jugendlichen über ihre religiöse Lebenswelt<br />
wurden kirchliche Jugendverantwortliche befragt. 62 Personen haben geantwortet.<br />
Diese Befragung erhebt nicht den Anspruch, sozialwissenschaftlichen Kriterien<br />
zu genügen, sondern dient einer Ausweitung der Wahrnehmung bezüglich der<br />
Beobachtungen aus der kirchlichen Arbeit mit Jugendlichen, die den Anstoss zur Arbeit<br />
des Projektes gaben.<br />
Folgende Thesen der <strong>AG</strong> wurden durch die Meinungsumfrage von kirchlichen Jugendverantwortlichen<br />
klar bestätigt:<br />
In Bezug auf die Jugendlichen<br />
• Jugendpastoral ist in erster Linie Beziehungsarbeit.<br />
• Das Erlebnismoment spielt bei religiösen Erfahrungen von Jugendlichen eine<br />
sehr bedeutende Rolle.<br />
• Jugendliche wollen als Subjekte wahr und ernst genommen werden. Sie gehen<br />
schnell auf Distanz, wenn sie Instrumentalisierung und Missbrauch spüren.<br />
• „Religion“ wird meistens mit Kirche identifiziert und abgelehnt. Jugendliche nehmen<br />
Kontakt auf mit Elementen anderer Religionen und vor allem mit funktionalen<br />
Äquivalenten, wobei diese von ihnen nicht unbedingt als religiös bezeichnet<br />
werden.<br />
• Eine befreiende religiöse Sozialisation im Elternhaus unterstützt die eigene religiöse<br />
Suche positiv.<br />
In Bezug auf die Jugendverantwortlichen<br />
• Eine persönliche religiöse Suche im Sinne einer Patchwork-Religiosität und die<br />
damit verbundene partielle Identifikation mit bzw. Abgrenzung von der Kirche wird<br />
als notwendige Folge individuellen Glaubens, ja sogar als Bedingung für die eigene<br />
Glaubwürdigkeit betrachtet.<br />
• Religiöse Identität wird von den meisten Jugendverantwortlichen als eine ‚subjektive<br />
Leistung‘ gesehen. Manche empfinden das als notwendig und sinnvoll, andere<br />
werten es negativ im Sinne von Beliebigkeit.<br />
• Jugendverantwortliche werden nicht aufgrund ihres kirchlichen Auftrages als<br />
SpezialistInnen für persönliche Sinnfragen betrachtet, sondern - wenn überhaupt<br />
- aufgrund ihrer persönlichen Kompetenz und Beziehungsfähigkeit.<br />
• Sowohl von Seiten der Eltern wie auch der kirchlichen und schulischen Behörden<br />
wird religiöse Erziehung an die Jugendpastoral delegiert, was mit hohen Erwartungen<br />
verbunden ist, die kaum einlösbar sind.<br />
3
1.4. Impulse aus der Fachtagung „Jugend und/oder <strong>Spiritualit</strong>ät?“ vom 18. Mai<br />
2000<br />
Am 18. Mai 2000 lud die <strong>AG</strong> <strong>Spiritualit</strong>ät alle Interessierten am Projekt <strong>Spiritualit</strong>ät zu<br />
einer Tagung ein. Deren Ziel bestand darin, die Situationsanalyse mit jugendpastoralen<br />
Überlegungen in Beziehung zu setzen. Aus dem Referat vom Herrn Professor Dr.<br />
Friedrich Schweitzer 1 , der an diesem Tag eingeladen war, möchte die <strong>AG</strong> <strong>Spiritualit</strong>ät<br />
besonders folgende Gedanken als Impulse für die Weiterarbeit herausgreifen:<br />
1.4.1. Lebenswelt- und Bedürfnisorientierung<br />
Jugendforschung bzw. –pastoral muss heute auf einem lebensweltorientierten Ansatz<br />
aufbauen. „Von einem solchen Ansatz her kommt alles darauf an, die lebensweltlichen,<br />
alltäglichen, jugendkulturellen usw. Zusammenhänge, in denen Jugendliche heute leben,<br />
möglichst genau kennenzulernen und zu verstehen.“ (S.2) Die erste Frage der<br />
kirchlichen Jugendarbeit ist demnach: Was brauchen die Jugendlichen? (s.S.3) Eine<br />
lebensweltliche Orientierung ist jedoch durchaus offen für Impulse. „Jugendarbeit lässt<br />
sich nicht nur von dem her gestalten, was Jugendliche zumindest in einem vordergründigen<br />
Sinne brauchen oder zu brauchen meinen. Sie hat auch einen weitreichenden<br />
Bildungsanspruch, der sich erst aus der Verbindung der Perspektive Jugendlicher mit<br />
Perspektiven aus Pädagogik und Theologie einlösen lässt.“ (S.4)<br />
1.4.2. Bewusstsein für die Vielgestaltigkeit jugendlicher Religiosität<br />
„Was Religion für Jugendliche bedeutet, lässt sich nicht mehr einfach aus der biblischen<br />
oder kirchlichen Tradition ableiten.“ (S.5) Zahlreiche Jugenduntersuchungen belegen,<br />
dass heutige Jugendliche sich bei der Beschreibung ihrer Erfahrungen keines religiösen<br />
Vokabulars im herkömmlichen Sinne bedienen.“ (S.2) Was bedeutet ein solches Ergebnis?<br />
„Kommt nun alles darauf an, Jugendliche im Sinne eines sog. alphabetisierenden<br />
Lernens in die Sprache von Theologie und Kirche einzuführen – im Sinne von Sprachkursen<br />
für Jugendliche? Oder ist umgekehrt ein Lernprozess von Theologie, Kirche und<br />
Religionspädagogik verlangt, bei dem sich diese die offenbar fremde Sprache der Jugendlichen<br />
aneignen – also im Sinne von Sprachkursen für Religionspädagogen? Oder<br />
noch weiterreichend gefragt: Besteht überhaupt eine Notwendigkeit, die Erfahrungen<br />
Jugendlicher mit der christlichen Tradition in Verbindung zu bringen? Besteht eine solche<br />
Notwendigkeit für die Jugendlichen? für die Kirche? für die kirchliche Jugendarbeit?<br />
und wozu?“ (S.3)<br />
„Zentrale theologische Themen wie etwa Sinn, Freiheit, Liebe, Hoffnung, aber auch das<br />
Scheitern besitzen im Leben der Jugendlichen einen wichtigen Ort. Alle diese Themen<br />
werden von den Jugendlichen gleichsam durchlebt, und dies auch dann, wenn sie selbst<br />
nicht über diese Begriffe verfügen.“ Friedens-, Umwelt- und Alternativbewegung weisen<br />
auch auf „die prophetische Kraft der Jugend hin, die es zu würdigen gilt. „Theologische<br />
Fragen brauchen an Jugendliche so gesehen nicht herangetragen werden – sie wollen<br />
vielmehr in deren Lebenszusammenhang und in der den Jugendlichen eigenen Formen<br />
allererst entdeckt und religionspädagogisch aufgenommen werden.“ (S.4)<br />
1 Die Seitenzahlen beziehen sich auf das an die TeilnehmerInnen abgegebene Manuskript.<br />
4
1.4.3. Mit Kirchendistanz rechnen<br />
„Konflikte zwischen Jugendarbeit und Kirche sind angesichts der heutigen Situation von<br />
Jugend und Religion ein Stück weit unvermeidbar. Solche Spannungen oder Konflikte<br />
sind nämlich in der Struktur erfolgreicher lebensweltorientierter Jugendarbeit bereits angelegt.<br />
... Die Chance von Jugendarbeit heute liegt darin, dass sie sich in weit höherem<br />
Masse auf die lebensweltlichen Zusammenhänge der Jugendlichen einlassen muss, als<br />
dies sonst in Kirche und Schule möglich ist. Diese Chance erwächst vor allem aus ihrer<br />
geringen institutionellen Einbindung sowie daraus, dass die Jugendlichen in der Jugendarbeit<br />
am deutlichsten als Subjekte zum Zuge kommen können.“ (S.3) Wenn diese<br />
Einschätzung zutrifft, dann ist die Spannung zwischen Jugendarbeit und Kirche strukturell<br />
vorgegeben, „denn um ihre besonderen Aufgaben überhaupt wahrnehmen zu können,<br />
ist die Jugendarbeit auf Arbeitsformen und Handlungsperspektiven verwiesen, die<br />
in deutlicher Weise über das Spektrum des kirchlichen Christentums hinausgehen. Die<br />
Jugendarbeit muss sich auf ein vergleichsweise hohes Mass an Kirchendistanz einlassen,<br />
wenn sie für die kirchenferne Welt Jugendlicher offen oder gar attraktiv sein will. ...<br />
Vielleicht lässt sich mit dieser Einsicht wenigstens erreichen, dass kirchliche Jugendarbeit<br />
auch dort Anerkennung findet, wo sie den herkömmlichen Erwartungen von Kirche<br />
nicht entspricht.“ (S.3)<br />
„Heutige Jugendliche wissen, dass sich ihr Glaube von dem der Kirche unterscheidet –<br />
und sie finden dies ganz normal, selbstverständlich oder sogar gut. Von einer Scheu,<br />
anders zu glauben, ist offenbar wenig übrig geblieben. Selbst jugendliche Mitarbeiter der<br />
Kirche formulieren ihren Glauben, empirischen Befragungen zufolge, in aller Regel in<br />
Abgrenzung von kirchlichen Vorgaben!“ (S.4)<br />
5
2. Verständnisgrundlagen für die Einordnung der jugendpastoralen Postulate der<br />
<strong>AG</strong> <strong>Spiritualit</strong>ät<br />
2.1. Klärungen zum Religionsbegriff<br />
2.1.1. Verständigungsschwierigkeiten um die alltagssprachliche Verwendung des<br />
Begriffs Religion<br />
„Wie hältst du’s mit der Religion?“ liess der Herr Goethe das Gretchen den Doktor<br />
Faustus fragen. Nichts anderes als das interessierte auch die <strong>AG</strong> <strong>Spiritualit</strong>ät, als sie<br />
sich bei 1031 Jugendliche nach ihrer religiösen Lebenswelt erkundigte. Doch wie muss<br />
sie die Gretchenfrage stellen, um etwas über die Religion Jugendlicher in Erfahrung zu<br />
bringen? Gretchen und Faust konnten vor dem Hintergrund einer gesellschaftlich vermittelten<br />
religiösen Traditionen davon ausgehen, dass mit der Frage nach Religion eine<br />
Antwort zu erwarten war, die in einem gemeinsamen Kontext gedeutet werden konnte.<br />
Die <strong>AG</strong> <strong>Spiritualit</strong>ät hingegen steht vor der Tatsache, dass es hundert Möglichkeiten<br />
gibt, diese Frage zu verstehen und Doktor Faustus heute entgegnen müsste: „Gretchen,<br />
was meinst du mit Religion?“ Es bleibt uns also nicht erspart darüber nachzudenken,<br />
was von Jugendlichen im Jahr 2000 als religiös erlebt, gedeutet oder bezeichnet werden<br />
könnte. Und wir könnten uns dazu entschliessen, die unzähligen Möglichkeiten von Religion<br />
in Form von Fragen aufzulisten - allerdings auf das Risiko hin, damit der Religiosität<br />
von Dani oder Angela immer noch nicht gerecht zu werden. So bleibt der <strong>AG</strong> <strong>Spiritualit</strong>ät<br />
also die Frage nach der Selbstdefinition. Und so lautete die Gretchenfrage der<br />
<strong>AG</strong> <strong>Spiritualit</strong>ät: „Bezeichnest du dich im weitesten Sinn als religiös?“<br />
Wir erfahren damit, inwiefern Jugendliche das, was sie unter Religion verstehen, als etwas<br />
für sie Wichtiges erachten. Wir erfahren aber nicht, ob das, was wir vor einem<br />
theologischen oder religionssoziologischen Hintergrund unter Religion verstehen, von<br />
Jugendlichen gelebt wird. So könnte es sein, dass sich Angela, die täglich mit Gott in<br />
Verbindung steht, aber keine Kirchenbindung hat, sich als nicht religiös bezeichnet wie<br />
36% der Jugendlichen. Und es könnte sein, dass ihr Freund Dani, der sich wenig mit<br />
Gott beschäftigt, die Frage wie 21% der Jugendlichen mit Ja beantwortet, weil er Religion<br />
einfach anders definiert als Angela.<br />
2.1.2. Was macht Sinnsuche religiös<br />
Mit den von einem christlichen Religionsverständnis ausgehenden Fragen kommen wir<br />
zugegebenermassen nicht an jene Formen der Religiosität Jugendlicher heran, die in<br />
diesem Horizont nicht erfasst werden. Denn Sinn- und Transzendenzerfahrungen Jugendlicher<br />
sind oft gar nicht mit der Gottesfrage identisch, sondern können körperlicher<br />
oder materieller Natur sein, wie dies beispielsweise der Entwicklungspsychologe Rolf<br />
6
Oerter beobachtet? 2 Um über die von (christlichen) Erwachsenen definierten Vorstellungen<br />
von Religion hinaus Informationen über die Religion Jugendlicher zu erhalten, wurde<br />
in den vergangenen Jahren immer wieder die jugendliche Lebenswelt nach ihrer religiösen<br />
Funktion untersucht. Die Beobachtung, dass Erlösergestalten den Kinos die<br />
Kassen füllen, dass grosse Konzerte fast jeglicher Stilrichtung eine alle Sinne ansprechende<br />
Liturgie darstellen, dass in Extremsportarten oder auf Raves Transzendenz gesucht<br />
wird, ist in der Tat bedenkenswert. Schliessen wir uns nun denen an, die angesichts<br />
jugendkultureller Phänomene aufatmend konstatieren, dass Jugend eben doch<br />
noch religiös ist? Oder jammern wir mit jenen, die bedauern, dass religiöse Sehnsucht<br />
an „heidnischen“ und kommerziellen Schauplätzen Erfüllung sucht?<br />
2.1.3. Die sozialwissenschaftliche Sicht von Religion<br />
In der Sozialwissenschaft existieren weder eine einheitliche Definition der Religion noch<br />
der religiösen Erfahrung. Bevor die angewandte Religionsdefinition unserer Fragebogenuntersuchung<br />
vorgestellt und auf mögliche Kritikpunkte an dieser Definition eingegangen<br />
wird, werden zuerst die beiden Grundkategorien der Religionsdefinitionen und<br />
drei Formen von religiöser Erfahrung beschrieben.<br />
2.1.3.1. Grundkategorien der Religionsdefinitionen: Inhaltliche gegenüber von<br />
funktionalen Definitionen<br />
Funktionale Definitionen beschreiben die Funktion, welche die Religion für das Individuum<br />
oder eine Gesellschaft erfüllt. Eine bekannte Kurzdefinition ist, dass alles Religion<br />
sei, was zur Kontingenzbewältigung dient. Kontingenz ist hier als etwas verstanden, was<br />
mir unerklärlich zustösst, zum Beispiel der Tod einer nahestehenden Person.<br />
Von inhaltlichen Definitionen spricht man, wenn der Definitionsgegenstand inhaltlich näher<br />
bestimmt wird. Beispiel einer inhaltlichen Kurzdefinition ist, dass Religiosität alle<br />
Einstellungen und Praktiken umfasst, welche sich bewusst auf eine Beziehung zu transzendenten<br />
Mächten ausrichten.<br />
Funktionale Definitionen können offener formuliert werden als inhaltliche. Funktionale<br />
Religionsvorstellungen müssen, wenn sie in der Praxis angewandt werden, in einem<br />
zweiten Schritt ebenfalls inhaltlich näher bestimmt werden. Funktionale und inhaltliche<br />
Definitionen nähern sich deshalb bei der praktischen Anwendung an.<br />
2.1.3.2. Drei Formen von religiöser Erfahrungen bei Jugendlichen.<br />
1. Form der religiösen Erfahrung: Ekstatische Erfahrungen oder Grenzerfahrungen in<br />
Actionsportarten und bei Risikoverhalten, die von aussen (Fremddeutung) als religiös<br />
bezeichnet werden können.<br />
Phänomene, wie sie bei Rockkonzerten zu beobachten sind (z.B. religiös anmutende<br />
Verehrung der MusikerInnen oder tranceähnliche Zustände der ZuhörerInnen), lassen<br />
sich mit dem Phänomen von religiösen Grossveranstaltungen vergleichen. Auf der<br />
2 Rolf Oerter, Ein handlungstheoretischer Zugang zur Religiosität, in: Fritz Oser/ Helmut K. Reich, Eingebettet<br />
ins Menschsein: Beispiel Religion. Aktuelle psychologische Studien zur Entwicklung von Religiosität,<br />
Lengerich 1996<br />
7
Ebene der Phänomene werden, je nach AutorIn, solche ekstatischen Erfahrungen<br />
und Grenzerfahrungen in Actionsportarten als (quasi-) religiös bezeichnet. Befragt<br />
man aber die Jugendlichen, ob diese Erfahrungen für sie selbst einen religiösen Charakter<br />
haben, verneinen dies die Allermeisten entschieden.<br />
2. Form der religiösen Erfahrung: Erfahrungen, die im Rahmen einer individuellen Religiosität<br />
gedeutet werden<br />
Darunter sind Erfahrungen und Überlegungen zu verstehen, welche Jugendliche selber<br />
als religiös bezeichnen und mit einem individuellen Religionssystem deuten. Der<br />
Ausgangspunkt solcher Überlegungen ist oft die persönliche Verarbeitung von kritischen<br />
Lebensereignissen (z.B. ernsthafte Erkrankungen oder der Tod naher Menschen,<br />
Unfälle, Scheidung der Eltern). Abhängig vom Entwicklungsstand werden solche<br />
belastenden, aber auch positiven existentiellen Erfahrungen unterschiedlich als<br />
religiös gedeutet.<br />
Der Prozesse der Individualisierung, der Tabuisierung des Religiösen und der Rückgang<br />
von gemeinsamer Religionsausübung macht diese Form von religiöser Erfahrung<br />
zur Hauptform der Religiosität Jugendlicher.<br />
3. Form der religiösen Erfahrung: Erfahrungen, welche mit einem überindividuellen Religionssystem<br />
gedeutet werden<br />
In Unterscheidung zur zweiten Form wird bei der Deutung von Erlebnissen auf ein<br />
überindividuelles Religionssystem zurückgegriffen. Kritische Lebensereignisse werden<br />
vom Individuum beispielweise auf Grund einer bestimmten christlichen Tradition<br />
interpretiert.<br />
Erfahrungen in religiösen Gruppen werden meist mit den speziellen Ausdrucksformen,<br />
Motiven und Begriffen der betreffenden Gruppe geschildert und interpretiert.<br />
2.1.4. Die in der Untersuchung angewandte Definition von Religion und von religiöser<br />
Erfahrung.<br />
In der Fragebogenuntersuchung der <strong>AG</strong> <strong>Spiritualit</strong>ät interessiert in erster Linie das<br />
Selbsterleben und die Selbstdefinitionen der Jugendlichen, nur in zweiter Linie der Grad<br />
der Zustimmung oder Ablehnung zu dogmatischen Aussagen. Dieses Forschungsinteresse<br />
verlangt eine funktionale Religionsdefinition mit einer Präzisierung der religiösen<br />
Erfahrungen.<br />
Wir bezeichnen deshalb alle Praktiken und Einstellen als religiös, wenn sie helfen, Kontingenz<br />
zu bewältigen und von den Jugendlichen selbst als religiös bezeichnet werden<br />
(Formen 2 und 3 der religiösen Erfahrung).<br />
2.1.5. Mögliche Kritik an der angewandten Religionsdefinition<br />
Von zwei Seiten ist Kritik zu erwarten. Einerseits kann ein phänomenologisches, funktionales<br />
oder ein theologisch vorbestimmtes, inhaltliches Vorgehen verlangt werden.<br />
Das heisst, dass man entweder die erste Form religiöser Erfahrung ebenfalls einbezieht<br />
(phänomenologisches Vorgehen) oder ausschliesslich die dritte Form der religiösen Erfahrung<br />
betrachtet (theologisch vorbestimmtes, inhaltliches Vorgehen).<br />
8
Mit dem Argument, dass das Selbsterleben der Jugendlichen und nicht eine Fremdbeurteilung<br />
im Zentrum einer quantitativen Untersuchung stehen soll, kann der Kritik an<br />
der fehlenden Berücksichtigung der ersten Form der religiösen Erlebnisse entgegnet<br />
werden.<br />
Auf die Kritik an der Forderung nach theologisch vorbestimmten Begriffen, die in einer<br />
Untersuchung Jugendlichen vorgelegt werden (quasi die Zustimmungs- und Ablehnungsabfrage<br />
einer bestimmten Dogmatik) kann mit zwei Hinweisen entgegnet werden:<br />
1. Für unterschiedliche Theologien machen unterschiedliche Dinge das Christsein /<br />
Christinsein aus. Man müsste sich also bei einer Fragebogenuntersuchung für eine<br />
bestimmte Theologie entscheiden, aus welcher die Begriffe abgeleitet werden. Die<br />
Mehrheit der 14- bis 16jähige Jugendlichen würde die theologischen Feinheiten<br />
kaum genügend differenziert erfassen können.<br />
2. Die von uns gewählte Untersuchungsanlage ermöglicht, Selbstdefinitionen mit der<br />
Zustimmung zu dogmatischen Aussagen (etwas der Selbsteinschätzung als<br />
Christ/Christin mit der Zustimmung zu den Fragen zur Sohn-Gottesschaft Jesu und<br />
zur Auferstehungsvorstellung) zu vergleichen und so auf die von den Jugendlichen<br />
vertretenen religiösen Deutemuster zu schliessen.<br />
2.2. Klärungen zum Kirchenbild<br />
2.2.1. Vaticanum II: Kirche sein heisst unterwegs sein<br />
2.2.1.1. Unterwegs mit jungen Menschen<br />
Die <strong>AG</strong> <strong>Spiritualit</strong>ät legt ihrer Arbeit das Kirchenbild vom pilgernden Volk Gottes, wie es<br />
in Lumen Gentium beschrieben ist, zugrunde. Wir verstehen uns als Menschen „auf der<br />
Suche nach der kommenden und bleibenden Stadt“(Lumen Gentium 9). Wir sind zutiefst<br />
davon überzeugt, dass gerade junge Menschen „ihre eigenen Gaben den übrigen Teilen<br />
und der ganzen Kirche“ hinzubringen (Lumen Gentium 13). Dabei bleibt die Art und<br />
Weise der Gestaltung und Darbietung Sache des Gebenden (Jugendlichen) und nicht<br />
der Beschenkten (Kirche).<br />
Ein Leben unterwegs und auf der Suche bringt es mit sich, dass man das, was man<br />
sucht, manchmal nur in „Schatten und Bildern“ (Lumen Gentium 16) sieht. Wir verstehen<br />
Kirche als Ort, wo diese Bilder im Licht der christlichen Botschaft gedeutet werden können.<br />
Dabei ist anzuerkennen, dass jeder Mensch, auch der junge, ein Recht darauf hat,<br />
seine Welt und seine Bilder selbst zu deuten. Die Deutung der Schatten und Bilder im<br />
Licht von Glaube und Tradition, darf nie als der Selbstinterpretation übergeordnet verstanden<br />
werden.<br />
Auch wir als Jugendseelsorgerinnen und Jugendseelsorger sind unterwegs. So verstehen<br />
wir unsere Arbeit als eine mitgehende Pastoral, wie sie in der Emmausgeschichte<br />
zum Ausdruck kommt (Lk 24). Verschiedene Lebensumstände bringen unterschiedliche<br />
Fragestellungen mit sich. Deshalb ist es wichtig, zuerst zu hören, was die anderen bewegt<br />
(LK 24,17) und erst dann eine eigene Deutung des Geschehens zu liefern (Lk 24,<br />
27). Nur wenn sich Jugendliche ernst genommen fühlen, werden sie auch bereit sein,<br />
9
Jugendseelsorgern und -seelsorgerinnen zuzuhören und sich ein Stück ihres Wegs begleiten<br />
zu lassen.<br />
2.2.1.2. Mystagogische Jugendpastoral<br />
Taufbewerber und Taufbewerberinnen wurden im frühen Christentum auf einem mystagogischen<br />
Weg ins Zentrum der Kirche hineingeführt. Der Weg führte von draussen<br />
nach drinnen, sowohl als äusserer wie als innerer Weg, sich dem Heilsmysterium Jesu<br />
Christi im Rahmen der Kirche anzunähern. Eine Jugendarbeit, die mitgeht und begleitet,<br />
kann auch zu einem mystagogischen Weg mit den Jugendlichen werden. Sie lässt sich<br />
ein auf das, was sie bei Jugendlichen „draussen“ antrifft, auf das, was sie hoffen, über<br />
was sie sich freuen und um was sie sich sorgen.<br />
Wenn wir neben Diakonia, Martyria und Leiturgia auch Koinonia als Grundwert der Kirche<br />
verstehen, wird sofort klar, dass Jugendarbeit - wenn sie den Jugendlichen ein<br />
echtes Erfahren von Gemeinschaft ermöglicht - genuiner Selbstvollzug von Kirche ist.<br />
Um am Bild einer realen Kirche zu bleiben: Jugendarbeit mag sich im Vorhof von Kirche<br />
abspielen. Sie ist aber kirchlicher Dienst an jungen Menschen und als solcher keineswegs<br />
defizitär. Auch das seelsorgerliche Wirken Jesu vollzog sich an den Orten, an denen<br />
er Menschen mit ihren konkreten Sorgen und Freuden traf und nicht im Allerheiligsten,<br />
das er Zeit seines Lebens nicht betreten hat. Ein Verständnis von Kirche als Gemeinschaft<br />
im Sinne von Mt 18,20 („Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt<br />
sind...“) kann auch anerkennen, dass der Raum und die Form nicht zwangsläufig die<br />
sind, welche die Tradition als kirchlich erachtet.<br />
2.2.1.3. Religion als lebendige, persönliche Erfahrung<br />
Karl Rahner hat recht, wenn er sagt, „(...) der Fromme von morgen wird ein „Mystiker“<br />
sein, einer , der etwas „erfahren“ hat, oder er wird nicht mehr sein(...)“ 3 . Wir wollen für<br />
Jugendliche Räume auftun, in denen sie auf ihrem Weg Erfahrungen mit Gott machen<br />
können.<br />
Aber: Es sind immer ihre ureigenen Erfahrungen, die sie in ihrer Sprache und in ihren<br />
Formen ausdrücken. Es gilt uns: "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen<br />
von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und<br />
Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi." (Lumen Gentium 1).<br />
2.2.2. Würzburger Synode: Dienst der Kirche an der Jugend<br />
Das Kirchenbild des 2. Vatikanums wurde in der Synode der deutschen Bistümer im<br />
Jahr 1975 in ein jugendpastorales Konzept aufgenommen, das auch heute noch Beachtung<br />
verdient. Anknüpfend bei Lumen Gentium spricht die Synode davon, dass Kirche<br />
als Gemeinschaft derer, die sich mit Jesus auf den Weg machen, sich auch mit der<br />
Jugend auf den Weg macht. Dieses Mitgehen wird als Ziel kirchlicher Jugendarbeit herausgehoben,<br />
wenn die Synode sagt: „Massstab für christliches Handeln ist die selbstlo-<br />
3 K. Rahner, Frömmigkeit früher und heute, in: Schriften zur Theologie, Band VII, Einsiedeln 1966, S. 22<br />
10
se Hinwendung Jesu zu den Menschen, in der die Hinwendung Gottes zum Menschen<br />
endgültig sichtbar geworden ist. Darum muss Jugendarbeit der Christen selbstloser<br />
Dienst an den jungen Menschen und an der Gestaltung einer Gesellschaft sein, die von<br />
den Heranwachsenden als sinnvoll und menschenwürdig erfahren werden kann. Ihr Ziel<br />
ist nicht Rekrutierung, sondern Motivation und Befähigung, das Leben am Weg Jesu zu<br />
orientieren.“ 4<br />
Im Spannungsfeld zwischen der Orientierung an der konkreten Lebensrealität einerseits<br />
und dem Verkündigungsauftrag andererseits entscheidet sich bereits die Würzburger<br />
Synode für einen am Individuum und seiner Lebenswelt orientierten Ansatz in der Jugendarbeit,<br />
wie er heute beispielsweise von Friedrich Schweitzer gefordert wird (s.o.):<br />
„Der Mensch verfolgt das Ziel, sich selbst zu verwirklichen. Er nennt dieses Ziel Glück,<br />
Liebe, Friede, Freude, Heil – und selbst im Scheitern lässt er nicht von diesem Ziel. Die<br />
Suche nach diesem Ziel prägt sich beim jungen Menschen besonders darin, dass er<br />
nach Herkunft, Ziel und Sinn seines Lebens fragt, sein persönliches, unverwechselbares<br />
Selbst, seine Identität sucht, sich nach Glück sehnt und von seinen Mitmenschen angenommen<br />
sein möchte. Hier muss eine kirchliche Jugendarbeit ansetzen.“ 5 Kirchliche<br />
Verkündigung orientiert sich primär am Subjekt und am konkreten Heilsbedürfnis dieses<br />
Subjektes.<br />
2.2.3. „Heute hier, morgen dort“ 6 : kirchliches Leben vollzieht sich in unterschiedlichen<br />
Ereignisfeldern<br />
Mit dem Bericht „Heute hier, morgen dort... Perspektiven für die kirchliche Kinder- und<br />
Jugendarbeit“ haben die JugendseelsorgerInnen der Deutschschweiz zwanzig Jahre<br />
später nach einer jugendpastoralen Orientierung gesucht. Subjektwerdung steht dabei<br />
als ein wichtiges Stichwort im Zentrum der Zielsetzungen einer Jugendpastoral der Zukunft.<br />
Der gesellschaftliche Wandel in Richtung Individualisierung ist in diesen zwanzig<br />
Jahren so weit fortgeschritten, dass Kirchlichkeit für die meisten ChristInnen keinen<br />
umfassenden Identitätsrahmen mehr bereitstellt. Im Rahmen von Kirche suchen Menschen<br />
vielmehr aus unterschiedlichen Motiven heraus ihre religiösen und sozialen Bedürfnisse<br />
zu leben. Im Bericht „Heute hier, morgen dort...“ werden das Bedürfnis nach<br />
Kult und Kultur, das Bedürfnis nach Solidarität und das Bedürfnis nach Begegnung und<br />
Bewegung voneinander unterschieden. Aus dieser Unterscheidung von Bedürfnissen<br />
entstehen unterschiedliche Ereignisfelder, die von glaubenden und suchenden Menschen<br />
als kirchliche aufgesucht werden. Dieses Kirchenbild würdigt alle Ereignisfelder<br />
als Orte der Begegnung von Menschen mit Gott und untereinander. Die Pluriformität des<br />
kirchlichen Lebens als Chance gewertet und nicht als „Auswahlchristentum“. Jugendarbeit<br />
kann demnach im Bereich Begegnung und Bewegung stattfinden, im Bereich Kult<br />
und Kultur oder im Bereich Solidarität, ohne dass unterschiedliche Formen als mehr<br />
oder weniger kirchlich gegeneinander ausgespielt werden müssen.<br />
4 Beschluss der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Ziele und Aufgaben kirchlicher<br />
Jugendarbeit., zit. nach Heftreihe Synodenbeschlüsse Nr. 8, S. 9<br />
5 ebd.<br />
6 Verein deutschschweizerischer JugendseelsorgerInnen (Hrsg.), Heute hier morgen dort. Neue Perspektiven für die<br />
kirchliche Jugendarbeit, Zürich 1995<br />
11
3. URTEILEN – Postulate zu Glauben-lernen<br />
3.1. Glauben-lernen geschieht subjektorientiert und mystagogisch<br />
Glaubensvermittlung ist um der Menschen willen da. In den Fragen von <strong>Spiritualit</strong>ät und<br />
Religiosität im Rahmen kirchlicher Jugendarbeit geht es um die Jugendlichen als Subjekte.<br />
Es geht um ihr Leben, um ihre Fragen, Hoffnungen und Ängste, um ihr Heil. Sie<br />
stehen als AdressatInnen der christlichen Botschaft im Zentrum, ihr Leben ist Massstab<br />
für deren Verkündigung, in der Begegnung mit ihnen ereignet sich Gott. Es geht nicht<br />
um die „Weitergabe des Glaubens“ oder um die Selbsterhaltung von Kirche, sondern<br />
einzig und allein um die von Jesus Christus Berufenen.<br />
In einer individualisierten Gesellschaft sind die Menschen, insbesondere junge Menschen,<br />
in ihrer Sinnfindung und Glaubensorientierung auf sich selber zurückgeworfen.<br />
Ihre Suche kann sich nicht anders als an der Bedeutung religiöser Inhalte für ihr subjektives<br />
Orientierungsbedürfnis und für die sich darin eröffnenden Deutungsmöglichkeiten<br />
für die eigene Biografie orientieren. Religion ist „Religion in der Bedeutung für mich“,<br />
Glaube ist persönlicher Glaube und trägt den Charakter von Selbstvollzug und Selbstinszenierung.<br />
Kirchliche Jugendarbeit kommt nicht darum herum, die individualisierte Gesellschaft<br />
als Bedingungskontext für ihr Handeln ernst zu nehmen. Glaubensvermittlung,<br />
in welcher Gestalt auch immer, ist heute nicht anders als subjektorientiert möglich. Einen<br />
theologischen Zugang für einen subjektorientierten Vermittlungsprozess von Glaube<br />
eröffnet der transzendentale Ansatz in der Theologie Karl Rahners. Was immer ein<br />
Mensch glauben kann, ist in der Selbstmitteilung Gottes an jeden Menschen bereits angelegt.<br />
Jede religiöse Unterweisung muss als Mystagogie an dem anknüpfen, was für<br />
das Subjekt unmittelbar erfahrbar ist. 7<br />
3.2. Glauben-lernen braucht Beziehung<br />
Glaubensvermittlung als subjektorientiertes Geschehen ist immer auch ein soziales Geschehen.<br />
Jugendliche und Jugendverantwortliche in der Kirche bestätigen einhellig,<br />
dass die Beziehung zu erwachsenen Begleitpersonen und die Beziehungen in einer<br />
Gruppe die Erfahrbarkeit von Glaube erst möglich macht. In diesem Beziehungsgeschehen<br />
sind Inhalt und Sozialgestalt des Glaubens eng verbunden. Nur glaubwürdige<br />
Menschen können mit Jugendlichen einen Weg des Glauben-lernens gehen und nur in<br />
vertrauensvollen Beziehungen sind Religion, <strong>Spiritualit</strong>ät, Glaube thematisierbar. Religiöse<br />
Lernorte, die diesem Beziehungsaspekt nicht gerecht werden können, scheiden<br />
als Orte religiöser Vermittlung im Sinn von Glaubensaneignung aus. Dem Primat des<br />
personalen Angebotes, wie es in der Würzburger Synode 1975 formuliert wurde, ist<br />
mehr denn je Bedeutung zu schenken.<br />
7 s. Hubert Haslinger, Sich selbst entdecken – Gott erfahren. Für eine mystagogische Praxis kirchlicher Jugendarbeit,<br />
Mainz 1991<br />
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Beziehungen in der kirchlichen Jugendarbeit sind entscheidend, dürfen aber nicht<br />
Selbstzweck sein. Ziel der Beziehung ist nicht die Selbstverwirklichung des Jugendseelsorgers<br />
oder der Jugendseelsorgerin, ebensowenig wie die Weitergabe des Glaubens<br />
als Selbstzweck. Es geht um die Jugendliche oder den Jugendlichen und deren eigene<br />
Beziehungsfähigkeit. Diese lässt sich daran bemessen, inwiefern der jugendliche<br />
Mensch fähig ist, sich aus eigenen Stücken auf Beziehungen einzulassen und sie zu<br />
gestalten. Gurus mögen imponieren, sind aber in der Regel als JugendseelsorgerInnen<br />
ungeeignet. Ein guter Jugendseelsorger oder eine gute Jugendseelsorgerin erkennt<br />
man daran, dass die mit ihnen verbundenen Jugendlichen auch ohne sie durchs Leben<br />
gehen können.<br />
3.3. Glauben-lernen bedarf des sorgsamen Umgangs und geschützter Lernorte<br />
Religiosität ist intim, betrifft den Bereich des Privaten. Diese Tatsache wird im Rahmen<br />
von Kirche oft als Defizit kritisiert. Sie ist jedoch eine unvermeidbare Folge einer durch<br />
das Subjekt verantworteten Religiosität. Um über Religion reden zu können, brauchen<br />
Jugendliche geschützte Räume. Sie müssen die Gewähr haben, dabei verstanden, gehört<br />
und nicht ausgelacht zu werden. Räume der Intimität, der Freundschaft und des<br />
Vertrauens sind eine Voraussetzung dafür, dass Religion explizit zum Thema werden<br />
kann. Die Freiwilligkeit eines Angebotes ist eine Grundlage dafür, dass ein Kontext zu<br />
einem religiösen Lernort in diesem existentiellen Sinn werden kann. Jugendverantwortliche<br />
müssen in einer Gruppe jenen Schutz gewährleisten können, den die Intimität der<br />
Gruppe und ihrer Themen verlangt.<br />
Wenn religiöse Themen Schutzräume erfordern, ergeben sich klare Anforderungen an<br />
den Religionsunterricht. Ist der (ausserschulische) Religionsunterricht ein Fach, das die<br />
persönliche Auseinandersetzung mit Religion und Glaube anstrebt, dann muss er in einem<br />
Rahmen von Vertrauen und Schutz stattfinden. Ist der Religionsunterricht ein Kulturfach,<br />
gehört er in den Rahmen von Schule.<br />
3.4. Kirche findet in verschiedenen Ereignisfeldern statt<br />
Menschen suchen aus unterschiedlichsten Bedürfnissen Kirche auf und bauen sie als<br />
Teilbereich in ihr Lebenskonzept ein. So kann es in einer Pfarrei GottesdienstbesucherInnen,<br />
Friedensbewegte oder sozial Engagierte geben, die sich untereinander nicht<br />
kennen. Auch Jugendliche suchen aus unterschiedlichen Bedürfnissen Kirche auf und<br />
können dabei tragende Beziehungen als ein heilbringendes Geschehen erleben. Ihre<br />
Gruppen und Treffpunkte sind kirchliche Gemeinschaften, auch wenn sie von ihnen<br />
nicht als solche bezeichnet und von aussen nicht als solche anerkannt werden. Ihre<br />
Kirchlichkeit ist anzuerkennen, auch wenn die kirchliche Kultur der Jugendlichen sich<br />
nicht immer in die Erwachsenenkirche integrieren lässt und in einem volkskirchlich verstandenen<br />
Sinn als gemeindebildend wirkt.<br />
13
3.5. Die christliche Botschaft als inhaltlicher Bezug des Glauben-lernens<br />
3.5.1. Die christliche Botschaft als Angebot<br />
Die Situationsanalyse zeigt, dass die meisten Jugendlichen mit Gott rechnen. Auch<br />
wenn im Alltag der Bezug zu einem Glauben wenig aufscheint, können intensive Erfahrungen,<br />
mögen sie besonders beglückend oder besonders leidvoll sein, oftmals ein<br />
Auslöser sein, sich intensiver mit der Gottesfrage zu beschäftigen und für die „irgendwie“<br />
erlebte Transzendenz inhaltliche Deutungen zu suchen. Der kirchlichen Jugendarbeit<br />
und dem Religionsunterricht kommt die Aufgabe zu, verstehbare Deutungsmöglichkeiten<br />
vor dem Hintergrund der christlichen Botschaft anzubieten, im Feiern und in Gesprächen.<br />
Die Jugendlichen werden dabei wissen wollen, was diese Deutung für den<br />
oder die JugendverantwortlicheN bedeutet und was der Bezug zu ihrem eigenen Leben<br />
sein könnte. Um eine subjektive Zustimmung zur christlichen Botschaft zu ermöglichen,<br />
ist die Freiheit des Deutungsangebotes von grosser Bedeutung. Unterschwelliger<br />
Zwang als auch unterschwellige Abwertung schränken Jugendliche ein, Glauben in diesem<br />
inhaltlichen Sinne zu lernen.<br />
Nicht immer werden bei der Glaubenssuche Jugendlicher mögliche Deutungsinhalte im<br />
Vordergrund stehen. Jugendliche sind damit beschäftigt, ob und wie man überhaupt<br />
glauben kann. Dieses inhaltlich offene Fragen zuzulassen und zu begleiten ist von entscheidender<br />
Bedeutung in einer Zeit, in der Religion zum Tabu geworden ist. Auch<br />
wenn die christliche Botschaft inhaltlich (noch) nicht ankommt, wird sie in der Erfahrung<br />
des Angenommen-Seins und Ernst-genommen-Werdens im Glauben-lernen unmittelbar<br />
präsent . Von dieser grundlegenden Erfahrung wird auch die Möglichkeit der Zustimmung<br />
zu einem inhaltlichen Angebot abhängig sein.<br />
3.5. 2. Christliche Inhalte treffen auf unterschiedliche religiöse Entwicklungsstufen<br />
Die Art und Weise des Glauben-lernens ist abhängig von der Phase der religiösen Entwicklung<br />
eines Kindes oder Jugendlichen. 8 Während für kleine Kinder Gott als eine dem<br />
Menschen gegenüberstehende, absolute Macht erscheint (Stufe 1), wird es im Lauf des<br />
ersten Lebensjahrzehnts ein Gottesbild entwickeln, das mit der Beeinflussbarkeit Gottes<br />
durch den Menschen rechnet (Stufe 2: auf dieser Stufe kann beispielsweise durch Gebet<br />
oder gute Taten Gottes Hilfe erwirkt werden). Auf einer nächsten Stufe steht die<br />
Vorstellung im Zentrum, dass der Einflussbereich Gottes und die Verantwortung des<br />
Menschen nicht zusammenhängen (Stufe 3). In einer weiteren Stufe der Entwicklung,<br />
die (wie auch Stufe 3) nicht von allen Menschen erreicht wird, können der Einflussbereich<br />
Gottes und der des Menschen als Aspekte eines umfassenden Heilsplanes wieder<br />
zusammen gedacht werden (Stufe 4). Auf einer bestimmtem Stufe der religiösen Entwicklung<br />
zu stehen bedeutet, dass Gott immer entsprechend der jeweils vorherrschenden<br />
Vorstellung wahrgenommen wird.<br />
Jugendlich müssen religiös also so angesprochen werden, dass sie Inhalte in ihre religiöse<br />
Grundstruktur einbauen können. Sie können nicht mit Argumenten erreicht werden,<br />
die sie aufgrund ihres Gottesbildes nicht verstehen. Das bedeutet beispielsweise,<br />
dass auf Stufe 3 der religiösen Entwicklung, in der eine Gottesbeziehung äusserst<br />
8 Oser/Gmünder, Der Mensch. Stufen seiner religiösen Entwicklung. Ein strukturgenetischer Ansatz, Gütersloh 4 1996<br />
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schwierig ist, keine Glaubensentscheidung abverlangt werden kann, wie das bei der<br />
Firmung oder Konfirmation im Oberstufen-Alter oft geschieht. Jede Stufe der religiösen<br />
Entwicklung hat ihren Wert und kann nicht übersprungen werden. Andererseits ist religiöse<br />
Entwicklung nicht anders als durch die Auseinandersetzung mit der Gottesfrage<br />
möglich. Eine Konfrontation mit Argumenten einer nächsten Stufe ermöglicht erst Reife<br />
in der religiösen Entwicklung.<br />
3.6. Religiöse Sozialisation erfolgt nicht nur an den dafür vorgesehenen Orten<br />
Jugendverantwortliche in der Kirche sind von der Erwartung zu entlasten, dass sie umfassend<br />
für die religiöse Sozialisation der Kinder und Jugendlichen zuständig sind. Ihren<br />
Einfluss können sie in einem sehr begrenzten Lebensbereich der Kinder und Jugendlichen<br />
wahrnehmen. Einstellungen zu Religion, Christentum und Kirche werden nicht nur<br />
durch die Kirche vermittelt, sondern durch Eltern, Schule, Peergroups, Medien, Wirtschaft,<br />
Politik etc. Dieser begrenzten Wirksamkeit ist in der Beurteilung ihrer Arbeit<br />
Rechnung zu tragen.<br />
3.7. Primat der personalen und sozialen Kompetenz Jugendverantwortlicher<br />
Jugendverantwortliche in der Kirche sind mit zahlreichen Anfragen an Religion, Christentum<br />
und Kirche konfrontiert, denen sie sich stellen müssen. Dies erfordert eine grosse<br />
personale Kompetenz, zu der auch die eigene Auseinandersetzung mit diesen<br />
Themen gehört. Eine subjektorientierte kirchliche Jugendarbeit erfordert von kirchlichen<br />
MitarbeiterInnen, dass sie sich mit ihrer eigenen Person, mit ihren Motivationen, Zielen<br />
und Rollen im Beruf, mit ihrem kirchlichen Auftrag und Umfeld immer wieder neu auseinandersetzen<br />
und darin selber den Weg der Subjektwerdung gehen. Das kann durchaus<br />
bedeuten, dass Jugendverantwortliche der Kirche in gewissen Punkten auch kritisch<br />
gegenüberstehen und dies begründen können.<br />
Jugendverantwortliche müssen sich grundsätzlich für Jugendliche und ihre Lebenswelt<br />
interessieren. Nur so können sie mit ihnen glaubwürdig in Beziehungen treten. In der<br />
Leitung von Gruppen müssen sie Jugendlichen Lernen und Schutz ermöglichen können.<br />
Generell ist die Fähigkeit gefordert, sich als LebensbegleiterInnen zu verstehen, die<br />
auch bereit sind, sich auf Auseinandersetzungen einzulassen und Beziehungen zu Jugendlichen<br />
so zu gestalten, dass sie selber davon nicht abhängig werden. Das Bedürfnis<br />
nach Zuwendung Jugendverantwortlicher ist berechtigt und braucht Erfüllung. Erfüllende<br />
private Beziehungen schützen davor, dass es nicht in der Jugendarbeit kompensiert<br />
werden muss.<br />
25.10.00/mb<br />
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