mainzerkalender1948.pdf
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Z U M G E L E T<br />
Der schnelle Absatz eines Druckwerkes allein ist<br />
in der heutigen Zeit, in der jeder wahllos nach<br />
einem Buch hungert, noch kein Beweis für seine<br />
Güte. Aber die vielen Anerkennungen und guten<br />
Beurteilungen, die dem Mainzer Kalender1947zuteil<br />
wurden, geben Veranlassung zur Fortführung<br />
des Unternehmens und zur Herausgabe eines<br />
neuenJahrgangs.DemMainzerKalender1948wurden<br />
Beiträge zur Verfügung gestellt von Dr. Fritz<br />
Arens, Franz Fiederling, Franziska Gebürsch,<br />
Geistlicher Rat Dr. Adam Gottron, Universitätsprofessor<br />
Dr. Friedrich Hirth, Dr. Franz Kaiser,<br />
Universitätsprofessor Dr. Herbert Kühn, Dr. Margarete<br />
Lang, Universitätsprofessor Dr. A. F. Napp<br />
Zinn, Geheimerat Dr. Kar! Preetorius, Universitätsprofessor<br />
Dr. Aloys Ruppel. Dr. Karl Schramm,<br />
Dr. med. earl Ferd. Schunk, G. M. Steinhardt.<br />
Allen Mitarbeitern sei auch an dieser Stelle recht<br />
herzlich gedankt.<br />
MI eHE L 0 P PE N HEl M, RE G I E RUN G 5 RAT A.D.
DIE ENTDECKUNG<br />
EINES ROMANISCHEN HAUSES IN MAINZ<br />
Krieg hat riesige Verluste an kirchlichen und weltlichen<br />
Bau- und Kunstwerken verursacht. Einen kleinen Ersatz<br />
für die unwiederbringlich verlorenen Werte stellt die<br />
Möglichkeit dar, aus vielen Ruinen wissenschaftliche Neuerkenntnisse<br />
zu ziehen. Diese konnten bisher oft nicht gewonnen<br />
werden, weil jede eingehende Bauforschung nicht ohne Beseitigung<br />
von verhüllendem Putz, verunklärenden Anbauten, Mauerausbrüehen<br />
und sonstigen Eingriffen auskommt. Die Ruinen des Krieges<br />
sind aber meist von allen diesen Zutaten befreit.<br />
Wenn überall die Trümmer in den zerbombten Städten genau durchforscht<br />
werden. wird nicht nur mancher wissenschaftliche Gewinn<br />
errungen werden können. Es werden sich auch romanische und gotischeFußbodenfließen,Wandfresken<br />
(inMainz allein drei). behauene<br />
Bauglieder und l\hnliches mehr finden. Keineswegs wird dadurch<br />
der ungeheuere Kriegsschaden an Kultur und Kunstgütern aufgewogen.<br />
Wir haben jedoch die Verpflichtung. aus den Trümmern alles<br />
Brauchbare noch zu retten, so wie der Ausgebombte nach dem noch<br />
heilen Hausgerät ebenfalls sucht. Auch das ein Zeichen. daß wir<br />
ärmer geworden sind!<br />
Den Anlaß zur Entdeckung des romanischen Hauses in der Gallusgasse<br />
7 bildete die planmäßige Durchforschung der Mainzer Ruinen.<br />
die ich alsbald nach Kriegsende im Sommer 1945 vornahm. In dem<br />
am 27. Februar 1945 durch den verheerendsten aller Fliegerangriffe<br />
abgebrannten Häuserblock zwischen Weintorstraße und Kappelhofgasse<br />
steht unmittelbar hinter dem damals auch vernichteten Wohnhaus<br />
meiner Schwiegereltern Keim. Weintorstraße 16 eine Giebelwand,<br />
die durch die Reste eines Doppelfensters auffiel. Diese Wand<br />
sei zuerst kurz beschrieben. um so Klarheit über den Bau zu schaffen.<br />
Die Schilderung des Grundrisses und der Lage möge am Ende folgen.<br />
Der erwähnte Giebel bildet also die nördliche Schmalwand des<br />
lD.er letzte<br />
23
Hauses. Im Dreieck des Giebels sitzt mit der Fensterbank in Höhe<br />
des Giebelansatzes der besagte Rest eines Doppelfensters, dessen<br />
Mitte1säule leider schon lange fehlt. Ein Blendbogen, der von Keilsteinen<br />
gebildet wird. umrahmt die Offnung. Man sieht deutlich<br />
die beiden kleinen Fensterbogen, die sich auf die ausgebrochene<br />
Mittelsäule stützten. Die Fensterbank ist mit roten Sandsteinplatten<br />
belegt, die vielleicht noch aus alter Zeit stammen. Das schon lange<br />
vermauerte Fenster des Südgiebels zeigt nämlich auch diese durch<br />
die ganze Mauer reichenden dünnen Sandsteinplatten. Dieses zerstörte<br />
Doppelfenster ist also das einzig völlig klare und eindeutige<br />
Datierungsmoment des Hauses in romanische Zeit. Ihm werden<br />
sich allerdings noch eine Reihe anderer Bauglieder anschließen,die<br />
diesen Zeitansatz bestätigen. Auf der Innenseite des Hauses sitzt<br />
hinter dem Doppelfenster eine rechteckige Leibung. Das heißt also,<br />
daß die zwei kleinen Fensterbogen, die auf der verschwundenen<br />
Mittelsäule ruhten, nicht durch die ganze Mauerstärke gehen, sondern<br />
einer rechteckigen Offnung vorgesetzt sind. Dieses Rechteck<br />
wird durch einen geraden Sturz oben abgeschlossen. der als scheitrechter<br />
Bogen gemauert ist. Wie schon gesagt, erkennt man in der<br />
halbeingestürzten südlichen Giebelwand die untere 'rechte Ecke<br />
eines solchen Doppelfensters in gleicher Höhe noch. Beide Fenster<br />
beleuchteten den Dachraum des Hauses.<br />
Darunter sitzt in beiden Giebelwänden ein anderes interessantes<br />
Fenster. Es ist wiederum ein Doppelfenster. nur diesmal sehr schlicht<br />
und viel kleiner. Während die oberen Fenster nur an den beiden<br />
äußeren senkrechten Gewänden je zwei Hausteine hatten. sind die<br />
unteren Doppelfenster ganz von Haustein eingerahmt. Die beiden<br />
Offnungen sind dieses Mal rechteckig. inmitten ein kräftiger unverzierter<br />
Pfeiler. Die Innenseite zeigt nun gleich hinter dem Falz die<br />
interessante Einrichtung eines Riegelbalkens. In die rechte Fensterleibung<br />
ist ein flaches Loch von 5 : 6 cm Seitenlänge eingearbeitet,<br />
wo der Kopf des Riegelbalkens eingriff. Hinter dem Mittelpfeiler ist<br />
aus dem gleichen Steine eine geschweifte dünne Platte ausgearbeitet,<br />
24<br />
die in halber Höhe ein durchgehendes viereckiges Loch als Führung<br />
des genannten Riegelbalkens enthält. In der linken Fensterleibung<br />
ist dieOffnung eines tiefen Kanals zu sehen. in den derRiegelbalken<br />
verschwand, wenn man ihn ganz zurückschob. Die innere Umrahmung<br />
des Fensters wird von einer rechteckigen Bruchsteinmauerung<br />
gebildet, wieder mit scheitrechtem Bogen ..<br />
Diese Einrichtung des Fensterriegels weist meines Erachtens darauf<br />
hin, daß ursprünglich offenbar Holzrahmen, die vielleicht verglast<br />
waren, oder Läden hinter den vorderen Falz gestellt und durch den<br />
besagten Riegelbalken festgehalten wurden. Diese Art des Verschlusses<br />
kennt noch nicht die Fensterangeln, in denen sich der Fensterflügel<br />
dreht. Man muß also, wenn meine Vorstellung richtig ist. den<br />
Fensterladen oder den verglasten Rahmen ganz aus der Offnung<br />
herausnehmen und bei Seite stellen. Die heute an unserem Fenster<br />
angebrachten Eisenangeln sind wohl eine spätere Zutat.<br />
};'hnliche Einrichtungen findet man an fast allen Profanbauten romanischer<br />
Zeit. Hauptsächlich also auf Burgen. da diese die am ehesten<br />
erhaltenen romanischen Profanbauten darstellen. Das Steinhaus in<br />
der Kaiserpfalz Wimpfen (um 1200) hat beispielsweise eine ganze<br />
Reihe von Fenstern. die auf diese Art verschließbar waren. Noch in<br />
gotischer Zeit (Burg Hirschhorn) kommt diese Einrichtung vor.<br />
(vgl. Viollet - le - Duc, Dictionnaire de l'architecture. Paris 1861.<br />
Bd. 5, S.406 f.)<br />
Es muß noch betont werden, daß alle Fenster der Giebelwände nicht<br />
unter der Mitte der Giebelspitze, sondern seitlich verschoben sitzen.<br />
Ob das vielleicht seine Ursache in der inneren Grundrißeinteilung<br />
des Hauses hatte, kann nicht mehr festgestellt werden. Wenn nun<br />
noch weitere Einzelheiten dieser nördlichen Giebelwand erwähnt<br />
werden sollen. so' sei das kleine vergitterte Fenster ganz unten<br />
genannt, das aus roten und weißen Hausteinen mit geradem Sturz<br />
gebildet ist und einen späteren Durchbruch darstellt. Daß es nicht<br />
ursprünglich ist, geht schon daraus hervor, daß es den romanischen<br />
Fußboden des ersten Obergeschosses durchschneidet. Das Fenster<br />
25
istvergittert und wurde späterzugemauert.DurchdieseVermauerung<br />
des genannten Fensters geht eine eiserne Klammer, die an einem<br />
nachträglich eingebauten Unterzug befestigt war, der beide Giebelwände<br />
verband. Andere eiserne Klammern sind im Stock darüber<br />
unter dem romanischen Doppelfenster zu sehen. auch in den Längswänden<br />
sind mehrere solcher Eisenhaken erhalten. Diese Eisenklammern<br />
dienten als Verlängerung des längs durch das Gebäude<br />
laufenden Unterzugbalkens und der quer laufenden Deckenbalken.<br />
um die Außenwände aneinander zu verankern. Vermutlich neigten<br />
sich diese etwas nach außen und man stellte so die Standfestigkeit<br />
des kleinen Hauses wieder her. Nach der sehr glatten Art der Bearbeitung<br />
des Eisens scheint mir eine Einfügung der Anker vor dem<br />
19.Jahrhundert unwahrscheinlich zu sein.<br />
In der unteren westlichen Ecke des Hauses im Erdgeschoß ist nun<br />
eine breite. später erweiterte Nische von innen her zu erkennen.<br />
Vielleicht ist dies die Leibung der alten Haustüre. Von außen her ist<br />
nun dieser untere Bauteilganz mit Schutt zugepackt. sodaß vorerst<br />
noch nichts über die Außenseite dieser" Türe" von außen her gesagt<br />
werden kann. Es wäre dann noch zu erwähnen, daß im Erdgeschoß<br />
und im ersten Obergeschoß je eine Wandnische in Form einer halbkreisförmigen<br />
Vertiefung wohl später angebracht wurde, die den<br />
Bewohnern als Wandschrank diente.<br />
Nachdem nun alle Einzelheiten erörtert worden sind. wollen wir die<br />
Giebelwand im Ganzen überblicken. Der Giebel ist verhältnismäßig<br />
steil. Doch zeichnet sich an seiner Außenseite unter dem steilen<br />
Umriß ein flacherer Giebel ab. Von innen ist noch viel deutlicher<br />
sichtbar. daß ein wesentlich flacherer Giebel unter dem steilen liegt.<br />
Hier ist also die romanische Dachneigung aus dem unteren flacheren<br />
Giebel zu erkennen. die am First etwa einen Winkel von über 90 Grad<br />
hatte (etwa 110 Grad). Auf den romanischen Giebel wurde aufgemauert<br />
und dann das steilere gotische Dach. das in seinem First etwa<br />
90 Grad hat. aufgesetzt.<br />
In der gotischen Giebelspitze sitzt ein kleines quadratisches Loch.<br />
26<br />
das als Fenster unter dem First diente. Darunter in der romanischen<br />
Giebelspitze befindet sich ein ebensolches Loch. das aber vermauert<br />
ist. Es ist im Gegensatz zum gotischen von weißen Steinplatten<br />
umrahmt. Diese beiden Offnungen bestätigen nochmals unsere<br />
Erklärung des Bauvorgangs: Nach Aufmauerung der gotischen Giebelspitze<br />
wurde das untere romanische Fenster durch das obere<br />
ersetzt. Mithin war das untere überflüssig und wurde zugemauert.<br />
Die andere Giebelwand nach Süden zu ist furchtbar zerstört. Einmal<br />
ist in den vergangenen Jahrhunderten eine Fülle von Offnungen<br />
durch diese Mauer gebrochen worden. Gerade diese Wand und die<br />
östliche Längswand wurden von diesen Veränderungen stark betroffen.<br />
da beide nach dem Hof des Anwesens Gallusgasse 7 zu liegen<br />
und hier allein die Möglichkeit bestand. Zugänge und Fenster zu<br />
schaffen. Die oben geschilderte nördliche Giebel- und westliche<br />
Längswand bilden die Grenzen nach den benachbarten Grundstükken<br />
Weintorstraße 14 und 16 hin. sodaß die im Fensterrecht ohnedies<br />
beschränkten Einwohner hier keine Durchbrüche machten. Außerdem<br />
haben die Bomben und die Witterung die Süd- und Ostwand<br />
weitgehend umgelegt. Diese südliche Giebelwand läßt also noch<br />
die vermauerten romanischen Fenster weitgehend erkennen. Von<br />
dem rundbogigen Doppelfenster ist nur die eine untere Ecke noch<br />
erhalten. DasDoppelfenster des ersten Obergeschosses ist noch im<br />
ganzen Umfang vorhanden. allerdings vermauert.<br />
Nun zu den beiden Längswänden. Die westliche Längswand ist noch<br />
ganz erhalten. Allerdings steckt sie zum größten Teil hinter einer<br />
modernen Bruchsteinmauer. die den nebenanliegenden Hof Weintorstraße<br />
14 einfriedigt. Es ist jedoch von innen einwandfrei zu<br />
erkennen. daß diese Wand ursprünglich keine Fenster hatte. Die<br />
beiden heute vorhandenen Offnungen sind deutlich als neuere Einbrüche<br />
zu erkennen. Etwas unter der Oberkante der Mauer läuft ein<br />
einfaches Gesims aus Platte und Schräge her. das auch noch in die romanischeZeitgehört.WennmandieSchrägedesromanischenGiebeIs<br />
herabverlängert. kommt man auf die Oberkante dieses Gesimses.<br />
27
FRAUEN lOB S S P R U C HL I € DER<br />
ON FRAUENLOB, DESSEN CCJAHLHEI<br />
MAT UM DAS JAH R 1312 MAI NZ CCJURDE,<br />
BRACHTE DERGORJGE KALENDEREIN<br />
ZELNE STROPHEN AUS MINNELIEDERN.<br />
NUN FOLGT HIER EINE KLEINE AUSCCJAHlSEI<br />
NER SPRUCH liEDER. EIN GANZES BÜCHLEIN<br />
DAGON IST UNS ERHALTEN. SIE SPIEGELN DIE<br />
DAMALIGE ZEIT UND MUTEN UNS 1M JAHRHUN<br />
DERTEALTEN BILD DOCH OFTGERTRAUT AN.ES<br />
HANDELT SICH DARIN UM FRAUEN UND MINNE,<br />
UM RITTER, fÜRSTEN UNDALLERLEJ GOlK, UM<br />
SÄNGER UND HANDCCJERKER, UM GELEHRTE<br />
UND LERNENDE, UM FABELTIERE UND STERN<br />
DEUTUNG UND, NICHT ZULETZT, UM TIEF RELI<br />
GIÖSE, DER MYSTIK NAHESTEHENDE BETRACH<br />
TUNGEN UND EMPFINDUNGEN. ((JAS DAS LEBEN<br />
"TIURE", ALSO TEUER UND CCJERT, MACHEN<br />
KÖNNTE, BESANG DER DICHTER IN SEINEN<br />
SPRÜCHEN. CCJAS ER DEN HOHEN ZIELEN ZUCCJ)<br />
DER FAND, ZEIGTE ER RÜCKHALTLOS AUf. EIN<br />
GESCHLOSSENES ZEITBILD ZU GEBEN, BEAB<br />
SICHTIGT ER NICHT. BUNT CCJIE DIE GELEGEN-<br />
38<br />
HEITEN DES LEBENS ERSCHEINEN GOR UNS<br />
FESTGEHALTENE GEDANKEN, URTEILE, SCHIL<br />
DERUNGEN, OfT MIT LEIDENSCHAfTLICHER<br />
ANTEilNAHME GEÄUSSERT, IMMER DURCH<br />
SONNEN. EINSABER GERBINDET DIE lIEDARTI<br />
GEN SPRÜCHE: SIE SIND GESCHLIFFEN CCJIE EDEL<br />
STE) NE, AUCH CCJENN SIE NUR ALLTÄGLICHES<br />
.BIETEN. JEDER SPRUCH IST EIN KUNSTCCJERK,<br />
DAS MAN MITPRÜFENDEM BLICK UND OORSICH<br />
TIGEN HÄNDEN HIN-UND HERCCJENDEN SOLLTE,<br />
CCJENN MAN SEINEN CCJERT ERKENNEN MÖCH<br />
TE. - CCJELCHE SPRÜCHE FRAUEN LOB IN SEI<br />
NER MAINZERZEIT DICHTETE, KÖNNEN miR<br />
SCHCCJERllCH FESTSTEllEN. DIE MAHNSPRÜ<br />
CHE DES ÜBERLEGENEN CCJEISEN LASSEN SICH<br />
AM ÜBERZEUGENDSTEN SEINEN lETZTEN<br />
lEBENSJAHREN ZUCCJEISEN. DIE GOllE KLANG<br />
SCHÖNHEIT UND EIGENART DER KLEINEN DICH<br />
TUNGEN KANN EINE ÜBERTRAGUNG NURAN<br />
DEUTEN. BEI CCJORTSPIElEN MUSSTE EINE<br />
FREie CCJI6DERGABE GECCJÄHlTCCJERDEN. STRIT<br />
TIGE STEllEN GEBOTEN EINE UNGEFÄHRE<br />
ANPASSUNG. CCJEROON DEMSINNAUSZU DEN<br />
ALTEN mERKEN aORDRINGT, CCJIRD SICH AN<br />
IHRER BESONDERHEITERFREUEN.<br />
39
Ich wirbe als ich von rechte sol:<br />
den luten singe ich minen sanc;<br />
den biderben er gevellet wol.<br />
die gebent mir ir habedanc;<br />
ist denne ein valscher ouch da bi,<br />
der irret mich der biderben gunst<br />
mit maneger rede: sus wirt min kunst<br />
viI selten ungemaches vri.<br />
Ich singe und sage u immer me:<br />
we uch, ir kargen argen zagen!<br />
wie mac daz gut u tun so we,<br />
da mit ir mochtet pris bejagen!<br />
ir soldet immer danken gote,<br />
daz er daz gut bescherte u ie,<br />
da mit ir mocht erwerben hie.<br />
daz man uch hiez .. vrouQ eren bote" .<br />
Swer merwil wizzen, denne erweiz,<br />
und me wil kunnen, denne er kan,<br />
ob derverduldet schanden sweiz,<br />
da si der keiser unschuldec an.<br />
wirt apfelmuz uz bonen blut!<br />
zahi, wie tanzet valerei!<br />
trif dri, so gilte ich dir die zwei:<br />
bi pfifen wer ein swigen gut,<br />
Ir edelen suzen vrouwen gut,<br />
tut nach der alten wirdikeit:<br />
swer nicht treit ritterlichen mut,<br />
den lat u immer wesen leit.<br />
ez was ie gutervrouwen site.<br />
swer ritterliche vuge trage,<br />
den gruzet Iieplich alle tage:<br />
so volget u vrou SeIde mite.<br />
42<br />
Ich werb um Gunst, recht wie ich soll:<br />
den Leuten sing ich meinen Sang;<br />
den Ehrsamen gefällt er wohl,<br />
sie sagen offen mir den Dank.<br />
Ist denn ein Falscher wohl dabei,<br />
der mir entfernt Ehrsamer Gunst<br />
mit üblem Reden, wird mein Kunst<br />
gar selten des Verdrusses frei.<br />
Ich sing und sag euch mehr als je:<br />
Weh euch, ihr kargen Geizig-herben!<br />
Wie tut Besitz euch denn so weh,<br />
mit dem ihr könntet Preis erwerben!<br />
Ihr solltet immer danken Gotte,<br />
daß er Besitz euch hier beschert,<br />
mit dem ihr leicht euch machtet wert,<br />
daß man euch hieß "Frau Ehren Bote".<br />
Wer mehr will wissen, als er weiß.<br />
und mehr will können, als er kann. -<br />
beträufet ihn der Schande Schweiß.<br />
der Kaiser ist unschuldig dran.<br />
Wird Apfelmus aus Bohnenblüd<br />
Heissa, wie tanzt der Gaukler, hei!<br />
Triff drei, so zahl ich dir die zwei:<br />
beim Pfeifen, heißt's, sei Schweigen gut.<br />
Ihr edlen, holden Frauen gut,<br />
übt würdgen Brauch aus alter Zeit:<br />
Wer nicht nach Ritters Sinne tut,<br />
der sei verächtlich euch und leid.<br />
Das war stets rechter Frauen Sitte.<br />
Wer Ritters Weise in sich trage,<br />
den grüßet lieblich alle Tage,<br />
und höchstes Glück folgt eurem Schritte.<br />
43
MEISTER HEINRICH CCJROmENLOB Ir höhen vrouwen. reine wip,<br />
ich hän daz recht. daz ich usage:<br />
waz mac geturen uwern Hp<br />
ie baz und baz von tage ze tage.<br />
wan daz ein von der andern nicht<br />
mit willen höre ein swachez word<br />
beschutzet hie und decket dort.<br />
daz ist ein suze zuversicht.<br />
Ihr edlen Frauen, hoch und mild.<br />
mir steht es zu. daß ich euch sage:<br />
Was machet werter euer Bild.<br />
erhöhet euch von Tag zu Tage,<br />
als daß ihr voneinander nicht<br />
hört gern berichten niedre Word<br />
Beschützet hier. bedecket dort,<br />
die schönste Zukunft dies verspricht.<br />
Die kleine Auswahl ist der einzigen Gesamtausgabe entnommen: Ludwig Ettmüller, Heinridl von Meissen<br />
.des Frauenlobes Leime, Sprüme, Streitgedimte und Lieder, erschienen in Quedlinburg und Leipzig 1843,<br />
gewidmet "dem Andenken G. C. Brauns, weiland Professor zu Mainz".<br />
Die Texte sind der mitteldeutsmen Sprachform angeglidlen, wie sie Bartsm in seinem Werk "Deutsche<br />
Liederdichter H<br />
für Frauenlob anwandte .<br />
. Die in diesem Kalender dargebotenen Achtzeiler tragen bei Ettmüller folgende Nummern: 205, 204, 183,<br />
192,173.194,196,211,208.<br />
m R. M A R G A R E T E L A N G<br />
45
Seefahrer seiner Zeit die wirkliche Entfernung von Spanien oder<br />
Portugal nach Indien gekannt, so hätte keiner von ihnen das tolle<br />
Wagnis unternommen. Somit verdankt Amerika seine Entdeckung<br />
einem gewaltigen wissenschaftlichen Irrtum.<br />
T oscanelli spricht weiter von einer unterwegs liegenden Insel Antillia,<br />
die die Insel der sieben Städte heiße. sehr reich an Gold, Perlen<br />
und Edelsteinen sei und auf der man die Dächer der Tempel und<br />
königlichen Gebäude aus reinem Gold herstellte. Der Weg dorthin<br />
sei noch unentschleiert, aber man könne sicher dorthin gelangen.<br />
Soweit der Brief des Toscanelli aus Florenz vom 25.Juni 1474 an<br />
den König von Portugal, dessen Original nicht mehr vorhanden ist.<br />
Daß Christoph Columbus diesen an den portugiesischen König gerichteten<br />
Brief Toscanellis je zu Gesicht bekam, wird nirgendwo<br />
behauptet; es wird lediglich vermutet, daß ervonderTatsachedieses<br />
Briefes irgendwie Wind bekommen und sich im Jahre 1480 direkt<br />
an Toscanelli gewandt habe, um von ihm nähere Einzelheiten zu<br />
erfahren.<br />
Der 83 jährige Florentiner Arzt habe auf diese direkte Anfrage des<br />
Columbus alsbald geantwortet und sogar eine Abschrift des bewußten<br />
"einige Tage vorher" an den König von. Portugal gerichteten<br />
ersten Briefes beigefügt. Er habe den Entschluß des Columbus, nach<br />
dem Westen zu segeln. um die östlichen Länder zu erreichen, gelobt,<br />
der Weg sei nicht nur möglich, sondern auch wahr und sicher. Die<br />
Fahrt bringe ihm unberechenbaren Gewinn undRuhmin der ganzen<br />
Christenheit ein. Er (Toscanelli) wisse über die Dinge besser Bescheid<br />
als es Columbus möglich sei. denn er habe Nachrichten gesammelt<br />
von Männern. die aus jenen Ländern "hierher an den päpstlichen<br />
Hof" kamen. Er schwärmt von den Reichtümern dieser Länder,<br />
in denen bereits viele Christen wohnten. Er könne verstehen. daß<br />
Columbus vor Verlangen brenne. die geplante Reise zurTat werden<br />
zu lassen.<br />
Soweit der von Fernando überlieferte BriefToscanellis an Columbus.<br />
Ich glaube. für beide Toscanelli-Briefe die Unechtheit nachweisen<br />
56<br />
zu können. Es ist uns ja schon aufgefallen. daß Toscanelli von dem<br />
päpstlichen Hof in Florenz spricht - dieser aber war in Rom; ferner<br />
daß er den am 25 .Juni 1474 an den König von Portugal abgeschickten<br />
Brief im Jahre 1480 als vor einigen Tagen (ante algunas dias) abgeschickt<br />
bezeichnet, während doch inzwischen schon einige Jahre<br />
. verstrichen waren. Wäre er aber wirklich einige Tage nach dem<br />
25.Juni 1474 an Columbus·nach Lissabon abgegangen, so hätte er<br />
den Adressaten nicht erreicht, da Columbus erst im Winter 1477/78<br />
nachlissabon kam. Solche und andere Unmöglichkeiten hatToscanelli<br />
nie geschrieben. Die beiden Briefe Toscanellis sind gefälscht,<br />
ja ziemlich ungeschickt gefälscht. Ein geschickter Fälscher hätte<br />
manchen bösen Schnitzer vermieden.<br />
Der einzige überlieferer der bei den Briefe T oscanellis ist der unzuverlässige<br />
Historiker Fernando Columbus, der seinen Vater von dem<br />
Vorwurf, ohne genügende Unterlagen Menschen und Schiffe an ein<br />
phantastisches Abenteuer gewagt zu haben. reinwaschen wollte. Es<br />
ist also FernClndo, der die beiden Briefe fälschte und durch diese<br />
Fälschungen dem Florentiner Arzt zum Weltruhm als Kosmograph<br />
verhalf; denn Toscanelli hätte ohne das Bekanntwerden dieser beiden<br />
Briefe nur einen bescheidenen Platz in der Geschichte der Geographie<br />
erhalten.<br />
Der Nachweis der Fälschung der beiden Toscanellibriefe wird zwar<br />
den Titel" Iniziatore della scoperta dell' America" von seinem Denkmal<br />
in Florenz nicht wieder herunterkratzen, aber er wird die Vorgeschichte<br />
der Entdeckung Amerikas in einem wichtigen Punkte<br />
richtigstellen.<br />
UNIVERSITÄTSPROFESSOR DR. ALOYS RUPPEL<br />
,7
inderprallen Sonne rissig werdende Boden verlangt sorgfältigste Bearbeitung.<br />
Den tieferen Erdschichten geben die mannigfachen Bächlein<br />
Feuchte und fruchtbare Lebendigkeit. Ebenso spenden die angrenzendenWaldgebiete<br />
Schutz gegen dieAustrocknung des Bodens,<br />
wie auch Schutz gegen nördliche und östliche Winde. Gleich einem<br />
Mantel umhüllen sie zärtlich unsereWeinberge. Aufgelockerte Haine<br />
von edlen Kastanien, Lärchen, Akazien und Eichen, von lieblichem<br />
Gebüsch voller Blüten, bilden den übergang zu den freundlichen<br />
Buchenwäldern, zuweilen unterbrochen von niederen Fichtenschlägen,<br />
derenWintergrün sich ernst und ein wenig tot ausnimmtzwischen<br />
dem irisierenden Sprossen der golden braunen Buchenknospen. Da<br />
und dort sind sie bereits aufgebrochen in hellstem Resedengrün.<br />
Etwas käftiger in der Farbe leuchtet dasWaldgras, leuchten die eingerollten<br />
Triebe der Maiblume IJnd des Salomonissiegels, die Blättchen<br />
des Waldhimmelschlüssels, der Butterblume und der großen<br />
Anemone. Wenn auch das satte Gelb von Butterblume und Himmelsschi<br />
üssel in goldenem Schimmer die Fluren durchwebt, ist es doch die<br />
Anemone, die sich in ihrer luftigen und zärtlichen Biegsamkeit und<br />
der Fülle ihres Wachstums als Königin des Frühlingswaldes behauptet.<br />
Sich lose wiegend auf dünnem Stengel bestickt sie die Erde mit<br />
unzähligen Sternen.<br />
Die Waldlichtungen bieten einen überblick auf das Tal. Weitgeschwungen<br />
schmiegt es sich hinein in das Halbrund der Taunushöhen,<br />
verlockend breitet es sich aus mit seinen Weinbergen und<br />
idyllischen Städtchen, mit seinen Hügeln voller Blüten, mit seinen<br />
Gärten und reichen Gefilden.<br />
Mittelpunkt ist der Strom. Als prächtiges Silberband zieht er sich<br />
durch das Land. rauscht majestätisch zwischen seinen lieblichen<br />
Ufern und leuchtet hinaus in die Ferne als Symbol unseres Wesens.<br />
unserer Heimat.<br />
G . M . T N H A R D T<br />
62<br />
VOLTAIRE UND GOEBBELS<br />
D<br />
er Handlungsgehilfe Goebbels im Mainzer Laden des Herrn<br />
Varentrap spielt im Leben Voltaires eine wichtige Rolle.<br />
. Eine Reihe von Briefen des französischen Schriftstellers<br />
sind von Goebbels unterschrieben, der andererseits als Deckadresse<br />
für Briefe diente. die Voltaire in Empfang nehmen sollte.<br />
Es sind mehr als hundert Briefe. die erst knapp vor Kriegsausbruch<br />
aus einem wohlgehüteten Versteck hervorgezogen wurden. Sie befinden<br />
sich im Nachlaß des Pariser Sammlers. Andre Lehmann. der<br />
für Freunde einen Separatabdruck hatte herstellen lassen.Wehmütig<br />
betrachte ich diesen; denn Andre Lehmann, der auf nichts anderes<br />
bedacht gewesen war. als erlesene Kunstschätze aus allen Gebieten<br />
zu sammeln, war nach Ausschwitz gebracht worden, wo er umkam.<br />
In dem Separatabdrucke sind LiebesbriefeVoltaires enthalten. die er<br />
an seine Nichte. Madame Denis, richtete. Diese Briefe stammen aus<br />
den Jahren 1753 bis 1754. aus Voltaires schlimmster Zeit. da er aus<br />
Berlin geflohen war, um der Rache Friedrichs des Großen zu entgehen.<br />
nachdem sich zwischen beiden der vollkommene Bruch vollzogen<br />
hatte. Der König von Preußen wollte des Flüchtigen habhaft werden.<br />
und insbesondere der preußische Gesandte in Frankfurt a.M., Freytag.<br />
hattedenAuftrag.allesdaranzusetzen.umVoltaireamüberschreiten<br />
der Grenze zu hindern. seiner habhaft zu werden und dem Rachegelüste<br />
Friedrichs 11. auszuliefern.<br />
Die französische Regierung scheint geneigt gewesen zu sein. den<br />
Wünschen Friedrichs des Großen entgegenzukommen. In seinen Memoiren<br />
notiert der Marquis Rene-Louis d' Argenson. der neun Jahre<br />
vorher Ludwigs XV. Außenministerwar, am 8. August 1753: "Man<br />
verweigert Voltaire die Erlaubnis. nach Frankreich zu kommen. Man<br />
sucht. dem König von Preußen zu Gefallen zu sein" . Für diese Bereitwilligkeit<br />
des französischen Kabinetts, den Wünschen des Preußenkönigs<br />
entgegenzukommen. waren zwei Gründe maßgebend:<br />
Voltaire wieder in Paris zu sehen. schien unerwünscht. nachdem er<br />
63
wegen seiner Satiren und Streitigkeiten mehrere Male aus der Hauptstadt<br />
verwiesen werden mußte und man Anlaß zu der Befürchtung<br />
hatte, daß er neue, ernstliche Schwierigkeiten heraufbeschwören<br />
werde.Voltaire außerhalb Fr ankreichs, in einem deutschen Gefängnis,<br />
zu wissen, mußte besonders in kirchlichen Kreisen Befriedigung erregen.<br />
Dazu kam ein politisches Motiv: Schon der Marquis d' Argenson. zur<br />
Zeit. da erAußenministerwar.verfolgte das- heutenochimmernicht<br />
verwirklichte Ziel -. eine französisch-preußische Annäherung zu<br />
schaffen. Dieser politisch fruchtbare Gedanke wurde freilich von<br />
denAnhängern des Zusammengehens mi tOsterreich gegen Preußen<br />
zu Fall gebracht. Wenn jedoch die Regierung Ludwigs XV. das Bestreben<br />
hatte. Wünschen des Preußenkönigs nachzukommen. tat sie<br />
es. weil ihr. drei Jahre vor dem Ausbruche des siebenjährigen Krieges.<br />
an der Gestaltung guter Beziehungen zu Preußen gelegen war.<br />
Bei der Reise durch deutsche Gebiete mußte Voltaire. um nicht verhaftet<br />
zu werden. alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen ergreifen.<br />
andererseits hatte er aber den Wunsch. mit Madame Denis zu korrespondieren.<br />
da er in sie nicht nur schwer verliebt war. sondern auch<br />
von ihr die wichtigsten Nachrichten erhielt. durch die er erfuhr. was<br />
man in Frankreich über ihn dachte. wie man ihm gesonnen war.<br />
welche Absichten man gegen ihn hegte.<br />
In Mainz mußte Voltaire höchst behutsam sein. Er durfte sich bloß<br />
spät abends aus seinem sorgfältig geheim gehaltenen Versteck entfernen.<br />
und nur der Handlungsgehilfe Goebbels wußte von seinem<br />
Aufenthalte in der Stadt. Nur mit diesem standVoltaire in Mainz in<br />
Verkehr. Goebbels war sein Vertrauensmann. und seine Aufgabe als<br />
Briefübermittier erledigte er mit aufrichtigerTreue. Gewissenhaftigkeit<br />
und. worauf es besonders ankam. mit bewunderungswürdiger<br />
Diskretion. Nie wäre ihm der Gedanke gekommen. nachzuforschen.<br />
mit wem er es zu tun habe. ob er nicht durch übernahme der an Voltaire<br />
gerichteten Briefe und durch Weiterleitung von dessen Briefen<br />
an Madame Denis eine strafbare Handlung begehe. Voltaire dankte<br />
64<br />
es Goebbels. daß er die schlimmen Jahre 1753 und 1754 in einigermaßen<br />
erträglichem Gemütszustand verleben durfte; erhielt er doch<br />
durch ihn Nachricht aus Paris.Von Goeb bels verraten zu werden. mußte<br />
Frankreichs großer Schriftsteller und Philosoph nicht befürchten.<br />
Die Briefe an Madame Denis sind von hingebendster Zärtlichkeit erfüllt.<br />
Sie bezaubern immer wieder durch den sprühenden Geist des<br />
Schreibers. Seine blendende Ironie kommt häufig zum Durchbruche.<br />
In die Schrecken. die Voltaire durchleben mußte. erhält man anschaulichen<br />
Einblick.<br />
Von Mainz gewann Voltaire. was begreiflich ist. keine nachhaltigen<br />
Eindrücke. da es ihm nicht vergönnt war, sich in der Stadt zu ergehen,<br />
deren Bauten zu bewundern. sich an dem Frohsinn ihrer Bewohner<br />
zu ergötzen. Nur wenn alles im Dunkeln lag. durfte er sich auf die<br />
Straße wagen. um Goebbels aufzusuchen und von ihm den sehnlich<br />
erwarteten Brief der Geliebten zu empfangen.<br />
Endlich litt es Voltaire nicht mehr in Mainz. Er begab sich nach Frankfurt,<br />
wo er verhaftet und dann nach Berlin gebracht wurde. Die Erregung<br />
Friedrichs II. hatte sich gelegt. Man könnte sogar vermuten.<br />
daß er die Anordnung. sich der Person Voltaires zu bemächtigen. vergessen<br />
hatte. Sein Gesandter Freytag hatte übertriebenen Eifer an den<br />
Tag gelegt. hatte sich förmlich in den Gedanken verbissen. den einstigen,<br />
Günstling des Königs dingfest zu machen. ungeachtet der U ngesetzlichkeit,<br />
die er beging. da Frankfurt freie Reichsstadt und keine<br />
preußische Stadt war.<br />
In Berlin kam es zwischen Friedrich 11. undVoltaire zur Aussöhnung.<br />
Freilich. die alte Herzlichkeitder Beziehungen wollte sich nicht mehr<br />
einstellen. und an dauernden Aufenthalt war dort für Voltaire nicht<br />
mehr zu denken. Sein unruhiges Wanderleben begann. da er sich nach<br />
Paris nicht zurückwagte. Schließlich ließ er sich 1758 in dem damals<br />
zu Frankreich gehörigen Ferneynieder. wo er in patriarchalischer Beschaulichkeit<br />
die stürmisch verlebtenlugendjahre in die Erinnerung<br />
zurückrufen und einige seiner voIIendetsten Werke dichten konnte,<br />
u.a. "Candide". "L'ingenu", "Tancrede".<br />
65
Vielleicht stieg in ihm manchmal der Gedanke an die düsteren MainzerTage<br />
auf, vielleicht erinnerte er sich des jungen Handlungsgehilfen<br />
Goebbels,derihm mutig und treu zur Seite gestanden war, und dessen<br />
Hilfsbereitschaft Voltaires Briefe an Madame Denis in helles Licht<br />
rücken. Der Handlungsgehilfe Goebbels aus Mainz darf in der bewegten<br />
Lebensgeschichte Voltaires auf ein bescheidenes Plätzchen berechtigten<br />
Anspruch erheben.<br />
UNI VER S I T Ä T S PRO FES S 0 R D R. F R I E D R ICH H ,I R T H<br />
66<br />
KOMÖDIANTISCHE BEGEGNUNG<br />
s muß einmalganzklar unddeutlich ausgesprochen werden,<br />
daß Mainz im selben Jahr, in dem Lessing seine hamburgische<br />
Dramaturgie begann, bereits ein festes Komödienhaus<br />
hatte. Dieses Haus stand aufderGroßen Bleiche, am<br />
Neubrunnenplatz, auf dem Gebiet des nachmalig Bembesehen<br />
Besitzes und so113000 Zuschauer ge faßt haben, doppelt soviel<br />
als der Bau auf dem Gutenbergplatz! - Sein Erbauer war der Kurfürst<br />
Emmerich Josef von Breidbach zu Bürresheim.<br />
Am 16. Januar 1767 wurde das Theater eröffnet. Lessings Vorrede<br />
zur Hamburgischen Dramaturgie ist vom 22. April 1767 datiert.<br />
Nur: in Hamburg eröffnete man mit einem dichterischen Werk, in<br />
Mainz dagegen mit einer Posse.<br />
Da es aber sonstwo im heiligen römischen Reiche nicht anders war<br />
als in Mainz, - denn Hamburgs Ruhm entstand ja wegen der Ausnahme,<br />
die es machte, - so darf man wohl sagen, daß es nicht allein<br />
die Dichtkunst gewesen sein kann, die den Wandertruppen den<br />
Kredit bei Mäcenen und Potentaten und damit ihre festen Häuser<br />
verschaffte. Die Schauspielkunst - noch deutlicher ausgedrückt: das<br />
Komödiantenturn - hat auch seinen Teil daran. Und diese Erkenntnis<br />
belichtet die Begegnung, die am MainzerTheater 1767 stattfand.<br />
Der erste Prinzipal im neuen Haus an der Großen Bleiche war der<br />
Wiener Josef.von Kurz, genannt Bernardon. Es war einer der letzten<br />
Hanswurste, gegen deren Art, Theater zu spielen, sich seit der Neuberin<br />
des öfteren Reformbestrebungen gewendet hatten. Mainz mit<br />
seinem neuen Haus war beinahe eine Zuflucht für Kurz-Bernardon,<br />
denn aus Wien hatte ihn eine solche Reform zugunsten der vernünfteinden<br />
Literatur vertrieben.<br />
Um Ostern 1767 stieß zu Kurz-Bernardon ein langgewachsener<br />
junger Mann. Sein Ruf als Tänzer war schon begründet. Seine Begabung<br />
als Schauspieler - in der Stegreifposse - sollte sich noch erweisen.<br />
Friedrich Ludwig Schröder, der größte Name der deutschen<br />
67
Theatergeschichte. wenn sie wirklich eine Geschichte des Theaters<br />
und nicht der Literatur sein will. verbindet sich mit der Mainzer<br />
Bühnenchronik durch dieses Engagement. Das neue Mitglied bei<br />
Kurz-Bernardon kam aus der Truppe seines Stiefvaters Ackermann.<br />
die gerade in Hamburg mit den Seylers und Lessing die berühmte<br />
"Entreprise" wagte. Gebildet hatte ihn mehr sein Wanderleben mit<br />
Komödianten von Jugend auf als irgend eine Schule. Als Dreijähriger<br />
auf den Knien der Kaiserin Elisabeth in Petersburg mit Leckereien<br />
verwöhnt. als Zehnjähriger in der Warschauer Jesuitenschule<br />
von seinen Lehrern vor der Prügelerziehung seiner Eltern verborgen<br />
gehalten. als Vierzehnjähriger. im Anfang des Siebenjährigen Krieges<br />
von Stiefvater und Mutter in Königsberg zurückgelassen. in der<br />
Lehre eines abergläubigen Schuhflickers verwildernd. sich fangend<br />
bei den Seiltänzerübungen einer Equilibristentruppe. macht er<br />
schließlich als Siebzehnjähriger wieder bei den Eltern. diesmal in<br />
der Schweiz. einen Einbruch ins Schlafzimmer des Stiefvaters. um<br />
Geld zu erhalten. daß er Spielschulden abdecken kann. So sehr er<br />
im Gegensatz zu Mutter und Stiefvater steht, so bedenkenlos er<br />
diesen Gegensatz verstärkt. so unentbehrlich ist er für das Unternehmen:<br />
als Grotesktänzer wie im Rollenfach der Bedienten in der<br />
französischen Komödie. In diesem Fach gestattet er sich die Freiheit<br />
zu extemporieren und hält sehr obenhinaus seine Witze außerdem<br />
für besser als die der Autoren. Aber zur Teilnahme am Stegreifspiel<br />
ist er nicht zu bewegen.<br />
Das wird erst im Mainzer Engagement beim alten Stegreif-Bernardon<br />
Kurz anders: herausgefordert durch die Kollegen kommt es zu<br />
dem historischen Augenblick. daß auf der Bühne in der Großen<br />
Bleiche Friedrich Ludwig Schröder neben einem Bergopzoomer.<br />
einem Kurz. einem Grünberg in einem Stück ohne festgelegten Text<br />
zu sehen ist. Da es die Haupt- und Staatsaktion "Don Juan" war.<br />
die man gab, und da Schröderdie Rolle, die dem Leporello entspricht.<br />
spielte. brachte er sich mi t der Lo brede des Sganarell aufden Schn upftabak<br />
aus Molieres .. Don Juan" in Fahrt, nutzte also die "commedia<br />
68<br />
erudita" zu seinem Start in der "commedia deI arte" und verhielt<br />
sich im Ablauf des Stücks zur Verzweiflung seiner Kollegen auch<br />
weiterhin so sehr gegen alle Regeln des Stegreifspiels. daß die Komödie<br />
eine Stunde länger dauerte als gewöhnlich. das kurmainzische<br />
Publikum aber dem Debütanten einen eindeutigen Erfolg bereitete.<br />
In der Geburtsstunde des dichterischen Theaters in Deutschland.<br />
mit dem Beginn der hamburgischen Dramaturgie rundet Schröder<br />
also seinen schauspielerischen Bildungsgang durch das erste Auftreten<br />
im Stegreifspiel.. Moliere steht Pate dazu. Danach erst beginnt<br />
Schröder - wieder in Hamburg bei der elterlichen Truppe -<br />
seine Tat: das Komödiantentum der deutschen Bühne mit den Aufgaben<br />
des dichterischen Theaters wirklich zu verbinden, die Tat. die<br />
der Dichter Lessing zwar formulierte. die aber ein Theatermann wie<br />
Schröder allein ausführen konnte. Der Dramaturg Lessing in Hamburg<br />
hatte außer seinen Stücken noch nicht das Repertoire unseres<br />
Theaters. Erst seitdem Schröder als Nachfolger seiner Eltern die<br />
Hamburger Direktion führt. sammeln sich die Grundsteine unseres<br />
heutigen Bühnenspielplans. die Dichter aus Deutschland. Frankreich.<br />
Spanien. die man heute noch spielt. Vor allem aber kommt mit<br />
Schröder Shakespeare auf die deutsche Bühne und wird ihr dann<br />
immer enger verbunden.<br />
Dem Programm von Hamburg gesellt sich zur Zeit seiner Abfassung<br />
eine entscheidende Begegnung in Mainz zu. Mitgenießen muß man<br />
an ihr. daß die Schichten der Entwicklung. die wir so ordentlich im<br />
Kopf haben. sich dabei bis zur Umkehrung verwerfen: es fängt an im<br />
festen Haus und endet mit dem Stegreifspiel. während man den<br />
entgegengesetzten Ablauf erwartet. - Orte aber, die solche Begegnungen<br />
zum Geschehen beitragen können. haben für Zufall keinen<br />
Raum. an ihnen hat Schicksal mit aller Verschwendung von Leben<br />
und Geist gewirkt.<br />
D R . K A R L c H R A M M<br />
69
KURFüRSTLICH MAINZISCHER<br />
UNIVERSITATSPROFESSOR UND INGENIEUR<br />
OBERSTLEUTNANT - BRIGADE-GENERAL DER<br />
FRANZÖSISCHEN REPUBLIK<br />
BüRGERMEISTER IM FRANZÖSISCHEN KAISER.<br />
REICH UND IM GROSSHERZOGTUM HESSEN<br />
EIN DEUTSCHER GELEHRTER DER STAATS-,<br />
MILITAR. UND TECHNISCHEN<br />
WISSENSCHAFTEN<br />
WECHSELVOLL DAS LEBEN, VIELSEITIG DAS<br />
WERK - SO STEHT DIESER MAINZER IM BUCH<br />
DER GESCHICHTE VERZEICHNET: EIN SPIEGEL<br />
DER GROSSEN POLITISCHEN WANDLUNGEN<br />
EUROPAS UM DIE WENDE DES 18. ZUM 19.JAHR·<br />
HUNDERT,ZUGLEICH EINE VERKÖRPERUNG<br />
GROSSEN KÖNNENS UND HOHER IDEALE<br />
70<br />
R<br />
dotPh Eickemeyers Vater, Johann Christoph Eickemeyer,<br />
stammte aus dem Eichsfeld, wo er1720 zu Duderstadtgeboren<br />
war, seine Mutter,Catharina Theresia FranciskaSchmidt, aus<br />
Mainz, wo sie als Tochter eines Artillerie-Hauptmannes 1725 zur<br />
Welt gekommen war. Der Vater hatte mehrere Jahre in Göttingen die<br />
mathematischen Wissenschaften studiert, bevor er nach Mainz kam,<br />
hierlngenieur-Offizierwurde und sich 17 50verehelichte.Untersechs<br />
herangewachsenen Geschwistern war Johann Heinrich Rudolph<br />
Eickemeyer, geboren am l1.1'vlärz 1753 zu Mainz, der einzige Knabe.<br />
Von den Eltern ursprünglich für den geistlichen Stand vorgesehen,<br />
entschied sich der Sohn jedoch für den Berufdes Vaters, der ihn selbst<br />
in den mathematischen Wissenschaften unterrichtete. Geschichte,<br />
Erdkunde, Deutsch, Französisch, Latein waren die weiteren Fächer<br />
des durch Privatlehrer erteilten Unterrichts, neben dem Eickemeyer,<br />
unterstützt durch desVaters reichhaltige Bücherei, ein eifriges Selbststudium<br />
betrieb. Dem Vater konnte er schon früh bei Landesvermessungen<br />
als Gehilfe dienlich sein und nachher diese selbst durchführen.<br />
Erst 17 -jährig erhielt er bereits aufgrund seiner Kenntnisse in dem<br />
Waffenfach und in der Feuerwerkerei eine freigewordene Offiziersstelle<br />
bei bei der Artillerie.<br />
Neben seiner Stellung als Stückjunker bei der Mainzer Feld-Artillerie<br />
Kompanie wurden dem jungen Eickemeyer alsbald schon bedeutende<br />
Aufgaben als Lehrer und Erzieher gestellt. Als der schulreformfreudige<br />
Kurfürst Emmerich-Joseph 1771 die Schullehrer-Akademie<br />
ins Leben gerufen hatte, warderVater, damals Ingenieur-Major, mit<br />
derVertretung der mathematischen Wissenschaften betraut worden.<br />
Bei der Verdoppelung des Kurses im Frühjahr 1773 wurde dann der<br />
Mathematik-Unterrichtderneuen Kandidaten demSohnEickemeyer<br />
übertragen. Als dann weiter im Herbst 1773 in fortschrittlichem<br />
Geist das Gymnasium Emmericianum geschaffen wurde, übernahm<br />
er auch an dieser Anstalt den Unterricht in Mathematik in den<br />
höheren Klassen und die Unterweisung in der Baukunst. Indessen<br />
nahm diese Tätigkeit im Zusammenhang mit dem nach dem Tode<br />
71
des Kurfürsten Emmerich-Joseph 177 4 erfolgten reaktionären Gegenschlag<br />
im Mainzer Schulwesen schon rasch ein Ende.<br />
Doch winkte dem damals erst Einundzwanzigjährigen bereits noch<br />
höhere Ehre: die Vertretung der Mathematik an der Universität<br />
Mainz. Da er aber selbst erst ein Hochschulstudium zu absolvieren<br />
wünschte, übernahm zunächst der Vater vertretungsweise für den<br />
Sohn das Amt. während dieser Anfang 1775 nach Paris zog, um<br />
hier, zu Füßen der angesehensten Lehrer seiner Zeit, Mathematik<br />
und Naturwissenschaften zu studieren. Dem anderthalbjährigen<br />
Aufenthalt in Paris schloß sich eine einjährige. vornehmlich dem<br />
Studium von Werken der bürgerlichen, der militärischen und der<br />
Wasserbau-Kunst gewidmete Reise durch Frankreich, Flandern, die<br />
Niederlande und England. wo auch die Universitäten Cambridge<br />
und Oxford besucht wurden, an.<br />
Als 1781/82 die große Erneuerung (Restauration) der Universität<br />
Mainz durch Kurfürst Friedrich CarlJ oseph eingeleitet wurde, erhielt<br />
Rudolph Eickemeyer - damals zugleich Ingenieur-Oberleutnant -<br />
den Lehrstuhl für angewandte Mathematik. Außer der philosophischen<br />
Fakultät gehörte Eickemeyer nach Errichtung der kameralwissenschaftlichen<br />
Fakultät 1784 auch dieser an und bekleidete in<br />
ihr 1789 - 1792 die Stelle des Dekans. DieVorlesungen Eickemeyers<br />
in der philosophischen Fakultät erstreckten sich über Algebra, Trigonometrie,<br />
Mechanik, Hydrostatik, Hydraulik, Aerometrie. Optik,<br />
Dioptrik, Katoptrik, Chronologie, Astronomie und Geographie. in<br />
der kamer al wissenschaftlichen Fakultät überWasserbau, militärische<br />
und bürgerliche Baukunst. Literarisch trat Eickemeyer in diesen<br />
Jahren vornehmlich mit verschiedenen Schriften über Bauwesen<br />
(Dörfer-, Straßen- und Einschließungsbau) hervor und erzielte wiederholt<br />
Preis-Zuerkennungen seitens der Königlichen Societät der<br />
Wissenschaften zu Göttingen.<br />
Die Stürme der französischen Revolution setzten dem friedlichen<br />
wissenschaftlichen Wirken Eickemeyers ein Ende. Zu einer Unterbrechung<br />
kam es zunächst dadurch. daß Eickemeyer - inzwischen<br />
72<br />
Ingenieur-Major geworden - im Frühjahr 1790 zu dem teilweise von<br />
Kurmainz gestellten Exekutionskorps abgeordnet wurde, das den<br />
im Anschluß an die Revolution in Frankreich und Brabant in dem<br />
damals noch zum Deutschen Reich gehörigen Bistum Lüttich entflammten<br />
Aufstand niederwerfen sollte. Während diesem an für die<br />
beteiligten westdeutschen Truppen blamablen Ereignissen reichen<br />
Feldzug fand Eickemeyer die Zeit zur Beantwortung einer von der<br />
Münchener Akademie der Wissenschaften gestellten wasserbaulichen<br />
Preisfrage.<br />
73
Der aus der französischen Revolution sicb herleitende, mitder Kriegserklärung<br />
Frankreichs an Osterreich vom 20. April 179 2 beginnende<br />
kriegerische Zusammenstoß zwischen Frankreich und den wichtigsten<br />
deutschen Staaten rückte mit der Festung Mainz auch Eickemeyer<br />
in das Licht europäischer Geschichte. 1779 war ihm das<br />
"Ingenieur-Kommando", somit die Leitung des Befestigungswesens<br />
von Mainz, übertragen worden, die bisher sein Vater innegehabt<br />
hatte. Des Sohnes Bemühungen um eine den möglichen Anforderungen<br />
gerecht werdende Ausgestaltung der Festungsanlagen waren<br />
aber ebenso erfolglos geblieben wie die Anstrengungen des Vaters,<br />
die Vernachlässigung der Anlagen abzustellen. "Man sah die<br />
Festung Mainz als eine unnütze Last für den Staat an und vernachlässigte<br />
ihre Unterhaltung. Die Festungswerke waren bereits unter<br />
dem Militärgouverneur und der Finanzkammer zur ökonomischen<br />
Benutzung verteilt ... Sie wurden mit Heerden betrieben, man zog<br />
Feldfrüchte und Wein in denselben", berichtet Eickemeyer selbst.<br />
Erst im Herbst 1791 wurde bei drohender Kriegsgefahr mit der<br />
Instandsetzung der Festungswerke zaghaft begonnen und diese im<br />
Frühjahr 179 2 lebhafter fortgesetzt, indessen im Juli 1792 nach der<br />
großen Fürstenzusammenkunft in Mainz und der Abreise des Königs<br />
von Preußen zu der gegen Frankreich aufgestellten Hauptarmee<br />
wieder eingestellt: Der Kurfürst von Mainz, ein Freund der österreichisch-preußischen<br />
Koalition gegen Frankreich und Helfer des<br />
revolutions-feindlichen französischenEmigranten-Adels,hieltseine<br />
Hauptstadt für ungefährdet.<br />
Um so mehr Schrecken erregte Anfang Oktober 1792 in Mainz die<br />
Nachricht von der Einnahme von Speyer durch eine französische<br />
Heeresabteilung unter Custine. Während die Festungswerke nun<br />
beschleunigt in Verteidigungszustand gesetzt wurden, flohen der<br />
Kurfürst sowie ein großer Teil der Spitzen von Adel, Geistlichkeit<br />
und Beamtenschaft. Am 5. Oktober fand ein Kriegsrat der höheren<br />
Offiziere der Festung statt. Als Einziger trat hier Eickemeyer dafür<br />
ein, die Außenwerkeder Festung zu verteidigen, während alle anderen<br />
74<br />
sich sogleich auf die Stadt zurückziehen wollten, hierzu aber nicht<br />
die Zustimmung der Statthalterschaft fanden. Am 18. Oktober<br />
stand Custine vor Mainz, beschoß am 19. Oktober die Stadt etwas<br />
mit Feldartillerie und richtete am 19. und 20. Oktober Aufforderungen<br />
zur übergabe an dieVerteidiger. Ein am 20. 0 ktober in Mainz<br />
durch den Gouverneur mit den sechs hier anwesenden Generälen<br />
abgehaltener Kriegsrat sprach sich einstimmig für die Kapitulation<br />
aus. Nur Eickemeyer, als Protokollführer am Schluß der Beratung<br />
um seine Meinung befragt, erklärte nicht einsehen zu können, wie<br />
der Feind einen sofortigen Sturmangriff mit Erfolg auszuführen vermöge,<br />
wenn man ihm nur ernsthaft Widerstand zu leisten entschlossen<br />
sei. Nach Genehmigung des Kapitulationsbeschlusses durch die<br />
Statthalterschaft wurde Eickemeyer als Unterhändler zu Custine<br />
gesandt. Am 21. Oktober 1792 wurde die Kapitulation von Mainz<br />
durch Kalkhoff und Eickemeyer für Mainz, durch Meunier und<br />
Petigny für Frankreich unterzeichnet. Während den MainzerTruppen<br />
freier Abzug unter der Verpflichtung, ein Jahr lang nicht gegen<br />
Frankreich zu kämpfen, gewährt wurde, ging die Festung Mainz mit<br />
der gesamten Artillerie des Platzes in französischen Besitz über.<br />
Nach Erledigung ihm noch vom Gouverneur übertragener, mit der<br />
Kapitulation verknüpfterVerwaltungsarbeiten entsagte Eickemeyer<br />
dem kurmainzischen Dienst und trat zufolge Aufforderung durch<br />
Custine, dessen gemäßigt liberale Ideen von ihm geteilt wurden.<br />
als Oberst in die Dienste Frankreichs. Eickemeyer hat selbst 1795<br />
diesen Schritt wie folgt begründet: "Die Hoffnung, meine Mitbürger<br />
frei von Adels- und Priesterdruck zu sehen und hierzu beizutragen,<br />
entschied mich für die Kriegsdienste der Republik, nicht Begierde<br />
nach Geld und Ehrenstellen ... Stolz werde ich immer darauf sein,<br />
mich für die Menschheit erklärt und für ihre Rechte gefochten zu<br />
haben". Der übertritt Eickemeyers in den Dienst der Französischen<br />
Republik brachte ihm mit manchen Schmähungen auch den Vorwurf<br />
eines Verrates bei der übergabe der Festung an Custine ein.<br />
ohne daß man indessen den geringsten vertretbaren Anhaltspunkt.<br />
75
geschweige denn einen Beweis erbringen konnte. Der kurmainzische<br />
Gouverneur von Mainz, Freiherr von Gymnich, hat auch in seiner<br />
Verteidigungschrift nicht den geringsten Vorwurfgegen Eickemeyer<br />
erhoben und als Grund für die sofortige Kapitulation allein die Unmöglichkeit<br />
bezeichnet, Mainz mit der nur 2862 Mann (einschließlich<br />
Offiziere) betragenden Besatzung (davon 2595 Mann Infanterie,204MannKavallerieund<br />
63 MannArtillerie, die 193 Geschütze<br />
zu bedienen hatten!) gegen den Ansturm eines auf 20 bis 30000<br />
Mann geschätzten Angreifers zu halten, zumal irgendwelche Hilfe<br />
von auswärts nicht zu erwarten war.<br />
Es fehlt hier der Raum, EickemeyersTaten und Erlebnisse als Oberst<br />
und seit dem 15. Mai 1793 als Brigade-General der Französischen<br />
Republik im Einzelnen zu verfolgen. Erwähnt sei, daß Eickemeyer<br />
zunächst unter Custine im Winter 1792/93 an den Kämpfen gegen<br />
die Preußen im Taunus und an der Nahe teilnahm, daß er 1793/94.<br />
zum Teil mit Befestigungsarbeiten betraut, im Gebiet des ehemaligen<br />
Bistums Basel und in Belfort stand, 1794/95 an der zweiten.<br />
diesmal erfolglos endenden französischen Belagerung von Mainz<br />
und 1796 an dem Feldzug Moreaus durch Süddeutschland teilnahm,<br />
wobei er sich durch die Deckung des Rückzuges auszeichnete. Bei<br />
der anschließenden Verteidigung von Kehl gegen die Osterreicher<br />
um die Jahreswende 1796/97 wurde Eickemeyer verwundet. In der<br />
Folgezeit bekleidete er das Militärkommando im Jura-Departement,<br />
alsdann in den Departementen Loire und Puy de Dome. Linksradikale<br />
Elemente, denen Eickemeyer bei ihrer unmenschlichen Verfolgung<br />
der Royalisten nicht zu Gefallen war, wußten hier seine Entlassung<br />
aus dem aktiven Dienst herbeizuführen. Eickemeyer begab<br />
sich hierauf nach Mainz, wo er seine Rehabilitierung mit Erfolg<br />
betrieb.<br />
Seine Vaterstadt war am 30. Dezember 1797 wieder in den Besitz<br />
Frankreichs übergegangen, das sich nun im Besitz allen deutschen<br />
Landes links des Rheines befand. Die provisorische Verwaltung gab<br />
den Bewohnern zu zahlreichen KlagenAnlaß, sodaß sich angesehene<br />
76<br />
und rechtlich denkende Männer entschlossen. eine Abordnung<br />
zwecks Abstellung der Beschwerden nach Paris zu entsenden. Während<br />
für das Rhein-Mosel-Departement Joseph Görres nach Paris<br />
delegiert wurde, fiel für das Donnersberg-Departement (Mainz) die<br />
Wahl aufEickemeyer, der seine Reise nach Paris just am 18. Brumaire<br />
des Jahres VIII = am 9. November 1799 antrat, dem Tage des Staatsstreiches<br />
Napoleon Bonapartes, mittels dessen dieser sich zum<br />
Ersten Konsul emporschwang. Bei seinemErscheinen inParis wurde<br />
Eickemeyer. der wenige Zeit zuvor noch des Royalismus bezichtigt<br />
worden war, nun des J acobinertums verdächtigt: Schicksal des geradlinigen<br />
Mannes in schwankenden Zeiten! Wiewohl von General<br />
Lefebvre, der Mainz Ende 1797 besetzt und selbst zu den Nutznießern<br />
der linksrheinischen Länder gehört hatte, gegen Eickemeyer<br />
beeinflußt, gewährte Bonaparte Eickemeyer in seiner Eigenschaft<br />
als General, nichtalsAbgesandten des Donnersberg-Departementes.<br />
eine Audienz, zwar frostig. aber nicht ohne Zusicherungen für die<br />
linksrheinischen Departemente zu geben.<br />
Bei seinem Aufenthalt in Paris ließ sich Eickemeyer Ende 1799 das<br />
Kommando einer neuen militärischen Einheit, der "Nordfranken<br />
Legion«, übertragen. DieserTruppenkörper sollte ursprünglich nur<br />
aus Landeskindern der vier neuen linksrheinischen Departemente<br />
bestehen, wurde indessen durch Ausdehnung auch auf Ausländer,<br />
darunter viele Deserteure. und Zuweisung anderwärts nicht erwünschter<br />
Offiziere zu einer bunt zusammengewürfelten Schar.<br />
Diese Legion, die nacheinander in Aachen, Koblenz, Mainz, schließlich<br />
aufWalcheren (Seeland) ihren Standort hatte, verfiel. ohne zu<br />
einem Kriegseinsatz gekommen zu sein, Mitte 1801 wieder der<br />
Auflösung. Hatte die Aufstellung und Ausrüstung der Nordfranken<br />
Legion Eickemeyer schon größte Mühen gekostet, so blieb es ihm<br />
bei der Auflösung der Legion nicht erspart, Unterschlagungen während<br />
der Kommandoführung bezichtigt und einem peinlichen Untersuchungsverfahren<br />
unterworfen zu werden. Eickemeyer war in der<br />
Lage. die wahren Schuldigen für entstandene Fehlbeträge namhaft<br />
77
zu machen, veröffentlichte Ende 1801 eine der Deutlichkeitnichtentbehrende<br />
Verteidigungsschrift über die Bildung und Auflösung der<br />
Nordfranken-Legion und erzielte die Anerkennung seiner Unschuld<br />
durch den Minister. Freilich hatte er in seiner Verteidigung auch<br />
den Schwager des Kriegsministers Berthier belastet. Dies kann mit<br />
dahin gewirkt haben, daß alsbald auch Eickemeyergelegentlich einer<br />
großen Generals-"Absägung" in den Ruhestand versetzt wurde.<br />
Auf spätere Reaktivierungsversuche verzichtete er: Napoleons Eroberungspolitik<br />
und autoritäre Staats führung waren nicht nach<br />
Eickemeyers Sinn. So trat er von der Bühne der großen Politik und<br />
derTruppenführung ab. Er hatte gelernt, "eine unabhängige Mittelmäßigkeit<br />
einer glänzenden Knechtschaft vorzuziehen".<br />
Eickemeyer ließ sich jetzt in Gau-Algesheim nieder, wo er von<br />
seinen Eltern ein kleines landwirtschaftliches Anwesen besaß, das<br />
er nun selbst bestellte, daneben wissenschaftlichen Studien lebend.<br />
Hoffnungen und Bemühungen der Mainzer, Eickemeyer an entscheidender<br />
Stelle der Landesverwaltung oder in den gesetzgebenden<br />
Körperschaften zu sehen, erfüllten sich nicht. Doch übernahm<br />
er 1811 das Amt des Maire (Bürgermeister) von Gau-Algesheim.<br />
Nach einer Unterbrechung durch den Umschwung von 1813/14<br />
führteEickemeyer dies Amt auch unter der österreichisch-bayrischen<br />
(1815/16) und unter der hessischen Verwaltung (ab 1816) noch<br />
mehrere Jahre zum Nutzen des Ortes.<br />
Zugleich reifte in diesen Jahren eine ReihewissenschaftlicherWerke<br />
des nun über 60-jährigen, insbesondere militärwissenschaftlichen<br />
Charakters, darunter als bedeutendste die zweibändigen "Abhandlungen<br />
über Gegenstände der Staats- und Kriegswissenschaften "<br />
(1817) und ein "Lehrbuch der Kriegsbaukunst" (1821). Daneben<br />
steht - angeregt durch die damalige Absicht Mainzer Kreise auf<br />
Errichtung eines Gutenberg-Denkmales - eine Schrift" über den<br />
sittlichen und Kunstwert öffentlicher Denkmäler" (1820), eine<br />
Arbeit umfassendster Bildung und hohen Kunstsinnes, in ihren<br />
geschichts- und kunstphilosophischen Betrachtungen manchmal<br />
78<br />
an die ausgewogene Denkweise von J acob Burckhardt gemahnend.<br />
(I Die Achtung, die sich Eickemeyer in seinem an bewegenden Kräften<br />
so reichen, indessen von ihm charakterlich geradlinig verfolgten<br />
Leben erworben hatte, fand noch ihren Ausdruck durch Wahl in den<br />
Provinzialrat von Rheinhessen 1818 und in die Hessische Abgeordnetenkammer<br />
1820. Zerrüttete Gesundheit machte ihm indessen<br />
die Ausübung des Mandates unmöglich. Nach schwerem Leiden<br />
starb Rudolph Eickemeyer am 9. September 1825 in Gau-Algesheim.<br />
Seine Ruhestätte daselbst ist nicht erhalten.<br />
Eickemeyer hat bislang vornehmlich nur die Kriegsgeschichte und<br />
die Geschichte von Mainz im Hinblick auf die übergabe von Mainz<br />
an Custine 1792 und seineTätigkeit als Oberst,und Brigade-General<br />
der Französischen Republik interessiert. überdies sind seine 1845<br />
von Heinrich Koenig herausgegebenen "Denkwürdigkeiten" für<br />
jeden historisch Interessierten als ein fesselndes Spiegelbild der<br />
Verhältnisse von Kurmainz gegen Ende des 18. Jahrhunderts und<br />
des militärischen und öffentlichen Lebens in Frankreich in den J ahren<br />
der großen Revolution schätzenswert. Fast unbekannt geblieben<br />
ist bisher der Wissenschafter Eickemeyer. Die Größe des von ihm<br />
umspannten Wissensgebietes - von der Mathematik und dem Bauwesen<br />
über die Militärwissenschaften und die Staatswissenschaften<br />
bis zur Geschichtsphilosophie und Aesthetik - mag mit eine Ursache<br />
dafür gewesen sein, daß seine geistige Gesamtpersönlichkeit nach<br />
Umfang und Leistung noch nicht er faßt und gewürdigt wurde.<br />
Muß auch an dieser Stelle auf eine Betrachtung der einzelnen Werke<br />
Eickemeyers und ihrer Stellung innerhalb der Geschichte der verschiedenen<br />
Wissenschaftszweige verzichtet werden, so seien doch<br />
einige Züge seines wissenschaftlichen Wesens herausgestellt. Die<br />
Weite seines wissenschaftlichen Blickfeldes äußert sich nicht nur in<br />
dem Umfang der von ihm beherrschten Wissensgebiete, sondern<br />
auch bei der Behandlung einzelner Materien, so zum Beispiel, wenn<br />
bautechnische Studien zugleich in staatswissenschaftliche Betrach-<br />
79
tungen eingebettet und durch sorgfältige betriebswirtschaftliche<br />
Erwägungen gestützt werden. Hiermit verbindet sich eine ausgeprägte<br />
Gründlichkeit der Betrachtung, die neben den als ausschlaggebend<br />
angesehenen Momenten auch die ihnen entgegenstehenden<br />
Gesichtspunkte nicht vernachlässigt. Das Maßvolle seines Urteils<br />
wie die Fähigkeit, in klarer Ordnung das Entscheidende herauszustellen,<br />
geben seiner Darstellung gesteigerte Oberzeugungskraft.<br />
Seine erste kleine Schrift" Ober den Nutzen des mathematischen<br />
Studiums" von 1784 kann hierfür bereits als beweismachend herausgestellt<br />
werden und zugleich die erzieherisch geschickte Hand wie<br />
eine durchaus neuzeitlich wirkende Diktion - im Gegensatz zu der<br />
manches älteren seiner Universitätskollegen - belegen.<br />
Dieser von jedem Blendertum freien, auf Wahrheits erkenntnis und<br />
Wohlfahrtsförderung abgestellten wissenschaftlichen Wesenheit<br />
Eickemeyers ist man sich zweckmäßig auch bewußt, wenn man seine<br />
politische Linie in ihrem Kern zu erfassen sich bemüht. Sein Eintritt<br />
in die Dienste Frankreichs entsprang keinem billigen Ehrgeiz. geschweige<br />
denn Habsucht, sondern ehrlicher Oberzeugung von der<br />
Oberlebtheit des alten Kurstaates mit Adels- und Priesterherrschaft.<br />
Und wenn Eickemeyer sich 1792 für die französische Revolution. für<br />
den Kampf um die ewigen Menschenrechte entschied, so teilte Eickemeyer<br />
die Begeisterung für diese Ideale mit manchem erlauchten<br />
deutschen Geist, der später als Vertreter des nationalen deutschen<br />
Gedankens in die Geschichte eingegangen ist, nachdem die Auswüchse<br />
der Revolution ernüchternd gewirkt hatten. Gewiß ist nicht<br />
abzustreiten. daß bei Eickemeyer das Verlangen nach einer für besser<br />
erachteten Regierungsform stärker entwickelt war als ein gesamtdeutsches<br />
Empfinden, das damals nur die wenigsten Deutschen kannten.<br />
Praktisch bestand 1792 auch nur die Wahl zwischen dem Anschluß<br />
an ein die Idee der Freiheit verfechtendes Frankreich oder<br />
dem Verharren in der Unterwerfung unter den überkommenen Machthaber<br />
eines durch hierarchische oder dynastische Kräfte bestimmten<br />
deutschen Kleinstaates.<br />
80<br />
Eickemeyer war weder blind gegen die schweren Schatten der französischen<br />
Revolution, gegen die er selbst einen harten Kampfzu führen<br />
hatte. noch war er ein Lobredner Frankreichs. Stärken wie Schwächen<br />
des französischen Nationalcharakters haben in ihm einen objektiven,<br />
dabei nicht humorlosen Beurteiler gefunden.<br />
Eickemeyers ausgeprägter Gerechtigkeitssinn paarte sich bei ihm<br />
mit der noblen Haltung des Offiziers, der jeder Ausnutzung besetzten<br />
Landes durch die Armee entgegentritt und die Lasten der betroffenen<br />
Bevölkerung so gering wie nur möglich zu halten sucht. Es<br />
sind uns über Eickemeyer zahlreiche Zeugnisse maßvoller Behandlung<br />
der Bevölkerung. bescheidener eigener Lebensführung wie<br />
energischen und mutigen Einsatzes gegen Plünderungen überliefert.<br />
Als Eickemeyer den erwähnten Anwürfen bei der Auflösung der<br />
Nordfranken-Legion ausgesetzt war. hat ihm 1801 das Professorenkollegium<br />
der alten Universität Mainz. die 1798 - 1802 freilich nur<br />
.noch in Form einer "Zentralschule" vegetierte. seine Treue und<br />
Achtung durch ein Gutachten erwiesen; in dem der Satz stand:<br />
DIESER GENERAL HAT IMMER DEN RUF EINES<br />
RECHTSCHAFFENEN UND UNEIGENNüTZIGEN<br />
MANNES GENOSSEN. DER MIT DER aESCHEI<br />
DEN HEl T DES W A H REN V,E R DIE N S TE SEI N E N<br />
DURCH DIE WISSENSCHAFTEN ERLEUCHTETEN<br />
GEIST UND EIN MITEr:JPFINDENDES HERZ FüR<br />
DIE LEIDENDE MENSCHHEIT VERBAND<br />
PRO FES S 0 R D R. A. F. N A P P _ Z I N N<br />
S 1
(Geburtsort unbekannt), im dreißigjährigen Kriege Hauptmann im<br />
Waldenburgischen Regiment und kam wohl gegen Ende des Krieges<br />
nach Krifte!.<br />
K. Rausch berichtet aus alten Urkunden und Aufzeichnungen: Es<br />
war am Freitag, den 6. März 1671. Nach der Messe ging jeder an seine<br />
Arbeit. Der damalige Ortsschultheis Johannes Ohaus war mit dem<br />
Trocknen seines Flachses beschäftigt, als dieser plötzlich Feuer fing<br />
und lichterloh brannte. Er versuchte das Feuer zu löschen, aber vergebens.<br />
Der heftige Märzwind trieb die Funken nach allen Himmelsrichtungen,<br />
überall entstanden neue Brandherde, und in derZeitvon<br />
10 bis 12 Uhr brannte das ganze Dorf ab. Gegen Mittag stürzte der<br />
Turm der Kirche ein, und durch die Hitze schmolzen sogar beide<br />
Glocken. Zwei Menschenleben wurden vernichtet. Nur vier Häuser<br />
und eine Scheune blieben verschont.<br />
Johannes Ohaus legte kurze Zeit darauf seine l\mter nieder, und<br />
durch eine Verfügung der KurmainzerRegierungvom 23. Juni 1671<br />
wurde der Krifte1er Bürger Christophorus Trost, der Bruder des damaligen<br />
Ortspfarrers Theodor Trost (der auch Altarist von Fritzlar<br />
und später von Mainz war), Schultheis und Zöllner in Kriftel.<br />
Am 15.August 1671 schickte die Kurmainzer Regierung ein Darlehn<br />
von 1500 Gulden zu einem Zinssatz von fünf Prozent nach Kriftel.<br />
Von den34 Krifte1er Familien nahmen31 Anleihen auf, darunter auch<br />
Johannes Ohaus: 50 Gulden. Zum Kirchenbau 1671/1675 stiftete<br />
der Mainzer Kurfürst Johann Philipp 45 fl. aus seiner Privatkasse,<br />
der Mainzer Kurfürstliche Rat Friedrich von Dalberg 18 Gulden. Die<br />
Gemeinde Kriftel 200 Gulden, die sie in Mainz bei Zahlmeister<br />
Stephan Zenck lieh. Eine Kollekte in Frankfurt brachte 146 fl29 albus.<br />
2 Pfg. und eine Kollekte in verschiedenen Oerthern 35 Gulden.<br />
(Kirchenbaukosten 568 Gulden 14 albus. 2 Pfg.) Die erste Glocke<br />
liefertederMainzerGlockengießerKaspar Roth -Anm. 1-1676 stiftete<br />
Veit Trost und dessen Hausfrau Katharina 150 Gulden für eine<br />
neue Glocke.<br />
Johann Ohaus starb am 2. August 1676, seine Ehefrau Anna, Maria<br />
84<br />
am 29. März 1681. (I Ihr Sohn Johann Heinrich Ohaus, der etwa<br />
1645, wohl in Kriftel geboren ist, war Schöffe in Hotheim am Taunus<br />
und starb dort am 27.Juli 1732 mit 87 Jahren. In erster Ehe war er<br />
verheiratet mit Margarete Bült oder Becht (von 1677 bis 15. Februar<br />
1698). Aus seiner zweiten Ehe mit Rosina Dams aus Marxheim entstammteseinam<br />
16.Augustl700inHofheimgeborenerSohnJohann<br />
JakobOhaus,dermitAnna Gerlach (geb.:1692, gest.: 17.ApriI1740),<br />
verheiratet war, und am 1. April 1758 verstarb. Aus dieser Ehe<br />
entstammte Johann, Heinrich Ohaus der nach seinem Großvater<br />
und Paten den Namen führte. Er wurde der Gründer der weit verzweigten<br />
Linie Ohaus in Mainz, die trotz ihres Kinderreichturns<br />
heute nach fast200Jahren nur noch drei direkte Namensträger zählt:<br />
Elisabeth Ohaus und Gustav Ohaus mit seinen beiden Söhnen. Eine<br />
in Familienbesitz aufbewahrte Einbürgerungsurkunde besagt: Daß<br />
Vorzeiger dieses:<br />
Johann Heinrich Ohhauss seiner Profession: ein Krähmer, den<br />
7. April 1761 zu allhiessiger Bürgerschafft auf- und angenommen,<br />
sofort mit den gewöhnlichen Bürgerlichen Eyds-Pflichten in Senatu<br />
würklich belegt worden, wird in Urkund dieses attestieret und ertheilet,<br />
so geschehen in Mayntz den 9ten Aprilis 1761.<br />
Im gleichen Jahre am 6. April 1761 heiratete er Appolonia Petry, die<br />
Tochter einer alteingesessenen Schifferfamilie. Seinen Beruf als<br />
Krämer scheint er aber gewechselt zu haben, denn in der Heiratsurkunde<br />
seines SohnesJohann Baptistwird er als Angestellter (gars;on)<br />
auf dem Büro der Mainzer Bürgermeisterei bezeichnet.<br />
Ein Sohn (das zehnte Kind) dieses ersten Mainzer Ohaus war der<br />
Fuhrunternehmer Gottfried Ohaus in der Fuststraße 19, sein Enkel<br />
der Maler-Architekt Wilhelm Gottfried Ohaus (8. November 1828<br />
bis 24. Januar 1884). Er besuchte das Mainzer Gymnasium und studiertenachAbsolvierungderSchuleaufdemPolytechnikuminDarmstadt<br />
Architektur. Seine Neigung führte ihn aber bald schon zur Malerei.<br />
Er unternahm Studienreisen nach Frankreich und Spanien 1854<br />
bis 1855, auf denen er sich längere Zeit in Paris und Madrid aufhielt.<br />
85
Nach seiner Rückkehr war er kurze Zeit bei der hessischen Ludwigsbahn<br />
als Architekt tätig, ging aber dann wieder nach Spanien und<br />
kehrte erst nach sechsjahren 1868 wiederin die Heimat zurück.Jetzt<br />
widmete er sich ganz der Malerei. als freier Maler und daneben als<br />
Zeichenlehrer am Mainzer Gymnasium. Seine ersten Arbeiten spanische<br />
Architekturbilder in 01. stellte er in Frankfurt am Main aus.<br />
und fand Anerkennung. Bekannter und vom größerem lokalen Interesse,<br />
besonders heute nach der fast vö lligen Zerstörung unserer Vaterstadt.<br />
sind seine Mainzer Aquarelle, in denen er in seiner spätromantischen<br />
Manier und in überaus zartem und delikatem Kolorit, uns die<br />
Altstadt erhalten hat. Prälat Friedrich Schneider, der bekannte Mainzer<br />
Kunsthistoriker, der Wilhelm Ohaus noch "persönlich kannte,<br />
macht in seinen "Altmainzer-Erinnerungen" besonders aufmerksam<br />
aufdie schönen Illustrationen von Wilhelm Ohaus zu dem "Eckhaus<br />
an der Albanskirche "von Konrad Kraus und auf seine reizende Aquarelle<br />
aus der Stadt, die er in großer Zahl für Franz Heerdt gemalt hat.<br />
Wenn diese Illustrationen in der letztenAusgabevon 1923 auch nicht<br />
mehr diesen Eindruck vermitteln können, so glaube ich doch. aufdas<br />
"Portal am Quintinskirchhof" mit dem Blick nachder Schustergasse<br />
hinweisen zu müssen. von dem Friedrich Schneider sagt. "daß Ohaus<br />
in einem köstlichen Bild dieses Portal verewigte. das zwar in untergeordneten<br />
Teilen mit Freiheit behandelt. die Hau ptakzen te zu einem<br />
ebensowahren. als künstlerischenZusammenklangvereinigt. Dieses<br />
Wort Schneiders können wir den kleineren Mainzer Aquarellen und<br />
auch größeren Arbeiten Ohausens voransetzen.<br />
In Ortwein: Deutsche Renaissance 1871/1878'bearbeitete Wilhelm<br />
Ohaus -Alt Mainz - in zwei Heften. Sie enthalten einige Grabdenkmäler<br />
des Domes., das Brendelsche Gestühl. Mainzer Häuser. einen<br />
Mainzer Schrank und den bekannten Marktbrunnen.<br />
Aus Anlaß seines 50. Todestages im Jahre 1934 hatte die Mainzer<br />
Gemäldegalerie im Kupferstichsaal eine kleine Ausstellung seiner<br />
Arbeiten veranstaltet. Sie zeigte Olbilder aus der Zeit seines Spanienaufenthaltes<br />
und Mainzer Aquarelle. die aus dem Nachlaß Franz<br />
86<br />
Xaver Heerdts in den Besitz der Stadt gekommen sind. Auch bei der<br />
letzten Ausstellung "Mainz vor der Zerstörung" im Jahre 1946<br />
waren einige dieser Arbeiten wieder ausgestellt. Werke des Malers<br />
Wilhelm 0 haus finden sichim Besitzdes Frankfurter Kunstvereins.der<br />
MainzerGemäldegalerieundinMainzer-undFrankfurterPrivatbesitz.<br />
Ein andrer Sohn des ersten Ohaus von Mainz.J ohann Baptist Ohaus<br />
geb. 15. Mai 1779 führt die uns interessierende Linie als Großvater<br />
des Dr. Friedrich Ohausweiter.Erwarwohl einer der merkwürdigsten<br />
Männer im Kreise der Ohaus.Wie es in der Familientradition heißt,<br />
sollte er geistlich werden, einen Berufbekleiden, der in dem damals<br />
noch kurfürstlichen Mainz von hoher Bedeutung war. Ob es die Einflüssederfranzösischen<br />
Revolution, oderob es andere Gründewaren,<br />
durch die dieser Plan nicht zur Ausführung kam. ist unbekannt.J edenfalls<br />
finden wir in einem erhaltenen Reisepaß aus dem Jahre 1817<br />
seinen Beruf als Tierarzt angegeben. Bekannter ist er als Fuhrherr<br />
und Wagenvermieter - Chaisenvermieter, - wie man im Volksmund<br />
sagt. Als Leiter der fahrenden Abteilung hatte er kurze Zeit die Thurn<br />
Taxissche Post in seinemAnwesen,ehe sie nach 1800 aufdenSchillerplatz<br />
übersiedelte. Auf jeden Fall spricht sein Haus und Anwesen in<br />
der Gymnasiumsstraße 3, das schon äußerlich durch sein Rokkokotor<br />
auffiel und in dem später die Spediteure Arnsberger und Lambinet'<br />
ihrenSitzhatten,mitseinemgroßen,weiträumigenHofundseinenLagerräumen.<br />
für ein bedeutendes, großzügiges Unternehmen und kündetden<br />
aufstrebendenBürgergeistdesbeginnenden 19.Jahrhunderts.<br />
Am 19. November 1806 heiratete er Anna Maria Schmitt (geb.: 16.<br />
Januar 1787, gest.: 16.Januar 1850), die Tochter des Bäckermeisters<br />
Johann Schmitt und seiner Ehefrau Margarete geb. Kuch. der seit<br />
1777 in der Gaugasse ein Anwesen mit Bäckerei in ne hatte. Johann<br />
Baptist Ohaus - der Reiter - wie er in der Familiengeschichte nach<br />
einem alten bis zum 27. Februar 1945 erhaltenen Scherenschnitt genannt<br />
wird, starb am 30. August 1843; zwölf Kinder entsprangen<br />
seiner Ehe. sechs Knaben und sechs Mädchen.<br />
Der älteste Sohn WilheIm (26. Februar 1811 bis 21. Dezember 1864)<br />
87
erbte das väterliche Unternehmen und fUhrte es weiter. Er heiratete<br />
Elisabeth Seemann (8. März 1808 bis 19. Juli 1896); die Ehe blieb<br />
kinderlos. Der zweite Sohn, Johann Baptist Friedrich (14. Dezember<br />
1812 bis 3.Juli 1887), der mit zwei Schwestern Mannefeld, Klara<br />
(t2.November 1821 bis5.Juli 1853) und Barbara (28.August 1828<br />
bis 6. September 1896) verheiratet war, hatte elf Kinder. Er ist der<br />
Stammvater der Badehaus-Dynastie Ohaus, die von 1840 bis 1922<br />
die bekannte Rheinbadeanstalt in ihrem Besitz hatte. Johann Friedrich<br />
Ohaus hatte "das kalte Flußbad"vor dem Neutor zwar nicht<br />
selbst erbaut, sondern das "Rheinfloß "'Ion derWitwe des Max Hoffmann<br />
für 2425 Gulden erkauft. Sein Teilhaber der Mainzer Arzt Dr.<br />
Itzstein schied schon 1841 aus, und seitdem blieb das Bad fasthundert<br />
Jahre im Besitz der Familie. Ihm folgte sein Sohn Jean (8. Juni 1852<br />
bis 3. Mai 1934), dann sein Enkel Gustel Ohaus.Das alte Bad wurde<br />
1922 an den Mainzer Ruderverein verkauft. um einen Neubau Platz<br />
zu machen. Aber die inzwischen eingetretene Inflation hatte das notwendige<br />
Kapital aufgefressen. und die Stadt trat nun als Bauherr auf.<br />
Von ihr übernahm Gustel Ohaus die "neue Badeanstalt" als Verwalter<br />
und führte sie bis 1941.<br />
Johann Baptist Friedrich, der alte Bade-Ohaus, warin Mainz außerdem<br />
noch bekannt durch sein Kaffeehaus am Graben. Im Jahre 1853<br />
kaufte er für 700 Gulden das alte Renaissancehaus "zum Osswald"<br />
auf dem Graben -Anm. II. - ließ es unter Beibehaltung seiner Architektur<br />
erneuern, und führte es bis zum Jahre 1866.<br />
Der dritte Sohn des Reiters. Gottfried (13. April 1815 bis 28. Juni<br />
1883), als Schirm-O haus bekannt, heiratete Anna Maria Dornbusch<br />
(21. Dezember 1819 bis 10, August 1870), hatte sieben Kinder, fünf<br />
Mädchen und zwei Knaben. Seine bei den Söhne wanderten nach<br />
Amerika aus.<br />
Dervierte Sohn Karl Ludwig starb schon mit 21 Jahren (23.August<br />
1817 bis 26. Januar 1838), der fünfte Sohn Konrad (6. Februar 1824<br />
bis 16. Januar 1866) war Chaisenkutscher und starb ledig.<br />
Valentin Ludwig - Louis genannt, der sechste Sohn und das jüngste<br />
88<br />
Kind des Tierarztes und Fuhrherrn Johann Baptist Ohaus, derVater<br />
von Dr. Friedrich Ohaus, wurde am 15. April 1825 - wie seine<br />
Geschwister - in Mainz geboren. Nachdem er das Bäckerhandwerk erlernt<br />
hatte, schickten ihn seine Eltern auf die Walz zu einem Verwandten<br />
nach Reims zu: Franz Ohaus, dem Mitinhaber der Firma<br />
F. Ohaus und Duchatel, Vins fin de Champagne Rue des Marmouzet,<br />
um sich dort in der französischen Feinbäckerei und in seinen Sprachkenntnissen<br />
zu vervollkommenen . In den Jahren 1847/48 finden wir<br />
ihn in Reims bei dem Bäckermeister Mr. Petit, Rue Henrie Quatre,<br />
wieder. Hier entstand ein BildValentin Ludwigs, das Dr.Fritz Ohaus<br />
mit einem Bilde seiner Mutter (von Orth) der Mainzer Gemäldegalerie<br />
schenkte. Er heiratete am 9. Januar 1864 Maria Elisabeth<br />
Keller, die Tochter des Kaufmanns Keller, am Leichhof und gründete<br />
am Leichhof (Leichhof 15, zuletzt Buchhandlung Dr. Kaufmann).<br />
eine Bäckerei, die er aber nur einige Jahre führte. Er wurde dann fUr<br />
kurze Zeit der Mitinhaber der Zahlbacher Mühle, unter der Firma<br />
Götz und Ohaus, zog wieder nach Mainz zurück, wohnte zuerst Ecke<br />
Gärtnergasse, Mittlere Bleiche, und dann in der Korbgasse 1. Seinen<br />
Berufhatte ergewechselt und war, nach seiner Rückkehr nach Mainz,<br />
Vertreter verschiedener Mainzer Mühlen geworden. Seiner Ehe entsproßten<br />
acht Kinder, fünf Söhne und drei Mädchen. Er verstarb am<br />
24. Juli 1893, seine Ehefrau (geb.24.Dez.1842), am 5. Februar 1933<br />
Dr. med. Friedrich Ohaus ist das älteste dieser Kinder. Er wurde am<br />
5. Dezember 1864 geboren (gest. 22. Oktober 1946).<br />
Von den Töchtern des Reiters heirateten: Margarete in die Familie<br />
Thierry,Sophie in die Familie Schugmann, Magdalena einen Mainzer<br />
in Paris mit Namen Kneib; Anna Maria und Maria Josepha starben<br />
als Kinder, und AnnaMaria, die einige Jahre ihrem Bruder Louis den<br />
Haushalt geführt hatte, starb ledig mit 41 Jahren.<br />
Die mütterliche Linie Dr. Friedrich Ohaus entstammte bäuerlichen<br />
Verhältnissen. Der Urgroßvater der Mutter, Georg Keller, verstarb<br />
1814 in Astheim, der Großvater Peter, der um die Jahrhundertwende<br />
in Mainz gewohnt haben muß, starb am 4. Oktober 1807, ebenfalls<br />
89
in Astheim. Der Vater Johann Baptist Keller wurde in Mainz am<br />
17. Januar 1797 geboren, besuchte die lateinische Primärschule und<br />
erlernte den Kaufmannsberuf. Er hinterließ eine kleine Familienchronik,<br />
die dann von seinerTochter weitergeführt wurde und deren<br />
Reste Dr. Friedrich Ohaus aus den Trümmern des Naturhistorischen<br />
Museums, wo er einen Teil seiner Habe während der Fliegerangriffe<br />
sicher zu stellen glaubte, rettete. Diese, die ich teilweise wörtlich<br />
zitiere, dienten als Unterlage. "Am 16. Januar1824- schreibtJohann<br />
Baptist Keller - wurde ich in die Bürgerliste eingetragen und leistete<br />
in die Hand des Bürgermeisterei Beigeordneten H. Heinrich den<br />
Bürgereid.AmMittwoch, den 7.Apri11824, wurde meine Verbindung<br />
mit BarbaraMaringer (auslaubenheim) durch Bürgermeister Jungenfeld<br />
vollzogen. Am 3. Mai fand die kirchliche Trauung in Laubenheim<br />
statt und "den 14ten May Freitag eröffnete ich mein Geschäft im<br />
N amen Gottes in dem Hause aufdem LeichhofLt. F. 206" . Nach dem<br />
Tode der ersten Frau am 16. September 1826, wurde er durch Adjunkt<br />
Heinrich am 30. Januar 1828 mit Anna Heichemer getraut, der<br />
Tochterdes in der HimmelgassewohnendenHolzmessersHeichemer,<br />
" 182 9den29tenAugusterkaufteich das Haus Lt.F.206 aufdemLeichhofe<br />
um den Preis von f.6500,der Kaufakt errichtetvon Notar Gaßner<br />
(spricht nur auf f4000 zur Umgehung der Gebühren). Dieses Manufakturwarengeschäft,<br />
das J. B. Keller betrieb, und das später in die<br />
Hände der Firma Joseph, dann an Rübsam überging, wurde von ihm<br />
am 31. Dezember 1852 geschlossen" .<br />
Zu seinem Freundeskreis, schon von früher Jugend an, gehörte<br />
Joseph Scholl - Anm. 3 -, der Bildhauer und Fritz Knußmann, der<br />
Schreiner und Möbelfabrikant.<br />
Aus der zweiten Ehe entstammte die am 24. Dezember 1842 (als<br />
neuntes Kind) geborene Maria Elisabeth Keller, die Mutter von Dr.<br />
Friedrich Ohaus; schon früh Waise geworden, (der Vormund war des<br />
Vaters Freund Fritz Knußmann), erhielt sie ihre Erziehung im Institut<br />
der Englischen Fräulein und auf Nonnenwörth. Sie heiratete den<br />
Bäckermeister Louis Ohaus am 9. Januar 1864. In jenem Familien-<br />
90<br />
buch, das sie weiterführte, finden wir von ihrer eigenen Hand die<br />
Eintragung ihres ersten Kindes, des Sohnes Friedrich, die ich wörtlich<br />
wiedergebe;" 1864am 5. DezemberwurdeunsererstesKind geboren.<br />
Es erhielt in der hl. Taufe den Namen Friedrich. Sein Taufpate war<br />
Herr Friedrich Knußmann. Geimpft wurde es durch Herrn Dr. Pies.<br />
Zum zweiten male im 12ten Lebensjahr durch Dr. Hellwig.<br />
Die erste heilige Kommunion empfing derselbe in der Domkirche<br />
durch Herrn Pfarrer Thoms. Sein Kerzenpate war sein Bruder Wilhelm.<br />
Die heilige Firmung empfing er ebenfalls im Dom durch Freiherrn<br />
von Lenrod, Bischofvon Eichstätt."<br />
Im Schatten des Domes geboren, aufgewachsen in den alten Gassen,<br />
die unter St. Quintins Schutz stehen. väterlicher- und mütterlicherseits<br />
Mainzer Blut in den Adern. wurde aus dem Kinde ein Mann. den<br />
die Liebe zur Heimat und zur Vaterstadt nie verlassen hat. Wenn er<br />
auch schon früh, nach echt Ohaus'scher Art. in die Welt ging, 50 ist<br />
es doch ein Zeichen von Heimatliebe, wenn er sich für seine ausgedehnte<br />
Praxis in der Holtzenstraße in Altona von seinem alten Freunde<br />
Dr. Hochgesandt einen Mainzer (Dr. Wagner). als Assistenten<br />
schicken ließ. dem er auch dann seine Praxis übertrug. Und als der<br />
erste Weltkrieg ausbrach, kam er wieder nach Mainz und übernahm<br />
unter Prof. Dr. Hürter die Infektionsabteilung am Städtischen Krankenhause<br />
in Mainz. Nach Kriegsende übernahm er. obwohl sein Ruf<br />
schon damals in Fachkreisen fest gegründet war. als Assistent des N aturhistorischen<br />
Museums. die Leitung der Insektenabteilung, der er<br />
27 Jahre vorstand. Dort widmete er sich neben seinen Studien der<br />
Ruteliden. besonders der Insektenwelt der engeren Heimat. Noch<br />
niemand vor ihm hatte das Gebiet des Mainzer Beckens so gründlich<br />
durchforscht. und es ist sein Verdienst. wenn die heute leider stark<br />
zerstörte Insektensammlung des Naturhistorischen Museums eine<br />
solche Größe und Fülle erreichte. Diese Sammlung beweist: "Die<br />
Abhängigkeit der einzelnen Insektenarten von der geologischen<br />
Beschaffenheit des Bodens und hat zugleich den Nachweis erbracht.<br />
aufwelchem Wege noch heute Zuwanderungen aus dem Mittelmeer-<br />
91
gebiet und aus den Steppen des Osten in unser warmes und niederschlagarmes<br />
Rheinhessen erfolgen".<br />
Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit schloß er sich der Rheinischen<br />
Naturforschenden Gesellschaft an, deren Beirat er wurde,<br />
und war besonders eifrig tätig in der: "Käwerschachtel", einer der<br />
Rheinisch Naturforschenden Gesellschaft angeschlossenen Vereinigung<br />
von Freunden der Insektenkunde. Aus Anlaß seines 80. Geburtstages<br />
wurde er zum Ehrenmitglied der Rheinischen Naturforschenden<br />
Gesellschaft ernannt.<br />
Von kleiner Statur mit klugen, freundlichen Augen, von festem<br />
Willen und großer Liebe an seiner Arbeit, die ihm nicht Arbeit, sondern<br />
Freude war, hatte ihn Mutter Natur mit nicht unbedeutenden<br />
zeichnerischen, ja künstlerischen Talenten, einem echten, warmen<br />
Humor und einem großen Wissen um die Menschen begnadet. Gerade<br />
durch dieses überlegensein über das Irdisch-Vergängliche erhob<br />
er sich über alles, was sonst so leicht das eitle Menschenherz betört.<br />
In seiner kleinen bescheidenen Wohnung, am Weihergarten, der<br />
einige guteEmpirenmöbel norddeutscher Arbeit das Gepräge gaben,<br />
lebte er still sein eigenes Leben. Noch in den letztenWochen seines irdischen<br />
Weges zeigte er mir mit Freude denWiederaufbau der Sammlungen<br />
des Museums und erzählte in seiner schlichten und klaren<br />
Art gern von seinem Leben und seinen Fahrten in der neuen Welt.<br />
Der Mann, den es von Kindheit an, nur zu den Naturwissenschaften<br />
zog, wurde auf Wunsch seines Vaters Arzt. Und Dr. med. Friedrich<br />
Ohaus war kein schlechter Arzt. Dies zeigt sein ausgedehntes Arbeitsfeld<br />
in Altona und das Interesse, das er sein Leben lang dem<br />
ärztlichen Wissen bewahrte. Und selbst noch in seinen alten Tagen<br />
griff ergerne zumHöhrrohr, wenn es galt, Freunden und Verwandten<br />
zu helfen. Zu seinem 80. Geburtstag im Jahre 1944, an dem ihm die<br />
Stadt Mainz, als erstem ihrer Bürger die Gutenbergplakette verlieh.<br />
wurde zu seiner Ehrung eine kleine Festschrift verfaßt, die durch die<br />
Ungunst derZeit nicht im Druck erscheinen konnte. Um diese Ehrung<br />
des jüngst Verstorbenen nachträglich noch zu erfüllen, übernehme<br />
92<br />
ich ihr die Arbeit D r. W eil er s, die uns über die wissenschaftliche<br />
Arbeit und Leistung'von Dr. Friedrich Ohaus unterrichtet.<br />
"Schon aufder Schule zeigte sich beiFriedrich Ohaus eine angeborene<br />
Vorliebe für Naturwissenschaften und diese Neigung wird durch<br />
die Bekanntschaft mit einem älteren Mitschüler bald in bestimmte<br />
Bahnen gelenkt. Wie so viele Knaben seines Alters wird auch Ohaus<br />
Insektensammler, aber von vornherein mit ungewöhnlichem Ernst.<br />
Das Glück will es, daß er in jenen Tagen mit dem Kustos des Naturhistorischen<br />
Museums seiner Vaterstadt W. v. Reichenau, einem<br />
Mann, von hoher Allgemeinbildung und gründlichem Spezialwissen<br />
in Beziehung tritt, die sich im Laufe der Zeit immer enger und freundschaftlicher<br />
gestaltet. Unter dem Einfluß von Reichenau, der ihm<br />
die einschlägige Literatur zugängig macht, und auf vielen gemeinsamen<br />
Gängen in der näheren und weiteren Umgebung der Stadt.<br />
sein Interesse für allgemeine Fragen weckt. bekommt die Sammeltätigkeit<br />
des jungen Ohaus nicht nur einen wissenschaftlichen Anstrich.<br />
sondern auch das ihr eigentümliche Gepräge. Denn. wenn<br />
der spätere Forscher nicht in der trockenen Systematik seiner Käfer<br />
stecken bleibt, vielmehr in mühevoller. und wir müssen schon sagen,<br />
auch liebevoller Weise ihre Lebensäußerungen belauscht, ihre Entwicklung<br />
und geographische Verbreitung verfolgt. und trotz seines<br />
Speziallistentums immer und immer wieder Antwort auf allgemeine<br />
Fragen sucht. dann sehen wir wohl mit Recht in dieser Aufgeschlossenheit<br />
eine Auswirkung des tiefen Eindrucks, den der Umgang<br />
mit von Reichenau auf den Schüler und angehenden Studenten<br />
gemacht hat.<br />
Nach bestandener Reifeprüfung bezieht Ohaus die Universitäten<br />
Gießen und München. um von 1883 -1888 Medizin und Naturwissenschaften<br />
zu studieren. In München tritt er dem Kreis von<br />
Insektenforschern und Liebhabern auf diesem Gebiet näher, und<br />
was er bisher nur dunkel geahnt. wird ihm unter dem Einfluß des<br />
Herausgebers der Zeitschrift für Insektenkunde Baron von Harold<br />
klar: Das Reich der Insekten ist für den einzelnen Forscher viel zu<br />
93
ERINNERUNGEN<br />
DES ALTESTEN MAINZERABITURIENTEN<br />
Die Abiturienten der Jahre 1870 und 71 sind ausgestorben, und nachdem der<br />
Geistliche Rat Wilhelm in Nierstein iru Februar 194 ° verschieden ist, bin ich<br />
als einziger Abiturient von 1 872 übrig geblieben. Nun weicht der Verlauf meiner<br />
Jugendzeit bis zum Maturum in mancherlei Betracht vom gewöhnlichen Gleise<br />
ab, und so ist es vielleicht nicht unwillkommen, wenn ich nachstehend einiges<br />
aus meinen Erinnerungen darbiete.<br />
Das erste Erleben im Kindesalter, welches in meinem Gedächtnis<br />
haften blieb. war die Pulverexplosion am 18. November 1857. Es<br />
explodierte der Pulverturm (Zitadelle) auf dem Kästrich. Ich war<br />
damals erst 3 3<br />
/ 4 Jahre alt und glaube. daß die gewaltige. meilenweit<br />
vernommene Detonation in meinem kindlichen Sinne wohl kaum<br />
einen dauernden Eindruck hinterlassen hätte. wenn sie mir nicht<br />
zugleich empfindlich fühlbar geworden wäre dadurch. daß ein Stein<br />
durchs Fenster mir wider den Kopf flog und an diesem edlen Teile<br />
eine erhebliche Wunde verursachte. Da ein Arzt nicht zur Hand war.<br />
wurde ich. in ein Laken gehüllt. in das Rochus-Hospitalgetragen<br />
und daselbst behandelt und verbunden. Diese Episode habe ich<br />
heute noch vor Augen.<br />
Wir wohnten auf dem Gutenbergplatz. dessen Längsseite damals<br />
ganz anders aussah. als heute. Abgesehen von einem anstoßenden<br />
Teile des Bambergerschen Gartens mit seinen Bäumen und Büschen<br />
bot sie einen Anblick. der vielleicht dem Gutenberg. als dem Erfinder<br />
der schwarzen Kunst. bei einer Kehrtwendung auf seinem Denkmal.<br />
sonst aber niemand hätte erfreuen können. nämlich Kohlenhöfe !<br />
Mein Vater war Kaufmann mit Leib und Seele und nahm deshalb<br />
ohne weiteres an. daß auch seine drei Söhne sich diesem Berufe<br />
widmen würden. So kamen wir alle drei nacheinander in das damals<br />
in seiner Blüte stehende Scharvogelsehe Privatinstitut, Ecke der<br />
Flachsmarkt- und Synagogenstraße. dessen Gründer und Leiter<br />
Christi an Scharvogel sich als vortrefflicher Pädagoge bewährt hat.<br />
100<br />
Das Institut ist. soweit mir bekannt geworden. eingegangen, als<br />
Christi an Scharvogel sich ins Privatleben zurückzog.<br />
Die Stadt Mainz war deutsche Bundesfestung. und die Garnison<br />
bestand etwa zur Hälfte aus Osterreichern. Im Laufe der Jahre hatte<br />
sich zwischen diesem Teile der Garnison und der Mainzer Bevölkerung.<br />
wohl auf Grund einer gewissen Wesensverwandschaft. ein ungemein<br />
herzliches Verhältnis entwickelt. und die lieben "Zwockel"<br />
waren in aller Munde; über die Etymologie dieses Kosenamens bin<br />
ich nie ins Klare gekommen.<br />
Als in dem kritischen Jahre 1866 die österreichischen Truppenteile<br />
ausrückten, da stand auch ich Spalier und sah in manchen Augen<br />
Tränen blinken. Die Musik spielte das alte "Muß i denn. muß i denn<br />
zum Städtle hinaus und du. mein Schatz. bleibst hier! CI Ich glaube. es<br />
sind damals viele Schätze in Mainz geblieben.<br />
Im Beginn des Krieges von 1866 hatte man allgemein mit einer<br />
Belagerung der Festung gerechnet und mein vorsichtiger Vater hatte<br />
eine große Menge Schiffszwieback als Proviant angeschafft, unter<br />
dessen zweifelhaftem Genuß wir Kinder noch lange zu leiden hatten.<br />
([ Mein älterer Bruder Wilhelm (1852 - 1924. zuletzt Seniorchef der<br />
Hofmöbelfabrik A. Bembe in Mainz) blieb dem kaufmännischen<br />
Berufe treu. Es ist vornehmlich dem Einflusse des besten Freundes<br />
meiner Eltern, eines Vetters meiner Mutter. des Geh. Medizinalrates<br />
Dr. Karl Wenzel (1820 - 1894). der zugleich unser Hausarzt war. zu<br />
verdanken. daß ich und mein jüngerer Bruder August (1856 -1930,<br />
warlange Arzt in Antwerpen. Abiturient von 1874) imJahre 1868<br />
das Scharvogelsche Institut verließen und für den Besuch des Gymnasiums<br />
umgesattelt wurden. Wenzel war ein Mann von umfassender<br />
Bildung und eifriger Förderer der Wissenschaft und Kunst. dabei<br />
von hinreißendem Temperament. in dessen Haus ich viele glückliche<br />
Stunden verlebte und der im Mainzer öffentlichen Leben eine bedeutsame<br />
Rolle spielte. Die Vorbereitung zum Gymnasium besorgte<br />
mit ausgezeichneter Umsicht und liebevoller Fürsorge der Gymnasiallehrer<br />
Dr. Keller; er ist später Direktor des Gymnasiums in<br />
101
Bensheim geworden und dort hochbetagt gestorben. Die Arbeit der<br />
Vorbereitung war bei meinem Bruder nicht allzu umfangreich. weil<br />
es sich bei ihm nur um den Eintritt in die Untertertia des Gymnasiums<br />
handelte. während ich in relativ kurzer Zeit den Lehrstoff bis<br />
zur Untersekunda bewältigen mußte. Das schwere Werk gelang so<br />
gut. daß sowohl mein Bruder ab Untertertia. als auch ich ab Untersekunda<br />
ohne Anstoß die uns noch verbleibenden Gymnasialklassen<br />
erledigten.<br />
Die Schülerzahl der Untersekunda betrug damals einige dreißig.<br />
verminderte sich aber nach Abschluß des Schuljahres recht erheblich<br />
durch den Austritt derjenigen Schüler. bei denen es sich nur darum<br />
gehandelt hatte. durch die Reife für Obersekunda die Befähigung<br />
zum einjährig freiwilligen Militärdienst zu erlangen. Protestanten<br />
zählte die Klasse. mich eingerechnet. nur drei. Ich stellte aber fest.<br />
daß trotz der ausgesprochen ultramontanen Richtung. wie sie unter<br />
dem Ministerium von Dalwick und dem starken Einflusse des<br />
Bischofs von Ketteler das Gymnasium beherrschte. die wenigen<br />
Protestanten niemals irgendwie unliebsam behelligt wurden. Die<br />
ritterlich vornehme Erscheinung des streitbaren Bischofs ist mir von<br />
Begegnungen auf der Straße gut im Gedächtnis geblieben.<br />
Der Direktor Bone war ein ausgezeichneter Lehrer. dessen Stunden<br />
(römische Dichter und deutsche Poetik) wenigstens für mich wahre<br />
Feierstunden waren. Unter den Lehrern. die ich sonst während der<br />
vier Jahre meiner Gymnasialzeit erlebte. ragten neben dem Direktor.<br />
nach den Eindrücken. die ich von ihnen empfing. hervor: die Professoren<br />
Dr. Ludwig Noin! (Literatur und Französisch). Dr. Pau! Reis<br />
(Naturkunde und Mathematik) und Dr. Joseph Stigell (Englisch).<br />
Der Unterricht in der Geschichte wurde in den oberen Klassen von<br />
einem alten Herrn erteilt, dessen Steckenpferd die Mainzer Erzbischöfe<br />
und die deutschen Kaiser waren, und der mehr auf Jahreszahlen<br />
als auf historisch-politische Zusammenhänge bedacht war.<br />
Die Zeit nach den Befreiungskriegen blieb so gut wie unberücksichtigt.<br />
und er brachte es fertig. die Geschehnisse des Krieges 1870/71,<br />
102<br />
den wir doch in den Primen miterlebten, in seinem Unterricht überhaupt<br />
nicht zu erwähnen. Den Zeichenunterricht leitete der als<br />
Begründer und Direktor des Römisch-Germanischen Zentralmuseums<br />
in Mainz hochverdiente Professor Ludwig Lindenschmit<br />
(1809 - 1893). Das Schuljahr, das mit meinem Maturum abschloß.<br />
war zugleich das letzte seiner Unterrichtstätigkeit am Gymnasium.<br />
Fortan widmete er sich ganz der Altertumsforschung und der Sammlung<br />
und Nachbildung der römisch-germanischen Funde. Lindenschmit<br />
war ein tüchtiger Maler, aber auch sein Zeichenunterricht<br />
bestand wie überall in den deutschen höheren Schulen ausschließlich<br />
in der Anleitung und überwachung beim Nachzeichnen von Vorlagen.<br />
Es mußte noch manches Jahrzehnt vergehen, bis man dazu<br />
überging. die Schüler an die plastische Gegenständlichkeit ihrer<br />
Umwelt, an die Natur heranzuführen und sie die gewonnenen Eindrücke<br />
selbständig zu Papier bringen zu lassen. Lindenschmit pflegte<br />
seinen Unterricht ambulando zu erteilen. indem ervonTisch zuTisch<br />
schritt und dabei die erforderlichen Bemerkungen machte. welche<br />
manchmal recht drastisch waren. Das fiel bei uns nicht weiter auf.<br />
wurden wir doch noch bis ins Maturum mit "Du H<br />
angeredet. Wir<br />
waren schon Oberprimaner. als er einmal beim Anblick der Elaborate<br />
von drei Mitschülern (darunter der Primus). die mehr mit dem<br />
Radiergummi als mit dem Bleistift das Papier bearbeitet hatten.<br />
entsetzt ausrief: "Ihr drei. Ihr seid Säu!!!" Mein Zeichentalent, das<br />
sich - allerdings in stark potenziertem Maße - aufmeine Söhne Willy<br />
und Emil vererben sollte, hatte Lindenschmit bald entdeckt. und so<br />
gewann ich sein Interesse. Ich habe später den prächtigen alten<br />
Herrn wiederholt besucht. Er bewohnte das noch jetzt vorhandene<br />
schmale Einfamilienhaus am Schloßplatz. Eigentum des im Eingange<br />
bereits genannten Dr. Wenzel. der mit ihm befreundet war und ihn.<br />
wo es anging, in seinen archäologischen Bestrebungen unterstützte.<br />
(I Der Krieg brachte natürlich manche Abweichungen von der Regel<br />
hervor. vor allem wurden die großen Herbstferien ganz erheblich<br />
verlängert. Ich trat dem Sanitätsdienste bei, den ich freilich nicht im<br />
103
Felde, sondern auf einem bei dem damaligen Hauptbahnhof vor<br />
dem Holztor behelfsmäßig eingerichteten Verbandsplatz ausübte.<br />
Daselbst wurden die Verwundeten, die zum großen Teil unmittelbar<br />
aus dem Felde, nur mit Notverbänden versehen, eintrafen, untersucht<br />
und ordnungsmäßig verbunden, bevor sie nach den für sie<br />
zuständigen Lazaretten weiterbefördert wurden. Eine bleibende Erinnerung<br />
an diese Tätigkeit ist die mir verliehene Kriegsdenkmünze<br />
für Nicht-Combattanten.<br />
Der Krieg bescherte mir aber eine überaus freudige überraschung.<br />
Alle paar Wochen trafen in Mainz große Mengen von Beutepferden<br />
ein, die auf dem Schloßplatz versteigert wurden. Einen starken Prozentsatz<br />
bildeten die im deutschen Heere nicht verwendbaren Berberhengste<br />
der französischen Spahis (Afrikaner), die oft zu lächerlichen<br />
Preisen abgingen. Einen solchen Berberhengst ließ mein Vater,<br />
der meine Pferdeleidenschaft kannte, durch einen Vertrauensmann<br />
ersteigern, nachdem er vorher für eine entsprechende Stallunterkunft<br />
Sorge getragen hatte. und machte ihn mir zum Geschenk;<br />
jedoch unter der Bedingung, daß ich das Pferd mehrere Wochen lang.<br />
ohne jede Hilfe, selbst verpflegen mußte, um auf diese Weise mich<br />
mit dem Wesen des Pferdes vollkommen vertraut zu machen. Welche<br />
Arbeit mir dadurch erwuchs, wird durch die Tatsache verdeutlicht,<br />
daß mein Pferd ein Fliegenschimmel mit einem bis an die Fesseln<br />
reichenden weißen Schweife war und daher an Sorgfalt beim Putzen<br />
die größten Anforderungen stellte. Ich hatte schon vorher manche<br />
Gelegenheit gehabt, im Sattel zu sitzen, aber erst dank dem Besitze<br />
meines Pferdes lernte ich schulmäßig reiten. Nachdem ich zur Oberprima<br />
aufgestiegen war und die Zeit der Abiturientenprüfung näher<br />
kam, mußte ich mich mit tiefem Schmerze von dem Pferde trennen.<br />
Aber zum Reiten fand ich doch noch eine Gelegenheit, die ganz<br />
gewiß im Leben eines hessischen Gymnasiasten einzigartig ist. Dem<br />
obengenannten Professor Noire war von seinem Arzte das Reiten<br />
als regelmäßige körperliche Bewegung angeraten worden. Obwohl<br />
schon ein angehender Fünfziger lernte er reiten und schaffte sich<br />
104<br />
ein Pferd an. Er war mir immer wohl geneigt gewesen und hatte<br />
erfahren, daß ich im Besitze eines Pferdes gewesen war. So kam es,<br />
daß er mich fragte, ob ich nicht gelegentlich sein Pferd reiten wollte,<br />
wenn er verhindert sei, - eine Frage, die ich natürlich bejahte und<br />
dannöfters seinemdickenSchimmel ausgiebig Bewegung verschaffte.<br />
Der Krieg und seine Begleiterscheinungen, die noch weit in das Jahr<br />
1871 hineinragten, brachte für mich noch manches andere. Die Behandlung<br />
der Kriegsgefangenen war mehr als human. Die Offiziere<br />
bewegten sich frei in der Stadt, soweit sie sich ehrenwörtlich verpflichtet<br />
hatten, Fluchtversuche zu unterlassen, und Mannschaften,<br />
die nutzbringend beschäftigt werden konnten, genossen gleichfalls<br />
freie Bewegung. Ein Sergeant, der bei seinem Truppenteil als maitre<br />
d'escrime fungiert hatte, gab Unterricht im Florettfechten. Ich benutzte<br />
die Gelegenheit und hatte viele Freude an dieser eleganten<br />
Waffenübung, die vor anderen Fechtarten den Vorteil voraus hat.<br />
daß sie die Muskelatur des ganzen Körpers in Anspruch nimmt.<br />
Noch einer anderen Episode, die mir der Krieg bescherte, will ich<br />
hier gedenken. Die Musik hat in meinem Leben eine bedeutende<br />
Rolle gespielt. Klavier-Unterricht hatte ich bereits erhalten, als ich<br />
noch Scharvogel-Schüler war. Später - ich war Obersekundaner -<br />
entzückte mich in einem Konzert das herrliche Spiel eines berühmten<br />
Violoncell-Virtuosen dermaßen, daß ich Violoncell-Stunden nahm.<br />
Mein Lehrer Horn war der zweite Cellist des Theater-Orchesters,<br />
ein Original und leidenschaftlicher Schnupfer, der regelmäßig reichliche<br />
Reste seiner vielen Prisen im Zimmer zurückließ, aber ein<br />
gründlich durchgebildeter Musiker, dem ich in meiner musikalischen<br />
Bildung viel verdanke. - Nun befand sich im Jahre 1871 in einem<br />
preußischen Regiment, das damals längere Zeit in Mainz stand, ein<br />
Vize-Feldwebel. d.er in seinem bürgerlichen Berufe Kapellmeister<br />
war. Der Name ist mir entfallen -\begreiflich, da wir ihn nur "Herr<br />
Kapellmeister" anredeten. Er bildete aus Dilettanten ein kleines<br />
Orchester, dem auch ich beitrat. Unser Maestro gab sich soviel<br />
Mühe und hielt so eifrig Proben ab, daß er kurz bevor er Mainz mit<br />
105
einem anderen Standort vertauschen mußte, ein öffentliches Auftreten<br />
wagen konnte. So kam ein Konzert in Bingen zustande, dessen<br />
Verlauf und Erfolg uns eine äußerst vergnügte Heimfahrt verschaffte.<br />
- Solist des Konzertes war Emil Müller, der etwa um 1850<br />
in Paris geborene Sohn deutscher (Mainzer) Eltern, die der Krieg aus<br />
Paris vertrieben hatte, mit einem Violin-Konzert von Beriot. Obwohl<br />
er die Musik nicht zum Beruf wählte, sondern im Geschäft<br />
seines Vaters tätig war, hatte er in Paris eine völlige konzertmäßige<br />
Ausbildung als Geiger erhalten. Kein Wunder also, daß er bei dem<br />
Binger Publikum für seinen virtuosen und temperamentvollen Vortrag<br />
rauschenden Beifall erntete. Die damals angeknüpfte Freundschaft<br />
mit ihm führte später zur Bildung eines Streichquartetts, dem<br />
außer Müller (Primgeiger) und mir (Cello) Eduard Wall au als zweiter<br />
Geiger (Abiturient von 1874, war zuletzt Kreisdirektor in Groß<br />
Gerau, lebt in Rüsselsheim a. M.) und dessen älterer Bruder Heinrich<br />
(1852 -1925), Söhne des OberbürgermeistersWallau, angehörten.<br />
Bemerkenswert ist, daß Heinrich Wallau, ein vortrefflicher Klavierspieler<br />
und auch sonst reich veranlagter Mensch, eigens Bratsche<br />
erlernt hatte, um die Bildung dieses Streichquartetts zu ermöglichen.<br />
Er hatte das Gymnasium nur bis zur Obersekunda besucht und die<br />
Buchdruckerkunst erlernt, um später die väterliche Buchdruckerei<br />
zu übernehmen, die er später zur ersten Mainzer Kunstdruckerei<br />
ausgestaltete. Wir kamen regelmäßig zusammen und lernten köst··<br />
liehe Schätze der klassischen Kammermusik von Haydn, Mozart<br />
und Beethoven kennen, natürlich in der Auswahl, zu welcher die<br />
Grenzen unserer Fertigkeit nötigten.<br />
Wie aus dem vorstehenden ersichtlich, waren die letzten Jahre meiner<br />
Gymnasialzeit mit außerschulmäßigen Dingen reichlich angefüllt,<br />
und wenn ich heute daran zurückdenke, dann will es mir<br />
manchmal fast unbegreiflich erscheinen, wie ich trotzdem meinen<br />
Pflichten als Primaner und demnächstiger Abiturient nachkommen<br />
konnte. Dazu kam schließlich noch eine Zugabe, die ich nur erwähne.<br />
weil sie den Wert der humanistischen Gymnasialbildung vor Augen<br />
106<br />
führt. Die geschäftlichen Beziehungen der von meinem Vater geleiteten<br />
Firma mit Spanien hatten sich in so erfreulicher Weise entwikkelt,<br />
daß er es für geboten hielt. meinen älteren Bruder zu längerem<br />
Aufenthalt in diesem Lande zu entsenden. Natürlich mußte er zu<br />
diesem Zwecke einigermaßen mit der spanischen Sprache bekannt<br />
gemacht werden. Als einziger fachmäßig gebildeter Lehrer kam<br />
dafür nur ein Herr Frey, ein wahrer Polyglott. in Frage, der neben<br />
spanisch noch sieben lebende Sprachen beherrschte. Allein sich dem<br />
Unterrichte zu unterziehen, erschien meinem Bruder zu langweilig,<br />
und so verstand ich mich auf seine Bitte dazu. an dem Unterricht<br />
teilzunehmen. Aber es waren noch nicht drei Wochen vergangen,<br />
als Herr Frey rundweg erklärte, daß er uns zusammen unmöglich<br />
weiter unterrichten könne, denn ich sei durch mein Latein dem Bruder<br />
dermaßen überlegen, daß er diesen als einen Klotz an meinem<br />
Bein bezeichnen müsse. So mußte ich meinen Bruder im Unterricht<br />
allein lassen. Da ich aber einmal angefangen und an der stolzen<br />
spanischen Sprache, die merkwürdigerweise den lateinischen Ursprung<br />
ungleich treuer bewahrt hat als die italienische, Geschmack<br />
gewonnen hatte, hielt ich an dem Unterricht fest.<br />
Die Abiturientenprüfung fand im August 1872 statt. Daß ich die<br />
schriftliche Prüfung bestanden hatte, darüber war ich nicht im Zweifel,<br />
obschon ich damals schon, wie überhaupt in meinem ganzen<br />
Leben, ein scharfer Selbstkritiker gewesen bin. Zwischen der schriftlichen<br />
und der mündlichen Prüfung lag eine geraume Pause, welche<br />
den Examinatoren zur Zensur der schriftlichen Arbeiten diente. Damals<br />
bestand noch nichtdie Obuflg, wonach diejenigen Abiturienten.<br />
deren schriftliche Arbeiten gut ausgefallen waren, von der mündlichen<br />
Prüfung entbunden wurden. Nun feierte ausgerechnet am<br />
Vorabend der mündlichen Prüfung ein junger Freund meiner Familie.<br />
der den Krieg als einjährig freiwilliger Dragoner mitgemacht und<br />
nach schwerer Verwundung, geschmückt mit dem eisernen Kreuze,<br />
heimgekehrt war, seinen Abschied von der Heimat, die er verließ,<br />
um eine kaufmännischeSteIlung inSüdamerika anzutreten. Zu dieser<br />
107
HER BE R T K Ü H N<br />
MAINZER SONETTE<br />
DIE STILLE<br />
Es ist die Stille in den Trümmern, in den Steinen.<br />
Die uns so wie ein Schreck befällt;<br />
Wo sind die Menschen. und wo ist ihr Weinen<br />
In diesem Grauen einer ganzen Welt?<br />
Von denen, die hier lachten, sieht man keinen.<br />
Sie hat der Niederbruch des Zorns gefällt.<br />
Die Stille will uns schwer wie eine Last erscheinen,<br />
Die uns gefangen in Entsetzen hält.<br />
Da klingt fast t,raumhaft zart das Flattern zweier Schmetter<br />
Sie suchen sich in Spiel und Glück zu fangen; (linge.<br />
Es trägt sie ihre bunt gemalte Schwinge<br />
Von Stein zu Stein in seligem Verlangen.<br />
Und sieghaft hebt sich überTrümmer. Elend. Graus.<br />
Das Bild des Lebens aus dem Tod heraus.<br />
110<br />
RUINEN IN MAINZ<br />
Die Dächer sind herabgestürzt, die Wände sind gefallen,<br />
Zerbrochen liegen Pfeiler. Steine. Ziegel. Mauern;<br />
Und aus den Häusern, aus den Hallen<br />
Erwächst Verzweifeln und Erschauern.<br />
Die Stadt ist ihrem Untergang verfallen.<br />
Schwer lastend legt sich auf dieTrümmer unserTrauern.<br />
DerTod geht um, die Schritte hallen,<br />
Wo die Gestalten dumpf im Dunkeln kauern.<br />
N ur die Madonna steht in ihrem Glanz allein.<br />
Sie lächelt und wie schützend legt sie um das Kind die Hand;<br />
Um ihre Augen schwebt ein goldner Schein.<br />
So lehnt sie einsam an gebrochener Wand. -<br />
Da hebt sich aus dem dumpfen Schaun das Herz.<br />
Es steigt. und es entwindet sich dem Schmerz.<br />
111
TRüMMER<br />
Die Stunde des Gerichts lag rächend über dieser Stadt.<br />
Zerschlug die Straßen. Häuser. brach die Bogen,<br />
Nun liegt sie wie ein Tier, geduckt und sterbensmatt<br />
In ihrer Löcher Unterschlupf zurückgezogen.<br />
Das Schweigen lastet aufihr an des Lebens statt. -<br />
Wo ist das Kinderlachen und dasjubeln hingezogen?<br />
Wo ist die Fröhlichkeit, die sie erhoben hat?<br />
DerTod hockt über ihr. Das Dasein ist verflogen.<br />
Doch singend wächst ausTrümmern helles Grün.<br />
Und Blumen blühen, Farben sprühn.<br />
Ein neues, buntes Leben hat sich aus demTod erhoben.<br />
Ganz still erwächst es, in sich selbst beglückt,<br />
Und wie das Herz das Grün erblickt,<br />
Wird es zutiefst ergriffen und hinaufgehoben.<br />
112<br />
DIE TüRME DES DOMES<br />
DerDom steigt auf aus grausenTrümmermassen,<br />
Die dieser Stadt das Bild desTodes geben.<br />
Aus Schutt und Unrat, aus verfallenen Gassen<br />
ErwachsenTürme, die im Blauen schweben.<br />
Es scheint. daß sie nach Sonnen und nach Wolken fassen.<br />
Daß sie sich zu dem Herzen Gottes heben,<br />
Daß sie die Dunkelheit der Erdenhaftverlassen.<br />
Um in dem Glanz des Ewigen zu leben.<br />
Die Sonne rührt sie an mit zarten Händen,<br />
Und Sterne leuchten über ihnen in der Nacht.<br />
Sie sind es. die die Wünsche derVerzweiflung senden<br />
Zu Gottes unergründlich dunkler Macht.<br />
Sie sind Gedanken der Jahrtausende, der in denTrümmern<br />
(sich verlor.<br />
Sie sind der Menschen Ruf. Aus den Ruine n he bt sich Gottes<br />
(Traum empor.<br />
113
DERDOM<br />
Die großen Fenster an dem Dom sind leer,<br />
Die bunten Glasgemälde sind verschwunden;<br />
Die dunkle Zeit fiel über diese Stätte her<br />
Und schlug mit harter Hand die tiefsten Wunden.<br />
Sie legte ihre schwarzen Flügel schwer<br />
Auf Stadt und Dom in unvergessenen Stunden.<br />
Sie hat in einem Höllenmeer<br />
Den Aufschrei ihrer Wut entbunden.<br />
Nur ragt allein der Dom heraus aus den "zerfallenen Steinen<br />
Auf seinen rosaroten Mauern spiegelt sich das Licht.<br />
Es leuchtet in der Abendsonne Scheinen<br />
Wenn sich der Glanz im Schimmer seiner Quadern bricht.<br />
Dann steigt der purpurrote Farbenton<br />
Im Jubel aufwärts zu dem ewgen Thron.<br />
114<br />
DERSTEPHANSTURM<br />
Erschreckend. wie aus der Ruinen düstrem Angesicht<br />
DerTurm sich hebt. derTurm dort oben.<br />
Wie er aus all den Massen aufwärts bricht,<br />
Aus Massen. die im Niedersturz sich in die Höhen schoben.<br />
So stand er in der Flammen jähem Toben.<br />
Die diese Stadt zerfraßen im Gericht,<br />
Die Elemente aus den Angeln hoben;<br />
Er stand, und seine Wände fielen nicht.<br />
Doch von derTiefe zieht ein Riß sich durch die Mauern.<br />
So tief, daß sich die Quadern weit geöffnet haben.<br />
Die Augen sehen mit Entsetzen und Erschauern<br />
Wie sich die Mauern biegen erdenwärts -<br />
Wohl leuchtest du, oh Herz,<br />
Doch tiefe Risse hat der Sturz derZeit in dichhineingegraben<br />
J15
IM SCHATTEN DES MAINZERDOMES<br />
ainz war in den lahren, da ich geboren wurde.<br />
eine ausgesprochen kleine Stadt. Ringsum eingeschnürt<br />
von Festungswällen und Gräben, beklagte<br />
sie sich darüber, daß sie sich nicht nach<br />
dem Beispiel anderer benachbarter Städte ausdehnen<br />
könne. War man doch mitten in den<br />
Gründer-lahren von der Vorstellung besessen, die Bedeutung eines<br />
Gemeinwesens sei abhängig von seinermateriellen, wirtschaftlichen.<br />
industriellen Stellung und vor allem von seiner Größe. Aber auch von<br />
einem ausgesprochenen geistigen Leben, wie im benachbarten Darmstadt,<br />
warwenigzu spüren. In Vaters lugendjahren gab es noch viele<br />
Privatgärten in der Stadt. ja die ganze Gegend vomWindmühlenberg<br />
bis zum Rochushospital war noch von Weingärten bedeckt, und die<br />
Ausdehnung von Mainz hatte immer noch nicht seit 406 das Areal<br />
des römischen Mauerrings erfüllt. Gerne gingen wir zum Gautor<br />
hinaus,das damals noch stand.Dawareine Brücke überdemFestungsgraben<br />
zu überschreiten. Dann kam man an die Militärwache, die sich<br />
drollig unter einem mittelalterlichen Heilgenbild ausnahm, dann<br />
kam derTunnel desTores mit seiner Finsternis und seinen verschiedenartigen<br />
Gerüchen, und erst dann war man im freien Land. Der Gang<br />
über die Brücke durch das Tor ins Freie hatte immer eine große Anziehungskraft<br />
auf mich. Als daher eines Tages im Hause Leichhof 16<br />
der Ruf ausgestoßen wurde: "Der Bub ist durchgebrannt", da lief<br />
unsereMahillainstinktsicherzumGautor, wo sie mich dann auch fand.<br />
Mit dieser ersten selbständigen Tat begann eine Zeit, in der ich mehr<br />
krank als gesund war. Mi tA usnahme des Keuchhustens hatte ich alle<br />
üblichen Kinderkrankheiten. Mein Krankenzimmer war das Hinterzimmer<br />
im ersten Stock, dessen Fensterwand eine Badewanne ein- .<br />
nahm, über die ein großes Brett gedeckt war. Im Bett stehend konnte<br />
ich dann an diesem Riesentisch spielen. sobald die Krisis der Krankheitvorüberwar.Ich<br />
entsinne mich noch.wie ich nach überstandenem<br />
119
1790gewohnthatte. {Später Mohrenapotheke).Vor allem aber stand<br />
der Dom. und so wie seine äußere Erscheinung das Stadtbild formt.<br />
so formte der innere Rythmus seiner Feste noch das Leben seiner Umgegend.<br />
Es begann im Advent mit den Rorateämtern. deren stille<br />
Feierlichkeit mit den sehnsuchtsvollen Liedern auf das kommende<br />
Festvorbereiteten.Dann wurden auf dem Liebfrauenplatz die Buden<br />
des Weihnachtsmarktes aufgeschlagen; und welch eine Freude war<br />
es. wenn seine Ollampen durch fallenden Schnee hindurch schimmerten.<br />
Am Weihnachtsfest begann die große Glocke des Domes<br />
schon um vier Uhr zu läuten. Auf knirschendem Schnee hörte man<br />
die Füße eiliger Kirchengänger. und wenn wir von der Mette nach<br />
Hause kamen. so roch es wie nie im Jahre nach gutem Kaffee und<br />
dem langen weißen Weihnachtskuchen. Am Vormittag durfte das<br />
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Pontifikalamt des Bischofs nicht versäumt werden. Wenn dann die<br />
Glocke zum Einzug läutete und zu einem machtvollen anschwellenden<br />
Bläserakkord die Pauken wirbelten, wenn der Bischofmit dem<br />
blinkenden Stab und der hohen Mitra segnend durch die Hallen des<br />
Domes schritt, da überkam es unswiedieAhnung einer höheren Welt.<br />
Am Johannistag fanden sich besonders viele Leute zur Frühmesse<br />
ein, denn da wurde der geweihte Johanniswein ausgeteilt. Wenn genügend<br />
Schnee gefallen war, so konnte man Schleifen ziehen, und<br />
die Geschicktesten drehten sich im Hinabsaußen, kauerten sich<br />
nieder und zeigten auf jede Weise ihre Geschicklichkeit. Kam Maria<br />
. Lichtmeß, so wurden die Kerzen am Christbaum abgebrannt, und das<br />
Krippchen wurde bis zum nächsten Jahr verpackt. Schon stand Fastnacht<br />
vor der Türe, und wer das Volksfest in den damaligen Zeiten<br />
nicht mitgemacht hat. der weiß nicht. was Mainzer Humor ist. Aber<br />
schon war der Schnee verschwunden. und mit der Sicherheit. mit der<br />
die Zugvögel wieder eintrafen, tauchten die alljährlich wiederkehrenden<br />
Kinderspiele auf. Man malte Häuschen auf den Boden und<br />
hüpfte darin herum. man fing an "Doppisch" zu spielen, Guckkasten<br />
tauchten auf, mit denen man sich Klicker verdiente. und dann wurde<br />
wochenlangKlickergespielt.InderKarwochewartetemandarauf.daß<br />
am Gründonnerstag die Domglocken nach Rom fliegen und am Karsamstag<br />
wiederkehrten. Daß man mit gekochten Ostereiern kippte,<br />
verstand sich von selbst. Auf dem Rhein begann der Schiffsverkehr,<br />
und ein Kanonenschuß zeigte das Nahen des ersten Köln-Düsseldorfer-Dampfers<br />
an.DieRuderertrainierten fürdieRegatta; und bald<br />
kam die Zeit. wo die Mainzer Buben die Badehosen auch nachts nicht<br />
mehr auszogen. Wenn dann auf einmal am Rheinufer Buben und<br />
Männerschienen mit farbigenDrachen.sowußte man.daß derHerbst<br />
nicht mehr fern war. Es war die Zeit einen Neweling zu kaufen für<br />
die Armeseelenandacht. Anfang November half man dem Nebel<br />
nach. indem man in geschwungenen Blechbüchsen die von den<br />
Bäumen fallenden Blätter verbrannte. Am 11.11 .. am Fest des hl.<br />
Diözesanpatrons Martin. zo.gen um 11.11 Uhr die Rekruten des<br />
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Prinzen Karneval ein. Sie waren kostümiert, als ob sie aus dem<br />
Gerauer Ländchen kämen, und die Musikkapelle spielte das Lied:<br />
.. Hesse-Darmstädter sein meer, un meer hawe Beern, un meer fresse<br />
Beern, vor uffs Brot zu schmeern", was böse Buben um eine nicht<br />
ganz einwandfreie Zeile vermehrten. Und dann nahte schon wieder<br />
die Adventszeit. So ging es Jahr für Jahr, Geistliches und Weltliches<br />
in harmonischer Ordnung gemischt. Nirgend war es geschrieben.<br />
daß es so sein müsse, aber der stets wiederkehrendeJahreslaufprägte<br />
es den Gemütern ein und färbte den eintönigen Ablauf mit den bunten<br />
Bildern seelischer Freude. Glücklich, wer in so geformterWelt und<br />
Zeit aufwächst.Wasder heutige Mensch sucht,daß nämlich dasEinerlei<br />
des Alltags durch sinnvolle Gemeinschaftsfeiern gegliedert und<br />
geformt werde, das konnten wir noch im Schatten des Domes vor Beginn<br />
des 20. Jahrhunderts erleben. Und es ist dort auch heute noch<br />
nicht ganz ausgestorben.<br />
-- - ---X.<br />
GEISTLICHER RAT DR. ADAM GOTTRON<br />
126
NHALTSANGABE<br />
Seite<br />
ZUM GELEIT .. 7<br />
KALENDARIU M 10<br />
bearbeitet von Geistl.RatDr. Adam Gottron u. Dr. Franz Kaiser<br />
DIE ENTDECKUNG EINES ROMANISCHEN HAUSES<br />
IN MAINZ .......................... 23<br />
von Dr. Fritz Arens<br />
FRAUENLOBS SPRUCHLIEDER . . . . . . . . . .. 38<br />
von Dr. Margarete Lang<br />
DIE ERFINDUNG DER BUCHDRUCKERKUNST<br />
UND DIE ENTDECKUNG AMERIKAS ....... 46<br />
von Universitätsprofessor Dr. Aloys Ruppel<br />
IMPRESSIONEN DES FRüHLINGS. . . . . . . . .. 58<br />
von G. M. Steinhardt<br />
VOLTAIRE UND GOEBBELS<br />
von Universitätsprofessor Dr. Friedrich Hirth<br />
KOMODIANTISCHE BEGEGNUNG<br />
von Dr. Karl Schramm<br />
RUDOLPH EICKEMEYER<br />
von Universitätsprofessor Dr. A. F. Napp-Zinn<br />
"EWIGE FRAGE" ..<br />
von Franziska Gebürsch<br />
· . . . . . .. 63<br />
· . . . . . .. 67<br />
· . , ..... 70<br />
. . . . . . .. 82<br />
IN MEM 0 RIAM Dr. med. Friedrich Ohaus . . . . . . .. 83<br />
von Dr. Carl Ferd. Schunk<br />
ERINNERUNGEN DES J\LTESTEN MAINZER<br />
ABITURIENTEN .................... 100<br />
von Geheimerat Dr. Karl Preetorius, Generalstaatsanwalt i. R.<br />
MAINZER SONETTE ......... . 110<br />
von Universitätsprofessor Dr. Herbert Kühn<br />
IM SCHATTEN DES MAINZER DOMES ....... 118<br />
von Geistlicher Rat Dr. Adam Gottron
HERAUSGEGEBEN VON DER STADT MAINZ<br />
GEDRUCKTVON DER MAINZER PRESSE<br />
PRESSE DES GUTENBERG-MUSEUMS<br />
HOLZSCHNITTE UND GESTALTUNG<br />
VON FRANZ FIEDERLING<br />
TECHNISCHE LEITUNG<br />
FAKTOR GROSSE<br />
WEIHNACHTEN<br />
1 947<br />
DER ERLOS DES KALENDERS WIRD FUR KULTURELLE ZWECKE VERWENDET