Schweizerdeutsch - Kantonsschule Enge
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B e r i c h t e<br />
Austauschschüler/innen an der KEN<br />
– oder die fiesen Fälle des deutschen<br />
Wir Schweizer sind pünktlich,<br />
verschlossen und haben<br />
ein grosses ÖV-Netz.<br />
Man wird sich am besten<br />
der eigenen Art bewusst, wenn man sich<br />
mit anderen vergleicht. Oder wenn man<br />
auf gewisse Eigenschaften hingewiesen<br />
wird. Das widerfuhr mir in der Deutschstunde<br />
von Frau Soriani. Sie unterrichtet<br />
gegenwärtig vier Austauschschüler aus aller<br />
Welt, und das zweimal in der Woche.<br />
Als ich die Gruppe besuche, erlebe ich eine<br />
unerwartet gesprächsfreudige und lustige<br />
Runde. Rusti, ein Amerikaner aus Boston,<br />
kann nicht mehr aufhören mit Erzählen.<br />
Frau Soriani gibt ihm genau zehn Minuten.<br />
Sonst komme gar niemand mehr<br />
an die Reihe, meint sie lächelnd. Und so<br />
schöpft Rusti seine zehn Minuten voll aus<br />
und erzählt euphorisch von der Europareise,<br />
die er mit dem Rotary-Club erlebt<br />
hat. Dass er dabei munter über die fiesen<br />
Fälle des Deutschen stolpert, stört Rusti<br />
nicht im Geringsten. Man merkt, dass er<br />
schon ein wenig mehr Sprecherfahrung<br />
hat als die anderen drei – immerhin naht<br />
schon bald das Ende seines Austauschjahres<br />
hier in der Schweiz. Es scheint ihm<br />
sehr gut gefallen zu haben. Er meint zwar,<br />
dass sich die Schweizer schon ein bisschen<br />
zurückhaltend und streng verhielten und<br />
im Vergleich mit den Südamerikanerinnen,<br />
die er auf der Europareise kennen<br />
gelernt habe, nicht ganz so «lustig» seien.<br />
Trotz allem hat er eine Menge guter<br />
Freunde gefunden und schätzt es, dass er<br />
sich ihnen schnell und unkompliziert für<br />
den Ausgang anschliessen kann. Was ihn<br />
sehr erstaunt, ist das riesige ÖV-Netz. In<br />
seinem Land sei das ganz und gar nicht<br />
so gut ausgebaut. Dort, wo er herkomme,<br />
gebe es einen Zug, der alle paar Stunden<br />
in die Stadt fahre.<br />
Linda, eine Taiwanesin, findet es auffällig,<br />
dass es in der Schweiz – im Vergleich mit<br />
Taiwan – so wenig Leute mit schwarzen<br />
Haaren gebe. Und Erin, eine Kanadierin<br />
aus British Columbia, mag den Ausgang<br />
in Zürich. Sie findet es toll, dass man in<br />
der Schweiz auch in den Ausgang kann,<br />
wenn man noch nicht 19 ist. Auch diese<br />
beiden unterhalten sich problemlos mit<br />
mir auf Deutsch, obschon sie ihr Jahr hier<br />
noch nicht beendet haben.<br />
Masslos erstaunt mich Martín, ein Paraguayaner,<br />
der sich sehr gewandt auf<br />
Deutsch ausdrückt – und das, obwohl er<br />
erst drei Monate hier in der Schweiz verbracht<br />
hat und ausser einem selbst gekauften<br />
Deutschbuch noch nie etwas mit<br />
unserer Sprache zu tun gehabt hat. Martín<br />
schloss seine Schule in seiner Heimat ab<br />
wie Linda und Rusti. Er hat vor, nach seinem<br />
Zwischenjahr in Zürich wieder in die<br />
Schweiz zu kommen, um zu studieren. In<br />
Paraguay habe er nicht so gute Zukunftsaussichten<br />
wie bei uns. Und das, obschon<br />
er dort eine Privatschule besuchte und<br />
daher bessere Voraussetzungen mit sich<br />
bringt als jene Schüler, die an einer staatlichen<br />
Schule unterrichtet wurden. Auch<br />
in Kanada, so weiss Erin zu berichten,<br />
bestehe ein sehr grosser Unterschied zwischen<br />
staatlichen und privaten Schulen.<br />
Foto: Jürg Dreifuss<br />
In British Columbia herrsche zwar keine<br />
strikte Kleiderordnung, aber T-Shirts, die<br />
zu viel Haut zeigten, seien auch an ihrer<br />
Schule nicht erlaubt. Die für uns eventuell<br />
ein wenig konservative Haltung offenbart<br />
sich des Weiteren darin, dass jeden<br />
Montag morgen die kanadische Nationalhymne<br />
gesungen wird.<br />
Trotz allen kleinen und grossen Unterschieden<br />
scheinen die vier sehr guten<br />
Anschluss gefunden zu haben. Verteilt<br />
auf dritte Klassen der KEN, besuchen sie<br />
ganz normal den Unterricht und bleiben<br />
nur den Fremdsprachenlektionen fern.<br />
Wie man hört, hat der intensive Kontakt<br />
mit den Schweizern auch Einfluss auf<br />
das Deutsch der Austauschschüler/innen.<br />
Rusti zum Beispiel spricht schon fast<br />
<strong>Schweizerdeutsch</strong>, und auch Martín versteht<br />
nach seinen drei Monaten Schweiz<br />
ein wenig «Züridütsch».<br />
Es ist erstaunlicherweise für alle vier keine<br />
Frage gewesen, Deutsch in der Schweiz<br />
und nicht in Deutschland zu lernen. Nebst<br />
der EM spielten der Bekanntheitsgrad und<br />
die Schönheit des Landes eine Rolle für<br />
ihren Entscheid.<br />
Diese vier aufgestellten und interessanten<br />
jungen Menschen werden in der Schweiz<br />
mit Sicherheit noch eine Menge neuer<br />
Dinge kennen lernen. Und so, wie sie von<br />
uns und unserer Andersartigkeit profitieren,<br />
werden auch wir dazulernen. Von<br />
ihnen. Und ihrer Mentalität.<br />
7<br />
Leonie Hiller (N4d)