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Mein Freund, der Eiteberg-Gockel
Ein Liebesbrief
Armes Vieh! Nun hat man Dich doch erwischt. Dabei begann das Jahrtausend so hoffnungsvoll.
Noch vor kaum drei Jahren warst Du der Einzigste weit und breit, welcher stolz dem behördlichen
Verdikt der Einkerkerung zu trotzen vermochte. Du wurdest zum Symbol der Freiheit für all
jene, die quasi über Nacht zu mitschuldigen Opfern des Vogelgrippewahns verdammt worden
waren, Gefiederte wie auch deren menschliche Freunde.
Der Lärm hat sich inzwischen genau so verflüchtigt wie die Stichhaltigkeit der Anklageargumente.
Eigentlich hättest Du ein grosses Dankeschön für Deine Standhaftigkeit verdient, vielleicht
sogar einen Orden, denn die Vogelgrippe war mitnichten Dein Ding. Aber nicht einmal ein paar
Pinselstriche des Frühjahrsputzes gönnte man Dir, und schon bricht neues behördliches Ungemach
los. Man ernannte Dich über Nacht zum „sans papier“.
Du verstehst kein Französisch? Dann kannst Du es auch „fehlende Baubewilligung“ nennen.
Was früher „der Hut auf der Stange“, ist heute das behördliche Erlaubnispapier. Ich verstehe ja,
dass Dein Kamm anschwillt und Dir Zornesröte ins Gesicht schiesst. Selbstverständlich bist Du
ein einmaliges Kunstwerk und damit weit über alle Kritik erhaben. Ich wäre auch beleidigt, mich
als Baute tituliert zu wissen.
Aber erfahrungsgemäss bringen Dich beleidigte Gefühle keinen Schritt weiter, schon gar nicht
bei Behörden mit nachhaltigem Gedächtnis und langem Arm. Als Gockel hast Du in der Tat
schlechte Karten. Vergiss nicht, dass man Dich schon vor Jahrhunderten auf die Kirchturmspitzen
verbannte, gewiss nicht aus lauter Wertschätzung. Mein Rat: Rede mit der Administration,
als wärest Du eine Baute. Bei denen ist die Garantie- oder Kritikzeit nach längstens 5 Jahren
abgelaufen. Das muss für alle Parteien gelten, auch für Behörden.
Und sollte man Dich der unerlaubten Reklame bezichtigen, dann darfst Du stolz darauf hinweisen,
dass niemals je ein Schriftzug Dein Gefieder verunzierte und Du Dich nur auf ureigenstem
historischem Geflügelgelände bewegst. Auch eine A3 kann Dir dieses nicht streitig machen.
Lasse Dir vor allem den Ordner mit den Unfallprotokollen zeigen, deren beteiligte Autofahrer
behaupten, von Dir geschockt worden zu sein. Mir hast Du niemals andere als heimatliche Gefühle
vermittelt. Du darfst zudem in aller Bescheidenheit daran erinnern, dass es die gleiche
Behörde ist, welche dem Autofahrer jahrelang kilometerlange provisorische Baustellen mit ständig
wechselnden Signalisationen zumutet, ohne je den Begriff „shocking“ bemüht zu haben.
Mein lieber Gockelfreund, ich wünsche Dir alles Glück, welches es in unserer ach so freiheitlichen
Schweiz braucht, um überleben zu können. Andernfalls hätte ich ein ernstes Problem.
Solltest Du plötzlich zum Zugvogel mutiert worden sein, so wüsste ich in der Tat nicht, wie ich
meinem kleinen Enkel beim nächsten Spaziergang Dein schicksalhaftes Verschwinden erklären
sollte. Er jedenfalls liebt dieses Land, weil es hier noch einen so grossen und einmalig prächtigen
Vogel gibt. Übrigens ich auch.
W. Merhof
Rosenstr. 5
5212 Hausen AG
16.5.08