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Wir - Der Turm zu Babel

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Verband Deutscher Antiquare<br />

60 Jahre Verband Deutscher Antiquare –<br />

50 Jahre Stuttgarter Antiquariatsmesse<br />

<strong>Der</strong> Verband Deutscher Antiquare e.V. ist die „Vereinigung von Buchantiquaren, Autographen-<br />

und Graphikhändlern“. Gegründet wurde diese 1949 – und 1960, und 1968.<br />

Vorgeschichte: In der Weltwirtschaftskrise trieb die Inflation die Preise in illusorische<br />

Höhen; die Bücher wurden nicht wertvoller, aber teurer. Und die Konkurrenz wuchs. Verlockt<br />

durch die unbegrenzten Möglichkeiten der flotten Zwanzigerjahre schossen die<br />

„Inflationsantiquare“ (Bernhard Wendt) wie Pilze aus dem Boden. Ein Umsatzsteuergesetz<br />

und eine „Luxussteuer“ belasteten den ohnehin gebeutelten Handel. Abhilfe schaffen<br />

sollte ein Berufsverband, der die Antiquare in der jungen Weimarer Republik vertrat: <strong>Der</strong><br />

Verein der deutschen Antiquariats- und Exportbuchhändler, gegründet in Leipzig, zählte<br />

bald 135 Mitglieder. So organisiert, brachte die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts eine<br />

Reihe berühmter wissenschaftlicher und bibliophiler Antiquariate hervor. Damit war es<br />

zwischen 1933 und 1945 vorbei, als der Nationalsozialismus auch die Bibliophilie in<br />

Deutschland <strong>zu</strong>nichte machte. Die renommiertesten Antiquare waren Juden, wenige emigrierten,<br />

viele verloren ihr Leben. Ihre Bestände wurden beschlagnahmt oder vernichtet.<br />

Die Lager der verbliebenen Kollegen wurden gegen Ende des Zweiten Weltkrieges gro -<br />

ßenteils zerstört, wie in Leipzig <strong>zu</strong>m Beispiel das Lager des Brockhaus/Antiquariums oder<br />

in Berlin die Bestände von J. A. Stargardt. Zudem wechselten in den ersten Nachkriegsjahren<br />

viele Antiquare vom Osten in den Westen. So ging Brockhaus etwa nach Stuttgart,<br />

Stargardt <strong>zu</strong>nächst nach Eutin, dann nach Marburg, dann <strong>zu</strong>rück nach Berlin, und auch<br />

Jürgen Voerster wagte den Neuanfang nicht mehr in Leipzig, sondern in Stuttgart. Keine<br />

günstigen Bedingungen für den Antiquariatsbuchhandel nach 1945, <strong>zu</strong>mal die Menschen<br />

alles andere als den Luxus von Büchern oder Graphiken benötigten.<br />

10. Juni 1949<br />

„Five long years had put up extra barriers between nations. There was no communication.<br />

This enforced extra chauvinism and worse, hatred. Was there a possibility to do something<br />

about interhuman relationship, to bring nations more together? This was my dream; but how<br />

could it be realized? Only on common ground, on mutual interests, and therefore, for an antiquarian<br />

bookseller, by his love, THE BOOK!“ (Menno Hertzberger)<br />

Auch und gerade in schwierigen Zeiten sollten die Antiquare in aller Welt und über alle<br />

Grenzen hinweg kooperieren. Das war die Motivation <strong>zu</strong>r Gründung der International<br />

League of Antiquarian Booksellers (ILAB) – und indirekt für die Gründung des Verbandes<br />

Deutscher Antiquare, denn der Leipziger Verein der deutschen Antiquariats- und<br />

Exportbuchhändler bestand nicht mehr. In Amsterdam ergriffen 1947 die europäischen<br />

63


Kollegen um Menno Hertzberger, Percy H. Muir, André Poursin, Einar Grønholt-Pedersen<br />

und William S. Kundig die Initiative. Im September 1948 trafen sich die Antiquare aus<br />

Großbritannien, Frankreich, Schweden, Dänemark, den Niederlanden, Belgien, Italien,<br />

Finnland, der Schweiz und Norwegen dann offiziell <strong>zu</strong>m ersten, konstituierenden Kongress<br />

der ILAB in Kopenhagen, deren erster Präsident der Schweizer William S. Kundig<br />

und deren erster Vizepräsident der Brite Percy H. Muir wurde. Weltweit verpflichteten<br />

sich die Antiquare in ihrem Code of Ethics dem fairen und professionellen Handel. Seit<br />

damals treffen sich die ILAB „affiliates“, die Muir „enthusiasts for internationalism in<br />

principle“ nannte, alle zwei Jahre <strong>zu</strong> einer Messe und einem Kongress in einer anderen<br />

Stadt, in einem anderen Land, <strong>zu</strong>letzt 2010 im italienischen Bologna.<br />

1948 zählte die ILAB 10 Mitgliedsländer. Es war klar, dass die deutschen Antiquare<br />

dabei sein wollten. Am 10. Juni 1949 gründeten sie in München die Vereinigung Deutscher<br />

Buchantiquare und Graphikhändler e.V. Den Vorsitz übernahm Helmuth Domizlaff,<br />

Stellvertreter war Dr. Ernst L. Hauswedell; Willi Henrich, Dr. Georg Karl und Bernhard<br />

Wendt wurden Beisitzer und Schatzmeister. <strong>Der</strong> erste Schritt war getan.<br />

64<br />

Amor librorum nos unit<br />

1951 nahm Helmuth Domizlaff als Beobachter am ILAB Kongress in Brüssel teil, wo mit<br />

nur einer Gegenstimme die deutschen Antiquare in die ILAB aufgenommen wurden.<br />

Seitdem sind die Verbindungen eng und engagiert: 1957 organisierten Dr. Lotte Roth-<br />

Wölfle, Dr. Georg Karl und Bernhard Wendt den 10. ILAB Kongress in München; 1977<br />

richtete Hans Marcus die 7. ILAB Messe und den 24. ILAB Kongress in Düsseldorf aus.<br />

1992 lud Dr. Christine Grahamer <strong>zu</strong>sammen mit den Kollegen um Georg Schreyer und<br />

Gundel Gelbert <strong>zu</strong>m 31. Kongress und <strong>zu</strong>r 14. Messe nach Köln. Mit über 420 Kongress -<br />

teilnehmern war dies der größte ILAB Kongress aller Zeiten. Die Teilnehmer fuhren mit<br />

einem Sonder<strong>zu</strong>g nach Mainz ins Gutenberg-Museum, wo die Gutenberg-Bibel, aber<br />

auch die Repliken der Gutenberg-Druckerpresse im Museumsshop heiß begehrt waren.<br />

Zurück ging es mit einem Rheindampfer nach Köln. In der Erzbischöflichen Diözesanund<br />

Dombibliothek hielten die Kollegen Codices vom 10. Jahrhundert bis <strong>zu</strong>r Renaissance<br />

in den Händen, <strong>zu</strong>m Farewell tafelten sie (ohne Feuerwerk) in Schloss Augustusburg –<br />

und auf der anschließenden Messe machten die über 200 Aussteller beste Geschäfte in der<br />

Kunsthalle Köln. Zusätzlich gab es ein Junior-Programm, sodass auch junge Antiquare,<br />

die noch nicht lange im Geschäft waren, an Messe und Kongress teilnehmen konnten.<br />

Bereits in den Siebzigerjahren war Dr. Frieder Kocher-Benzing ILAB Präsident, außerdem<br />

über lange Jahre verantwortlich für die Vergabe des ILAB Breslauer Preises für<br />

Bibliographie. Von 2006 bis 2008 folgte ihm Michael Steinbach als ILAB Präsident, seit<br />

September 2008 vertritt Ulrich Hobbeling die deutschen Antiquare im ILAB Komitee.<br />

Auch <strong>zu</strong>m Presidents’ Meeting traf man sich schon mehrere Male in Deutschland: <strong>zu</strong>erst<br />

1965 in Stuttgart, 20 Jahre später in München, 2003 in Potsdam. Einer der Höhepunkte<br />

war dort die Besichtigung der Bibliothek Friedrichs des Großen in Schloss Sanssouci.<br />

Ende September 2011 werden die Präsidenten der heute 23 Mitgliederorganisationen<br />

Gast des Verbandes beim ILAB Presidents’ Meeting in Weimar sein.


1949 – 1960 – 1968: Die ersten Jahre des Verbandes Deutscher Antiquare e.V.<br />

waren wechselvoll, bis in die Namensgebung<br />

Anfang der Sechzigerjahre provozierte die Neufassung des Versteigerergesetzes Meinungsverschiedenheiten.<br />

Das neue Gesetz sollte eine Ausnahme von der bisherigen Regel<br />

<strong>zu</strong>lassen, wonach es Auktionatoren verboten war, Eigenware <strong>zu</strong> versteigern. Wurde diese<br />

Vorschrift abgeschafft, schien die Neutralität des Auktionators gefährdet, sobald die eigenen<br />

Objekte <strong>zu</strong>m Ausruf kamen. Das befürchteten Bernhard Wendt, Dr. Otto Zeller, Adalbert<br />

Lauter und Dr. Lotte Roth-Wölfle. In einer außerordentlichen Mitgliederversammlung<br />

brachten sie ihr Misstrauen gegenüber der Gesetzesänderung <strong>zu</strong>m Ausdruck und<br />

schlugen vor: Das Mitversteigern eigener Ware sollte nur unter der Bedingung erlaubt<br />

sein, dass diese eindeutig und für jeden ersichtlich als solche gekennzeichnet war. Es gab<br />

keinen Konsens. Am 3. Mai 1960 gründete ein Teil der Auktionatoren und Antiquare eine<br />

weitere Organisation: den Verband Deutscher Antiquare, Autographen- und Graphikhändler<br />

e.V. Zum Präsidenten wählten sie Günther Mecklenburg; Präsident der alten Vereinigung<br />

war damals Dr. Otto Zeller.<br />

Ein Verband und eine Vereinigung …<br />

Zwischen 1960 und 1968 gab es also eine „Vereinigung“ mit rund 120 Mitgliedern und<br />

einen „Verband“ mit nahe<strong>zu</strong> 90 Mitgliedern. Ersterer schlossen sich neben Roth-Wölfle,<br />

Zeller, Wendt und Lauter auch Walter Seuffer (Friedländer & Sohn), Dr. Karl H. Pressler,<br />

Dr. Maria Conradt (Bücherkabinett Hamburg), Dr. Hans Schneider, Gerhard Scheppler,<br />

Felix O. Weigel (Otto Harrassowitz), die Antiquariate Th. Ackermann, J. Steinkopf, Dr. Martin<br />

Sändig, Joseph Fach, F. A. Brockhaus und Jacques Rosenthal an. Für Letzteren machten<br />

sich Günther und Klaus Mecklenburg (J. A. Stargardt), Dr. Ernst L. Hauswedell, Helmuth<br />

Domizlaff, Dr. h.c. Eduard Trauscholdt (C. G. Boerner), Karl Hartung, Erwin und Rolf<br />

Kistner, Fritz Eggert, Fritz Neidhardt, Hans Marcus, Hans Horst Koch und Dr. Frieder<br />

Kocher-Benzing stark.<br />

… und eine Arbeitsgemeinschaft …<br />

Natürlich wollten alle deutschen Antiquare gleich welcher „Vereinigung“ oder welchen<br />

„Verbandes“ an den ILAB Messen in London, New York, Paris und anderswo teilnehmen.<br />

Aber es konnte nur jeweils ein nationaler Verband Mitglied der ILAB sein – und das war<br />

bereits die 1949 gegründete „Vereinigung“. Mussten die Mitglieder des „Verbandes“ <strong>zu</strong><br />

Hause bleiben? Man suchte und fand eine Lösung und rief (noch) einen Dachverband ins<br />

Leben: die „Arbeitsgemeinschaft deutscher Antiquare“. Im Wechsel geführt von Fritz<br />

Eggert (Verband) und Felix O. Weigel (Vereinigung), bestand deren einzige Aufgabe<br />

darin, den Kontakt <strong>zu</strong>r ILAB <strong>zu</strong> halten. Deutsche Verhältnisse.<br />

… bis <strong>zu</strong>m 2. Februar 1968<br />

Erst am 14. Oktober 1967 gab es wieder eine gemeinsame Sit<strong>zu</strong>ng von Verband und Vereinigung<br />

in Frankfurt am Main, in deren Folge man sich auf neue Richtlinien einig-<br />

65


te. Am 2. und 3. Februar 1968 stimmten die Mitglieder von Verband und Vereinigung<br />

mit Erfolg über den gemeinsamen Neuanfang ab. Dies war die Geburtsstunde des heutigen<br />

Verbandes Deutscher Antiquare e.V. Das neue (alte) Logo – das Zeichen der Vereinigung,<br />

ein aufgeschlagenes Buch, umrahmt von dem neuen Verbandsnamen – war<br />

durchaus symbolisch <strong>zu</strong> verstehen. An der Spitze verteilte man sich paritätisch. Dr. Karl<br />

H. Pressler wählten die wiedervereinigten Antiquare <strong>zu</strong>m Vorsitzenden, Fritz Eggert<br />

wurde Stellvertreter und Dr. Frieder Kocher-Benzing Schatzmeister. Beisitzer waren Dr.<br />

Maria Conradt und Klaus Mecklenburg.<br />

<strong>Der</strong> 7. Gemeinschaftskatalog 1968 und der Katalog <strong>zu</strong>r 8. Stuttgarter Antiquariatsmesse<br />

1969 waren die ersten gemeinsamen Projekte. „<strong>Der</strong> deutsche Antiquariatsbuchhandel<br />

tritt nunmehr zweimal im Jahr mit gemeinschaftlichen Unternehmen an die Öffentlichkeit:<br />

im Februar mit der Stuttgarter Antiquariatsmesse und im September mit dem<br />

Gemeinschaftskatalog Deutscher Antiquare“, hieß es in den Vorworten beider Kataloge.<br />

<strong>Der</strong> Grundstein war gelegt. Die Antiquare hatten zwei „Schaufenster“ eingerichtet.<br />

66<br />

„Ein Querschnitt durch die Vielfalt des heutigen Altbüchermarktes“<br />

Die Idee hatten Dr. Lotte Roth-Wölfle in München und Walter Seuffer bei Friedländer &<br />

Sohn in Berlin. Im November 1962 erschien der erste Gemeinschaftskatalog der Vereinigung<br />

Deutscher Buchantiquare und Graphikhändler e.V., den Lotte Roth-Wölfle über 15<br />

Jahre lang redaktionell betreute. „<strong>Der</strong> Katalog zeigt einen Querschnitt durch die Vielfalt<br />

des heutigen Altbüchermarktes und seiner sich über fünf Jahrhunderte erstreckenden<br />

Handelsgegenstände. Als Werbe- und Vertriebsmittel wendet er sich an alle am bibliophilen<br />

und wissenschaftlichen Buch sowie an graphischen Blättern interessierten Kreise.“<br />

Was Felix O. Weigel damals formulierte, gilt noch heute, obwohl niemand mehr ohne<br />

Nostalgie von „Altbüchermarkt“ sprechen würde und die Bezeichnung „Gebrauchtbuchhandel“<br />

derzeit eine ganz neue Bedeutung erhält. Antiquarische Bücher, Autographen<br />

und Graphiken haben mehr <strong>zu</strong> bieten als nur „Gebrauchtes“. Hier liegt das Berufsgeheimnis<br />

des Antiquars: dieses „Mehr“ in seiner Schönheit und Geschichtlichkeit <strong>zu</strong> zeigen<br />

und es in den Titelbeschreibungen der Antiquariatskataloge in Worte <strong>zu</strong> fassen. Aus diesem<br />

Gedanken heraus entstand der Gemeinschaftskatalog.<br />

Viele Antiquare beteiligten sich an dem Projekt, das <strong>zu</strong>nächst unter dem Titel Bibliophilie<br />

– Wissenschaften (später: Aus Bibliophilie und Wissenschaften), seit 1968 schlicht als<br />

Gemeinschaftskatalog einmal jährlich den Verbandsmitgliedern ein Forum schuf, das<br />

Schönste aus ihrem Lager einem breiten Publikum an<strong>zu</strong>bieten. Die Auswahl bot einen<br />

interessanten Einblick in das bibliophile und wissenschaftliche Antiquariat, das damals<br />

noch <strong>zu</strong> den wichtigsten Zweigen der Branche gehörte. So ist der Gemeinschaftskatalog<br />

ein Stück Antiquariatsgeschichte geworden als erste „Antiquariats plattform“ (noch) auf<br />

Papier, und das Blättern durch die frühen Jahrgänge ruft neben bekannten Namen fast<br />

vergessene Größen in Erinnerung: Theodor Ackermann und Dr. Emil Katzbichler in<br />

München, Hermann Kullmanns Armarium in Düsseldorf, Bernhard Wendt in Buch am<br />

Ammersee, das Bücherkabinett Hamburg, die Frankfurter Bücherstube, Bassenge und<br />

Wasmuth in Berlin, der „Journalfranz“ in Würzburg oder Harri Deutsch und Peter Naacher<br />

in Frankfurt. <strong>Der</strong> Gemeinschaftskatalog erschien bis 1999 insgesamt 38 Mal, <strong>zu</strong>letzt<br />

unter der Redaktion von Frank Albrecht.


Individualisten auf Erfolgskurs – 50 Jahre Stuttgarter Antiquariatsmesse<br />

„Antiquare und Graphikhändler gelten im Allgemeinen als Individualisten und sind nicht<br />

leicht <strong>zu</strong> bewegen, sich an Gemeinschaftsunternehmungen <strong>zu</strong> beteiligen. Diese Verkaufsmesse,<br />

die von einer Reihe von Mitgliedern des Verbands durchgeführt wird, stellt einen ersten<br />

Versuch dar, das Interesse einer breiteren Öffentlichkeit durch eine gemeinsame Ausstellung<br />

<strong>zu</strong> gewinnen.“<br />

Am Anfang stand diese eher verhaltene Prognose. Doch entgegen der Erwartung, die der<br />

damalige Vorstandsvorsitzende Günther Mecklenburg im Vorwort <strong>zu</strong>m ersten Messekatalog<br />

äußerte, erwiesen sich die Antiquare als beständig und vor allem: als teamfähig.<br />

Bereits fünf Jahre später resümierte Dr. Frieder Kocher-Benzing: „Jene Skepsis gehörte<br />

durch den Erfolg schon der ersten Messe rasch der Vergangenheit an.“ Heute ist die Stuttgarter<br />

Antiquariatsmesse die älteste Antiquariatsmesse Deutschlands und neben der<br />

International Antiquarian Book Fair in London die zweitälteste in Europa. 2011 feiert sie<br />

ihr 50. Jubiläum.<br />

1958 veranstaltete die Antiquarian Booksellers’ Association (ABA) die erste Londoner<br />

Messe. Damals noch in den Räumen der National Book League dauerte sie 14 lange Tage<br />

vom 6. bis 21. Juni. 1960 folgte das Mid-Atlantic Chapter der ABAA mit der ersten Antiquariatsmesse<br />

in New York. <strong>Der</strong>en Erfolg brachte die Stuttgarter Antiquare Fritz Eggert,<br />

Fritz Neidhardt und Dr. Frieder Kocher-Benzing auf die Idee, eine deutsche Messe <strong>zu</strong> etablieren.<br />

Die Bedingungen dafür schienen ideal: Stuttgart war und ist kultureller und wirtschaftlicher<br />

Anziehungspunkt, eine Buch- und Verlagsstadt mit langer, beeindruckender<br />

Tradition und einer lebhaften Antiquariats- und Galerieszene. <strong>Der</strong> Vorstand des Verbandes<br />

um Günther Mecklenburg, Dr. Frieder Kocher-Benzing, Dr. Ernst L. Hauswedell, Helmuth<br />

Domizlaff und Dr. h.c. Eduard Trauscholdt unterstützte das Projekt. Vom 8. bis 11.<br />

Februar 1962 war es so weit: Die erste „Verkaufs-Messe des Verbandes Deutscher Antiquare,<br />

Autographen- und Graphikhändler“ fand im Gustav-Siegle-Haus statt.<br />

„<strong>Der</strong> eigentliche Sinn (der Messe) … soll die persönliche Begegnung mit Bücherfreunden<br />

und Sammlern, mit den Leitern der Bibliotheken, Museen und Archive und mit<br />

den Kollegen des In- und Auslandes sein“, hieß es 1962. So ist es gekommen. Die Stuttgarter<br />

Antiquariatsmesse ist ein internationaler Treffpunkt, und auch wer ohne teure Einkäufe<br />

die Messe verlässt, empfindet den Besuch als Gewinn. Man spricht miteinander,<br />

registriert, was auf dem Markt ist, und genießt die Gelegenheit, so viele wertvolle Bücher<br />

und Graphiken ohne „Berührungsängste“ bewundern <strong>zu</strong> dürfen.<br />

Das Gesicht der Stuttgarter Antiquariatsmesse hat sich verändert. 1962 waren 21 Aussteller<br />

bei der Premiere dabei, darunter L’Art Ancien (Zürich), Helmuth Domizlaff (München),<br />

Wolfgang Ketterer (Stuttgart), Haus der Bücher AG (Basel), Louis Loeb-Larocque<br />

(Paris), die Kurbuchhandlung Bernhard Krohn (Badenweiler), H. O. Hauenstein (München)<br />

oder das Kunstkabinett Elfriede <strong>Wir</strong>nitzer (Baden-Baden). 1973 war die Ausstellerzahl<br />

schon auf 53 angewachsen und das Gustav-Siegle-Haus <strong>zu</strong> klein geworden. Man zog<br />

in das stilvolle Ambiente des Württembergischen Kunstvereins am Schloßplatz um und<br />

begrüßte dort unter vielen anderen auch das von Walter Alicke geführte Antiquariat<br />

Interlibrum (Vaduz) und Ludwig Rosenthal’s Antiquariaat (Hilversum).<br />

67


In den ersten Messekatalogen wurden keine Preise genannt. Es sollte kein reiner „Verkaufskatalog“<br />

sein, sondern ein Anreiz, nach Stuttgart <strong>zu</strong> reisen. Wie heiß umkämpft die<br />

Bücher, Autographen und Graphiken waren, zeigen die Randbemerkungen mancher<br />

Besucher und Kollegen in ihren Handexemplaren, hier ein Reisespezialist 1965: „Kohlhauer:<br />

Humboldt! Wieviel können wir zahlen?“ Legendär war viele Jahrzehnte der Run<br />

auf die Bücher bei Messeeröffnung, bei dem <strong>zu</strong>weilen Vitrinen, Regale, Treppenstufen<br />

und Mitstreiter um Haaresbreite nicht touchiert wurden. Erst 1973 setzte man Preise <strong>zu</strong><br />

den Titelaufnahmen. Nur ein Jahr später entschuldigte sich der damalige Vorstandsvorsitzende<br />

Valentin Koerner im Messekatalog 1974 dafür, „nun leider – nach 12 Jahren<br />

– erstmalig“ Eintrittsgeld erheben <strong>zu</strong> müssen. <strong>Der</strong> Wettlauf um die Messeobjekte<br />

blieb bis 2008 bestehen. Seitdem gilt auch in Stuttgart das Losverfahren, wenn es mehrere<br />

Interessenten für einen Titel aus dem Messekatalog gibt.<br />

Von 1962 bis 1966 zierte „Helmert. <strong>Der</strong> deutsche Diogenes“ das Cover, in den Folgejahren<br />

wechselten sich Karikaturen und Miniaturen auf dem Katalogumschlag ab, bis sich<br />

der Messeausschuss 1970 für den „lesenden Tieck“ nach einem Scherenschnitt von Luise<br />

Duttenhofer entschied. Die Messeleitung hatte damals Jürgen Voerster inne, die Katalogredaktion<br />

übernahm für lange Jahre Carl-Ernst Kohlhauer. 1998 wurde es dunkel um den<br />

Stuttgarter Messekatalog mit dem elegant schwarz-blau stilisierten Buchschnitt. Zum 50.<br />

Jubiläum ist es Zeit, dem traditionellen „lesenden Tieck“ einen modernen typographischen<br />

Rahmen <strong>zu</strong> geben.<br />

Bei allen Veränderungen ist das Grundkonzept erhalten geblieben: Die Messe ist ein<br />

Marktplatz für den internationalen Handel, ein Mekka für Bibliophile und ein Ort der<br />

Begegnung für alle Buch- und Kunstinteressierten. 1962 nahmen 21 Antiquare, Autographen-<br />

und Graphikhändler an der ersten Messe teil. 2011 kommen 80 Aussteller aus<br />

Deutschland, der Schweiz, Österreich, den Niederlanden, Ungarn, den USA, Italien und<br />

Großbritannien in den Württembergischen Kunstverein. Fünf Antiquariate sind der<br />

Messe von Beginn an treu geblieben: C. G. Boerner (Düsseldorf), Fritz Neidhardt (Stuttgart),<br />

August Laube (Zürich), Schumann (Zürich, vormals Schumann & Heinimann)<br />

und J. A. Stargardt (damals Marburg, heute Berlin) waren schon 1962 im Gustav-Siegle-<br />

Haus vertreten. 1964 reiste sogar ein Kollege aus Tecklenburg im Teutoburger Wald an: H.<br />

D. v. Diepenbroick-Grüter zeigte „Porträts aller Nationen und Professionen, einfache und<br />

kostbare Blätter“. Einen wesentlich weiteren Weg hatte im selben Jahr der argentinische<br />

Antiquar Dr. J. Pablo Keins (Buenos Aires). Die Firma Keip ließ sich bei der Messepremiere<br />

durch Georg Sauer und das Antiquariat Sauer & Keip vertreten; später übernahmen<br />

diese Funktion das Hamburger Antiquariat und Harald Wiermann. 1964 debütierten die<br />

Galerie Valentien und das Antiquariat Müller & Gräff, 1965 kam Hanno Schreyer aus<br />

Bonn <strong>zu</strong>m ersten Mal nach Stuttgart; sein Sohn setzt die Tradition fort. Seit 1966 zählten<br />

das Kunstantiquariat Siegfried Brumme aus Frankfurt und die Karl Pfankuch AG (später<br />

Klittich-Pfankuch) aus Braunschweig <strong>zu</strong> den Teilnehmern. Mit dem Zusammenschluss<br />

von Vereinigung und Verband 1968 fanden auch das Brockhaus/Antiquarium (Stuttgart,<br />

später Kornwestheim) und das Münchener Antiquariat Robert Wölfle den Weg nach<br />

Stuttgart. Weitere Händler kamen und gingen: Goldschmidt & Co (London), Gunnar<br />

Kaldewey (Hamburg), Dr. Hans Schneider (Tutzing), Martin Breslauer (London), Günter<br />

Leisten (Köln), Jean Rousseau Girard (Paris), Thulin’s Antiquariat (Österbymo), Hans<br />

Marcus (Düsseldorf), das Commerz Cabinett (Hamburg), Dr. Ernst L. Hauswedell<br />

68


(Hamburg), Hans-Horst Koch (Berlin), Maggs Bros. (London), Bernard Quaritch (London)<br />

sowie die Kolleginnen und Kollegen aus Kopenhagen von Branners Bibliofile Antikvariat<br />

und Rosenkilde and Bagger. Heribert Tenschert ist ebenso unter den jährlichen<br />

Stuttgarter Ausstellern wie Herbert Blank, Reiss & Sohn, Th. Stenderhoff, Tresor am<br />

Römer und zahlreiche ILAB Kollegen wie Inlibris aus Wien, Botanicum (Lynden, USA)<br />

und Bernard J. Shapero aus London.<br />

Das alles spricht für eine bemerkenswerte Kontinuität. Auch wenn die Messelandschaft<br />

seit den Neunzigern vielfältiger geworden ist: In Stuttgart scheint man das Kunststück <strong>zu</strong><br />

vollbringen, sich eine gewisse Unverwechselbarkeit <strong>zu</strong> erhalten.<br />

Kölsches Intermezzo<br />

Anfang der Achtzigerjahre ging man „mit vollen Segeln“ ins dritte Jahrzehnt, schrieb<br />

Godebert M. Reiß 1982 über die Stuttgarter Antiquariatsmesse. Die Zahl der Aussteller<br />

war auf 63 angewachsen; immer mehr Verbandsmitglieder wollten teilnehmen – ein<br />

Wunsch, der angesichts der damaligen Raumkapazitäten <strong>zu</strong> Problemen führte. Von 1986<br />

bis 2000 fand daher im Gürzenich die Kölner Antiquariatsmesse als zweite Verbandsmesse<br />

statt.<br />

Stuttgart und Ludwigsburg<br />

Ein Rechenexempel: 2011 gibt es 2 Jubiläen. Die Stuttgarter Antiquariatsmesse findet <strong>zu</strong>m<br />

50. Mal, die Antiquaria in Ludwigsburg <strong>zu</strong>m 25. Mal statt. Im Stuttgarter Kunstgebäude<br />

werden 80 Aussteller, in der Ludwigsburger Musikhalle rund 54 Aussteller <strong>zu</strong>gegen sein.<br />

Macht insgesamt 130 Antiquarinnen und Antiquare, die an 1 Wochenende das bunte<br />

Spektrum des Antiquariatsbuchhandels mit Büchern, Autographen und Graphiken von<br />

20 bis <strong>zu</strong> 2 Millionen Euro präsentieren. So viel Bibliophilie, für ein Kombiticket. Wo gibt<br />

es das schon? Seit 2002 hat die Stuttgart-Ludwigsburger Messewoche einen gemeinsamen<br />

Auftakt, der jedes Jahr im Stuttgarter Literaturhaus mit einem Vortragsabend gefeiert<br />

wird. Veranstalter sind der Verband Deutscher Antiquare und Petra Bewer, die Organisatorin<br />

der Antiquaria / Ludwigsburg. Beim ersten Mal diskutierten Herbert Blank, Vincent<br />

Klink, Petra Bewer und Otto Jägersberg über Das zweite Leben der Bücher. 2005 kreisten<br />

Klaus Wagenbach, Michael Klett und Peter Nils Dorén Rund um das Buch und den<br />

„Schut<strong>zu</strong>mschlag und seine Zeiten“. Was bleibt … hieß es 2007: Am Erinnerungsabend<br />

für Horst Brandstätter war das Literaturhaus bis auf den letzten Platz gefüllt. Ebenso<br />

2010, als Friedrich Pfäfflin <strong>zu</strong>erst im Literaturhaus, dann im Württembergischen Kunstverein<br />

seine viel beachtete Bibliographie des Stuttgarter jüdischen Verlages Levy & Müller<br />

vorstellte. So setzen die Stuttgarter Antiquariatsmesse und die Antiquaria / Ludwigsburg<br />

neben dem merkantilen auch ein kulturelles Highlight in der Region – seit 50 respektive<br />

25 Jahren. Am Montag, den 24. Januar 2011 treffen im Literaturhaus der Literaturkritiker<br />

Denis Scheck (ARD „Druckfrisch“) und Rainer Moritz („Die schönsten Buchhandlungen<br />

Europas“) <strong>zu</strong>sammen und fragen: „Wie viele Bücher braucht der Mensch?“<br />

Viele Bücher, natürlich!<br />

69


70<br />

Schriften <strong>zu</strong>r Geschichte der Bibliophilie und des Antiquariatsbuchhandels<br />

Das gedruckte, bibliophile Buch in Zeiten des Internets. Seit 2006 publiziert der Verband<br />

Deutscher Antiquare eine Schriftenreihe <strong>zu</strong>r Geschichte der Bibliophilie und des Antiquariatsbuchhandels,<br />

die eine Synthese von Buchkunst und Buchwissenschaft darstellt,<br />

indem sie historische, buchwissenschaftliche und buchkünstlerische Themen, von namhaften<br />

Gelehrten bearbeitet, in bibliophilen, limitierten Auflagen der Öffentlichkeit vorstellt.<br />

2006 wäre Fritz Eggert 80 Jahre alt geworden. Anlass genug für Friedrich Pfäfflin, Frieder<br />

Weitbrecht und die Württembergische Landesbibliothek, in einer Ausstellung die<br />

bemerkenswerte Karriere des in jeder Hinsicht großen Antiquars <strong>zu</strong> würdigen, der mit<br />

einer „Versandbuchhandlung mit Antiquariat und Esspressoausschank“ begann, Shakespeares<br />

First Folio verkaufte und, so nebenbei, einer der Väter der Stuttgarter Antiquariatsmesse<br />

wurde. <strong>Der</strong> Verband Deutscher Antiquare ergriff die Möglichkeit, die Ausstellung<br />

im Rahmen der Stuttgarter Antiquariatsmesse 2007 ein weiteres Mal <strong>zu</strong> zeigen und<br />

da<strong>zu</strong> einen von Friedrich Pfäfflin in Gemeinschaft mit Susanne Koppel und Frieder Weitbrecht<br />

gestalteten Katalog heraus<strong>zu</strong>geben: „… vom Finderglück …“ – <strong>Der</strong> Antiquar Fritz<br />

Eggert 1926–1981. Am Messesamstag lud der Verband <strong>zu</strong>r Vernissage in den Kunstverein.<br />

Die Vorträge von Eberhard Jäckel, Frieder Weitbrecht und vor allem von Susanne Koppel,<br />

die aus ihrer Zeit als Mitarbeiterin von Fritz Eggert erzählte, waren ein voller Erfolg. <strong>Der</strong><br />

aus diesem Anlass erschienene Katalog ist mittlerweile vergriffen.<br />

Das forderte eine Fortset<strong>zu</strong>ng. 2008 gestaltete Pfäfflin aus der Sammlung Wittmann<br />

eine Ausstellung samt Katalog unter dem Titel Von Schätzen & Scharteken – Antiquariatskataloge<br />

im 19. Jahrhundert. Zur Vernissage hielt Reinhard Wittmann einen lehrreichamüsanten<br />

Vortrag über die Geschichte des Antiquariatsbuchhandels, wobei Ähnlichkeiten<br />

und Gemeinsamkeiten zwischen den Antiquaren des 19. und des 21. Jahrhunderts<br />

nicht ausgeschlossen waren. Eberhard Köstler und Lorenzo Petrocca setzten den musikalischen<br />

„i-Tupfen“ auf den gelungenen Abend.<br />

Seitdem gehören Ausstellung und Katalog <strong>zu</strong>m festen Bestandteil des Stuttgarter Messeprogramms;<br />

die „Schriften <strong>zu</strong>r Geschichte der Bibliophilie und des Antiquariatsbuchhandels“<br />

nahmen damit ihren Anfang. 2009 zeigte das George-Archiv der Württembergischen<br />

Landesbibliothek unter der Regie von Ute Oelmann Manuskripte, Zeichnungen<br />

und Erstausgaben von Stefan George, Melchior Lechter und anderen zeitgenössischen<br />

Buchkünstlern. Ausstellung und Katalog „Das doch nicht äusserliche“ – Die Schrift- und<br />

Buchkunst Stefan Georges waren nach Georges typographischem Vorbild konzipiert. Im<br />

selben Jahr erschien anlässlich des 60. Jubiläums des Verbandes eine kommentierte Neuausgabe<br />

von Max Ziegerts Schattenrissen deutscher Antiquare, mit einem Essay von Reinhard<br />

Wittmann.<br />

Ein ganz besonderes Ereignis war 2010 das Erscheinen von Friedrich Pfäfflins Bibliographie<br />

und Geschichte Levy & Müller. Verlag der ‚Herold-Bücher‘ Stuttgart 1871 · 1895 ·<br />

1933 · 1936 · 1949 · 1951. In jahrelanger Arbeit hatte Friedrich Pfäfflin die Geschichte des<br />

jüdischen Verlages recherchiert, dessen Publikationen bibliographiert und auf diese Weise<br />

eine ebenso beeindruckende wie bedrückende Episode der Verlagsgeschichte ans Licht<br />

gebracht. 2011 wird die Reihe mit einer der wohl wichtigsten Studien <strong>zu</strong>r Geschichte des


Antiquariatsbuchhandels fortgesetzt: <strong>Der</strong> Verband Deutscher Antiquare gibt Ernst<br />

Fischers biographisches Handbuch Verleger, Buchhändler und Antiquare aus Deutschland<br />

und Österreich in der Emigration nach 1933 heraus.<br />

Handbuch des Verbandes<br />

Schließlich das Handbuch des Verbandes Deutscher Antiquare: Es ist viel mehr als „nur“<br />

ein Mitgliederverzeichnis. Im literarischen Teil des alle zwei Jahre aktualisierten Handbuches<br />

sind Auszüge aus Romanen von Raymond Chandler, aus Ziegerts Schattenrissen, aus<br />

Philip Bloms Studien über Sammelwunder – Sammelwahn oder auch „historisch-empirische<br />

Analysen“ wie Eduard Fischer von Röslerstamms Erörterung aus dem Jahr 1900 Ist<br />

der Bücherstaub dem Menschen schädlich? erschienen. Die Neuausgabe 2011/2012 enthält<br />

Essays von Umberto Eco, Alberto Manguel und Jürgen Serke und zeigt mit den Arbeiten<br />

von Rafael Neff den Blick eines zeitgenössischen Fotografen auf die jahrhundertelange<br />

Tradition der Bibliotheken.<br />

Fortbildung mit „Wohlfühlfaktor“<br />

Bücher eröffnen Welten, sind ein Stück Geschichte. Ihr Wert drückt sich auch, aber nicht<br />

nur in Zahlen aus. Je mehr Geschichte und Kultur ein Antiquar <strong>zu</strong> vermitteln weiß, desto<br />

faszinierender und profitabler gestaltet sich sein Metier. Das ist Teil seiner Geschäftsphilosophie<br />

und wesentlicher Faktor des Erfolgs.<br />

Fortbildungsseminare für Antiquare gab es schon <strong>zu</strong> Beginn des 20. Jahrhunderts,<br />

bis 1920 in Berlin unter der Leitung von Fritz Homeyer die vorläufig letzte Veranstaltung<br />

stattfand. 1971 wurden dann wieder die Kollegen aus dem Münchener Umkreis<br />

aktiv. Werner Fritsch, Karl Hartung, Raimund Kitzinger und Dr. Lotte Roth-Wölfle<br />

organisierten das erste Seminar seit 50 Jahren. Am 1. und 2. Mai 1971 trafen sich 25<br />

junge Antiquare im Pavillon des Amerika-Hauses am Münchener Karolinenplatz. Rolf<br />

A. Winkler referierte über graphische Techniken, Josef Benzing über den Buchdruck<br />

des 16. Jahrhunderts, Dr. Hans Schneider sprach über Musikdrucke in einer kollegialen,<br />

fast familiären Atmosphäre, an die sich nicht nur Lotte Roth-Wölfle gut erinnert.<br />

Hans Schneider dozierte nicht, er „plauderte“ bei einem Glas Wein über Musikdrucke<br />

und vermittelte „wie nebenbei“ das Wissenswerte. Geblieben ist diese entspannte<br />

Atmosphäre, die eine Vermittlung von Fachwissen nicht ausschließt, bis heute. Matthias<br />

Glatthor brachte es in Aus dem Antiquariat auf den Punkt: Das Besondere am<br />

Seminar sind das hohe wissenschaftliche Niveau der Vortragenden und der „Wohlfühlfaktor“.<br />

Lotte Roth-Wölfle – Ideenspenderin, Mitinitiatorin und Seele des Seminars – zog sich<br />

2005 nach fast 25 Jahren aus dem Fortbildungsausschuss <strong>zu</strong>rück. In der Anfangszeit traf<br />

man sich im Auktionshaus Karl & Faber, später wechselte man <strong>zu</strong> Hartung & Hartung<br />

und 1983 <strong>zu</strong> Zisska & Kistner, heute Zisska, Schauer & Co. 2006 gingen die Seminarteilnehmer<br />

erstmals auf Reisen. Auf Einladung des Verbands der Antiquare Österreichs verbrachten<br />

sie vier ereignisreiche Tage in Wien, angefüllt mit Vorträgen über den Wiener<br />

Frühdruck, „Versteckte Bücher – Bücherverstecke“ in Tarnschriften oder die Entde-<br />

71


ckungsreisenden des Alpenstaates, mit einer Exkursion nach Göttweig, Führungen durch<br />

die Österreichische Nationalbibliothek und das Globenmuseum. 2008 zog es die Antiquare<br />

in den Norden. In Hamburg hatten die Kollegen um Meinhard Knigge und Christian<br />

Höflich ein beeindruckendes Programm <strong>zu</strong>sammengestellt: von der Sammlung Hilmar<br />

Ley mit hebräischen Handschriften über Roland Jaegers Vortrag über Hamburg im<br />

Fotobuch der Zwanzigerjahre bis <strong>zu</strong> „Schifffahrt und Kartographie um 1600“ am Beispiel<br />

von Levinus Hulsius und Theodore de Bry war alles geboten. „Eine wahre Wundertüte“,<br />

schrieb Sabine Keune auf der Internetseite des Verbands. Zu Recht: Die Reihe der geistigen<br />

und sonstigen Genüsse der antiquarischen Studienreisen ist <strong>zu</strong> lang, um sie vollständig<br />

<strong>zu</strong> nennen. Fortgesetzt wurde die Reihe 2010 mit dem 40. Fortbildungsseminar in<br />

Berlin. Markus Brandis und Stephan Schurr vom Auktionshaus Bassenge hatten ein vielfältiges<br />

Programm organisiert, das einmal mehr bewies: Berlin ist doch mehr ein Weltteil<br />

als eine Stadt.<br />

72<br />

Auktionspreise Online<br />

Verlässliche Recherchen, nachvollziehbare Preisfindung in allen Preissegmenten. Seit<br />

Januar 2008 erleichtert dies ein gemeinsames Projekt des Verbandes Deutscher Antiquare<br />

und der führenden Buch- und Kunstauktionshäuser: Auktionspreise Online. Zugriff<br />

auf die Datenbank haben ausschließlich registrierte Benutzer, nach vorheriger Anmeldung<br />

beim Verband und gegen eine gestaffelte Gebühr, die für Verbandsmitglieder und<br />

Kollegen der Partnerorganisationen sehr gering ausfällt. <strong>Der</strong> Zugang ist nur über ein persönliches<br />

Passwort möglich, ein Kopierschutz sorgt für größtmögliche Sicherheit. Das<br />

„Googeln“ von Auktionspreisen für Jedermann ist nicht vorgesehen. Auktionspreise Online<br />

wurde von Antiquaren und Auktionatoren für Spezialisten konzipiert.<br />

Mittlerweile beteiligen sich neben den deutschen auch zahlreiche europäische Auktionshäuser<br />

mit ihrem gesamten Datenbestand an Auktionspreise Online. Nahe<strong>zu</strong> 1 Million<br />

Versteigerungsergebnisse sind unter www.auktionspreise-online.de oder in der englischen<br />

und französischen Version unter www.bookauctions-online.com abrufbar mit den<br />

ungekürzten Titel- und Zustandsbeschreibungen, allen Schätzpreisen, Zuschlägen, Rückgängen.<br />

Das Projekt ist längst nicht abgeschlossen. Weitere Auktionshäuser haben ihre<br />

Beteiligung <strong>zu</strong>gesagt. Auch eine Datenbank für Schriftvergleiche als Hilfsmittel für den<br />

Autographenhandel ist geplant.<br />

10. Juni 2009<br />

60 Jahre Verband Deutscher Antiquare: Viele Kollegen waren am 10. Juni 2009 nach München<br />

gekommen. Es begann mit einem literarischen Spaziergang durch den Englischen<br />

Garten auf den Spuren Thomas Manns, Oskar Maria Grafs und anderer Schriftstellergrößen.<br />

Dichtes Gedränge und fröhliche Stimmung herrschten dann beim Empfang auf<br />

der Terrasse im Restaurant am Chinesischen <strong>Turm</strong> und dem anschließenden Büffet, das<br />

Eberhard Köstler – der den Jubiläumsabend mit viel Herz und Engagement vorbereitet<br />

hatte – durch kurzweilige Programmpunkte <strong>zu</strong> unterbrechen wusste.


„Ganz wie im Fernsehen“ bat er <strong>zu</strong>m „antiquarischen Quintett“ und Dr. Lotte Roth-<br />

Wölfle, Christine Grahamer, Friedrich Zisska, Roger Klittich und Frieder Weitbrecht gaben<br />

manche Anekdote aus den frühen und späteren Zeiten des Verbandes <strong>zu</strong>m Besten. So<br />

erfuhr man en passant, dass Bernard Breslauer einst per Concorde aus den USA <strong>zu</strong>m Fortbildungsseminar<br />

einflog, auch von legendären Stuttgarter Messefesten mit „blinden Versteigerungen“<br />

war die Rede und vor allem von der sprichwörtlichen Freundlichkeit und<br />

Kollegialität Menno Hertzbergers und Bernard Rosenthals, mit der die deutschen Antiquare<br />

Anfang der Fünfzigerjahre in die ILAB aufgenommen wurden. Nach dem (opulenten)<br />

Nachtisch wurden Max Ziegerts Schattenrisse deutscher Antiquare vorgestellt. Und<br />

dann hieß es „Fly me to the moon“, von Michael Raab und Eberhard Köstler auf Piano und<br />

Querflöte vorgetragen. Die Bravo-Rufe verlangten mehr als nur eine Zugabe. Den 50.<br />

Geburtstag habe man nicht gefeiert, dafür den 60., sagte Eberhard Köstler am frühen<br />

Abend <strong>zu</strong>r Begrüßung der Gäste. Lange nach Mitternacht war man sich einig: Es sollte<br />

nicht die letzte Jubiläumsfeier in der Verbandsgeschichte bleiben.<br />

***<br />

1949 waren es 150 Mitglieder, 2010 sind es rund 260. 1962 startete die Stuttgarter Antiquariatsmesse<br />

mit 21 Ausstellern, heute sind es jährlich zwischen 80 und 90. Eine kleine<br />

Gruppe Unbeugsamer angesichts Tausender Antiquare und Gebrauchtbuchhändler, die<br />

man in den Internetportalen vorfindet? Genau.<br />

Mitglied im Verband Deutscher Antiquare werden kann nur, wer seit über fünf Jahren<br />

hauptberuflich ein eigenes Geschäft führt oder in leitender Position in einem Antiquariat,<br />

einem Auktionshaus oder einer Graphikhandlung tätig ist. Für die persönliche und<br />

geschäftliche Integrität des neuen Kollegen müssen sich drei Verbandsmitglieder verbürgen.<br />

Erst dann erfolgt die offizielle Aufnahme in den Verband, <strong>zu</strong>meist während der jährlichen<br />

Mitgliederversammlung. Die Mitgliedschaft im Verband Deutscher Antiquare ist<br />

also durchaus nicht selbstverständlich. Sie versteht sich als ein Gütezeichen für alle Antiquare,<br />

die sich im Sinne des ILAB Code of Ethics weltweit <strong>zu</strong> fairem, professionellem<br />

Handel mit Büchern, Autographen und Graphiken verpflichten. Die Grundsätze des<br />

Code of Ethics stammen aus den Gründerzeiten der ILAB, aber sie sind aktueller denn je:<br />

professioneller Standard: seriös und <strong>zu</strong>verlässig<br />

klare und eindeutige Geschäftsbedingungen<br />

exakte Beschreibung der angebotenen Ware in der international anerkannten Terminologie,<br />

einschließlich aller Fehler und Mängel<br />

professionelle und angemessene Preisgestaltung<br />

garantierte Echtheit und zweifelsfreie Herkunft der Ware<br />

sicherer Versand und Transport<br />

In den vergangenen 60 Jahren hat sich der Antiquariatsbuchhandel so grundlegend geändert<br />

wie vielleicht noch nie in seiner langen Geschichte. Das Schwinden der Ladengeschäfte<br />

ist nur einer von vielen hinlänglich bekannten Faktoren. Immer mehr Kollegen<br />

setzen ganz auf das Internet. Dabei haben die Antiquariatsdatenbanken neben all ihren<br />

Vorzügen längst ihre Nachteile offenbart. Es gibt eine verwirrende Menge „antiquari-<br />

73


scher“ Angebote, die <strong>zu</strong>m Teil nur noch wenig mit dem klassischen Antiquariatsbuchhandel<br />

<strong>zu</strong> tun haben. Von „Ebayisierung“ ist die Rede oder vom „Gebrauchtbuchhandel“,<br />

und <strong>zu</strong>weilen fühlt man sich an den Wendtschen Begriff des „Inflationsantiquars“<br />

erinnert, der von den preislichen Höhenflügen seiner Zeit profitierte, dann aber schnell<br />

wieder verschwand „aus den Reihen eines Berufsstands, den (er) unterschätzt“ hatte. Die<br />

Vielfalt des Handels und seiner Vertriebswege zieht eine wachsende Zahl von Gesetzen<br />

und Verordnungen samt Auslegungsbedarf nach sich. Zudem schafft die Globalisierung<br />

neue Märkte und neue Käuferinteressen, nicht nur in Asien und Südosteuropa. So ist der<br />

Antiquariatsbuchhandel einerseits reicher und transparenter, andererseits anonymer und<br />

undurchschaubarer geworden.<br />

Stuttgarter Antiquariatsmesse, Fortbildungsseminare, Auktionspreise Online, die<br />

Internetseite www.antiquare.de, Sonderausstellungen, die Schriftenreihe des Verbandes,<br />

das alle zwei Jahre erscheinende Handbuch, die Verpflichtung auf den internationalen<br />

Code of Ethics and Good Practice … Und auch hinter den Kulissen ist der Verband tätig,<br />

kümmert sich um die praktischen Probleme des antiquarischen Alltags wie immer wieder<br />

neue Verpackungsordnungen, Urheberrechtsfragen oder geänderte Rechtslagen bei<br />

den Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Die Verbindung <strong>zu</strong>r ILAB, vor 60 Jahren eine<br />

wichtige Motivation, überhaupt einen Verband Deutscher Antiquare <strong>zu</strong> gründen, ist<br />

dabei nur eine von vielen Allianzen. Auch mit dem Arbeitskreis Deutscher Kunsthandelsverbände<br />

besteht eine strategische Partnerschaft, um die rechtlichen und wirtschaftlichen<br />

Rahmenbedingungen für den Antiquariatsbuchhandel so günstig wie möglich <strong>zu</strong><br />

gestalten. Zusammen mit dem Verband der Antiquare Österreichs (VAÖ) und der Vereinigung<br />

der Buchantiquare und Kupferstichhändler in der Schweiz (VEBUKU) organisieren<br />

die Verbandsmitglieder das Fortbildungsseminar. Im Deutschen Kulturrat setzt<br />

man sich für die Verbesserung des kulturellen Klimas ein. So ist man unter Antiquaren,<br />

Auktionatoren, Autographen- und Graphikhändlern in der Tat weltweit näher<br />

<strong>zu</strong>sammengerückt. <strong>Der</strong> Antiquariatsbuchhandel hat eine Infrastruktur, ein Netzwerk<br />

erhalten, das den Handel und den Austausch auf nationaler und vor allem internationaler<br />

Ebene in dieser Form wenn nicht erst möglich, so doch wesentlich leichter macht. <strong>Der</strong><br />

Antiquariatsbuchhandel und mit ihm der Berufsstand des Antiquars haben durch die<br />

vielfältige Arbeit des Verbands ein Profil erhalten. Das ist gegenwärtig umso notwendiger,<br />

je breiter und beliebiger auf vielen Wegen der Handel mit alten Büchern und Kunstwerken<br />

betrieben wird.<br />

Bedeutende Antiquare und Antiquarinnen waren und sind Mitglied im Verband Deutscher<br />

Antiquare, haben ihn und den Berufsstand geprägt und da<strong>zu</strong> beigetragen, dass der<br />

Verband im Laufe seiner 60-jährigen Geschichte so viele Aktivitäten hat entwickeln können.<br />

Das Fortbildungsseminar ist untrennbar mit Dr. Lotte Roth-Wölfle verknüpft, aber<br />

auch mit Karl Hartung, Raimund Kitzinger und Regina Kurz. Ohne Dr. Frieder Kocher-<br />

Benzing, Fritz Neidhardt und Fritz Eggert wäre die Stuttgarter Antiquariatsmesse nicht<br />

denkbar gewesen. Ihnen folgten unter vielen anderen Roger Klittich, Jürgen Voerster,<br />

Carl-Ernst Kohlhauer, Frieder Weitbrecht, Jens-H. Bauer, später Max Neidhardt und Götz<br />

Kocher-Benzing. Die Fäden laufen <strong>zu</strong>sammen im Vorstand des Verbandes: Friedrich Zisska,<br />

Dr. Ernst H. Hauswedell, Godebert M. Reiß, Dr. Christine Grahamer oder Ulrich<br />

Hobbeling hatten lange Jahre den Vorsitz inne. Ihnen <strong>zu</strong>r Seite standen Kollegen wie Sabine<br />

Keune oder Harald Wiermann. Manche weitere ältere und jüngere Kollegen müssen<br />

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der Kürze halber ungenannt bleiben. Dabei gebührt ihnen ein großer Dank. Durch ihr<br />

Engagement wird der Verband Deutscher Antiquare e.V. auch in Zukunft ein Stück Antiquariatsgeschichte<br />

schreiben können, für die eine, einigende, gemeinsame Sache, die<br />

Eberhard Köstler als heutiger Vorsitzender so formuliert:<br />

W ir<br />

haben einen der schönsten Berufe der Welt und das Glück, mit ganz besonderen<br />

Waren <strong>zu</strong> handeln, die ein Kulturgut der Menschheit sind. Das müssen wir den<br />

Menschen vermitteln. Dafür setzen wir uns ein.<br />

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