Dokumentation - Mathias Balzer © Produktion

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10.01.2013 Aufrufe

11 Eine Fotocollage auf zwei Stellwänden zeigt eine überfüllte Stube. An den Wänden Reproduktionen von C.D. Friedrich, A. Böcklin, Regal mit Büchern über Russland, Bücher auf Stuhl. Durch Fensteröffnung Ausblick auf zwei Kosovo Albaner, die lesend auf einer Parkbank sitzen. Text aus Kopfhörern, slawischer Akzent: Baur erzählt Bindschädler von seiner Sehnsucht nach den Weiten Russlands, Bindschädler berichtet von den aufziehenden Schneewolken über Amrain. 12 Auf einem Sockel vor einem Wäldchen Henry D. Thoreaus «Walden oder Leben in den Wäldern». Der Buchumschlag zeigt zwei Indianer auf einem Ast sitzend. Text: Baur gesteht Bindschädler, dass er seine Memoiren in den Wind geschrieben habe. 13 Parkbank, auf einem Notenpult «Krieg und Frieden» von Tolstoi. Der Buchumschlag zeigt zwei Männer im Bourbaki-Panorama in Luzern. Text: Baur erklärt Bindschädler, dass das Leben nicht durch Verstand regiert werden kann und legt Schostakowitsch’s Vierte auf. 14 Parkbank und Sockel mit Joseph Brodskys «Erinnerungen an Leningrad». Auf dem Umschlag zwei in der Uniform russischer Soldaten aus der Zeit Napoleons auf einer Bank vor einem Bündner Maiensäss. Text: Baur und Bindschädler philosophieren mit nachgemachtem slawischen Akzent darüber, was das Leben eigentlich ausmache, ob Poesie oder Bewegung, oder doch eher die Stille, oder die Liebe, wobei Gott das alles zusammen sei, obwohl er eigentlich das Licht sei. 15 Um das Rund eines Springbrunnens herum das Panorama von Amrain, eine Foto-Collage eines Dorfes in der heutigen Schweiz, gegliedert nach den vier Jahreszeiten. Frühling: Eine Landschaft mit zwei Wanderern geht über in ein Dorf. Sommer: Ein Dorf geht über in ein einzelnes Haus. Herbst: Eine Stube mit Blick nach draussen, wo man sieht, wie alte Bauernhäuser zerfallen oder abgerissen werden. Winter: Die Stube, die sich im Weiss auflöst, im Weiss einer modernen Wohneinrichtung in einer Neubausiedlung, verschwindet. 16 Abstieg neben der viel befahrenen Strasse. Ein leerer Sockel. Man hört Reste von Musik, die Schlussakkorde von Sinfonien. Worte hallen leise, von weit her durch den Wald, im Wind. 17 Das Grabmahl für Amrain. Davor zwei Winterastern, die sich unterhalten: Sie vergleichen die Düfte der Blumen mit den Ausdünstungen der Menschen und beschweren sich, dass heute immer öfter Plastikblumen auf die Gräber gelegt würden. Die eine erinnert sich, dass Baur, wenn er eine Blume gesehen habe, sich oft hingekniet habe, einen Windstoss abwartend. 14

ALS SEI DA EIN HIMMEL, EINE ERDE, EIN WIND, EIN MENSCH Von Mathias Balzer Als Grundlage für das Projekt «Das Zentrum der Welt» dient uns die so genannte Amrainer-Tetralogie, in der eben das fiktive Amrain, das eigentlich für das Oberaargauische Niederbipp steht, zum Zentrum der Welt wird. In den vier zwischen 1979 und 1990 erschienenen schmalen Bänden breitet sich die ganze Meiersche Welt aus, die Tetralogie gilt als sein Hauptwerk, obwohl man dem Dichter von Amrain damit schon unrecht tut, denn aus seinem Gesamtwerk Teile als mehr oder weniger wichtig herauszulösen, erweist sich als hilfloses Unterfangen. Wie kaum bei einem anderen Schriftsteller gibt es in seinem Werk wenig Bewegung, im Sinne einer Entwicklung. Bereits in seinen frühen Gedichten ist eigentlich bereits alles da, was auch noch in seinem letzten Buch «Ob die Granatbäume blühn», dem liebevollen Abgesang auf seine Frau Dorli, anklingt. Da sind ein Dorf, ein Himmel, der Geruch der Erde, der Wind, die Jahreszeiten, die Blumen, die blühen und verwelken – es darin den Menschen gleichtun, die ebenfalls eines Tages erscheinen, leben, arbeiten, vielleicht etwas Glück erfahren und dann wieder sterben, vergehen, wie der Schnee, der von den Dächern tropft. Ab und zu fährt ein Lastwagen durch diese Welt, die Eisenbahn saust vorbei, Häuser werden abgebrochen, geliebte Bäume gefällt. Der Tod und das Verschwinden liegen immer in den Dingen verborgen und so kann eine seiner Figuren auch darüber spekulieren, ob man nicht eigentlich aus dem Grunde lebe, um sich erinnern zu können. Die gesamte Amrainer Tetralogie lebt vom Gespräch zweier älterer Männer, Baur und Bindschädler, die sich auf ausgedehnten Spaziergängen, an Abenden mit Musik Schoschtakowitschs oder, am Ende des dritten Bandes, im Amrainer Spital, wo Baur dem Tod entgegengeht, unterhalten, sich gemeinsam an ihr Leben erinnern, die Natur betrachten, sich über Kunst, über Tolstois Russland oder über die Menschen Amrains unterhalten. Genauer gesagt, spricht vor allem Baur, während Bindschädler zuhört oder sich gleichzeitig eben seine Sache denkt, er, der am Ende alleine übrig bleiben wird, mit all diesen Erinnerungen an seinen Freund, mit dem er wiederum so viele Erinnerungen geteilt hat. Die beiden spazieren dabei durch ein Land der flüchtigen Erscheinungen, ein Land der Winde, ein Land der philosophischen Spekulation auch, ein Land das Gerhard Meier so leichtfüssig in den Konjunktiv setzt, denn alles Gesagte ist eben auch nur Gehörtes und ob der Sprechende genau dies meint, was der Hörende hört und ob der Hörende genau das versteht, was der Sprechende meint, das eben ist eine Möglichkeit, aber keineswegs sicher. Deshalb sind alle Worte in den Wind gesagt, oder wie Baur es formuliert, respektive wie Bindschädler sich daran erinnert, wie Baur es formuliert habe: «... Und darum sei es traurig, dass der Wind so verkleckst werde, schrieben doch viele ihre Memoiren hinein. Und darum bewege es einen auch dermassen, wenn er einem über die Wangen streiche, durchs Haar, weil da gleichzeitig auch so etwas wie Leben mitkomme, in den Wind Geschriebenes. Er glaube auch, dass zum Beispiel Schafe oder Hirsche oder Hunde Litaneien dem Wind überliessen. So gelte es, mit der Luft ordentlich umzugehen. Zudem gelange die Luft in die Bäume unserer Bronchien und von dort in die Bäume unseres Gehirns, denn die Gehirnzellen stellten so etwas wie Bäume dar und seien milliardenweise vorhanden, so dass man geradezu von Gehirnwäldern reden könne.» Gerhard Meiers Land der Winde, sein Amrain, wird deshalb zum einem Zentrum der Welt, die ja unendlich viele Zentren beinhaltet, weil dieser bereits ältere Mann, der spät, erst mit Fünfzig, zu seiner Bestimmung als Dichter gefunden hat, den Mut aufbringt, sich unbeirr- 15

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Eine Fotocollage auf zwei Stellwänden zeigt eine überfüllte Stube. An den Wänden<br />

Reproduktionen von C.D. Friedrich, A. Böcklin, Regal mit Büchern über Russland, Bücher<br />

auf Stuhl. Durch Fensteröffnung Ausblick auf zwei Kosovo Albaner, die lesend auf einer<br />

Parkbank sitzen. Text aus Kopfhörern, slawischer Akzent: Baur erzählt Bindschädler von<br />

seiner Sehnsucht nach den Weiten Russlands, Bindschädler berichtet von den aufziehenden<br />

Schneewolken über Amrain.<br />

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Auf einem Sockel vor einem Wäldchen Henry D. Thoreaus «Walden oder Leben in den<br />

Wäldern». Der Buchumschlag zeigt zwei Indianer auf einem Ast sitzend. Text:<br />

Baur gesteht Bindschädler, dass er seine Memoiren in den Wind geschrieben habe.<br />

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Parkbank, auf einem Notenpult «Krieg und Frieden» von Tolstoi. Der Buchumschlag zeigt<br />

zwei Männer im Bourbaki-Panorama in Luzern. Text: Baur erklärt Bindschädler, dass das<br />

Leben nicht durch Verstand regiert werden kann und legt Schostakowitsch’s Vierte auf.<br />

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Parkbank und Sockel mit Joseph Brodskys «Erinnerungen an Leningrad». Auf dem Umschlag<br />

zwei in der Uniform russischer Soldaten aus der Zeit Napoleons auf einer Bank vor<br />

einem Bündner Maiensäss. Text: Baur und Bindschädler philosophieren mit nachgemachtem<br />

slawischen Akzent darüber, was das Leben eigentlich ausmache, ob Poesie oder<br />

Bewegung, oder doch eher die Stille, oder die Liebe, wobei Gott das alles zusammen sei,<br />

obwohl er eigentlich das Licht sei.<br />

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Um das Rund eines Springbrunnens herum das Panorama von Amrain, eine Foto-Collage<br />

eines Dorfes in der heutigen Schweiz, gegliedert nach den vier Jahreszeiten. Frühling:<br />

Eine Landschaft mit zwei Wanderern geht über in ein Dorf. Sommer: Ein Dorf geht über in<br />

ein einzelnes Haus. Herbst: Eine Stube mit Blick nach draussen, wo man sieht, wie alte<br />

Bauernhäuser zerfallen oder abgerissen werden. Winter: Die Stube, die sich im Weiss auflöst,<br />

im Weiss einer modernen Wohneinrichtung in einer Neubausiedlung, verschwindet.<br />

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Abstieg neben der viel befahrenen Strasse. Ein leerer Sockel. Man hört Reste von Musik,<br />

die Schlussakkorde von Sinfonien. Worte hallen leise, von weit her durch den Wald, im<br />

Wind.<br />

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Das Grabmahl für Amrain. Davor zwei Winterastern, die sich unterhalten: Sie vergleichen<br />

die Düfte der Blumen mit den Ausdünstungen der Menschen und beschweren sich, dass<br />

heute immer öfter Plastikblumen auf die Gräber gelegt würden.<br />

Die eine erinnert sich, dass Baur, wenn er eine Blume gesehen habe, sich oft hingekniet<br />

habe, einen Windstoss abwartend.<br />

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