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HOCHBEGABUNG UND SCHULE 15<br />
In Ratgebern wird immer wieder behauptet, „einseitige Begabungen“ kämen<br />
sehr häufig vor. Stimmt das?<br />
Die Frage ist berechtigt: Insbesondere in populärwissenschaftlichen Schriften, Verbandsblättchen,<br />
Elternmagazinen und absonderlichen Medienberichten wird gerne und wiederholt<br />
behauptet, es gäbe häufiger intellektuell einseitig begabte Personen (z. B. mathematisch<br />
Hochbegabte bei sonst unterdurchschnittlicher Intelligenz). Sie werden dann als<br />
irgendwie „bizarre Wesen“ vorgeführt. Solche Artikel und Ratgeber sind zumeist von psychologischen<br />
Laien verfasst worden. Dementsprechend spiegeln die Aussagen manchmal<br />
(bei nicht wenigen Ratgebern auch oft) nicht den aktuellen psychologischen Wissensstand<br />
wider.<br />
Schon die Alltagserfahrung lehrt uns, dass schlaue Schülerinnen und Schüler in der Regel<br />
in vielen Fächern durch gutes Denken auffallen, und weniger intelligente Schülerinnen bzw.<br />
Schüler im Allgemeinen in vielen Fächern durch weniger schlaue Antworten glänzen. Wenn<br />
überhaupt, dann bezieht sich die angesprochene „Einseitigkeit“ auf eine Spitzenleistung –<br />
und nicht auf eine isolierte Begabung. Ganz klar: Wer z. B. viele, viele Jahre Schach spielt,<br />
wird zum Schachexperten und erreicht vermutlich ein Meisterniveau. Das liegt vor allem an<br />
den unzähligen Übungsstunden: Man benötigt 10000 bis 15000 Stunden, um solch einen<br />
Expertisestatus zu erreichen. Für andere Leistungsfelder fehlt dann schlicht die Übungszeit,<br />
um ebenfalls herausragender Experte zu werden. Hätte unser Schachexperte stattdessen<br />
die 10000 – 15000 Übungsstunden in Geigenspielen investiert, wäre er vermutlich ein exzellenter<br />
Geiger geworden. Herausragende Expertise resultiert vornehmlich aus Übung,<br />
Übung und Übung. Für isolierte Begabungsspitzen liegen aber – abgesehen von seltenen<br />
und zudem noch schlecht dokumentierten spektakulären Einzelfällen – keine wissenschaftlich<br />
soliden Belege vor. Eine genauere psychologische Analyse dieser angeblich kognitiv<br />
extrem einseitig „Hochbegabten“ zeigt, dass entweder die Diagnostik nicht kunstgerecht<br />
durchgeführt worden ist und/oder dass besondere Ereignisse (wie Krankheiten bei sog.<br />
Inselbegabten) zu diesem Phänomen geführt haben. Im Normalfall gilt: Wenn eine Person<br />
in einem enger umschriebenen Inhaltsbereich als überdurchschnittlich begabt auffällt, dann<br />
ist auch die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie in anderen intellektuellen Bereichen über dem<br />
Durchschnitt liegt. Jedenfalls ist sie größer als die Wahrscheinlichkeit, dass die betreffende<br />
Person in diesen unterdurchschnittlich abschneidet. Die Psychologie bezeichnet diesen<br />
Sachverhalt als „positive Mannigfaltigkeit intellektueller Fähigkeiten und Leistungen“.<br />
Weil alle intellektuellen Fähigkeiten positiv miteinander zusammenhängen, ist bei der Interpretation<br />
sogenannter Intelligenztestprofile besondere Vorsicht geboten, da die dafür erforderlichen<br />
statistischen Voraussetzungen bei den bislang zur Verfügung stehenden Tests fast<br />
immer nur unzureichend erfüllt sind. In den meisten Fällen stehen deshalb wortreiche Interpretationen<br />
von Intelligenztestprofilen der Kaffeesatzleserei näher als wissenschaftlich<br />
begründeter Diagnostik.