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DAS KREUZ EINER FAMILIE

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I<br />

n Linn, einer kleinen Gemeinde auf<br />

dem Bözberg in der Nähe von Brugg,<br />

könnten Kelten gelebt haben. Ausserhalb<br />

des Dorfes steht die sagenumwobene<br />

Linner Linde. Mit mir am Tisch<br />

sitzt Franz Friedrich Fischer. Einst war<br />

Franz Gemeindeammann von Linn, gesellschaftspolitisch<br />

sehr engagiert. Heute<br />

kümmert sich der Psychotherapeut um<br />

Menschen, deren Leben aus dem Lot<br />

geraten ist.<br />

Vor knapp zehn Jahren brauchte Fischer<br />

selbst Hilfe. Jenen 2. März 2001 vergisst<br />

er sein Leben lang nicht. Fischers<br />

wohnten damals in der Stadt Freiburg. An<br />

diesem Tag amüsierte er sich mit seiner<br />

Frau bis morgens um fünf an der Fasnacht<br />

seiner Heimatgemeinde Willisau.<br />

«Wie angerührt überkam mich zwei Tage<br />

später ein heftiger Schüttelfrost», erzählt<br />

der 66-Jährige. Der Arzt diagnostizierte<br />

Grippe, ordnete aber vorsichtshalber<br />

eine Blutprobe an. Wenig später war klar:<br />

Franz hatte Leukämie. «Meine Frau Martha<br />

begleitete mich ins Spital. Als Erstes<br />

bekam ich eine Punktion mitten in die<br />

Brust, ohne zu anästhesieren. In meinem<br />

ganzen Leben habe ich nie so geschrien!»<br />

Wäre Franz eine halbe Stunde später eingerückt<br />

— er wäre jetzt tot. Es gibt keine<br />

medizinische Erklärung, warum er in seinem<br />

Zustand überlebt hat.<br />

Ein Wunder? «Für mich schon», sagt<br />

Franz. «Ich habe die Wirkmacht einer<br />

göttlichen Urkraft in mir gespürt.»<br />

Oder die Strafe Gottes? «Niemals!»<br />

Während der 27 Wochen im Spital<br />

fragte Franz sich immer wieder, warum<br />

ihn diese Krankheit ereilt habe, was sie<br />

für ihn bedeuten könnte. Eine Antwort<br />

hat er nicht gefunden. «Aber ich habe<br />

starke Erfahrungen gemacht», sagt er. Er<br />

habe sich unendlich aufgehoben gefühlt.<br />

«Kein personaler Gott hat mich gehalten,<br />

<strong>DAS</strong> <strong>KREUZ</strong><br />

<strong>EINER</strong> <strong>FAMILIE</strong><br />

Was die katholische Kirche den<br />

drei Generationen der Familie Fischer bedeutet<br />

Von Josef Hochstrasser<br />

Bilder Lukas Wassmann<br />

Im katholisch geprägten Willisau-Land<br />

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nur ein paar treue Menschen, darunter<br />

auch Pfarrer Wendelin.» Die ganze Familie<br />

stand an seinem Spitalbett. Der Pfarrer<br />

spendete die Krankensalbung, «nicht im<br />

Hinblick auf meinen drohenden Tod»,<br />

sagt Fischer. Im Gegenteil. «Ganz dem<br />

Leben zugewandt, sagte er: ‹Wir wecken<br />

in Franz die eigenen Heilungskräfte.›<br />

Auch meine Frau und die Kinder haben<br />

mich gesalbt und dabei berührt.»<br />

Bald sind zehn Jahre vergangen seit<br />

den Monaten der Leukämie. Franz weilt<br />

mit seinen Gedanken bei der Krankensalbung.<br />

«Das wäre wohl eine Chance für<br />

die Zukunft der Kirche: Menschen zu<br />

berühren, wie es Jesus tat, tragende Beziehungsnetze<br />

in Gang zu setzen, nicht<br />

in Ghettos wie den Sekten, vielmehr als<br />

offene kleine Gemeinschaften.»<br />

Franz Friedrich Fischer ist Mitglied<br />

der römisch-katholischen Kirche, genauso<br />

wie seine Schwiegermutter Sophie Zünti-<br />

Frei, 85, seine Frau Martha, 58, und seine<br />

Kinder Kaspar, 24, und Lea-Nina, 21.<br />

Franz’ verstorbener Vater, Jahrgang<br />

1920, galt im «KK-geprägten» (katholischkonservativen)<br />

Willisau-Land als gesellschaftlicher<br />

Randgänger, als sogenannter<br />

Rucksack-Bauer. Der Hof Hasenburg gab<br />

zu wenig her, um acht Kinder zu ernähren.<br />

Zusätzlich zum kargen Verdienst<br />

arbeitete Franz Fischer senior bei den<br />

Vereinigten Huttwiler Bahnen. Kirchlich<br />

«machte er die Ostern», wie man das<br />

Minimum nannte, was ein Katholik zur<br />

Mitte des letzten Jahrhunderts jährlich zu<br />

leisten hatte, um nicht aus der kirchlichen<br />

Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden.<br />

«Mein Vater ging zur Osterzeit beichten<br />

und kommunizieren, darauf hat man<br />

ihn übers Jahr selten mehr in der Kirche<br />

gesehen», erzählt Franz, «wenn die ganze<br />

Gemeinde sonntags zur Kirche ging,<br />

schnitt er zur selben Zeit zu Hause sei-<br />

Katholiken<br />

nem Bruder die Haare. Die beiden tranken<br />

Kaffee und diskutierten. Es herrschte<br />

eine antiklerikale Stimmung.»<br />

HEILIGER ZORN<br />

Anfang der Fünfzigerjahre des letzten<br />

Jahrhunderts fand in Willisau ein Katholikentag<br />

statt. Bischof Franziskus von<br />

Strengs Besuch war angesagt. Schon<br />

Tage zuvor machten die Brüder Sprüche<br />

über den Würdenträger. «Da erfasste<br />

mich siebenjährigen Knirps ein heiliger<br />

Zorn», sagt Fischer. «Ich stürmte in die<br />

Stube, klopfte auf den Tisch, stauchte die<br />

zwei Männer zusammen und rief ihnen<br />

ins Gesicht, sie würden einst von Gott<br />

bestraft.» Der Onkel musste lachen, er<br />

schenkte dem kleinen Franz einen Fünfliber<br />

und tröstete ihn, er werde das dann<br />

schon verstehen, wenn er älter sei. Später<br />

traten die beiden KK-Männer den Liberalen<br />

bei, für die damaligen Verhältnisse<br />

in Willisau-Land eine gesellschaftliche<br />

Todsünde. Die Katholisch-Konservativen<br />

seien heuchlerische Leute, befand<br />

Vater Fischer. In der Absicht, die Liegenschaft<br />

für seine Grossfamilie etwas auszubauen,<br />

erbat er von der KK-Bank Geld.<br />

Diese erklärte in salbaderischer Weise,<br />

die Ausrichtung eines Kredits sei für sie<br />

ein zu unsicheres Geschäft. Postwendend<br />

marschierte Fischer zur liberalen Volksbank,<br />

deren Chef einst aus der katholischen<br />

Kirche ausgetreten war. Dort freute<br />

man sich, gewährte dem Bittsteller ohne<br />

Umschweife Geld und erklärte grosszügig,<br />

der zahlreichen Kinder wegen keinen<br />

Zins einfordern zu wollen.<br />

Nach liberaler Manier ging Vater Fischer<br />

auch mit den Priestern um. Wenn<br />

ein Geistlicher auf Hausbesuch kam, um<br />

Hof und Vieh zu segnen, floh der Bauer<br />

unverzüglich in den Wald. Um Holz zu<br />

schlagen. «Ich glaubte ihm das», versi-<br />

Franz Friedrich Fischer, 66,<br />

spürte während seiner Erkrankung<br />

«eine göttliche Urkraft» in sich.<br />

chert Franz, «begriff aber später, dass<br />

er die Waldinspektion nur als Vorwand<br />

einsetzte.»<br />

Am Ende seines Lebens kämpfte der<br />

alte Fischer nächtelang mit dem Tod.<br />

Nun liess er den Besuch eines Priesters<br />

zu. Angst vor dem Jenseits quälte ihn,<br />

ein längst vergessen geglaubtes Bild aus<br />

dem Religionsunterricht seiner Kinderzeit<br />

tauchte auf: Jetzt musst du vor den<br />

ewigen Richter treten. Kannst du da bestehen?<br />

Ein verständnisvoller Seelsorger,<br />

frei von Dogmatismus und Drohfinger,<br />

beseelt von echter Zuwendung, durfte an<br />

sein Bett treten. Als die Angehörigen den<br />

Todkranken wieder sahen, strahlte er und<br />

sagte: «Jetzt kann ich sterben!»<br />

Erstaunlich, was Sophie, die Schwiegermutter<br />

von Franz, mit ihren 85 Jahren<br />

von sich gibt: «Gelernt habe ich als Kind,<br />

man komme in den Himmel, ins Fege-<br />

feuer oder in die Hölle», erklärt sie, um<br />

gleich danach festzuhalten: «In die Hölle<br />

komme ich nicht, ich habe keine Todsünde<br />

begangen!» Theologisch ist der Zusammenhang<br />

richtig. Sophie Zünti kennt<br />

die Lehren der Kirche genau, dennoch<br />

hat ihnen Weisheit und Lebenserfahrung<br />

mit zunehmendem Alter beinahe den<br />

Rang abgelaufen.<br />

«Felsenfest habe ich früher an ein Leben<br />

nach dem Tod geglaubt, heute weiss<br />

ich nicht mehr, ob es nachher weitergeht.»<br />

Ihre Enkelin Lea-Nina will sich von<br />

niemandem Vorschriften machen lassen,<br />

schon gar nicht von einem Papst oder der<br />

Kirche, in die hinein sie getauft wurde.<br />

Mit 16 flog Lea-Nina nach Neuseeland,<br />

lebte dort ein Jahr, lernte die Lebensweise<br />

der Maori kennen. Am Gymi in<br />

Freiburg habe sie doch nie jemand nach<br />

ihrer Konfession gefragt. Anders in Neuseeland,<br />

dort wollten die Leute immer<br />

wissen, welche Religion sie habe. «Die<br />

Lea-Nina Fischer, 21, lebte ein Jahr in Neuseeland, wo man sie stets nach ihrer Religion fragte.<br />

28 <strong>DAS</strong> MAGAZIN 16/2011 <strong>DAS</strong> MAGAZIN 16/2011<br />

29


«Hoffnung habe ich schon noch, dass Gott<br />

da ist!», sagt Sophie. «Är sett de öppe<br />

vörecho ond cho regiere! Ach, es hat keinen<br />

Wert, darüber noch lange zu studieren.»<br />

Sophie Zünti-Frei, 85, glaubt nicht mehr so fest an ein Leben nach dem Tod.<br />

Frage hat mich irritiert! Ich habe gesagt,<br />

ich sei katholisch.»<br />

Für ihre Maturaarbeit mit dem Titel<br />

«Vom Klang der Bilder» erhielt Lea-Nina<br />

den Freiburger Preis 2010 der Kulturkommission.<br />

Nun will sie an die Hochschule<br />

der Künste in Bern und später Lehrerin<br />

werden. Ohne Vorgaben und Einschränkungen<br />

von aussen Ideen entwickeln, die<br />

Gestaltung des eigenen Lebens selber<br />

in die Hand nehmen und zugleich römisch-katholisch<br />

sein, das heisst: an Gott<br />

glauben, den Papst und die Dogmen anerkennen,<br />

Mitglied der Kirche sein. Wie<br />

geht das zusammen?<br />

Lea-Nina macht grosse Augen, sagt<br />

eine Weile nichts, rutscht unruhig auf<br />

dem Stuhl hin und her. Die Wucht der<br />

Fragen stoppt jäh ihren Redefluss. Erstmals<br />

in ihrem Leben muss sich die 21-Jährige<br />

Klarheit darüber verschaffen, ob sie<br />

selbst ihre Weltanschauung «römisch-katholisch»<br />

nennen will.<br />

DURCHWEGS MÄNNER<br />

«Den Kirchenaustritt erwäge ich immer<br />

wieder», sagt Lea-Ninas Mutter Martha.<br />

«Wenn eine lebensfeindliche Devise von<br />

Rom kommt, bin ich nahe dran.» Als<br />

Frau hätte sie allen Grund, diesen Schritt<br />

zu tun. Die offizielle Kirche ist auch zu<br />

Beginn des 21. Jahrhunderts weit weg<br />

davon, Mann und Frau als gleichwertige<br />

Menschen anzuerkennen. «Rom» orientiert<br />

sich lieber an Paulus, der einfach feststellte:<br />

«Jeder Mann ist unmittelbar Christus<br />

unterstellt, die Frau aber dem Mann»<br />

(1 Kor 11, 3). Die Definitionsmacht bleibt<br />

in den Händen der kirchlichen Autoritäten.<br />

Und das sind durchwegs Männer.<br />

Wer Martha Fischer gegenübersitzt und<br />

sie reden hört, ist bass erstaunt, wenn<br />

die 58-Jährige erklärt: «Ich fühle mich als<br />

Frau in der römischen Kirche zwar nicht<br />

ernst genommen, das ist mir aber egal, ich<br />

will in dieser Institution nicht eine Rolle<br />

spielen, die mir religiöse Funktionäre gnädig<br />

zugestehen, ich will meine Qualitäten<br />

als Mensch frei leben.» Und das Lehrschreiben<br />

«Humanae vitae» Papst Pauls<br />

VI. aus dem legendären Jahr 1968, das<br />

nur die natürliche Empfängnisverhütung<br />

erlaubt? «Ich habe damals gar nicht hingehört,<br />

mich auch nie daran gehalten.»<br />

Bereits als Vierjährige setzte sie sich<br />

in den Kopf, in den Kindergarten zu gehen.<br />

Also verliess sie eines Morgens das<br />

Haus und wurde von der Klosterfrau und<br />

den übrigen Kindern herzlich aufgenommen.<br />

«Da habe ich ganz früh eine positive<br />

Erfahrung mit Kirche gemacht», sagt sie.<br />

«Zum ersten Mal empfand ich im Umfeld<br />

von Kirche so etwas wie Leben.»<br />

KAPUTTER JESUS<br />

Bei einer Gelegenheit lud sich Martha<br />

als Kind selbst Schuldgefühle auf. Zur<br />

Erstkommunion bekam sie ein Kruzifix<br />

geschenkt. Das Kind sah rasch, dass der<br />

Nagel am Fuss des hängenden Heilands<br />

noch etwas hervorstand. «Ich legte also<br />

das Kruzifix auf die Hobelbank im Keller,<br />

griff zu einem Hammer und schlug so<br />

fest auf den Nagel, dass die Füsse wegbrachen.»<br />

Schockiert fragte sich Martha,<br />

ob sie jetzt mit dieser Tat noch zur ersten<br />

Kommunion gehen dürfe. «Ich hatte<br />

doch den Jesus kaputt gemacht.»<br />

Klopfenden Herzens fing Martha an,<br />

der Jesusfigur die Füsse wieder an den<br />

Körper zu leimen, ging bedrückt schlafen,<br />

wachte auf, schaute heimlich nach.<br />

«Als ich die Figur vorsichtig aufhob,<br />

fielen die geleimten Füsse gleich wieder<br />

ab. Auf dem Weg zur Kirche hielt ich<br />

mein geflicktes Kreuzlein fest in Händen,<br />

damit nur ja niemand etwas bemerkte.<br />

Der Priester sprach in der Messe von<br />

Reinheit, und ich sass da und hatte doch<br />

den Jesus zertrümmert, alle anderen waren<br />

rein, nur ich nicht.»<br />

Martha Fischer hegt keine Aggressionen<br />

gegen «Rom». Sie lebt ihr Leben<br />

nach ihrem Gewissen und respektiert<br />

den Papst vor allem als Menschen. Von<br />

Bernard Genoud, dem verstorbenen Bischof<br />

von Freiburg, nahm sie zwei Seiten<br />

wahr: «Einerseits verkündete er von Amtes<br />

wegen uneingeschränkt die dogmatische<br />

Stimme des Papstes, andererseits<br />

spürte ich bei inoffiziellen Anlässen sei-<br />

ne menschliche Ausstrahlung.» In den<br />

Augen von Martha spielt sich da eine Tragik<br />

ab: «Die kirchlichen Funktionäre sind<br />

gespalten: Als Menschen fernab ihres<br />

Amtes verfügen sie über eine Ausstrahlung<br />

wie alle Menschen, als Würdenträger<br />

müssen sie oft genug contrecœur eine<br />

Lehrmeinung vertreten. Das Amt drohe,<br />

ihren Charakter zu verderben. «Dabei<br />

wäre die persönliche Ausstrahlung eines<br />

Kirchenmanns die grosse Chance einer<br />

Kirche, die zu Recht oft attackiert wird.»<br />

Der Beruf des Priesters befindet sich<br />

seit dem letzten Konzil in Sachen gesellschaftlicher<br />

Wertschätzung im freien Fall<br />

nach unten. Die Säkularisierung ist in<br />

vollem Gang. Die katholische Kirche gilt<br />

nur noch als eines unter zahlreichen Sinnangeboten<br />

der modernen Gesellschaft.<br />

Für Lea-Nina aber trotzdem kein Grund,<br />

aus der katholischen Kirche auszutre-<br />

ten. «Es sind zwei Gründe, die mich<br />

diesen Schritt nicht tun lassen», sagt sie.<br />

«Zum einen schätze ich das soziale Engagement<br />

der Kirche, zum anderen sind<br />

es meine emotionalen Erfahrungen mit<br />

dieser Institution.»<br />

Lea-Nina war achtjährig, die Adventszeit<br />

hatte begonnen. Der Nikolaus<br />

kam zu Besuch, beeindruckte das<br />

kleine Mädchen mit dem wunderbaren<br />

Gewand, der Mitra, den schweren Schuhen<br />

und dem grossen Buch. Wo er denn<br />

den Esel gelassen habe, wollte Lea-Nina<br />

wissen. Den habe er dem Bischof in<br />

Obhut geben dürfen, vom Gottesmann<br />

bekäme das Tier jetzt fürstlich zu fressen.<br />

Die Kleine war zufrieden, wollte<br />

aber bei nächster Gelegenheit prüfen,<br />

ob Nikolaus wirklich die Wahrheit sagte.<br />

Alljährlich zelebrierte Bischof Genoud<br />

am 6. Dezember eine Messe. Danach<br />

mischte er sich unter die Bevölkerung.<br />

«Ich eilte gleich zum Bischof und fragte,<br />

ob ich den Esel des Nikolaus sehen<br />

könne, den er doch bei ihm in Obhut<br />

gegeben habe.» Blitzschnell realisierte<br />

Genoud die verzwickte Lage, lenkte ab,<br />

verwickelte das Mädchen in ein Gespräch<br />

über beider Kopfbedeckungen, die Mitra<br />

und die Wollmütze. «Pädagogisch und<br />

menschlich wunderbar, wie Bischof Genoud<br />

sich aus der Affäre zog.»<br />

Aber noch viel tiefer wurzelt die gefühlsmässige<br />

Verbindung Lea-Ninas mit<br />

der Kirche seit der Leukämie ihres Vaters.<br />

Sie war damals elf Jahre alt. Ihr Vater lag<br />

schwer krank im Spital. Mit ihrer Mutter<br />

und ihrem Bruder suchte Lea-Nina über<br />

Monate hinweg bis dreimal in der Woche<br />

Trost in der Zisterzienserabtei Hauterive<br />

bei Freiburg. «Wir haben nicht gebetet,<br />

wir sassen einfach im Kirchenraum, fühlten<br />

uns wie in einem bergenden Schoss,<br />

lauschten dem Gesang der Mönche.<br />

Einer von ihnen zeigte uns einen besonderen<br />

Platz im Gotteshaus, von dem eine<br />

starke Energie ausströmt. Wir fanden uns<br />

dort ein, öffneten die Hände, um Kraft<br />

zu empfangen.»<br />

NICHT NUR FOLKLORE<br />

Zur Familie Fischer gehört auch der<br />

24-jährige Kaspar, Architekturstudent, in<br />

der Pfadi engagiert, Offizier der Logistik.<br />

Vor die Aufgabe gestellt, die nachstehenden<br />

Lebensbereiche nach der persönlichen<br />

Wichtigkeit aufzustellen, entschied er<br />

sich für folgende Rangliste: 1. Gesundheit,<br />

30 <strong>DAS</strong> MAGAZIN 16/2011 <strong>DAS</strong> MAGAZIN 16/2011<br />

31<br />

Katholiken


Kaspar Fischer, 24, prüfte genau, ob er Taufpate werden sollte.<br />

2. Familie, 3. Freunde, 4. Beruf, 5. Sport,<br />

6. Umwelt, 7. Kirche/Religion, 8. Politik.<br />

Kein Wunder, platziert Kaspar Familie<br />

und Freunde auf der Liste weit oben.<br />

«Individualismus prägt unsere Zeit, jeder<br />

wurstelt sich allein durch die Tage», sagt<br />

er, «man ist sehr oberflächlich, schnell bereit,<br />

etwas oder jemanden wegzuwerfen,<br />

alle sind unter Druck, dabei ist die Sehnsucht<br />

nach menschlicher Kommunikation<br />

und Verbindlichkeit riesengross.»<br />

Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen<br />

prüfte Kaspar die Anfrage seiner<br />

Cousine, das Amt eines Taufpaten für<br />

ihre Tochter Anneta anzunehmen. «Bin<br />

ich nicht zu jung?», fragte er sich, «ist<br />

die Distanz zwischen Freiburg und dem<br />

bündnerischen Flerden vielleicht nicht<br />

doch zu gross? Und, was am meisten in<br />

die Waagschale fiel, was soll ich in einer<br />

Kirche, hinter der ich nicht stehen kann?»<br />

Kaspar wollte nicht billig «auf Folklore<br />

machen», nicht ohne Überzeugung in der<br />

katholischen Kirche eine Aufgabe übernehmen.<br />

Den Ausschlag gegeben haben<br />

schliesslich seine Erfahrungen mit den<br />

eigenen Taufpaten. «Meine Beziehung<br />

zu ihnen ist noch heute wunderbar!», sagt<br />

Zur Erstkommunion<br />

bekam Martha ein Kruzifix<br />

geschenkt. Das Kind sah,<br />

dass der Nagel am Fuss<br />

des Heilands hervorstand.<br />

«Ich legte das Kruzifix<br />

auf die Hobelbank und<br />

schlug so fest, dass die Füsse<br />

wegbrachen.»<br />

er. Darin sah Kaspar im Rahmen seiner<br />

Entscheidungsfindung ein einleuchtendes<br />

Argument. «Auch ich möchte zu Anneta<br />

eine Beziehung aufbauen.»<br />

Der Pfarrer, der Anneta taufte, überzeugte<br />

Kaspar. «Dieser Priester trat nicht<br />

als Funktionär auf, er begegnete uns als<br />

Mensch, bezog insbesondere die übrigen<br />

Kinder während der Tauffeier mit ein,<br />

sie durften ihre Hände auch ins Taufwasser<br />

halten und dieses Anneta über ihren<br />

Kopf träufeln.» Kaspar bekleidete zwar<br />

vor Jahren das Amt eines Messdieners,<br />

sagt aber: «Wenn ich heute in einem Got-<br />

tesdienst sitze, schaue ich unbeteiligt zu,<br />

ich komme mit meinem Leben darin gar<br />

nicht vor, am Schluss gehe ich raus, und<br />

passiert ist nichts, es fehlt die Beziehung.»<br />

HEIDEN!<br />

Trotzdem, Kaspar schätzt die Rituale der<br />

Kirche, das ist auch der Grund, weshalb er<br />

das Band zur Kirche nicht leichtfertig zerschneidet.<br />

«Meine Eltern haben zu meiner<br />

Taufe ein Fest organisiert, über hundert<br />

Freunde feierten in unserem Bauernhaus<br />

einen Tag und eine Nacht lang meinen<br />

Aufbruch ins Leben! Nein, das war nicht<br />

nur fein essen, tanzen und Heiterkeit, in<br />

einer eindrücklichen Tauffeier stellten die<br />

Eltern mein noch zerbrechliches Leben<br />

auf das Fundament des Jesus aus Nazareth.»<br />

Für ihn steht fest: «Ich werde einst<br />

auch meine Kinder in einer Tauffeier im<br />

Leben willkommen heissen, vielleicht in<br />

einer Kirche, vielleicht an einer Quelle im<br />

Wald, sie im Namen Jesu taufen, nicht im<br />

Namen der Kirche.»<br />

Kaspar mag seinen Namen, weil einer<br />

der drei Weisen, die den neugeborenen<br />

Jesus besuchten, auch so hiess. Er war<br />

ein Heide, kein Jude wie Jesus, ein Christ<br />

schon gar nicht, diese Religion gab es damals<br />

noch nicht. «Ein Heide?», fragt Kaspar<br />

und stellt gleich klar: «Ja, so verstehe<br />

ich mich auch, als Heide, der sich für Jesus<br />

interessiert, nicht für die Kirche, genau<br />

wie mein Namensgeber in ferner Zeit.»<br />

Heiden! Das seien die «armen Negerli»<br />

in Afrika, Menschen, die Jesus nicht<br />

kennen oder nicht als Erlöser annehmen<br />

wollen, und die kämen alle in die Hölle.<br />

So hat es die kleine Sophie im Städtchen<br />

Sursee der Dreissigerjahre gelernt. Die<br />

Reformierten! Auch sie Heiden? (Sophie<br />

Zünti schweigt ungewöhnlich lange.)<br />

«Wir durften keine reformierte Kirche<br />

betreten, auch nicht mit den wenigen<br />

reformierten Mädchen zusammen sein,<br />

das war schwer verboten!» Doch wer besucht<br />

heute treu die Sophie in Willisau?<br />

Ausgerechnet eine reformierte Schulkollegin<br />

aus dem Bernbiet.<br />

Das II. Vatikanische Konzil steht wie<br />

kein anderes Ereignis für das Schicksal<br />

der katholischen Kirche der Neuzeit.<br />

All die Jahrhunderte zuvor, seit Kaiser<br />

Konstantin, dominierte die Kirche sämtliche<br />

Belange der Gesellschaft. Nach<br />

Mitte der Sechzigerjahre verlor sie in ga-<br />

loppierendem Tempo alle Macht. In pro-<br />

phetischer Voraussicht nannte der renommierte<br />

Theologe Karl Rahner die<br />

aufziehende Gesellschaft ein «Neuheidentum».<br />

Darin sah er eine Chance der<br />

Kirche, ihre Kraft wieder unbehelligt von<br />

Verquickungen mit dem Staat zu entfalten,<br />

ähnlich der Zeit der ersten drei<br />

Jahrhunderte. Rahner würde sich heute<br />

womöglich für eine Trennung von Kirche<br />

und Staat stark machen.<br />

Sophie Zünti hat diese Zeit der radikalen<br />

Umwälzung Schritt für Schritt<br />

mitgemacht, ohne ihren Glauben zu verlieren,<br />

die Kirche zu verlassen oder sich<br />

gar in ein religiöses Ghetto einzuschliessen.<br />

«Ich lese viel», erklärt sie sibyllinisch.<br />

An die Unfehlbarkeit des Papstes glaubt<br />

sie nicht mehr, hält aber «s Bätti», den<br />

Rosenkranz, in Ehren, geht jeden Monat<br />

einmal in die Heiligblutkapelle, um<br />

dieses aus der Mode gekommene Gebet<br />

zu verrichten, vertieft sich in Biografien<br />

über Heilige, aktuell jene der Bernadette<br />

von Soubirous. Auf der Ebene der offiziellen<br />

römisch-katholischen Glaubenslehre<br />

bewegt sie sich so sicher wie eine<br />

Spitzentänzerin auf dem Eis. Auch wenn<br />

die theologisch saubere Erklärung eines<br />

der schwierigsten Dogmen ansteht, jenes<br />

der «Unbefleckten Empfängnis Marias»,<br />

schneidet sie mit Bestnote ab. Die Mut-<br />

ter Jesu sei bei ihrer eigenen Zeugung<br />

durch Joachim und Anna ohne den Makel<br />

der Erbsünde geblieben, ruft sie ihr<br />

Wissen aus einer längst brachliegenden<br />

Region ihres Gehirns ab, um dann vielsagend<br />

mit den Augen zwinkernd zu bemerken:<br />

«Der 8. Dezember war ein hoher<br />

Feiertag, für uns Jungfrauen sowieso!»<br />

Doch noch eine kleine theologische Unschärfe<br />

von ihr, denn mit Jungfräulich-<br />

keit hat dieses Fest nichts zu tun.<br />

UNBEFLECKTE MARIA<br />

Weil das Dogma der «Unbefleckten Empfängnis»<br />

aus dem Jahre 1854 so typisch<br />

die theologische Denkweise der römischkatholischen<br />

Kirche wiedergibt, ist es in-<br />

teressant zu sehen, wie die beiden Generationen<br />

nach Sophie dazu stehen.<br />

Überraschend schneidet die 21-jährige<br />

Lea-Nina in diesen Wissensfragen<br />

genauso gut ab wie ihre Grossmutter.<br />

Nach dem Inhalt des Dogmas gefragt,<br />

lacht die junge Frau herzhaft. «An diesem<br />

Tag haben wir frei!» Dann ernst:<br />

«Es geht eben gerade nicht darum, dass<br />

Maria ohne Geschlechtsverkehr ein Kind<br />

bekam, sondern um die Weitervererbung<br />

einer Ursünde, die kraft dogmatischer<br />

Erklärung des Papstes Maria nicht betraf.»<br />

Auch Lea-Nina erlaubt sich einen<br />

Ausrutscher. «Ist dieses Fest nicht im<br />

November?», fragt sie.<br />

Mit ihrem Leben habe dieses Dog-<br />

ma überhaupt nichts zu tun. «Sünden kann<br />

man doch nicht erben», ereifert sie sich.<br />

Und fügt hinzu: «Ob Atheist oder Christ,<br />

ein gebildeter Mensch müsste wissen, worum<br />

es sich bei diesem Dogma handelt und<br />

entsprechend konsequent sein: Wer nicht<br />

daran glaubt, soll arbeiten und die Kirche<br />

nicht für einen freien Tag missbrauchen.»<br />

Ihr Vater glaubte als Kind an dieses<br />

Dogma. «Verstanden habe ich es damals<br />

32 <strong>DAS</strong> MAGAZIN 16/2011 <strong>DAS</strong> MAGAZIN 16/2011<br />

33<br />

Katholiken<br />

Martha Fischer, 58,<br />

respektiert den Papst vor<br />

allem als Menschen.


nicht», gesteht Franz, «ich habe mir vorgestellt,<br />

der Heilige Geist sei mit Samen<br />

im Schnabel dahergeflogen und habe ihn<br />

Maria in den Bauch gepflanzt.»<br />

Seine Frau Martha kann die «Unbefleckte<br />

Empfängnis» nicht erklären,<br />

urteilt aber nicht so hart wie ihre Tochter.<br />

Sie hält es für möglich, dass Naturgesetze<br />

für bestimmte Momente ausser Kraft geraten<br />

können, verrät damit, die «Unbefleckte<br />

Maria» wohl in gleicher Weise zu<br />

verstehen wie ihr Mann. Mit verständnislosem<br />

Kopfschütteln quittiert ihr Sohn<br />

Kaspar dagegen dieses Thema und erklärt<br />

es für komplett irrelevant.<br />

Die angsteinflössende Kirchenmoral<br />

traf um die Mitte des vergangenen<br />

Jahrhunderts die Seele des Buben Franz<br />

mit voller Wucht. Im Religionsunterricht<br />

hat man ihm mit Fegefeuer und Hölle<br />

gedroht. «Ich habe das alles geglaubt»,<br />

bedauert er und erinnert sich an Pfarrer<br />

Johann Steiner, den er zwiespältig erfahren<br />

hat. «Zum einen engagierte sich der<br />

Geistliche sozial vorbildlich, trug geflickte<br />

Hosen, um das dabei gesparte Geld an<br />

Arme weiter zu schenken; zum anderen<br />

scheute er sich nicht, Kirchgänger von<br />

der Kanzel herunter sexueller Verfehlungen<br />

zu bezichtigen. Eine aufmerksame<br />

Zuhörerschaft musste nicht lange nachdenken,<br />

die Namen der Beschuldigten<br />

ahnen zu können. Ein Lehrbüchlein von<br />

ihm trug den Titel ‹Die Tanzbühne ist die<br />

Scheune des Teufels›.»<br />

Das Verdienst seiner Mutter war es,<br />

den moralisierenden Druck der kirchlichen<br />

Obrigkeit von ihrem Sohn zu nehmen.<br />

Als seine Gefühle für das weibliche<br />

Geschlecht aufzublühen begannen, er<br />

sich bei einer Schneeballschlacht erstmals<br />

als junger Mann spürte, dabei heftig<br />

erschrak und mit Schuldgefühlen zu<br />

kämpfen hatte, gab es für ihn nur eines:<br />

SONNMATT LUZERN<br />

Kurhotel | Residenz | Privatklinik<br />

EIN ALLTAG<br />

OHNE HEKTIK.<br />

NUR EIN TRAUM?<br />

Katholiken<br />

«Nein, ich ging deswegen nicht zur Beichte,<br />

ich suchte das Gespräch mit meiner<br />

Mutter. Sie reagierte wunderbar, gab mir<br />

das Gefühl, eine wundervolle Erfahrung<br />

gemacht zu haben, sagte, ich dürfe mich<br />

doch freuen, ein Mann zu werden.»<br />

KIRCHENMIEF<br />

Die heilsamen Rituale und Feste rund<br />

um das Kirchenjahr verschafften Franz’<br />

Leben Struktur, Sinn und emotionale<br />

Geborgenheit. Ostern verband er nicht<br />

mit abstrakten, theologischen Spitzfindigkeiten,<br />

vielmehr mit seiner persönlichen<br />

Existenz. «Um die Osterzeit herum<br />

blühte die Natur auf und ich mit ihr.»<br />

Fast noch kräftigere Spuren hat Pfings-<br />

ten in ihm hinterlassen. «Der Heilige<br />

Geist wehte bloss diskret im Hintergrund,<br />

es waren die Pfingstrosen, die damals<br />

überall in der Kirche prangten, die mich<br />

noch heute in wahre Hochstimmung versetzen,<br />

wenn sie ihren Duft verströmen,<br />

und ich tauche ein in glückliche Tage<br />

meiner Kinderzeit.»<br />

Kein Wunder, trug sich Franz aufgrund<br />

dieser Erfahrungen mit dem Gedanken,<br />

Priester zu werden. Der junge<br />

Theologiestudent glaubte, mit dem II.<br />

Vatikanischen Konzil würde Frühlingsluft<br />

den Mief aus den Räumen der Kirche<br />

blasen. Die Zeichen standen auf Öffnung.<br />

Franz ging davon aus, das Pflichtzölibat<br />

würde bald aufgehoben, er könne<br />

Priester werden, eine Familie gründen,<br />

Vater werden. In seiner Euphorie nahm<br />

er erst gar nicht wahr, wie Papst Paul VI.<br />

das Rad der Erneuerung schon bald zu<br />

bremsen begann. Die unselige Enzyklika<br />

über die Empfängnisverhütung von<br />

1968 steht als Meilenstein im Prozess der<br />

Findung von Klarheit. Am Karfreitag des<br />

darauffolgenden Jahres zog sich Franz in<br />

sein Zimmer zurück und begann einen<br />

harten Schlagabtausch mit Jesus. «Das<br />

Kreuz vor mir, Jesus dran hängend, habe<br />

ich laut abgerechnet! Die Verlogenheit<br />

der Kirche mache ich nicht mehr mit,<br />

habe ich dem Mann am Kruzifix entgegengeschleudert.<br />

Ich muss während<br />

meines Monologs ausser mir gewesen<br />

sein und laut gebrüllt haben, denn tags<br />

darauf fragten mich Mitbewohner, was<br />

bei mir los gewesen sei. Ich sagte, ich<br />

hätte Besuch gehabt, da habe sich halt ein<br />

Streitgespräch entwickelt.» Franz schiebt<br />

lakonisch hinterher: «Stimmte ja auch,<br />

Jesus war doch bei mir!»<br />

Von Stund an ging Franz nicht mehr<br />

zur Kirche. Er vertiefte sich in die Schriften<br />

von Kirchenkritikern wie Hans Küng<br />

oder Leonardo Boff, begann seine Ausbildung<br />

zum Psychotherapeuten und legte<br />

sich mit einer weiteren Autorität an,<br />

mit dem personalen, jenseitigen Gott seiner<br />

Kindertage. «Küngs Buch ‹Existiert<br />

Gott?› schlug erste Risse in mein bisheriges<br />

Gottesbild», resümiert Franz seinen<br />

Weg mit dem Phänomen Gott, «das<br />

Studium des Sozialphilosophen Erich<br />

Fromm öffnete mir ganz neue Perspektiven:<br />

Ich halte die These von Fromm für<br />

überzeugend, wonach Gott womöglich<br />

ein Symbol für die besten und humansten<br />

Werte darstellt, die eine Gesellschaft<br />

verehrt.» Der Gedanke des kollektiven<br />

Unbewussten bei C. G. Jung führte Franz<br />

zur Einsicht, alles, was ist, existiere in<br />

liebender Verbundenheit.<br />

DIESES «ETWAS»<br />

«Das Wort Gott ist doch bloss eine<br />

Chiffre», ist Martha überzeugt. «Die<br />

kirchlichen Lehrsätze helfen mir nicht,<br />

mein Leben zu bewältigen, sie sind blutleer,<br />

rational.»<br />

Schon als kleines Mädchen hatte<br />

Martha spirituelle Erlebnisse. «Ich habe<br />

Bei uns ist das Realität. Geniessen Sie in unserem Viersterne-Kurhotel oder der Privatklinik<br />

die wohltuende Ruhe und Natur pur. Oder verbringen Sie Ihren Lebensabend entspannt in<br />

unserer Residenz. Wir verwöhnen Sie mit allen Annehmlichkeiten für einen erholsamen Aufenthalt.<br />

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etwas gespürt, was ich nicht einordnen<br />

konnte, wusste aber nicht, was dieses<br />

«Etwas» war, immer wieder tauchte ein<br />

Licht auf in meinem Leben. Als Franz mit<br />

seiner Leukämie schwer krank im Spital<br />

lag und ich in seiner Praxis die Klienten<br />

orientieren musste, setzte ich mich bewusst<br />

auf seinen Stuhl und wurde sogleich<br />

überwältigt: Da erschien es wieder, dieses<br />

Licht, durchströmte mich, verlieh mir<br />

eine schier unglaubliche Gewissheit: Du<br />

schaffst das, Franz wird wieder gesund.»<br />

Vielleicht ist Martha eine Mystikerin. Sie<br />

will jedenfalls Gott niemals definieren,<br />

sagt auch nicht, dieses Licht sei Gott, hält<br />

einfach fest: «Wir sind als Menschen nicht<br />

fähig, die Dimensionen dieses Lichts zu<br />

erfassen, ich trage es aber stets in mir,<br />

kann es abrufen.» Sie geht sogar so weit,<br />

davon auszugehen, alle Menschen seien<br />

mit diesem Licht verbunden, es liege an<br />

jedem Einzelnen, es in seinem Leben<br />

strahlen zu lassen.»<br />

Den Begriff Gott will Lea-Nina nicht<br />

verwenden. «Er ist für mich zu sehr mit<br />

der Definition der Kirche verknüpft. Ich<br />

will nicht unbesehen übernehmen, was<br />

andere sich für mich ausgedacht haben.<br />

Selbst wenn Papi mir in bester Absicht<br />

seine Gedanken zu Gott und Kirche erklären<br />

möchte, höre ich nicht immer bereitwillig<br />

zu.» Folgerichtig bekennt sie:<br />

«Ich glaube nicht an Gott, ich glaube an<br />

die Energie im Menschen! Wenn ich Halt,<br />

Kraft und Orientierung brauche, versuche<br />

ich, mit positiver Energie in Kontakt<br />

zu treten. Diese Energie ist für mich<br />

lebensnotwendig, also heilig, nicht Gott.<br />

Ich finde sie in religiösen und profanen<br />

Ritualen, in Beziehungen mit Menschen,<br />

in der Natur, durchaus auch in humanistisch<br />

geprägten biblischen Geschichten.»<br />

Gerade mal 21, also noch am Anfang<br />

ihres Lebens, erklärt Lea-Nina rundweg:<br />

«Mein Schicksal ist nicht von einem Gott<br />

bestimmt, ich mache es mir selber!»<br />

Ihren Glauben an den Gott ihrer<br />

Kindertage hat Sophie Zünti nicht abgelegt,<br />

aber so manche Lebenserfahrung hat<br />

ihre Spuren hinterlassen, lässt sie zögern<br />

und schliesslich vorsichtig und leise werweissen:<br />

«Hoffnung habe ich schon noch,<br />

dass Gott da ist! Är sett de öppe vörecho<br />

ond cho regiere! Ach, es hat keinen Wert,<br />

darüber noch lange zu studieren.»<br />

Als ob sie sich an eine einstmals angelernte<br />

Sicherheit klammern wollte, zitiert<br />

Sophie mit einem Schlag den «Canisi»,<br />

das legendäre katholische Lehrbuch für<br />

den Religionsunterricht aus dem Jahre<br />

1566 mit seinen 503 Fragen zum gesamten<br />

Lehrgut der römischen Kirche. Wer<br />

katholisch und kaum unter 60 ist, kennt<br />

Frage Nummer 1 des Katechismus noch:<br />

Wozu sind wir auf Erden? Ohne eine Sekunde<br />

zu zögern, sprudelt es aus Sophie<br />

hervor: «Wir sind auf Erden, um Gott zu<br />

erkennen, ihm zu dienen, ihn zu lieben<br />

und einst in den Himmel zu kommen.»<br />

Zufrieden lehnt sie sich zurück. Fast<br />

glaubt man ihr, diese Antwort trage sie<br />

noch immer in allen Lebenslagen.<br />

Kaspar und Lea-Nina wissen gar<br />

nicht, was ein Katechismus ist, antworten<br />

auf ihre Art auf die berühmte Fra-<br />

ge. «Ich bin da, um mich ein Leben lang<br />

entwickeln zu können», erklärt Kaspar.<br />

Seine Schwester zeigt sich von der Frage<br />

eher unangenehm berührt: «Ich rede<br />

nicht gern über den Tod, habe oft Angst,<br />

mein Leben gehe schnell zu Ende. Ich<br />

möchte noch viele Menschen kennenlernen,<br />

durch Erfahrungen lernen, Leben<br />

entdecken, es an Kinder weitergeben,<br />

dankbar sein der Energie gegenüber, die<br />

immer da ist.»<br />

35 Kilo leichter, durfte Franz vor<br />

knapp zehn Jahren das Kantonsspital von<br />

Freiburg verlassen. Im Rückblick weiss<br />

er, dass ihn die Hölle Leukämie im Leben<br />

weitergebracht hat. «Einst wirkte ich in<br />

Linn als umtriebiger Gemeindeammann:<br />

Schon damals hat mich parteipolitisches<br />

Gezänk enorm genervt, heute kann ich<br />

über die sogenannte politische Kultur in<br />

unserem Land nur den Kopf schütteln,<br />

so viele Leute nehmen sich wichtig. Wegen<br />

irgendwelcher ideologisch bedingter<br />

Beschlüsse, die ohnehin keine Ewigkeit<br />

dauern, befehden sie sich!», sagt er. Um<br />

gleich hinzufügen, was er inzwischen begriffen<br />

hat: «Du betrittst diese Welt, du<br />

darfst eine Weile bleiben, du musst wieder<br />

gehen — gelassener müssten mir die<br />

Menschen dieser Erde sein, als dass ich<br />

an ihre Zukunft noch glauben könnte.<br />

Alles ist vorläufig!» •<br />

JOSEF HOCHSTRASSER, ehemaliger katholischer<br />

Priester, ist heute reformierter<br />

Pfarrer, Publizist und Autor mehrerer Bücher.<br />

josef-hochstrasser@bluewin.ch<br />

Der Fotograf LUKAS WASSMANN arbeitet<br />

regelmässig für «Das Magazin».<br />

lukas.wassmann@gmail.com<br />

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