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'Gastarbeit' in der Bundesrepublik Deutschland - von Cord ...

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88 4.3. Funktionen <strong>der</strong> Rückkehrorientierung<br />

Verantwortungs- und Schuldgefühle 38 gegenüber den Eltern verlangen nicht nur f<strong>in</strong>anzielle<br />

Unterstützung, son<strong>der</strong>n auch das Festhalten an <strong>der</strong> Rückkehrabsicht:<br />

„Auch jetzt sagt me<strong>in</strong> Vater wie<strong>der</strong>: ‘Komm zurück, o<strong>der</strong> laß wenigstens de<strong>in</strong>e Frau hier bei uns. Es reicht nun. Komm!<br />

Wir werden bald sterben! Laß uns noch etwas beisammen wohnen.’ (...) Und wir sagen: ‘Vater, im Moment haben wir<br />

noch nicht genügend Geld <strong>in</strong> unserer Hand, um etwas aufzubauen. Deshalb müssen wir noch etwas arbeiten.’ (...) Also,<br />

me<strong>in</strong> Vater war e<strong>in</strong>verstanden. Aber irgendwie möchte er natürlich, daß ich komme.“ 39<br />

Die Rückkehrorientierung demonstriert die Heimatb<strong>in</strong>dung und die Zugehörigkeit <strong>der</strong> MigrantInnen.<br />

Dem gleichen Zwaeck dienen die regelmäßigen Überweisungen, die neuen Heiratsverb<strong>in</strong>dungen<br />

<strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong>s Herkunftsland und <strong>der</strong> alljährliche Heimaturlaub 40 .<br />

Der Urlaub ist notwendig, um sich die Rückkehroption offenzuhalten. In den wenigen Wochen<br />

bleibt kaum Zeit für die Erholung: Nach <strong>der</strong> tagelangen Reise müssen Geschenke verteilt,<br />

f<strong>in</strong>anzielle Transaktionen und Grundstückskäufe getätigt, <strong>der</strong> Bau des neuen Hauses vorangetrieben,<br />

familiäre Konflikte besprochen und Hochzeitsverhandlungen und -feierlichkeiten absolviert<br />

werden 41 . Diese Aktivitäten s<strong>in</strong>d zugleich kle<strong>in</strong>e Erfolge, Zwischenschritte, die das Gefühl<br />

geben, dem fernen Migrationsziel wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Stückchen näher gekommen zu se<strong>in</strong>.<br />

Individuelle S<strong>in</strong>nstiftung<br />

Das Festhalten an <strong>der</strong> Rückkehrabsicht ist nicht nur wichtig für die Zugehörigkeit zur Gruppe,<br />

son<strong>der</strong>n auch für die <strong>in</strong>dividuelle S<strong>in</strong>ngebung.<br />

Die Remigration war <strong>von</strong> Anfang an das Ziel <strong>der</strong> befristeten Arbeitsmigration. E<strong>in</strong>e Aufgabe<br />

<strong>der</strong> Rückkehr wäre damit auch e<strong>in</strong>e Aufgabe <strong>der</strong> eigenen Ziele, e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>gestehen des Scheiterns.<br />

„Das Festhalten an <strong>der</strong> Rückkehr, d.h. an dem Abschließen und Vollenden des Migrationsprojekts, stellt die Legitimationsquelle<br />

dar, aus <strong>der</strong> geschöpft wird, um die Kosten des Unternehmens ‘Migration’ rechtfertigen zu können. Nur so<br />

kann <strong>der</strong> überlange Befriedigungsaufschub (...) kompensiert werden“ 42 .<br />

Alternative Lebensziele <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> stehen kaum zur Verfügung; helfen kann höchstens<br />

die Religion:<br />

„Vielleicht kehren wir <strong>in</strong> zwei Jahren <strong>in</strong> die Türkei zurück. Wir haben nichts gespart – aber wir werden sowieso nichts<br />

mitnehmen können, wenn wir e<strong>in</strong>mal tot s<strong>in</strong>d. Unser Hoca hat gesagt: ‘Selbst wenn ich ganz Berl<strong>in</strong> besitzen würde,<br />

würde es mir am Jüngsten Tag doch nichts nützen.’“ 43<br />

Im dauerhaften Provisorium <strong>der</strong> Migration ist das „Ausharren“ 44 <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> nur e<strong>in</strong> Intermezzo,<br />

d.h. e<strong>in</strong>e Unterbrechung des eigentlichen Lebens. Der Aufenthalt und das Arbeiten <strong>in</strong><br />

<strong>Deutschland</strong> wird als „Warten“ beschrieben 45 . Das Heimatdorf steht für das Leben vor dieser<br />

Unterbrechung. E<strong>in</strong>e Rückkehr dah<strong>in</strong> ist dann auch e<strong>in</strong>e Rückkehr zu sich selbst.<br />

Die Migration als beschleunigter Schritt <strong>von</strong> e<strong>in</strong>er traditionalen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e mo<strong>der</strong>ne Gesellschaft<br />

ist e<strong>in</strong> biographischer Bruch, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e vorher fraglos-gegebene Identität <strong>in</strong> Frage stellt 46 . Die<br />

„bäuerliche Kont<strong>in</strong>uität <strong>der</strong> Lebensperspektive“ wird zerrissen. Psychologisch gesehen, kann<br />

e<strong>in</strong> Trauma entstehen 47 . Das jahrelange Leben <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fremde führt zwangsläufig zu e<strong>in</strong>er teilassimilativen<br />

Identitätsverän<strong>der</strong>ung. E<strong>in</strong> noch immer auf bäuerlichen Denkmustern beruhendes<br />

Selbstbild und e<strong>in</strong>e an die Migrationserfor<strong>der</strong>nisse angepaßte, verän<strong>der</strong>te Alltagspraxis klaffen<br />

ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>. Viele MigrantInnen empf<strong>in</strong>den dabei e<strong>in</strong>e wachsende Entfremdung, nicht nur<br />

durch die kulturellen Unterschiede o<strong>der</strong> die monotone Industriearbeit, son<strong>der</strong>n auch <strong>in</strong> sich<br />

selbst; sie spüren e<strong>in</strong>e Loslösung <strong>von</strong> den lebensgeschichtlichen Wurzeln: „Wir haben uns vergessen.“<br />

48<br />

Die Versöhnung <strong>von</strong> Alltag und Selbstbild wird dann auf die Rückkehr projiziert.

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